Dirk Baecker Organisation als System

den Wechsel von hierarchisch vorgegebener zu interaktiv ausgehan- ..... 73 Siehe zur Idee der »Risikostrukturen« Dirk Baecker, Womit handeln Banken? ..... 99 Diesen Vergleich zieht Peter Sloterdijk, Selbstversuch: Ein Gespräch mit Carlos.
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Inhalt

Dirk Baecker Organisation als System Vorwort

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Aufsätze I. PRAXIS Wieviel Organisation braucht die Organisation? Zwei Antworten auf eine Frage Wohldefinierte und schlechtdefinierte Systeme Die Organisation der Differenz Wie kommuniziert eine Organisation? Welchen Unterschied macht das Netzwerk? Fehldiagnose ›Überkomplexität‹ Was ist Komplexität? Vom Atom bis zum Unternehmen Selbstorganisiertes Chaos Ein Fall für Technik? Management by Complexity Bürokratie oder Kommunikation? Wenn es im System rauscht Die Möglichkeiten der Information Wenn eine Unterscheidung unklar wird Dann doch lieber mit System Die Pflege des Zufalls ›Gezielte‹ Kommunikation Ambivalente Kommunikation Selektive Information Gezielte Desinformation Zum Problem des Wissens in Organisationen Wissen ist nicht gleich Wissen Wissensarten Wissen als Kommunikation Triviales Wissen, nichttriviale Wissensverarbeitung Dimensionen der Ablehnung Wissen als Prüfoperation Organisation und Individuum Wissensmanagement zur Anschlußsicherung Grenzen der Transparenz

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Ein Widerspruch kommt selten allein: Die Organisation und ihre Kultur Sprichwörter der Organisation Rationalität kann man auch übertreiben Kontingenzkultur Kultur im Unternehmen Drei Bestseller Rationalität versus Motivation Das Theorem des ›zweiten Jobs‹ Organisation in Gesellschaft Perspektiven für die Wissenschaft?

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Profit und Management Eine soziologische Perspektive Die Mehrdeutigkeit des Gewinns Die Aufgabe des Managements Der Anteil der Selbstorganisation Organisierter Rückzug Alternativen zum Gewinn? Soziologie des Unternehmens Die Aufgabe der Soziologie Ein dialektisches Verfahren Kommunikation als Bezugsproblem Dämonologie des Unternehmens

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2. THEORIE 3. LEHRE Die doppelte Schließung der Organisation Performanz Virtualisierung Die Entscheidung Das Programm Die Rekursion Latenzbeobachtung Einfache Komplexität Richtige Reduktionen Luhmanns Vermutung Ein Ausweg Komplexität als Maßnahme Die Suggestionen der Hierarchie Der Streß der Teams Die Intelligenz der Netzwerke Management als ›Symbol‹ Komplexität als Information Mit der Hierarchie gegen die Hierarchie Vorbemerkung Die Hierarchie als Kunststück Organisation versus Gesellschaft Die Funktion der Hierarchie Die Hierarchie als Operation Sekundäre Hierarchisierung Das Fraktal

126 126 132 136 147 156 161 169 169 172 176 179 182 185 189 192 196 198 198 199 203 207 218 221 232

Perspektiven einer Fakultät für Wirtschaftswissenschaften Die Leistung der Ökonomen Die Unternehmen sind nicht die Wirtschaft Praktische Relevanz Exkurs zur Erkenntnistheorie Eine neue Situation Komplexität verlangt Öffnung Von der Institution zur Organisation Das Unternehmerische Das Handwerk des Unternehmers Neue Produkte Rationalität versus Intelligenz Die Suche nach der Lücke Wir sind alle Unternehmer Produktdesign Organisationsdesign Netzwerkdesign Kulturdesign

297 297 300 303 308 311 314 316 325 330 330 335 341 347 349 352 359 367

Nachweise

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Das Handwerk des Unternehmers

Der Beitrag macht sich Gedanken um Möglichkeiten der schulischen Unternehmerausbildung. Zunächst wird der Bedarf an der Förderung einer lange Zeit unterausgelasteten Form gesellschaftlicher Intelligenz geschildert, die in den Produkten des Unternehmers liegt. Dann wird die Frage gestellt, wie man die Paradoxie überwinden kann, daß Unternehmer auf einer Schule allenfalls verlernen können, was unternehmerisches Handeln ausmachen kann. Die Antwort auf diese Frage läuft darauf hinaus, den Unternehmer als einen Lückenfinder zu verstehen, dem zwar nicht im Vorhinein die Lücken gezeigt werden können, die er für seine Produkte und für sein Unternehmen finden kann, der jedoch gelehrt werden kann, Fragen zu stellen, die auf Lücken aufmerksam machen. Im Anschluß daran wird ein Curriculum entworfen, das auf den Erwerb der Fähigkeit hinausläuft, vier Fragen zu stellen: »Was fehlt?«, »Was wird nicht entschieden?«, »Wer macht nicht mit?« und »Was ist nicht wichtig?« Antworten auf diese Fragen liegen in einem nicht vorwegzunehmenden, nur lokal zu findenden Produktdesign, Organisationsdesign, Netzwerkdesign und Kulturdesign.

Neue Produkte Es ist nicht ganz einfach, sich ein Bild vom Qualifikationsprofil eines Unternehmers1 zu machen, das man zum Ausgangspunkt der Entwicklung eines Curriculums der Unternehmerausbildung ma-

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Wenn im folgenden durchweg von der maskulinen Form des Unternehmers die Rede ist, ist damit die feminine immer mitgemeint. Ich halte mich aus sprachlichen Gründen an die Unterstellung, die männliche Form für die allgemeine halten zu können, bin mir jedoch darüber im klaren, daß einige Aspekte des Handwerks des Unternehmers, das ich im folgenden beschreibe, bei Frauen unter Umständen besser aufgehoben sind. Man lese die maskuline Form im folgenden also bitte als markierte Form, die im Sinne der Linguistik die Rückfrage nach der femininen nicht etwa ausschließt, sondern nahelegt.

