Christoph Horn
Das Bewusstsein, unter dem moralischen Gesetz zu stehen Kants Freiheitsargument in GMS III Erschienen in: Dieter Schönecker (Hrsg.), Kants Begründung von Freiheit und Moral in Grundlegung III ISBN 978-3-89785-078-1 (Print)
mentis MÜNSTER
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2015 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany ISBN 978-3-95743-902-4 (E-Book)
Christoph Horn DAS BEWUSSTSEIN, UNTER DEM MORALISCHEN GESETZ ZU STEHEN Kants Freiheitsargument in GMS III Im Dritten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten stoßen wir auf ein anti-deterministisches Argument, das sich auf den Gedanken einer Unhintergehbarkeit unseres Freiheitsbewusstseins stützt (4:448). 1 Nennen wir es im Folgenden das Argument aus dem Freiheitsbewusstsein. Es lautet ungefähr so: Als Akteure können wir uns nicht anders verstehen als so, dass wir aus Gründen handeln; wenn wir uns aber nicht – oder zumindest nicht vollständig – als von determinierenden Ursachen bestimmt denken können, muss ein konsequenter Determinismus falsch sein. Das Argument erscheint bei Kant auch andernorts, prominent etwa in der Rezension von J. H. Schulz’ Sittenlehre (1783; 8:13 f.). Auf den ersten Blick wirkt es bestechend, gerade auch in seiner Einfachheit. Doch der Wert dieses Arguments lässt sich sehr unterschiedlich beurteilen: Man kann es im günstigsten Fall für einen gültigen Freiheitsbeweis halten und schlimmstenfalls als völlig verfehlt ansehen, da es lediglich unser (vielleicht illusorisches) Freiheitsbewusstsein spiegele. Auch Kant selbst scheint in seiner Beurteilung des Arguments zu schwanken: Einerseits betrachtet er es als besonders wertvoll, andererseits aber doch als unzulänglich und ergänzungsbedürftig. In der Grundlegung, so scheint mir, erklärt er erst eine bestimmte Modifikation des Arguments für ausreichend, nämlich die, bei der die bestimmenden Handlungsgründe kategorische Imperative sind: Als rationale Akteure müssen wir uns dann als frei ansehen, wenn sich unser gründebasiertes Überlegen unter unausweichliche normative Vorgaben gestellt sieht, die der Spontaneität der Vernunft entspringen. In diesem Aufsatz geht es mir darum, die Schlüsselrolle herauszuarbeiten, die das Argument aus dem Freiheitsbewusstsein für GMS III und insbesondere das Problem der Deduktion des kategorischen Imperativs spielt. Ich denke, es lässt sich auf seiner Basis eine Textinterpretation bieten, die eine Alternative zur besten bislang verfügbaren Lesart liefert, nämlich zu der von Dieter Schönecker (1999 und 2006). Im Folgenden geht es mir zunächst darum, Kants Ausgangsposition in der Freiheitsdebatte vor der Grundlegung 1
Dieser Aufsatz knüpft an die Überlegungen von Horn (2012) an.
138
Christoph Horn
kurz zu skizzieren und dann das Argument selbst darzustellen (I), seinen Kontext zu erläutern und seinen Wert zu taxieren (II) und schließlich seine Rolle im Dritten Abschnitt der Grundlegung zu bestimmen (III). Denn ein Verständnis seiner Funktion hilft, wie mir scheint, entscheidend dabei, den argumentativen Verlauf von GMS III zu begreifen. Die ambitionierte These dieses Aufsatzes ist es, dass man, um GMS III zu verstehen, sich klarmachen muss, in welcher Form Kant das Argument aus dem Freiheitsbewusstsein 1785 für ungenügend hielt und in welcher Form er es akzeptierte. Darin scheint mir ein Schlüssel zum Verständnis von GMS III insgesamt zu liegen.
