Feigling - KUNPDF.COM

Tim, Lukas und André schwangen sich auf die schlüpfrige Mauer der alten Kirchruine. Sie hatten extra dafür eine selbst gebastelte. Strickleiter mitgebracht.
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Andreas März

DUNCKELL Fantasy

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© 2015 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2015 Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag Coverbild: Andreas März Printed in Germany

AAVAA print+design Taschenbuch: eBook epub: eBook PDF: Sonderdruck:

ISBN 978-3-944223-81-0 ISBN 978-3-944223-82-7 ISBN 978-3-944223-83-4 Großdruck und Mini-Buch ohne ISBN

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Kapitel 1

Tim, Lukas und André schwangen sich auf die schlüpfrige Mauer der alten Kirchruine. Sie hatten extra dafür eine selbst gebastelte Strickleiter mitgebracht. Eigentlich sollten sie zur Abenddämmerung wieder zu Hause sein. Ihre Eltern waren aber nicht da. Sie waren heute etwas länger bei der Arbeit. Die drei Nachbarskinder waren seit dem Sandkastenalter miteinander befreundet. Tim war der Anführer der kleinen Clique. Zumindest sah er sich selbst als solcher, weil er immer die besten Ideen hatte, womit sich die Jungs die Zeit vertreiben konnten. Lukas hatte, wie immer, zu nichts eine eigene Meinung und machte deshalb auch jeden Blödsinn mit, den Tim sich ausdachte. André schließlich hielt sich für besonnen und stellte beinahe jede Entscheidung von Tim in Frage. 4

Die anderen sagten es nicht laut, weil sie André mochten, aber in Wirklichkeit hielten sie ihn für einen kleinen Feigling. Vor ein paar Wochen fiel Tim die alte Ruine ins Auge. Sie waren schon oft daran vorbeigelaufen. Jeden Tag, wenn sie in die Schule gingen und wieder nach Hause liefen, führte sie ihr Weg an der alten Kirche entlang. Das Dach des einstigen Gotteshauses war nicht mehr da. Vor etwa zweihundert Jahren fiel es komplett in sich zusammen. Die Anwohner brauchten damals Baustoffe – und Holz zum Heizen, hieß es. Also räumten sie die damals schon alte und bereits entweihte Kirche aus. Sitzbänke wurden herausgetragen, sogar der Beichtstuhl wurde – wie auch die Orgel – zersägt und abtransportiert. (So die Legende ...) Glücklicherweise konnten die Mönche des nahe gelegenen Klosters die wertvollen Kunstschätze retten, bevor Diebe die Gelegenheit bekamen, zuzuschlagen und reiche Beute zu machen. Die wenigen, inzwischen glaslosen Fenster, die schmal und hoch empor 5

ragten, wirkten wie uralte Augen, welche die an ihnen vorbeigehenden Menschen beobachteten. Da auch die Marmorplatten des Fußbodens herausgerissen worden waren, bahnte sich das Gras im Lauf der Jahre seinen Weg nach oben. Dort, wo einst Menschen saßen, knieten und beteten, war nun eine halbwegs grüne Wiese, die noch vollkommen von alten Mauern eingeschlossen war. Es gab nur die Möglichkeit, durch das hohe schwere Holztor hineinzugelangen, dessen Entwendung mit Mühe von der kirchlichen Obrigkeit des Ortes verhindert werden konnte. Die Grundmauern des Kirchenraumes waren alle noch vollständig erhalten. Die Wände des Altarbereiches sahen von allen am besten aus. Vier hohe und schmale Fenster ließen dem Sommerwind hindurchwehen. Die Mitte der Ruine wurde auf beiden Längsseiten niedriger und erhöhte sich wieder in Richtung des großen Tores, dessen Mauerwerk ebenfalls noch vollkommen erhalten war. 6

Vor ein paar Jahren wollte die Stadt diese Ruine abreißen. Da sich aber das Grundstück und somit auch das mittelalterliche Bauwerk in Privatbesitz befanden und der Besitzer auf die Unantastbarkeit seines Eigentums bestand, scheiterte das Vorhaben der Stadt. Die Anwohner der näheren Umgebung waren mit dieser Niederlage ganz zufrieden. Sie mochten sowohl die Ruine – »Sie hat ja so etwas Romantisches an sich!« – als auch ihren kauzigen Verwalter. Ein (ur)alter Priester in Pension, der sich darum kümmerte, dass sich keine Unbefugten hier herumschlichen. Tagsüber war das alte Gemäuer für jedermann frei zugänglich. Doch ab dem späten Nachmittag bestand der alte Mann darauf, dass dieser Ort verlassen werden möge. Und so wurde es seit Jahren gehalten. Niemand nahm daran Anstoß. Niemand, bis auf Tim und seine beiden Freunde. Obwohl sie jeden Tag an der alten Kirche vorbei liefen, kam Tim erst vor kurzem auf die Idee, sich auch abends oder sogar 7