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chen könnte.2 Die Universitäten haben mit ihren Betriebswirtschaftslehren den Unternehmer bislang eher eingekreist, gezähmt und kultiviert als ermutigt und gefördert. An den Schulen wird der Unternehmer eher mit Skepsis verfolgt als zum Vorbild individueller Lebensgestaltung erhoben. Der »Prozeß der schöpferischen Zerstörung«,3 als dessen Meister der Unternehmer gilt, wird für gesellschaftliche Ungleichgewichtslagen verantwortlich gemacht, deren ökonomische Erfolge keine Begeisterung mehr wecken, deren soziale und ökologische Auswirkungen Sorgen machen und deren Gestaltung politischen Bemühungen um Einhegung überantwortet wird. Wir verfügen über eine ausgefeilte Rhetorik der Wiedereinbindung des Unternehmers m die gesellschaftliche Verantwortung, die von Betriebswirtschaftslehren rationalen Entscheidens über Organisationslehren vernünftigen Führens bis zum Hinweis auf den Beitrag des Unternehmers zur technologischen Entwicklung, Bereitstellung von Arbeitsplätzen, Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt und Sicherstellung besteuerbarer Kapitalgewinne reicht. Wir haben den Unternehmer gezähmt und damit den gesellschaftlichen Verdacht beruhigt, mit dem er beobachtet wird, seit er als Fürst, Grundherr, Projektemacher oder Fremder sein profitables Geschäft der Ausbeutung gesellschaftlicher Ungleichheit treibt.4 Aber im übrigen haben wir den Unternehmer als Naturprodukt betrachtet, das immer wieder auftritt, auf Ideen kommt, Gelegenheiten erkennt, ergreift und nutzt, aus sich und anderen etwas zu machen versteht und damit Bewunderung und Neid erweckt. Irgend etwas, so konnte man nur vermuten, ist in der Sozialisation des Unternehmers schief gelaufen und auf idiosynkratische Weise erfolgreich abgearbeitet worden. Sonst käme der Unternehmer nicht auf Ideen, auf die niemand sonst kommt. Sonst wüßte er nicht, sich gegen Widerstände durchzusetzen, die jeden anderen entmutigen. Sonst hätte er nicht die chuzpe, Dinge für möglich zu

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Die folgenden Überlegungen sind entstanden im Auftrag des Forschungs- und Entwicklungszentrums (FEZ) der Universität Witten/ Herdecke. 3 Siehe Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, aus dem Englischen von Susanne Preiswerk, 6. Aufl., Tübingen: Francke, 1987, S. 134 ff. 4 Siehe dazu Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, Bd l, Nachdruck München: dtv, 1987, S. 836ff.

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halten, die alle anderen für unmöglich halten. Und sonst hätte er nicht die Naivität, seinen Willen für seinen Willen zu halten. Wenn man heute auf die Idee kommen kann, von einer Universität zu erwarten, daß sie einen Beitrag zur Unternehmerausbildung leisten kann,5 dann stehen dahinter mindestens drei Einsichten. Die erste Einsicht lautet, daß die Universität über ein Wissen verfügt, das zur Unternehmerausbildung herangezogen werden kann, auch wenn es bislang eher zur Zähmung des Unternehmers eingesetzt worden ist. Man hat Grund, der Betriebswirtschaftslehre zu mißtrauen, deren Rationalitäts, Planungs-, Strategie- und Führungsmodelle dezidiert darauf zielen, den erratischen Einfällen des Unternehmers Struktur und Legitimität zu verleihen. Man hat jedoch auch Grund, sich auf genau diese Modelle zu verlassen, weil es kein anderes ähnlich elaboriertes Wissen gibt, das in der Lage wäre, die Komplexität unternehmerischen Entscheidungsverhaltens abzubilden und darzustellen. Also kommt es darauf an, die Figur des Unternehmers wieder in diese Modelle einzuführen, um (a) zu sehen, was sie leisten, und (b) herauszufinden, was der Unternehmer von ihnen lernen kann. Die zweite Einsicht lautet, daß das Bild des Unternehmers heute nicht mehr von den einsamen Männern an der Spitze von Unternehmen geprägt ist. Deren Qualifikation bestand zu einem guten Teil darin, niemals zugelassen zu haben, daß ihnen eine Schule den Schneid abkauft und den Blick vernebelt. Diese Leute gibt es immer noch, und keine Unternehmerausbildung wird sie je erreichen. Sie können allenfalls imitiert, aber nicht professionalisiert werden. Die Unternehmerausbildung an einer Universität richtet sich an eine andere Klientel. Sie ist Unterricht an einer Organisation zum Verhalten in anderen Organisationen. Sie reagiert darauf, daß der Bedarf an unternehmerischem Handeln in den vergangenen Jahrzehnten begonnen hat, von der Spitze des Unternehmens in alle Abteilungen und Stellen der Unternehmensorganisation hineinzudiffundieren. Unternehmerisches Handeln wird heute auch von Mitarbeitern erwartet, und man nimmt die Paradoxie in Kauf, zu unternehmerischem Handeln dann auch hierarchisch anweisen zu müssen. Diese Paradoxie liegt jedoch so sehr auf der Linie anderer