I. Der Argumentationsverlauf des Dritten Abschnitts der Grundlegung ist hochgradig umstritten; unkontrovers ist nur, dass Kant hier zeigen möchte, dass es sich bei unserer Moralitätsidee des kategorischen Imperativs nicht um ein bloßes Gedankending und nicht um eine Phantasterei oder Chimäre handelt. 2 Das bedeutet, dass dem letzten Textstück der Grundlegung die Aufgabe zukommt, abschließend über Erfolg oder Misserfolg seiner Argumentation zugunsten eines obersten Moralprinzips zu entscheiden. Kant legt dazu eine strukturierte Beweisführung vor, die der Stützung seines kategorischen Imperativs dienen soll; diese vollzieht er in sechs voneinander durch Überschriften abgegrenzten Sektionen. Das zentrale Argument des Dritten Abschnitts bezeichnet er ausdrücklich als ›Deduktion‹ (4:447, 22 f.; vgl. 454, 21; 463, 21f.), also als Legitimitätsnachweis. In der Kant-Forschung ist es jedoch umstritten, wo genau die Deduktion im Text zu finden ist, welche präzise Leistung sie erbringen soll und worin Kants Beweisführung eigentlich besteht. Klar ist jedenfalls soviel: Um zu zeigen, dass der kategorische Imperativ kein Konstrukt ist, muss dargelegt werden, dass er für uns verpflichtend ist; um das zu zeigen, muss wiederum nachgewiesen werden, dass wir frei sind, nach ihm zu handeln. Der kategorische Imperativ muss unseren freien Willen bestimmen können – erst wenn das dargelegt ist, ist die von Kant intendierte Moralbegründung gelungen. Worin nun auch immer das Freiheitsargument von GMS III liegen mag, er hat an ihm und der gesamten hier vorgelegten Moralbegründung bereits 1788 nicht mehr festgehalten. In der Kritik der praktischen Vernunft sagt Kant explizit, dass »die objektive Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduktion [. . .] bewiesen« werden kann (5:47). Doch diese spätere Ablehnung der Deduktion muss man richtig verstehen. Natürlich versucht auch die Grundlegung nicht, die objektive Realität des 2
So etwa der wiederholt geäußerte Verdacht in 4:394, 36, 407, 17 und 445, 8.
Das Bewusstsein, unter dem moralischen Gesetz zu stehen
139
Moralgesetzes durch einen theoretischen Freiheitsbeweis zu liefern. Kant hält einen solchen immer und grundsätzlich für unmöglich; bereits in der Kritik der reinen Vernunft erklärt er sowohl einen Freiheitsbeweis basierend auf Begriffen als auch einen Freiheitsbeweis, der auf Erfahrung beruht, für ausgeschlossen. Was aber gemäß der ersten Kritik gleichfalls falsch wäre, ist der Schluss auf die Richtigkeit eines naturalen Determinismus. Doch nicht die theoretische Pattsituation zwischen Freiheitsthese und Determinismus ist hier der entscheidende Punkt. Der zentrale Akzent, den Kant in der ersten Kritik setzt, ist vielmehr der der Vereinbarkeit beider Positionen. In der dritten Antinomie (KrV A444 /B472–A451/B480) weist er die Vorstellung zurück, unser Nachdenken zum Problem von Freiheit und Determinismus verstricke sich in eine unausweichliche Aporie. Die beiden Standpunkte, wonach wir einerseits »eine Reihe von successiven Dingen oder Zuständen von selbst anfangen« (KrV A448 /B476) können, und wonach andererseits ein durchgängiger kausaler Zusammenhang besteht, können beide zugleich wahr sein. Ihre Vereinbarkeit zu zeigen, ist genau die Errungenschaft seines Transzendentalen Idealismus. Natürlich stellt der Nachweis, dass die beiden Vorstellungen – die der freien Spontaneität und die des durchgehenden naturalen Kausalnexus – miteinander vereinbar sind, selbst noch keinen Freiheitsbeweis dar. Er impliziert nur, dass transzendentale Freiheit nicht schon dann auszuschließen ist, wenn wir die Vorstellung eines ununterbrochenen Kausalnexus für alle Ereignisse der sinnlichen Erfahrungswelt akzeptieren – und lässt damit Raum für einen Freiheitsbeweis, der nicht theoretisch konzipiert ist. Dabei ist zu beachten, dass zwischen beiden scheinbar antinomischen, in Wahrheit aber miteinander vereinbaren Sichtweisen eine bestimmte Asymmetrie besteht: Während die Vorstellung eines durchgehenden Kausalnexus durch unsere Erfahrung bestätigt wird, ist es nach Kant nicht hinreichend, unser alltägliches Bewusstsein praktischer Freiheit und unsere Erfahrung von Akteurskausalität (ich hole mir ein Glas Wasser aus der Küche, um meinen Durst zu stillen) als Bestätigung für die transzendentale Freiheit heranzuziehen. In GMS III heißt es denn auch ausdrücklich, Freiheit sei »nur eine Idee der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist, Natur aber ein Verstandesbegriff, der seine Realität an Beispielen der Erfahrung beweist und notwendig beweisen muß« (4:455). ›Ideen‹ sind für Kant reine Vernunftbegriffe, die uns in gewissen Grenzen die Überschreitung des erfahrungsbezogenen Vernunftgebrauchs erlauben. Wichtig dabei ist, dass sie lediglich regulative, nicht aber konstitutive Prinzipien der Erkenntnis bilden. 3 Die Leistung von Ideen besteht darin, eine systematisch-kohärente Einheit und Gesetzmäßigkeit in einem Feld der Wirklichkeit zu beschreiben, das uns gewöhnlich als unge3
Vgl. etwa KrV A 671/B 699.