einmal nachts in die Ruine zu schleichen. Als Mutprobe sozusagen, wobei sie alle bei den Vorbereitungen schon wussten, wer bereits die Hosen voll hatte. Heute sollte es endlich soweit sein. Alles war perfekt geplant. Die Eltern der drei Jungs arbeiteten in derselben Firma. Draußen, außerhalb der Stadt bei Ergolines. Ausgerechnet heute gab es eine betriebliche Großveranstaltung, die bis in die späte Nacht andauern sollte. Tim, Lukas und André waren es gewohnt, abends öfter allein zu sein. Und sie wussten auch, dass der alte Priester niemals bei der Ruine blieb, nachdem er ihre Türen verschlossen hatte. Es schien, als hatte der alte Mann Angst vor der Ruine. Das war natürlich alles nur Blödsinn, dachten die drei Kinder und machten sich deswegen oft einen Spaß daraus, den Alten zu necken. Manchmal dachten sie sich Namen für ihn aus. Namen wie »Geisterschlossbetreiber«, »Mister Gruselkabinett« oder einfach nur »feiger Schisser«. André hielt sich da meistens zurück. Er hatte auch Angst vor dem 8

alten Gemäuer. Natürlich würde er es niemals vor seinen Freunden zugeben. (Was, wie gesagt nicht nötig war, da sie es ja schon immer gewusst hatten.) Eigentlich wollte er auch nicht bei dem heutigen Abenteuer dabei sein. Das wussten seine Freunde natürlich auch. Sie wussten aber ebenfalls, dass André lieber mitzog, als sich einen Feigling schimpfen zu lassen. Außerdem hatte er nichts gegen den Verwalter der Ruine. Im Gegenteil. Lukas war der Bastler von den Dreien. Er fertigte ohne große Probleme eine Strickleiter an. Dabei handelte es sich um ein dickes Seil, das Lukas in gleichmäßigen Abständen mit mehreren Knoten versehen hatte. Holzsprossen verursachten nur unnötigen Lärm, wie er meinte. Am Ende des Seils war ein Enterhaken befestigt, den Tim aus der Garage seines Vaters mitgenommen hatte. Er würde es wahrscheinlich eh nie merken, dachte er sich. So oft war sein alter Herr nun auch wieder nicht in der Garage. 9

Zum Glück für die Kinder, klappten sich in dieser Gegend die Bürgersteige sehr zeitig nach oben. Schnell kehrte hier Ruhe ein. Es war ein lauer Sommerabend, und der Himmel zeigte kein einziges Wölkchen. Tim sah sich noch einmal verschwörerisch in alle Richtungen um. Er genoss diese Art Nervenkitzel. Gekonnt schwang er den Enterhaken über die niedrigste Stelle der seitlichen Mauer. In vier Metern Höhe hakte er sich fest. Gleich beim ersten Mal – als wenn er geübt hätte. Tim hatte selbstverständlich keine Höhenangst. Lukas auch nicht. André dagegen schlug vor, dass er hier draußen Wache schieben sollte. Auf diese Weise könnte er seine Freunde warnen, falls doch noch jemand vorbei kam. Tim und Lukas reagierten auf diesen Vorschlag mit verständnislosen Blicken und anschießendem Gekicher hinter vorgehaltener Hand. Notgedrungenermaßen musste André seine Idee vergessen. Ihm wurde die Ehre zuteil, als Zweiter nach oben zu klettern. So sollte ausgeschlossen werden, dass er es sich am 10

Ende doch noch anders überlegte und einfach nach Hause lief. »Nun komm schon«, drängelte Lukas. »Bis unsere Alten zu Hause sind, dauert es noch eine ganze Weile. Heute ist Freitag. Morgen können die ausschlafen. Also lass dich nicht ständig drängeln. Oder hast du etwa Angst?« Das saß mal wieder. Lukas wusste ganz genau, wie er André zu fassen bekam. Er kitzelte ihn an seiner Ehre. André schüttelte nur den Kopf. Tim schien das zu reichen. Er hob nur kurz die Schultern und begann seinen Aufstieg. Dabei stemmte er die Füße gekonnt gegen die Mauer, zog kräftig mit den Armen und begab sich nach oben. Auf diese Weise wollte er erstens zeigen, was für ein toller Hecht Tim war und wie die anderen Jungs es ihm nachmachen sollten. Als er nach wenigen Augenblicken oben angekommen war, blieb er auf dem breiten Mauerrand einfach sitzen und winkte André zu. Er sollte sich gefälligst beeilen, weil Lukas es auch kaum noch aushalten könne. Obwohl 11