moderner Erwartungen an das Individuum (»Sei frei!«, »Entwickle dich selbst!«, »Sei spontan!«, »Sei aufrichtig!«, »Sei authentisch!«), daß man ohne weitere Bedenken davon ausgehen zu können scheint, daß dieser double bind von qualifizierten Individuen ›cool‹ bewältigt wird, ja vielleicht sogar ein gar nicht mehr so heimliches Motiv ihrer Motivation ist. Und die dritte Einsicht lautet, daß es höchste Zeit ist, sich wieder nach Quellen einer gesellschaftlichen Intelligenz (nicht: Rationalität) umzusehen, die in der Lage ist, neue Entwicklungspotentiale freizusetzen. Die Lage im Lande ist hochgradig unübersichtlich geworden, es scheint sich in der Wirtschaft kaum noch etwas zu bewegen. Die strukturelle Misere zunehmender Arbeitslosigkeit bei den einen, zunehmenden Arbeitsstresses bei den anderen, überforderter Finanzierungsmechanismen sozialer Sicherung auf der einen Seite und unterforderten anlagesuchenden Kapitals auf der anderen Seite deutet darauf hin, daß Chancen unternehmerischen Handelns bestehen, die aus undurchsichtigen Gründen nicht wahrgenommen werden. Man spricht seit Jahren von der »blockierten Gesellschaft«,6 neuerdings vom »age of paradox«,7 um einem nicht mehr zu vertreibenden Gefühl der Ausweglosigkeit einen Namen zu geben, das trotz allem nicht glauben kann, daß niemandem mehr etwas einfällt. Kaum jemand traut den optimistischen Gesängen von einer neuen »Informationsgesellschaft«.8 Keine »Deregulierung« scheint den Fatalitäten einer zunehmend woanders (»global«) stattfindenden Kapitalverwertung und einer mit nicht mehr zu übersehenden ökologischen Folgeproblemen belasteten wirtschaftlichen Entwicklung gewachsen zu sein. Was an technologischen Potentialen, Arbeitsplätzen, liebgewordenen Professionen und unverzichtbaren Verbänden noch zu retten ist, scheint eher gegen die Deregulierung denn mit der Deregulierung zu retten zu sein. Und dennoch ahnt man, daß nicht die Lage ausweglos ist, sondern daß unsere Orientierung ratlos ist. Vielleicht eher habituell denn begründet halten wir unsere Zukunft für offen.

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Siehe auch meine Überlegungen zu ›Perspektiven einer Fakultät Wirtschaftswissenschaften‹, in diesem Band.

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So Michel Crozier, La societe bloquee, Paris: Seuil, 1970. So Charles Handy, The Age of Paradox, Boston: Harvard Business School, 1994. Davon legt die informierte Skepsis der Zeitschrift »wired« immer wieder beredtes Zeugnis ab.

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Moderne Erkenntnistheorien haben uns beigebracht, daß wir nicht sehen, daß wir nicht sehen, was wir nicht sehen. Seither wissen wir daß wir ›blind‹ sind.9 Mit diesem Wissen begeben wir uns auf die Suche nach Formen gesellschaftlicher Intelligenz, die in unübersichtlicher Lage wieder Orientierung schaffen können. Dem Glauben des Priesters, dem Begriff des Intellektuellen und der Macht des Politikers trauen wir diese Orientierung nicht mehr zu. Sie sind seit und mit der Aufklärung zu Virtuosen der Prüfung des Glaubens, der Kritik des Begriffs und der Eingrenzung der Macht geworden. Welche Form der gesellschaftlichen Intelligenz bleibt dann noch übrig, auf die wir uns seit jeher verlassen konnten, die nicht ganz unschuldig ist an der Lage, in der wir stecken, die jedoch in jüngster Zeit kaum mehr recht zum Zuge gekommen ist? Mir scheint, wir haben es mit neuen Erwartungen in das Produkt des Unternehmers zu tun. Das Produkt des Unternehmers ist ein Beitrag zur Bestimmung der Situation. Das Automobil kennzeichnet unsere Gesellschaft ebenso wie die Krankenversicherung, die Jeans und das Fließband. In ihnen steckt eine Diagnose unserer Gesellschaft und ihres »Lebensstils«,10 die zu lesen wir weitgehend verlernt haben.11 Unternehmer sind seit jeher die »Leser« unseres Lebensstils. Aber sie lesen ihn nicht, um ihn philologisch auszulegen. Sondern sie lesen ihn, um Gelegenheiten für neue Produkte zu finden. Selbst wenn die Geschichte nicht stimmt, nach der Akio Morita als Chef von Sony beim Spaziergang in Venice, Los Angeles, den Radlern, Joggern und Surfern zuschaute und auf die Idee kam, daß ihnen zu ihrem Glück nur die portable Musik fehlt, und daraufhin den Walkman erfand, so ist sie doch gut erfunden und trifft den Kern unternehmerischen Handelns. Die gesellschaftliche Intelligenz des Unternehmers beruht darauf, durch

Produkte neue Lagen zu schaffen, von denen aus andere Lagen und alte Lagen in Augenschein genommen werden können. Wenn der seinerzeitige Präsident der Ärztekammer Berlin, Ellis Huber, in einem furiosen Zeitungsartikel einen fiktiven Rückblick aus dem Jahr 2006 auf eine ingeniöse Reform des deutschen Gesundheitssystems im Anschluß an den Diabetikeraufstand auf der Expo 2000 in Hannover schreibt,12 dann steckt darin genau die unternehmerische Produktphantasie, die ineins mit dem neuen Produkt Blockaden überwindet und Paradoxien löst, die ausweglos schienen. Auf die Freisetzung dieser Produktphantasie kommt es an. Das Produkt ist konkrete Poesie, die aus einer präzisen Analyse der Situation und der gelungenen Schaffung einer neuen Situation hervorgeht. Es arbeitet mit den Beständen und schafft eine neue Lage. Es bringt Bewegung ins Spiel. Wenn allerorten nach ›Innovationen‹ gerufen wird, ist auch dieser Wunsch damit gemeint, aus der Veränderung des Wirklichen einen klaren Blick für das Mögliche zurückzugewinnen. Aus diesen drei Einsichten ist die Schlußfolgerung zu ziehen, daß Unternehmerausbildung mit dem Blick auf betriebswirtschaftliche Modelle und vorherrschende Organisationswirklichkeiten vor allem Arbeit an der Möglichkeit konkreter Poesie ist. Damit ist nichts Romantisches, nichts Schwärmerisches gemeint, sondern ein Versuch, die Unruhe in die Uhr wiedereinzusetzen, von der die moderne Gesellschaft glaubt, sie laufe von alleine. Denn: Wir haben die Unternehmer, die wir verdienen, wenn wir glauben, sie ausschließlich auf der Seite ihres Interesses an einer Steigerung der Gewinne und einer Reduktion der Kosten verbuchen zu können.

