Mit den Psalmen beten Univ. Prof. Dr. Ludger Schwienhorst-Schönberger Katholisch-Theologische Fakultät, Universität Wien In den Psalmen begegnen wir Grundformen des Betens wie Klage, Dank, Lobpreis und Meditation. Einzelne Psalmen spiegeln Etappen des spirituellen Weges wider, den zu gehen jeder Mensch eingeladen ist. Im Psalter wird die Struktur dieses Weges sichtbar. Sprache und Bilder sind mit den altorientalischen Kulturen verbunden, gewinnen jedoch im Kontext der Bibel ein eigenes und unverwechselbares Profil. I. Einführung im Anschluss an Athanasius von Alexandrien (295-373): Brief an Marcellinus (ca. 360-363)1 Der Psalter als Zusammenfassung der gesamten Heiligen Schrift „Der Psalter trägt wie ein Garten in sich die Früchte aller übrigen Bücher der Heiligen Schrift und macht sie zu Liedern“ (2). Martin Luther: Der Psalter ist eine „kleine Biblia, darin alles aufs schönste und kürzeste, wie in der ganzen Bibel stehet, gefasset, und zu einem feinen ... Handbuch gemacht und bereitet ist“ (Vorrede zum Psalter von 1526; hg. von H. Bornkamm, Frankfurt 1983, 69). Beispiele für die Bezüge der Psalmen zu den übrigen Schriften der Bibel:
Ps 19,2: Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes und das Werk seiner Hände verkündet das Firmament. > GENESIS
Ps 78; 105; Ps 114,1-2: Als Israel aus Ägypten auszog, Jakobs Haus aus dem Volk mit fremder Sprache ... > EXODUS, NUMERI, DEUTERONOMIUM
Ps 107,36-37: Sie gründeten wohnliche Städte, sie bestellten Felder, pflanzten Reben und erzielten reiche Ernten. > JOSUA, RICHTER
Ps 20,10: Herr, rette den König, erhöre uns am Tage, da wir dich anrufen. > BÜCHER DER KÖNIGE
Ps 126,1: Als der Herr das Los der Gefangenschaft Zions wendete, da waren wir alle wie Träumende. > ESRA (Rückkehr aus dem Exil)
Der Psalter enthält Prophezeiungen auf Christus Der Psalter ist neben Jesaja das am häufigsten im Neuen Testament zitierte alttestamentliche Buch. Der Psalter wurde bereits im NT christologisch gelesen: als Prophetie auf Christus. Die neutestamentliche Christologie ist vor allem Psalmen-Christologie. In den Psalmen sah man den Weg Christi vorgezeichnet: seine Zeugung vor aller Zeit, seine Schöpfungsmittlerschaft, seine Menschwerdung, sein Leiden, sein Abstieg in das Reich des Todes, seine Auferstehung, seine Erhöhung und Himmelfahrt. Frage: Ist eine christologische Lektüre des Psalters legitim? Legitimität des mehrfachen Schriftsinnes? > Christlich-Jüdischer Dialog. Einige wenige Beispiele:
Apg 4,25-27: Herr, du hast durch den Mund unseres Vaters David, deines Knechtes, durch den Heiligen Geist gesagt: „Warum toben die Völker, warum machen die Nationen vergebliche
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Zitiert nach: Hermann Josef Sieben, Schlüssel zum Psalter. Sechzehn Kirchenvätereinführungen von Hippolyt
bis Cassiodor, Paderborn: Schöningh, 2011, 63-87.
2 Pläne? Die Könige der Erde stehen auf, und die Herrscher haben sich verbündet gegen den Herrn und seinen Gesalbten“ („Messias“ = „Christus“ Ps 2,1-2). Wahrhaftig, verbündet haben sich in dieser Stadt gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels ...
Ps 118,22. Der Stein, den die Bauleute verwarfen, er ist zum Eckstein geworden. > Apg 4,811: Da sagte Petrus zu ihnen, erfüllt vom Heiligen Geist: ... Er (Jesus) ist der Stein, der von den Bauleuten verworfen wurde, der aber zum Eckstein geworden ist.
