Das Bild in mir
Erklärungen für vermisste Soldaten zu akzeptieren. Jahrzehnte nach dem Verschwinden des Vaters ist sie bereit, das Geheimnis um »Papa Paul« zu lüften, und begibt sich mithilfe der akribischen Mittel einer Historikerin auf die Suche nach seinen Spuren. Mit ihrer zeitgeschichtlichen Rückblende lüftet die Autorin nun ein Familiengeheimnis um den Verschollenen und hinterfragt dabei sowohl das Wesen und die Persönlichkeit des Vaters als auch Leerstellen in der eigenen Biografie. Gleichzeitig zeichnet ihre Geschichte ein Bild der Kriegs- und Nachkriegsjahre und reflektiert die psychischen, physischen und zwischenmenschlichen Auswirkungen und Verwerfungen der beiden Weltkriege.
Helga Gotschlich
Als wäre es gestern gewesen, erinnert sich Helga Gotschlich an die Situation im Luftschutzkeller während des Bombenangriffs auf Dresden und an die Bilder der Menschen, die ums nackte Überleben kämpften. Die Historikerin gehört selbst zur Generation der »Kriegskinder« und erzählt im vorliegenden Werk ihre eigene Geschichte. Im Mittelpunkt der Reise zurück in die Zeit des Krieges steht die Frage nach dem verlorenen Vater, genannt »Papa Paul«. Nach 1945 kehrte er nicht mehr nach Hause zurück. Was geschah mit ihm? Durch den Verlust des Vaters veränderte sich die Situation in der Familie drastisch. Lange weigert sich die heranwachsende Tochter, die neue Lebenssituation anzuerkennen und die üblichen
Helga Gotschlich
Das Bild in mir
Ein Kriegskind folgt den Spuren seines Vaters
Helga Gotschlich, Dr., arbeitete nach Abschluss
der universitären Ausbildung zur Historikerin an der Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW) als wissenschaftliche Mitarbeiterin, dann als Abteilungsleiterin und schließlich als Direktorin des Instituts für zeitgeschichtliche Jugendforschung (IzJ). Nach der deutschen Wiedervereinigung konnte Helga Gotschlich als Direktorin des IzJ und als wissenschaftliche Mitarbeiterin der TU Berlin ihre Forschungsarbeit fortsetzen, bis sie 2005 in den Ruhestand ging.
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Helga Gotschlich
Das Bild in mir Ein Kriegskind folgt den Spuren seines Vaters
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. E-Book-Ausgabe 2012 © der Originalausgabe 2012 Haland & Wirth im Psychosozial-Verlag Walltorstr. 10, D-35390 Gießen Fon: 06 41 - 96 99 78 - 18; Fax: 06 41 - 96 99 78- 19 E-Mail:
[email protected] www.psychosozial-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: Paul als Soldat, 1942/43 Umschlaggestaltung & Satz: Hanspeter Ludwig, Wetzlar www.imaginary-world.de ISBN Print-Ausgabe 978-3-8379-2177-9 ISBN E-Book-PDF 978-3-8379-6545-2
Inhalt
Prolog
9
Das Lächeln des Papa Paul
13
Inseln der Erinnerung
33
Einfach am Leben bleiben
57
Wer weint denn schon um Annedora
79
Das Gesicht
95
Tapfere Mädchen weinen nicht
103
Es wäre ja recht
119
Chitler kapuuut!
133
Schatten ihrer selbst
145
Noch nicht
159
Draußen und drinnen
173
Momentan nicht zu Hause
187
Ein Telegramm
203
Das Leben geht weiter
219 5
Inhalt
Das Tabu
237
Eine verschlossene Blechschachtel
259
Seine Majestät der Zufall
277
Gesprengte Fesseln
291
Das Kind in der langen Jacke
303
Unerfüllte Erwartungen
319
Wer steckte in der Uniform?
333
Ob der Paul …?