Rationalität versus Intelligenz

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Vgl. Heinz von Foerster, KybernEthik, Berlin: Merve, 1993. Anregungen findet man bei den Franzosen. Siehe etwa George Perec, Les choses, Paris: Juillard, 1981; Roland Barthes, Mythologies, Paris: Seuil, 1957; Jean Baudrillard, Le système des objets, Paris: Gallimard, 1968; ders., La société de consommation: ses mythes, ses structures, Paris: Gallimard, 1970; ders., Pour une cntique de l'économie politique du signe, Paris: Gallimard, 1972. 10 Grundlegend dazu das berühmte letzte Kapitel in Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Gesamtausgabe, Bd. 6, hrsg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1989. 11 Anregungen findet man bei den Franzosen. Siehe etwa George Perec, Les choses, Paris: Juillard, 1981; Roland Barthes, Mythologies, Paris: Seuil, 1957; Jean Baudrillard, Le système des objets, Paris: Gallimard, 1968; ders., La société de consommation: ses mythes, ses structures, Paris: Gallimard, 1970; ders., Pour une cntique de l'économie politique du signe, Paris: Gallimard, 1972.

Eine Unternehmerausbildung, die diesen Namen verdient, rechnet mit anderen Lernrhythmen als sie an der Schule sonst üblich sind. Wer auf einer Schule lernt, nimmt sich Zeit für einen stetigen, von kundiger Hand geführten Aufbau systematischen und systemati-

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So in der taz vom 31. Dezember 1996.

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sierbaren Wissens. Einzelne Lernschritte werden geprüft und bestätigt, bevor es weitergehen kann. Man beobachtet intensiv, welche Fortschritte die Mitschüler machen; und man orientiert sich eher an den Fortschritten der anderen als an dem eigenen Versuch, die angebotene Materie zu durchdringen.13 Das Wissen ist curricular aufbereitet und um alle Dimensionen des Nichtwissens, das in jedem Wissen verborgen sind, bereinigt. Man lernt, was man wissen kann. Nur indirekt, nur als eigene Begriffsstutzigkeit, kommt das Wissen darüber vor, wie wenig man weiß. Schwierigkeiten mit dem Wissen, Brüche in der Darstellung, Unklarheiten in Fundierung und Formulierung werden auf den Lernenden zugerechnet, nicht auf das Wissen selbst. Und nicht zuletzt wird unterstellt, daß man nur klüger, aber nicht dümmer werden kann, wenn man lernt. Unternehmer lernen anders. Sie lernen schneller und auf eigene Faust. Sie lernen langsamer und mißtrauischer. Sie lassen sich nicht an der Nase herumführen, nicht einmal von ihren peers, die behaupten, sich ihren Reim auf die Dinge bereits gemacht zu haben. Sie lernen hochselektiv, vergessen vieles sofort und manches nie. Sie versuchen, den Unterschied zwischen dem, was sie wissen, und dem, was sie nicht wissen, immer im Auge zu behalten und messen Lernangebote, auf die sie treffen, nicht an irgendeiner intrinsischen Bedeutung des zu Wissenden, sondern an diesem höchstpersönlichen und idiosynkratischen Unterschied zwischen dem eigenen Wissen und dem eigenen Nichtwissen. Sie wissen, daß man dümmer werden kann durch Lernen, weil man dann nicht mehr weiß, was man nicht weiß, und daher verlernt, worauf es wirklich ankommt: sich von vielem nicht und von manchem sehr überraschen lassen zu können. Unternehmer haben gelernt, mit ihrer Aufmerksamkeit sparsam, aber hochempfindlich umzugehen. Man kennt die Geschichte von den Affen, die man in einen Käfig sperrt, in dessen Mitte ein Baum steht, von dessen Asten einige prächtige Bananen hängen. Der Stamm des Baumes ist mit einem elektrischen Draht versehen, der jedem einen Schlag versetzt, der auf den Baum zu klettern versucht. Zunächst versuchen alle Affen,

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an die Bananen heranzukommen, bekommen einen elektrischen Schlag und geben nach einigen Versuchen auf. Man läßt die Situation sich beruhigen und füttert die Affen. Interessant ist, was jetzt passiert. Man läßt einen neuen Affen in den Käfig. Der sieht die prächtigen Bananen, versucht auf den Baum zu klettern, wird daran aber von den anderen Affen gehindert, die schon wissen, was ihm geschehen wird. Jetzt schaltet man den elektrischen Strom ab und läßt wieder einen Affen in den Käfig, der wiederum von den anderen Affen gehindert wird, auf den Baum zu klettern. Das ist schulisches Lernen: Man bekommt beigebracht, sich auf die Erfahrungen anderer zu verlassen und darauf zu verzichten, sie auf eigene Faust zu überprüfen. Man stelle sich jetzt einen unternehmenslustigen Affen vor, der neu in den Käfig gelassen wird, oder einen übermütigeren, der schon im Käfig ist. Die Bananen hängen immer noch am Baum. Sie werden alle paar Tage gegen frische ausgewechselt. Der unternehmenslustige oder der übermütige Affe wehren sich gegen die anderen Affen und klettern auf den Baum, bekommen keinen elektrischen Schlag und verzehren die Bananen. Das ist unternehmerisches Lernen: Man respektiert die Erfahrungen der anderen, aber man läßt sich von ihnen nicht daran hindern, sie zu überprüfen. Denn man weiß (aus Erfahrung), daß die Verhältnisse sich ändern können. Das ist der Ansatzpunkt für die Entwicklung eines Curriculums der Unternehmerausbildung. Es kann nicht darum gehen, den Unternehmer damit vertraut zu machen, wie sich die anderen Affen in ihre Verhältnisse geschickt haben. Sondern es kann nur darum gehen, ihm beizubringen, sich diese Verhältnisse anzuschauen und die Unterstellungen zu überprüfen, auf denen sie beruhen. Darum ist es mit einer Einführung in die Betriebswirtschaftslehre nicht getan. Zwar ist Betriebswirtschaftslehre gerade dort, wo sie explizit auf Modellen rationalen Entscheidens beruht, ein systematisiertes Wissen um die Notwendigkeit der Überprüfung von Unterstellungen. Denn immerhin ist dies die eigentliche und normative Botschaft dieser Modelle: »Suche nach Alternativen für deine Entscheidungen!« Aber dieses Unruhepotential der Betriebswirtschaftslehre ist dank universitärer Bemühungen um akademische Wissenschaftlichkeit längst der Beschreibung des Drahtes gewichen, der die elektrischen Schläge verteilt. Sie ist eine Legitimationswissenschaft ge-