Die Heilige Schrift als vielfältige Gabe des einen Heiligen Geistes Alle Bücher der Heiligen Schrift verkünden auf unterschiedliche Weise die eine Wahrheit. Origenes (Philocalie 6,2): „Es ist wie bei den Saiten des Psalters und der Zither: jede von ihnen bringt einen eigenen Klang hervor, der dem der anderen Saiten unähnlich scheint. Wer ungebildet ist und die Regeln musikalischer Harmonie nicht kennt, meint, sie stünden wegen der Unähnlichkeit der Klänge in Disharmonie. Ebenso glauben die, welche die Harmonie Gottes in den heiligen Schriften nicht zu vernehmen verstehen, dass die alte Schrift mit der neuen nicht in Einklang stünde, ebenso wenig die Propheten mit dem Gesetz oder die Evangelien untereinander oder der Apostel mit dem Evangelium oder mit sich selbst oder mit den übrigen Aposteln. Doch kommt jemand, der die Musik Gottes erlernt hat ..., so wird er den Klang der Musik Gottes hervorbringen, von der er lernte, die Saiten im rechten Augenblick zu schlagen, bald die des Gesetzes, bald die der Evangelien, die damit in Einklang stehen, bald die der Propheten ... Er weiß nämlich, dass die gesamte Schrift ein einziges, vollkommenes und abgestimmtes Musikinstrument Gottes ist, das mittels verschiedener Klänge eine einzige heilsame Melodie für die hervorbringt, die sie kennenlernen wollen.“ Die Psalmen als Spiegel der Seele (1) In den Psalmen spiegeln sich die unterschiedlichen Regungen der menschlichen Seele. Wer die Psalmen betet, lernt die Regungen der Seele kennen und begibt sich auf den Weg ihrer Heilung. Es gibt keine Gotteserkenntnis ohne Selbsterkenntnis. Die Psalmen weisen den Weg zur Selbst- und zur Gotteserkenntnis. Das ist der Weg der Erlösung: „Wer leidet und bedrängt ist, kann dem Psalter das Muster für seine eigenen Worte entnehmen, so dass er die Psalmen nicht nur liest und dann nicht weiter beachtet, sondern auch lernt, mit welchen Worten und welchen Taten das Leiden zu heilen ist“ (10). „Die Psalmen liest du als deine eigenen Worte. Wer die Psalmen liest, wird zerknirscht wie jemand, der selber so redet, er wird durch die Worte dieser Lieder in die gleiche innere Stimmung versetzt, wie wenn sie seine eigenen persönlichen wären“ (11). (2) Elementare Erfahrungen und Stimmungen wie Not und Verzweiflung, Rettung und Hoffnung werden in den Psalmen zum Ausdruck gebracht (Klage, Dank, Lobpreis) und in das göttliche Licht gestellt. So bieten die Psalmen sowohl Möglichkeiten der Identifikation wie der Desidentifikation mit unserem empirischen Ich. Zur Desidentifikation: In der Trauer einen Dankpsalm oder einen Lobpreis zu beten, bewirkt, sich mit der Trauer nicht total zu identifizieren. Im Glück einen Klagepsalm zu beten, bewirkt, sich mit dem Glück nicht total zu identifizieren. Augustinus: In der Not gerate ich nicht in die völlige Verzweiflung,
3 im Glück werde ich nicht überheblich. > Dieser Prozess der Desidentifikation mit dem empirischen Ich eröffnet die Möglichkeit, mit dem wahren Selbst in Kontakt zu kommen. Das ist der Weg von der oratio (Gebet der Worte) über die meditatio (gegenstandsbezogene Form der Betrachtung) zur contemplatio (bildlose Schau Gottes). Voraussetzung dafür ist, die Psalmen in einer vorgegebenen Reihenfolge zu beten und das Gebet in den Rahmen einer spirituellen Praxis zu verankern. Deshalb eignet sich die Lektüre der Psalmen in besonderer Weise für die LECTIO DIVINA (GEISTLICHE SCHRIFTLESUNG). > Dazu mehr unter III. Psalmen und Lectio divina. (3) „Das Auffallende bei den Psalmen ist nun: wer sie liest, der spricht sie, abgesehen von den Prophezeiungen über den Heiland und die Heidenvölker, als seine eigenen Worte. Er singt die Psalmen, als wären