341
Der Name einer Stadt
361
Das andere Leben
373
Die Verwandlung
391
Licht hinter den Wolken
407
Dank
421
Historiografische Anmerkungen
423
Literatur
435
6
Für den Lockenkopf Mirko, der gern einen Großvater gehabt hätte
Prolog Wenn du nicht da bist, hab ich noch immer. was du gesagt hast und dein Gesicht. Heinz Kahlau Der Fluß der Dinge, Gedichte
Es ist Frühling 1942. Der Vater sitzt in seinem Sessel. Ihm zu Füßen hockt atemlos gespannt das vierjährige Mädchen und weiß: Nichts darf die Stille des magischen Moments unterbrechen, damit es mit dem Vater – den es Papa Paul nennt – ins Märchenland »Irgendwo« reisen kann. Um dorthin zu gelangen, schließen beide für Sekunden die Augen … bis sie in der Stille die »wahre Melodie des Lebens« hören. Erst dann beginnt Papa Paul mit seiner Geschichte. Das Kind wird den Worten lauschen und an seinen Lippen hängen, wenn er vom »Irrwisch mit den blankgeputzten Augen« und anderen Bewohnern aus dem Lande »Irgendwo« erzählt. Heldentaten werden im Lande »Irgendwo« nicht von schwer bewaffneten Kriegern vollbracht, sondern wie in diesem Frühlingsmonat Mai von einer leise summenden Biene, die Blütenkelche bestäubt und dafür sorgt, dass daraus lautlos Früchte wachsen und reifen können. Diese Biene ist eine Heldin, weil sie dazu beiträgt, das Leben im Lande »Irgendwo« zu erhalten. Seine Geschichten beendet Papa Paul mit den Worten: »Als Irrwisch und die Bewohner des Landes ›Irgendwo‹ ihr Tagwerk vollbracht hatten, begaben sie sich zur Ruhe, beschützt und getragen von der Hoffnung auf einen neuen Tag.« Das Kind bestaunt die wundersame andere Welt, zu der es nur mit dem Vater in kostbaren Augenblicken einen Zugang finden kann. Und in der sich beide immer wieder neu begegnen. 9
Prolog
Papa Paul (1942) 10
Prolog
Als der Vater zwei Monate später als uniformierter Soldat der deutschen Wehrmacht, einem Gestellungsbefehl folgend, an die Front »gerufen« wird und aus dem Leben des Kindes zuerst zeitweise, dann länger und immer länger verschwindet, spürt es die fremde Macht, die über den Vater verfügt und stärker ist als seine Anhänglichkeit und Liebe zu ihm. Die zurückbleibende Tochter unterdrückt dann ihre Tränen, weil »tapfere Mädchen beim Abschied vom Vater nicht weinen dürfen«. Wie Millionen andere Kriegskinder verbleibt es allein in der mütterlichen Obhut … Am Ende des Krieges war das Mädchen sieben Jahre alt und sein Papa Paul galt als »vermisst«. Sein Platz am Familientisch blieb auch in den Nachkriegsjahren leer. Eine tiefe Sehnsucht und Erinnerungen an eine viel zu kurze gemeinsame Wegstrecke waren dem Kind geblieben. Es konnte nicht vergessen, dass Papa Paul, der Panzerfahrer auf Urlaub, am 13./14. Februar 1945 zu Hause war, als der Krieg plötzlich über das heimatliche Dresden hinwegwalzte, als zu später Stunde Sirenen gellten, die Luft vibrierte und alliierte Bombengeschwader nach ausgeklügeltem Plan ihre Vernichtungsorgie bisher unvergleichlichen Ausmaßes realisierten. Als an jener Stelle im Garten, an der Papa Paul für die Kinder des Hauses die Buddelkiste angelegt hatte, plötzlich ein Bombentrichter klaffte. Papa Paul hatte damals seine Tochter mit festem Griff aus der Finsternis eines einsturzgefährdeten Kellergewölbes ins Freie befördert. Er war den Hausbewohnern in jener Nacht wie ein Retter aus höchster Not erschienen und dem Kind wie ein die Familie beschützender Riese. Szenen, in denen das Kind den väterlichen Schutz verspürt hatte, rief es sich auch ins Gedächtnis, als bei Kriegsausgang die Welt ringsum zerbrach und das Recht des Stärkeren galt. Auf ihre »Inseln der Erinnerung« platzierte die Tochter später als Jugendliche dazufabulierte Papa-Paul-Bilder, mit denen sie sich traumverloren arrangierte und an denen sie sich zu orientieren suchte. Sie glaubte noch an den »Heimkehrer«, als Realisten diese Hoffnung auf ein Wiedersehen mit dem Vater wie eine Dummheit erschien. Erst als der Erwartete 1956 auch nicht zu einem allerletzten Heimkehrertransport und damit zu den spät aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft entlassenen Deutschen gehört hatte, verbannte die inzwischen 18-Jährige ihre Erinnerungen an Papa Paul und ihre Sehnsucht ins tiefe Unterbewusstsein – dahin, wo man nicht 11
Prolog
ständig schmerzhaft auf sie treffen musste. Schon, weil ja das Leben weiter ging! Diese vom Alltag abgespaltene und verschlossen gehaltene Sehnsucht nach Papa Paul hatte so sechs Jahrzehnte überdauert, als ein winziger Anlass ausreichte, um vernarbte Wunden aufbrechen zu lassen. Erinnerungen bedurften plötzlich der schriftlichen Ausdrucksform. Aber darüber hinaus begann eine aufwendige Spurensuche nach Papa Paul. Denn die inzwischen schon betagte Tochter wollte herausfinden, wer dieser Vater, der sie wie ein Schatten durchs Leben begleitet hatte, eigentlich gewesen war. Nie zuvor gestellte Fragen nach seiner Persönlichkeit, in der sich die Tochter wiederfinden und von der sie sich abgrenzen wollte, standen plötzlich zwingend im Raum. Erwartungsgemäß gestaltete sich die biografische Recherche vor dem zeithistorischen Hintergrund zweier Weltkriege aufwendig. Die sich abzeichnenden individuellen Verhaltensmuster des Vaters schienen widersprüchlich, so wie das Leben selbst. Es gab für die Autorin Momente, in denen sie sich angesichts einer Fülle schockierender Informationen zweifelnd befragte, ob sie der Herausforderung weiterer Nachforschungen noch gewachsen sei. In diesen Momenten der inneren Not half ihr der Gedanke daran, dass der Vater, wie die Bewohner in seinem Märchenland »Irgendwo«, beschützt und getragen von der Hoffnung seinem unverwechselbarem eigenem Weg gefolgt ist. Sie wusste zugleich, dass Lebensspuren eines Menschen mit unterschiedlicher Lesart reflektiert werden und es nie nur eine Geschichte geben kann, sondern viele. Zu Papier brachte sie ihre.