Das wird unter dem Stichwort »the hidden curriculum« diskutiert. Siehe Robert Dreeben, Was wir in der Schule lernen, aus dem Amerikanischen von Thomas Lindquist, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980.

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worden, die darauf spezialisiert ist, die Unruhe des Unternehmers, jederzeit Zwecke gegen andere Zwecke und Mittel gegen andere Mittel austauschen zu können, nicht als Intelligenz der Variation, sondern als Rationalität der Verhältnisse zu verkaufen. Die Betriebswirtschaftslehre ist die Schule der Gesellschaft, die sich mit den Unternehmern anfreunden muß, und die Schule der Unternehmer, die dafür den entsprechend lobbyistischen Diskurs lernen wollen. Aber sie ist nicht die Schule der Unternehmer, die wissen wollen, was unternehmerisches Handeln sein kann. Wir suchen daher mit der Betriebswirtschaftslehre gegen die Betriebswirtschaftslehre (analog zu Kants Erkenntnislehre »mit dem Augenschein gegen den Augenschein«) einen anderen Ansatz. Wir setzen nicht auf Rationalität, sondern auf Intelligenz, wohl wissend, daß wir dadurch die Unruhe wieder ins Spiel bringen, die gesellschaftlich so erfolgreich gezähmt wurde, und wohl wissend, daß wir wie auch unsere Unternehmer es mit allen juristischen, bürokratischen, politischen und Verbandstechniken zu tun bekommen werden, die dazu dienen, diese Zähmung aufrechtzuhalten. Die Gegenüberstellung von Rationalität und Intelligenz ist neuerdings wieder von der kritischen Computerwissenschaft ins Spiel gebracht worden.14 Rationalität gilt immer dann als angemessen, wenn die Welt vollständig beschreibbar ist. Dann kann man angeben, welche Alternativen bei einem bestimmten Entscheidungsbedarf gegeben sind (»gegeben«!) und mit Blick auf die eigenen, explizierbaren Präferenzen entscheiden, welche dieser Alternativen man auswählt. Man entscheidet nicht, sondern man rechnet. Rationalität suggeriert eine Deduktionsmaschinerie, mit deren Hilfe man Entscheidungsprobleme in einer im Prinzip bekannten (wenn auch nur Gott bekannten) Welt lösen kann. In diesem Vertrauen auf Deduzierbarkeit liegt die Beruhigungsfunktion des Rationalitätsbegriffs.

Im Schatten dieser Beruhigungsfunktion konnten Unternehmer sich dann daran machen, das Substitutionspotential zwischen Mitteln und Zwecken auszuschöpfen, das der Rationalitätsbegriff postuliert. Denn wie so oft in der Moderne15 kommt es letztlich auf die Entwicklung der Vergleichsfähigkeit an: hier zwischen verschiedenen Mitteln, zwischen verschiedenen Zwecken und alsbald auch zwischen Mitteln und Zwecken. Die Zweck/Mittel-Metaphorik deckt diese Freisetzung des Vergleichs nur ab. Es war der von Max Weber in seiner Beschreibung der ›protestantischen Ethik‹ nur knapp verfehlte Coup der in der neuzeitlichen Semantik, die Unruhe der Disposition über Mittel und Zwecke als ›Rationalität‹ zu verkaufen.16 Aber dabei ist es bis heute geblieben. Zwar bezieht die Organisationsforschung nach dem zweiten Weltkrieg ihre wichtigsten Impulse aus einer stetigen Dekonstruktion der Rationalitätsprämisse,17 aber die Betriebswirtschaftslehre zeigt sich resistent. Intelligenz hingegen ist einer Welt angemessen, in der unsere Beschreibungen der Welt (und damit auch ›wir selbst‹) immer wieder zusammenbrechen und versagen, wir jedoch immer wieder Mittel und Wege (und immer wieder vorübergehend auch Zwecke) finden, diese Zusammenbrüche zu überstehen und nicht nur weiterzumachen, sondern anders weiterzumachen. Hier ist nichts gegeben beziehungsweise nichts als gegeben vorauszusetzen, son-

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Siehe Niklas Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen: Westdeutscher Verl., 1992. Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik I: Eine Aufsatzsammlung, hrsg. von. Johannes Winckelmann, 4. Aufl., Hamburg: Siebenstern, 1975; und siehe dazu Dirk Baecker, Rationalität oder Risiko? In: Manfred Glagow, Helmut Willke und Helmut Wiesenthai (Hrsg.), Gesellschaftliche Steuerungsrationalität und partikulare Handlungsstrategien, Pfaffenweiler: Centaurus, 1989, S. 31-54. 17 Siehe vor allem Herbert A. Simon, Entscheidungsverhalten in Organisationen: Eine Untersuchung von Entscheidungspozessen in Management und Verwaltung, Landsberg am Lech: verlag moderne industrie, 1981; James G. March (Hrsg.), Entscheidung und Organisation: Kritische und konstruktive Beiträge, Entwicklungen und Perspektiven, aus dem Englischen von Karl-Heinz Gschrey, Wiesbaden: Gabler, 1990; Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität: Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen, Neuausgabe Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977; ders., Funktionen und Folgen formaler Organisation, 4. Aufl., Berlin: Duncker & Humblot, 1995. 16

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Siehe vor allem Paul E. Weston und Heinz von Foerster, Artificial Intelligence and Machines that Understand, in: Annual Review of Physical Chemistry 24 (1973), S. 3^3378; Terry Winograd und Fer-nando Flores, Erkenntnis Maschinen Verstehen: Zur Neugestaltung von Computersystemen, aus dem Amerikanischen von Ludwig Voet, Berlin: Rotbuch, 1989; und vgl. Dirk Baecker, Über Funktion und Verteilung der Intelligenz im System, in: Werner Rammert, Hrsg., Soziologie und künstliche Intelligenz: Produkte und Probleme einer Hochtechnologie, Frankfurt am Main: Campus, 1995, S. 161-186.