sie für ihn selber aufgeschrieben. Er nimmt sie vor, einen nach dem anderen bis zum letzten, nicht so, als ob ein anderer redete oder damit bezeichnet würde, sondern fühlt sich dabei wie jemand, der über sich selber redet. Welchen Inhalt auch immer diese Worte haben, er betrachtet sich selbst als denjenigen, der sie hervorbringt und er spricht sie im eigenen Namen und bezieht sie auf Gott“ (11). Die heilende Wirkung des Psalmengebets (1) „Ich jedenfalls meine, dass die Psalmen auf den, der sie singt, wie ein Spiegel wirken: er kann sich selber und die inneren Regungen seiner Seele in ihnen wahrnehmen und sie aufgrund dieser Wahrnehmung dann aussprechen. Ja, wer den Vorsänger in der Kirche hört, der nimmt das Lied auf, wie wenn es über ihn selbst handelte; bald wird er von seinem Gewissen überführt, Reue empfinden, bald hört er von der Hoffnung auf Gott und von der Hilfe, die dem Gläubigen zuteil wird, und jubelt er innerlich auf in der Überzeugung, dass eine solche Gnade ihm selber widerfährt, und er beginn Gott dafür Dank zu sagen ... Um es mit einem Wort zu sagen: jeder Psalm wurde vom Heiligen Geist so gesprochen und so verfasst, dass in ihm ... die inneren Regungen unserer Seele wahrgenommen werden können und sie alle wie über uns selbst gesprochen und unsere eigenen Worte sind, um uns an die Regungen unserer Seele und die Besserung unserer Lebensweise zu erinnern“ (12). (2) Die regelmäßige Lektüre der Psalmen schützt vor bösen Gedanken und Aber-Geistern: „Ich selber, fuhr der Mönchsvater fort, habe meinerseits von klugen Männern gehört, dass man in Israel in alter Zeit die bösen Geister durch das bloße Vorlesen aus der Heiligen Schrift verjagte und dadurch die Menschen vor ihren Nachstellungen schützte“ (33). Athanasius bringt eine ausführliche Zusammenstellung von Psalmen für die unterschiedlichsten Lebenslagen (14-26); eine Art Vorgriff auf die moderne Gattungsforschung. Psalmen als Dichtung und Lieder (1) Für die heilende Wirkung spielt auch die literarische Form der Psalmen eine bedeutende Rolle: Als Gedichte und Lieder wirken die Psalmen harmonisierend auf die Seele. „Der melodische Vortrag der Psalmen ist also ein Abbild und ein Ausdruck solcher inneren Harmonien der Gedanken und einer von Leidenschaften nicht beunruhigten Verfassung der Seele. Denn wie wir die inneren Gedanken der Seele durch die Worte, die wir äußern, zu erkennen geben und kundtun, so soll nach dem Willen des Herrn die Melodie in den Worten ein Symbol der geistlichen
4 Seelenharmonie sein. Deswegen ordnete er an, dass Lieder melodisch gesungen und die Psalmen mit Gesang vorgetragen werden. Und dazu führt ja die Fröhlichkeit, das Wohlbefinden der Seele, heißt es doch: ‚Ist jemand fröhlich unter euch, dann singe er Lieder’ (Jak 5,13). So wird das Verworrene, Rauhe und Ungeordnete in der Seele geglättet und die Traurigkeit ausgetrieben, nämlich indem wir den Psalmvers singen: ‚Warum bist du traurig meine Seele, und warum betrübst du mich’ (Ps 43,5) (28). (2) „Indem der treffliche David vor Saul sang (vgl. 1 Kön 16,14-23), tat er dies gewiss zum Gefallen Gottes, aber er vertrieb auch die Wirrnis und den leidenschaftlichen Wahn aus Sauls Seele und brachte sie wieder zur inneren Ruhe. Auf die gleiche Weise rufen die Priester durch Psalmengesang die Seelen ihres Kirchenvolkes zu eben dieser Ruhe und zum Übereinklang mit den himmlischen Chören ... Der melodische Vortrag ist ein Symbol für den harmonischen und friedlichen Zustand des Geistes“ (29). Zusammenfassung „Wer sich mit diesem Buch der Heiligen Schrift, nämlich dem Psalter, befasst, sollte alles darin Stehende in redlicher Gesinnung als von Gott eingegeben