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Das Lächeln des Papa Paul
Melodien klingen leise, dann wieder anschwellend oder beschwingt aufbrausend durch den Raum. Das vierjährige Mädchen steht im roten, weißgepunkteten Kleid am Stutzflügel des Musikzimmers und wiegt sich im wechselnden Rhythmus der Töne, die Papa Paul, mit flinken Fingern über die Klaviertasten gleitend, hervorzaubert. Gebannt beobachtet es dabei im aufgeklappten Saiteninstrument die kleinen auf- und abspringenden Dämpfer. Papa Paul nennt sie spaßhaft Wuppdiche. Sie bewegen sich scheinbar ganz von allein, willkürlich, wild durcheinander. »Psst! Doch nicht Mendelssohn bei offenem Fenster!«, flüstert die herbeieilende Mama kopfschüttelnd. Sie schließt geräuschvoll die doppelte Balkontür des Nebenraumes und das zur Straße führende Erkerfenster. Dann erst lauscht auch sie den Liedern ohne Worte. Mendelssohn scheint dem Kind ein Sammelbegriff für besonders wohlklingende Musikstücke zu sein, die Papa Paul nur daheim spielen soll. Die Familie hütet diese melodischen Klänge vor Fremden wie ein Geheimnis. Dem Kind gefällt das. Erst viel später erfuhr es, dass seine Eltern mit Mendelssohn nicht nur besonders melodische Kompositionen bezeichneten, sondern einen Musiker jüdischer Herkunft, Felix Mendelssohn-Bartholdy, dessen Werke in Hitlerdeutschland »unerwünscht« waren. Diese und andere Episoden meiner frühen Kindertage geistern mir durchs Gedächtnis. Wir lebten damals in Dresden, der schönen Stadt am Elbfluss. 13
Das Lächeln des Papa Paul
Unser Familienalltag verlief in den ersten Kriegsjahren harmonisch – kaum beeinträchtigt von den Erschütterungen in Deutschland und in der Welt. Zumindest erinnere ich mich so meiner kindlichen Wahrnehmung: In aller Frühe beliefert uns der Bäcker mit Brötchen, das Molkereigeschäft mit frischer Milch. An der Stirnseite des Esstisches sitzt unser Familienoberhaupt, mein Papa Paul. Er arbeitet als Spezialist für Elektrotechnik bei der Technischen Nothilfe (TENO) und trägt eine Dienstkluft, die er daheim ablegt. Manchmal ziehen die Eltern abends ihre schicke Garderobe an. »Wir gehen zum Schwof«, sagt dann Papa Paul scherzhaft, während sich Mama über dieses »gewöhnliche« Wort kopfschüttelnd amüsiert. Wenn beide ins Kino wollen, drängt Mama den trödelnden Papa Paul zur Eile, weil er die vorverlegten Anfangszeiten des Kinos anscheinend wieder einmal nicht bedacht hat, sodass man die ausgedehnte Wochenschau zum Kriegsgeschehen aus aller Welt verpassen und »unnötig auf sich aufmerksam machen wird«. Papa Paul lacht dann, wenn Mama ihn »Bummelfritze« nennt und umarmt sein »braves Kätchen«. Ich mag es, wenn die beiden so miteinander schäkern und winke am Fenster, wenn Papa Paul und Mama einträchtig miteinander tuschelnd und scherzend losziehen. Das zurückbleibende Kindermädchen Gerda trägt ein Maidenkleid mit Brosche und betont vor meiner Schwester und mir bedeutsam, dass es in unserem Haushalt sein »Pflichtjahr« ableistet. Gerda liest mir abends aus meinem Lieblingsbuch Heidi im Zoo vor. Sie darf nicht schummeln, keine Seite und keine Zeile überspringen. Denn ich kenne alle Texte auswendig! Meine kleine Welt ist das Kinderzimmer und ein weiter Hausgarten, in dem meine große, um vier Jahre ältere Schwester Helen und ich unsere Spielecken wissen. Aber an den Wochenenden landstreichern wir – Papa Paul in seinen in Pfeffer und Salz gemusterten Knickerbockern, Mama, Helen und ich in leichten Sommerkleidern – oft in der schönen Umgebung und haben unseren Heidenspaß miteinander. In meinen ersten vier Lebensjahren war also der Krieg nur ein Wort, das ich nachplapperte. Dann und wann entstanden mir aus Redewendungen Erwachsener und alltäglich benutzten Wörtern, die offenbar dem 14