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dern alles erst noch zu finden. Intelligenz hat es mit ›angemessenen Selektionen‹18 zu tun, die auf vorübergehende Situationen die Antworten finden, die weiterhelfen. »Intelligence is as intelligence does«, sagt W. Ross Ashby.19 Intelligenz zeigt sich daran, daß man das eigene Nichtwissen einsetzt, um den nächsten Zug zu finden. Erst anschließend und nur gezwungen durch die Kommunikationsgepflogenheiten in Organisationen kümmert man sich dann auch um rationale Begründung. In Organisationen, so muß man dann sagen, ist es zur Innen- und Außendarstellung intelligent (-weil angemessen), rational zu sein. Denn die Organisation fürchtet wie die Gesellschaft die Unruhe und muß beruhigt werden. Rationalität invisibilisiert die Kontingenz unserer Welt - ›Kontingenz‹ im Sinne dessen, was weder notwendig noch unmöglich ist. Das Rationalitätskonzept schützt das sozial empfindliche Alternativenwissen durch die Suggestion, die Welt habe abzählbar viele und damit vorherbestimmte Zustände, die der Mensch nur entdekken, aber nicht gefährden kann. Dieses Wissen war an der Schwelle zur Neuzeit an die Stelle des älteren Wissens um Perfektion und Korrumpierbarkeit der Welt getreten. Vorübergehend und geleitet durch die Annahme einer Vernunft der Rationalität setzt man nur noch auf Perfektibilität, auf ›Fortschritt‹. Intelligenz hingegen, ein, wenn man so will, postmodernes Konzept, legt die Kontingenz offen. Was weder notwendig noch unmöglich ist, deutet für sie auf neue und nirgendwo bereits gesicherte Zustände der Welt, die man ausprobieren muß, wenn man sehen können will, was sie taugen.20 Intelligenz experimentiert mit der Welt - ein riskantes, aber auch

ein paradoxes Unterfangen, da das Experiment, lateinisch wörtlich genommen, nicht nur in die Gefahr hinein, sondern auch aus ihr herausführt. Rationalität ist an der Schwelle zur Moderne die Semantik, die hinüberleitet zur Akzeptanz einer Welt, die nicht mehr statisch, sondern dynamisch, das heißt durch laufende Veränderung ihrer Zustande, stabilisiert ist. Intelligenz ist die Semantik, die darüber-hinaus akzeptiert, daß dies unsere Welt ist und zugleich nicht ist: Es sind unsere Aktionen, die sie verändern; aber nichts in ihr verändert sich so, wie unsere Aktionen es intendieren. Wir haben den Unternehmer lange genug auf Rationalität verpflichtet. Jetzt käme es darauf an, ihn auf Intelligenz zu verpflichten. Dies ist kein Plädoyer für die Rückkehr in den Wilden Westen (der sich mittlerweile im Osten abspielt). Sondern es ist ein Plädoyer für die Mobilisierung einer gesellschaftlichen Intelligenz, die wir lange genug unterschätzt haben und die hierzulande auch den Unternehmern zunehmend fremd geworden ist.

Die Suche nach der Lücke Die Grundgedanken einer Unternehmerausbildung, die im folgenden entworfen werden, orientieren sich am Problem, ein schulisches Wissen und schulische Verfahren (Curriculum, Klassen, Prüfungen) dort einzusetzen, wo dieses Wissen und dieses Verfahren prinzipiell zu kurz greifen. Die folgenden Überlegungen gelten grundsätzlich für die studentische Ausbildung ebenso wie für die Managementweiterbildung. Wir lösen die Paradoxie der Unternehmerausbildung an einer Schule auf, indem wir das Wissen, das an einer Schule gelehrt werden kann, als ein Wissen reformulieren, das sich nicht auf die Fülle des Wissenswerten kapriziert, sondern auf die Fähigkeit, Beobachtungen anzustellen, denen Lücken auffallen. Wir konzipieren den Unternehmer als Lückenfinder.21 Unternehmerisches

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Im Sinne von W. ROSS AShby, Mechanisms of Intelligence: Ross Ashby’s Writings on Cybernetics, hrsg. von Roger Conant, Seaside, Cal.: Intersystems, 1981. 19 Und fügt ebd., S. 297, beispielhaft hinzu: »If a man plays chess, we need not judge his powers by listening to his boasting - we simply observe whether the moves he makes are very highly selected out of the totality of legal moves, being selected from just those few that bring him rapidly nearer the win. Again, the good workshop manager is one who, in spite of all the confusions and difficulties of the day, issues such carefully selected instructions as will steer all the work through by the end of the day.« 20 Heinz von Foerster, KybernEthik, Berlin: Merve, 1993, S. 73, spricht von einem metaphyischen Postulat: »Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.«

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»Warum bellte der Hund nicht?«, ist die Frage, die Sherlock Holmes in einem seiner Fälle auf die Spur des Täters bringt. Diese Frage wird zuweilen als Ausgangspunkt der Suche nach einer »abduktiven« (Peirce) im Gegensatz zu einer deduktiven und induktiven Logik genommen und dann zur Maieutik (Hebammenkunst) stilisiert. Im Text geht es jedoch eher um eine Akzentverschiebung von eher kognitiven auf eher volitive Fähigkeiten unternehmerischen Handelns. Siehe zur Unterscheidung von Kognition und Volition: Gotthard Günther, Cognition and Volition: A Contribution to a Cybernetic Theory of Subjectivity, in: ders., Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 2, Hamburg: Meiner, 1979, S.203-240.