lesen; im übrigen sollte er aus ihm wie aus einem Fruchtgarten Nutzen ziehen, wo immer er meint, etwas gebrauchen zu können. Ich jedenfalls bin der Ansicht, dass in den Worten dieses Buches das ganze menschliche Leben, sowohl die geistlichen Grundhaltungen als auch die jeweiligen Regungen und Gedanken, umfasst und enthalten sind. Nichts kann darüber hinaus im Menschen gefunden werden“ (30). „Indem du dir dies vor Augen hältst und dich so auf verständige Weise mit den Psalmen beschäftigst, wirst du, vom Heiligen Geist geleitet (vgl. Joh 16,13), den tiefen Sinn, der in jedem Psalm enthalten ist, erfassen“ (33). II. Beispiele Psalm 1: Der Weg des Gerechten Psalm 2: JHWH und seine Gesalbter Psalm 3: Verfolgung und Rettung des Gesalbten Fazit: Von der Psalmenexegese zur Psalterexegese Psalm 23: Auf dem Weg in das Haus Gottes Psalm 73: Bis ich eintrat in die Heiligtümer Gottes ... III. Psalmen und Lectio divina (geistliche Schriftlesung) Besonders die Psalmen eignen sich zur Lectio divina („göttliche Lesung“). Was ist lectio divina? Folgende Aspekte sind zu berücksichtigen:
1. Lesen ist nicht gleich lesen (1) Information (Zeitung; Fachliteratur) Lesen
(2) Unterhaltung (Roman) (3) Transformation / Verwandlung (Bibel): Lectio divina
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2. Merkmale des Lesens bei der Lectio divina
Langsam (Beachte: Über viele Jahrhunderte hin wurde „ohne Zwischenraum / sine spatio“ geschrieben! INPRINCIPIOERATVERBUMETVERBUMERATAPUDDEUMETDEUSERATVERBUM
Nicht zu viel
Innehalten / Verweilen / Nachklingen lassen / Verkosten
Mit dem Text in ein Gespräch kommen
Wiederholen („wiederkäuen“ – „ruminare“)
Lesen, was „dran ist“, und nicht, „was ich mir wünsche“
Ein Buch als ganzes lesen
Einbettung in eine „spirituelle Praxis“ (lectio – meditatio – oratio – operatio – contemplatio)
Innere und äußere Haltung („Disziplin“)
Regelmäßig (fester Ort, feste Zeit): zu einer guten Gewohnheit werden lassen
Anpassung an die persönliche Lebenssituation
Übung im Alltag („operatio“)
Die Tradition hat den Vorgang der lectio divina in vielfältiger Weise mit Hilfe der Speisemetaphorik veranschaulicht (vgl. Jer 15,16; Ez 3,1-3; Offb 10,9f): Wort Gottes (Nahrung) → Hören / Lesen (Essen) → Aneignung (Kauen) → Verinnerlichen (Verdauen / Wiederkäuen). – Wenn der Mensch zu viel und zu schnell (hastig) isst, wenn er die Nahrung, die er aufnimmt, nicht gut kaut, bekommt sie ihm nicht, wird er krank. Wenn er gar nicht oder zu wenig isst, verhungert er. 3. Theologische Voraussetzungen Die Heilige Schrift ist Wort Gottes. Der Mensch nimmt das Wort zunächst äußerlich (lectio), dann innerlich (meditatio) auf. Das Wort Gottes gelangt in das Innere des Menschen und verwandelt ihn, wenn er sich diesem Prozess gegenüber öffnet, wenn er „sein Herz nicht verschließt“. So wird der Mensch wieder zu dem, was er von seinem Ursprung her ist (Gen 1,26f), was jedoch durch die Sünde verdunkelt wurde (Gen 3-4): Bild Gottes. Der Mensch wird wie Christus (vgl. Ps 1), das „Bild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15), er wird „vergöttlicht (theopoiesis; deificatio)“. Die Entfremdung des Menschen von sich und von Gott wird aufgehoben. Ziel der lectio divina ist die (Rück-)Verwandlung des Menschen in das Bild Gottes: Er wird wieder das, was er (eigentlich / von seinem Ursprung her) ist. Das Bild Gottes ruht auf dem Grunde der menschlichen Seele (Johannes Tauler), es ist aber durch die Sünde verschattet / verdeckt. Frage: Wie kann es gelingen, die „Widerspenstigkeit“ (vgl. Ez 2) zu durchbrechen, der Zerstreuung Einhalt zu gebieten, die subtilen Fluchtmechanismen zu erkennen und zu überwinden (vgl. Gen 3,9)?