André es mit dem Mut nicht ganz so genau nahm, war er dennoch kein Schwächling. Sein Aufstieg sah sogar noch besser aus als der von Tim. Das musste auch Lukas neidvoll anerkennen. Oben angekommen erkannte André auch, warum Tim oben sitzen blieb. Sie mussten die Mauer schließlich auch wieder runter, wenn sie in das Innere der Ruine gelangen wollten. Nach unten springen kam nicht in Frage. Denn wie sollten sie dann wieder nach oben gelangen? Lukas erreichte schnaufend den Mauerrand. Dennoch waren Tim und André ein wenig erstaunt, wie der dicke Junge so schnell sein konnte. Sicherlich war es anstrengend. Tim ging deswegen auch davon aus, dass Lukas sich eigentlich mehr Zeit für seine Kletterei nehmen würde. Weit gefehlt. Lukas hatte nämlich auch seinen Stolz, der ihm manchmal Probleme bereitete. Wenn André wie der Wind die Wand emporsteigen konnte, dann konnte Lukas das, verdammt noch mal, sogar noch viel besser, wenn es sein musste. 12

André bestand auch darauf, als Erster nach unten zu klettern, obwohl ihm der Schweiß bereits in Sturzbächen das Gesicht runterlief. Tim hatte nichts dagegen. Er zog das Seil herauf und machte den Enterhaken fest. Wenn das Seil Lukas bei seinem Abstieg halten konnte, würden Tim und André ebenfalls keine Probleme haben, obwohl es sich ja bereits bewährt hatte. Die Dämmerung war noch nicht sehr weit fortgeschritten. Dennoch sah das Innere der Ruine plötzlich unnatürlich dunkel aus. Andrés Unbehagen wuchs mit jeder Sekunde weiter an. Etwas stimmte nicht mit diesem unheimlichen Ort. Wenn Tim und Lukas ebenso dachten, verbargen sie es deutlich besser als André. André kletterte nach unten. Lukas folgte ihm schnaufend. Die beiden Jungs sahen sich um. Die alten Fenster wirkten bedrohlich – wie alles hier. Tagsüber würden sie auf einer grünen Wiese stehen, auf der hier und da ein paar große Steine verstreut lagen und total deplat13

ziert wirkten. An der hinteren Wand konnte man für gewöhnlich die Reste von vier Stufen erkennen, die früher einmal zum Altar hinaufgeführt hatten. Aber jetzt konnten weder André noch Lukas kaum etwas erkennen. Das Gras unter ihnen war pechschwarz und fühlte sich unter ihren Füßen irgendwie unwirklich an. Leblos. Wie schwarzes Stroh. Plötzlich hörten sie einen Schrei oberhalb ihrer Köpfe. Tim hatte noch etwa drei Meter bis zum Boden. Seine Beine strampelten wie wild, und sein Gesicht war so weiß wie eine Totenmaske. Während Lukas das Seil festhielt, um ihm mehr Stabilität zu verleihen, sah André in die Richtung, in die auch Tim angsterfüllt starrte. Er konnte nichts Auffälliges erkennen. In dieser Richtung war ebenfalls alles so unnatürlich dunkel wie im Rest des Hofes. Selbst die Taschenlampe, die André vorsichtshalber mitgebracht hatte, war nicht in der Lage, die Dunkelheit zu durchdringen, die immer wei14

ter anwuchs und dichter zu werden schien. Greifbarer. Tim strampelte immer heftiger, und seine Hände fingen an zu schwitzen. Das Unvermeidliche trat ein: Tim rutschte ab und stürzte nach unten. Der Aufprall war hart. Tim schrie sofort auf und hielt sich das rechte Bein. André und Lukas mussten keine Ärzte sein, um zu wissen, dass das Bein gebrochen war. Sie konnten es deutlich knacken hören. Das Sehen jedoch viel ihnen zunehmend schwerer. »Wir müssen Hilfe holen«, sagte André der Verzweiflung nahe. »Tim braucht einen Arzt.« »Spinnst du?«, entwich es Lukas entsetzt. »Weißt du, was die mit uns machen? Die Erwachsenen werden uns ins Gefängnis stecken, weil wir hier waren.« »Kinder kommen nicht ins Gefängnis«, meinte André wissend. »Die können höchstens unsere Eltern einsperren. Da draußen steht ein Schild mit der Aufschrift: Eltern haften für ihre Kinder!« Tims Stöhnen wurde ein wenig lauter. 15