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Handeln ist Handeln dort, wo bisher noch niemand gehandelt hat. Genügte es bis in die Neuzeit hinein, sich auf räumliche Lücken zu spezialisieren und territoriale Arbitrage zu betreiben, das heißt in Länder zu reisen, in die andere noch nicht gereist sind, so finden sich die Lücken der entwickelten Weltwirtschaft zwischen den Produkten ebenso wie zwischen den Technologien, zwischen den Organisationsformen ebenso wie zwischen den Netzwerken. Das Unternehmertum ist immer noch ein Abenteuer. Aber es ist ein hoch professionalisiertes Abenteuer der Diagnose, Auflösung und Rekombination sachlicher, zeitlicher, sozialer und kultureller Bestände. Wir haben es nicht mehr nur mit territorialer, sondern überdies mit sachlicher, temporaler und sozialer Arbitrage zu tun. Der Unternehmer sieht die Lücke.22 Er befindet sich laufend auf der Suche nach Fakten; er stellt, wo er steht und geht, unablässig die einfachsten Fragen; er versucht ständig herauszufinden, was man tun könnte.23 Und er achtet auf die kleinsten Veränderungen, die einen Hinweis darauf enthalten könnten, wo sich welche neuen Lagen wie herstellen.24 Der springende Punkt für die Unternehmerausbildung ist nun, daß man den Leuten nicht vorher sagen kann, wo sie eventuell Lücken finden können, die sich unterneh-

merisch ausbeuten lassen. Man kann ihnen nur beizubringen versuchen, Fragen eines Typs zu stellen, der sie dazu befähigt, auf Lücken aufmerksam zu werden. Nichts ist jedoch schwieriger, als solche Fragen zu stellen und diese Fragen überdies so zu stellen, daß sie in den Prozeß, dem sie gelten, wieder eingefüttert werden können. Nichts ist schwieriger, als den Output unternehmerischen Handelns sogleich wieder zum Input der Suche nach weiteren unternehmerischen Chancen zu machen. Ein Roman wie ›The Goal‹ von Eliayhu M. Goldratt und Jeff Cox macht in aller wünschenswerten Deutlichkeit klar, wie unwahrscheinlich es im laufenden Geschäft ist, einen Blick auf die Dinge zu gewinnen, dem Änderbarkeiten, Verbesserbarkeiten, überhaupt Variationsmöglichkeiten auffallen.25 Die Beschreibungen des »managerial work«, die von Henry Mintzberg und im Anschluß an seine Arbeit vorgenommen worden sind,26 stehen mit dieser Spezialisierung auf die Lücke im Einklang. Danach zeichnen sich unternehmerische Managementaktivitäten durch Kürze, Varietät und Fragmentierung aus: kurz, weil gleichzeitig woanders ebenso wichtige Dinge zu erledigen sind (und man muß sehen, was miteinander zusammenhängt und was nicht); unterschiedlich, weil es laufend gilt, andere Perspektiven auf die Dinge zu gewinnen (sonst macht man sich nur abhängig von ihnen); und fragmentiert, weil (a) Dinge unterbrechen zu können heißt, ihnen Zeit zu geben, deutlicher zu werden (manches erledigt sich dann von selbst), und weil (b) anderes anzufangen wichtiger ist, als mit irgendetwas fertig zu werden (was sollte man tun, wenn man fertig ist?27). Natürlich ist diese Managementtechnik auch eine Technik der Beunruhigung von Organisationen, die sich allzuleicht in ihren Routinen verfangen. In diesem Sinne zielt

22

Eine Formulierung durchaus im Sinne der »new economic sociology«. Siehe Ronald S. Burt, Structural Holes: The Social Structure of Com-petition, Cambridge, Mass.: Harvard UP, 1992. 23 Darin stimmen die eher »operational« gestimmten Beschreibungen unternehmerischen Handelns überein. Siehe etwa entsprechende Hinweise in Alfred P. Sloan, My Years with General Motors, hrsg. von John McDonald mit Catharine Stevens, New York: Doubleday, 1972; Theodore Levitt, Thinking About Management, New York: Free Pr., 1991; Roy Radner, Hierarchy: The Economics of Managing, in: Journal of Economic Literature 30, 1992 (September), S. 1382-1415. 24 Daraus gewann, im Anschluß an Lloyd S. Nelson, W. Edwards De-ming, Out of the Crisis, Cambridge, Mass. 1982, seinen Ansatz qualitativ kontrollierter Produktionssteuerung. Siehe auch Geoffrey Vic-kers, Towards a Sociology of Management, New York: Chapman & Hall, 1967.

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Angeblich das Buch, das alle Manager wirklich gelesen haben: Eliyahu M. Goldratt und Jeff Cox, The Goal: A Process of Ongomg Impro-vement, second revised edition, Great Barrington: North River Pr., 1992. Es gibt eine deutsche Übersetzung. 26 Siehe Henry Mintzberg, The Nature of Managerial Work, New York: Harper & Row, 1973; und vgl. Frank Schirmer, Aktivitäten von Managern: Ein kritischer Review über 40 Jahre »WorkActivity«-Forschung, in: Wolfgang H. Staehle und Jörg Sydow, Hrsg., Managementforschung I, Berlin: de Gruyter, 1991, S. 205-253. 27 «Und was machen wir nach dem Konsens?«, war die Frage, die Helmut Schelsky Jürgen Habermas stellte.