6 4. Bibelhermeneutische Voraussetzungen Bibel als Wort Gottes: Bibel ist Zeugnis des Wortes Gottes Einheit der Schrift: Die vielen Schriften bezeugen auf unterschiedliche Weise das eine Wort Gottes. Zweifacher Schriftsinn: wörtlich (offenkundig) / geistig (verborgen) „Die Schrift ist geboren aus einem mystischen Kontakt der Hagiographen mit Gott, sie kann daher richtig verstanden werden wiederum nur auf einer letzterdings ,mystisch‘ zu nennenden Ebene“ (Joseph Ratzinger, Die Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura, München 1955, St. Ottilien 1992, 67). Biblische Texte können als Explikationen von Transzendenzerfahrungen verstanden werden. Sie entfalten eine Erfahrung, die über das äußerlich Wahrnehmbare hinausgeht und im Kern als eine Berührung mit dem Göttlichen zu verstehen ist. Diese Berührung setzt einen Prozess der Verwandlung in Gang, sie eröffnet den Weg der Erlösung. Der Heiligen Schrift geht es letztlich nicht darum, dass der Mensch nur von diesen Dingen hört („Information“), sondern dass er selbst in diesen Prozess hineinfindet („Transformation“). Die Biblischen Texte weisen eine Außen- und eine Innenseite auf. Die Innenseite wird in der christlichen Tradition als „geistiger Sinn“ (secundum spiritualem sensum), die Außenseite als „wörtlicher Sinn“ (secundum litteram) bezeichnet. In der lectio divina richtet sich die Aufmerksamkeit zunächst und vor allem auf den geistigen Sinn der biblischen Texte.
Der geistige Sinn der Texte (ihr innerer Raum) kann nur erkannt werden, wenn im Rezipienten selbst der innere Raum der Wahrnehmung – zumindest anfänglich – erschlossen ist. Der geistige Sinn der biblischen Texte kann also nur von geistigen Menschen wahrgenommen werden. Deshalb ist lectio divina nur sinnvoll in einem „geistigen Kontext“, im Rahmen einer spirituellen Praxis. Es bedarf der inneren Einkehr, der Stille, des Schweigens. Soll Gott sprechen, muss der Mensch schweigen (Johannes Tauler). Die Haltung des Schweigens, auch des inneren Schweigens, und des Hörens wird in der Kontemplation eingeübt. So verweist die lectio divina auf die Kontemplation und umgekehrt.
„Als erstes brauchen wir Geduld. Wir müssen unseren intellektuellen Stoffwechsel verlangsamen und dürfen für unsere Lebensprobleme nicht schnelle und einfache Lösungen suchen. Indem wir den oberflächlichen Enthusiasmus dämpfen, schaffen wir die Umgebung, die es uns ermöglicht, Geistliches intensiver wahrzunehmen. Wir betreten eine Höhle und müssen unseren Augen Zeit geben, sich an das schwache Licht zu gewöhnen. Ebenso müssen wir – von den mannigfaltigen alltäglichen Dingen absorbiert – unsere Suche nach oberflächlichen Reizen aufgeben und auf eine Ebene des Bewusstseins hinuntersteigen, die unserer Aufmerksamkeit gewöhnlich entgeht. Sofort alles an uns reißen zu wollen, ist der beste Weg zum Nicht-Verstehen. Unser Lebenstempo muss langsamer werden und allmählich einen anderen Bereich betreten“ (Michael Casey, Lectio divina. Die Kunst der geistlichen Lesung, Sankt Ottilien 2009, S. 20).
Lit.: Bibel heute 4/2006. Themaheft: Mit Psalmen leben (zu beziehen: www.bibelwerk.de)