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sie mehr auf die Mitarbeiter, die auf Trab zu halten sind, als auf die Lücke, die zu finden ist. Aber sie ist auch geeignet, Lücken zu finden, wenn man Management nicht in erster Linie als Kontrollaktivität versteht, sondern als rekursiv operierendes Vermögen, die Dinge im Fluß zu halten. Man kann Leute lehren, unternehmerisch zu handeln, wenn man sie lehren kann, Lücken zu sehen. Dieses ›wenn‹ ist sowohl temporal als auch konditional zu verstehen. Wenn man Leute lehren kann, Lücken zu sehen, kann man sie auch lehren, unternehmerisch zu handeln. Dabei ist wichtig zu sehen, daß die Lücke sich nicht nur dadurch bestimmt, daß etwas fehlt, sondern auch durch ihre Ränder. Von diesen Rändern, nicht durch irgendeine Art mutwillige Phantasie und genialische Einfälle, bezieht der Unternehmer seine Anregungen für das, was die Lücke füllen könnte. Die Unternehmerausbildung, die hier entworfen wird, lehrt vier Fragen zu stellen: - Was fehlt? - Was wird nicht entschieden? - Wer macht nicht mit? - Was ist nicht wichtig? Jede dieser vier Fragen wird aus einem eigenen Kontext heraus entfaltet. Für die Beschreibung dieser Kontexte wird schulisches Wissen eingesetzt, wobei dieses Wissen grundsätzlich aus der Perspektive der Variation und nicht aus der Perspektive der Stabilität dargestellt wird. Hier ist allerdings eine wichtige Einschränkung vorzunehmen: Bei keiner Unternehmerausbildung darf der Hinweis darauf fehlen, daß jede Änderung nicht nur unwahrscheinlich ist, weil ihre Möglichkeit nicht auffällt, sondern vor allem deswegen, weil es angesichts der Kompaktheit der Ränder unklar ist, wie was geändert werden könnte. Überdies gibt es immer mehr Gründe für die Beibehaltung der Zustände als für ihre Veränderung. Immerhin haben sich die Zustände so, wie sie sind, unter irgend einem Aspekt bewährt. Und immerhin hängen ›vested interests‹ an diesen Zuständen, die man zum Teil erst zu spüren bekommt, wenn man die Zustände in Frage stellt. Unternehmerische Ausbildung kann daher keine Ausbildung zum Optimismus sein, alles anders machen zu können. Das würde die Enttäuschung vorprogrammieren. Sondern jede Unternehmerausbildung muß gleichzeitig eine Lehre der Wahrnehmung ökologischer Zusammenhänge im weitesten Sinne

des Wortes sein. Nicht nur unser Verhältnis zur Natur, sondern auch unser Verhältnis zu den Dingen, zu uns selbst und zu anderen ist ökologisch in dem Sinne, daß es auf einem ›prekär‹ (das heißt, von der Gunst anderer abhängig)28 etablierten Ungleichgewicht beruht. Die Frage »Was fehlt?« zielt auf Produkte. Hier ist exemplarisch ein Wissen zur sachlichen Ausstattung der Wirtschaft zu entfalten. Welche Produkte gibt es? In welchen Substitutions- und Komplementaritätsverhältnissen stehen sie zueinander? Wie sind Erfolge und Mißerfolge von Produkten bedingt? Worin besteht das Risiko der Produktion für den Konsum? Und worin das Risiko der Produktion für die Produktion? Welche soziale Dynamik der Investition von Wünschen, Hoffnungen und Befürchtungen steckt in Produkten? Wie sind Produkte ökonomisch, technologisch und ökologisch mit anderen Produkten und Verfahren vernetzt? Worin besteht das juristische Risiko der Produkte? Und so weiter. Hier geht es darum, zu lernen, sachliche Lücken aufzuspüren. Die Frage »Was wird nicht entschieden?« zielt auf Organisation. Hier geht es um eine Beschreibung der zeitlichen Vernetzung von Entscheidungszusammenhängen. Wir nutzen dabei die Gelegenheit, die Orgarnsationslehre dort abzuholen, wo sie am avanciertesten ist und am ehesten geeignet, wieder an unternehmerische Fragestellungen rückgekoppelt zu werden.29 Welche Entscheidungsmöglichkeiten, auf die man bei genauerem Hinsehen nicht verzichten will, gehen im alltäglichen Entscheidungsdruck verloren? Warum nimmt man sich und nehmen sich Mitarbeiter nicht die Zeit, vielversprechenden Möglichkeiten nachzugehen? Warum fällt nicht auf, daß Wichtiges nicht entschieden wird, also auch nicht zum Gegenstand von weiteren Entscheidungen werden kann? Warum ändert sich die Organisation nicht? Warum lernt sie nicht? Unternehmerisch handeln zu lernen, heißt, zu lernen, zeitliche Lücken zu finden und zu sichern, in denen anderes stattfinden kann als das Geplante und Bekannte. Die Frage »Wer macht nicht mit?« zielt auf Netzwerke. Innerhalb

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Im Sinne von Michael Hutter, Prekäre Werte: Zur Durchsetzung von Qualität auf Kunstmärkten, Ms. 1996 29 Was nicht heißt, daß man hier nicht auf seit Jahren bewährte Einsichten zurückgreifen kann. Siehe etwa Niklas Luhmann, Die Bedeutung der Organisationssoziologie für Betrieb und Unternehmung, in: Arbeit und Leistung 20 (1966), S. 181-189.

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und außerhalb des Unternehmens bleiben soziale Kooperationsmöglichkeiten ungenutzt und werden potentielle Konkurrenten zu spät entdeckt. Innerhalb und außerhalb der Organisation formieren sich neuartige Kommunikationsmuster mit neuartigen Ungewißheiten und Überraschungen, die sich mehr und mehr als das eigentliche Terrain unternehmerischer Findigkeit entpuppen. Was ist ein Netzwerk? Wie organisiert man ein Netzwerk? Worauf muß man sich einstellen? Wie verhält man sich in einem Netzwerk? Auf diese und andere Fragen gibt es Antworten, die dem Unternehmer deutlich machen können, daß es kein unternehmerisches Handeln gibt, das nicht auf eigentümliche Weise soziale und kommunikative Lücken wahrnimmt. Die Frage »Was ist nicht wichtig?« schließlich zielt auf Kultur. Es gibt Dutzende von Definitionen zur Kultur. Im vorliegenden Zusammenhang bezieht sich ›Kultur‹ auf akzeptierte, bewußte und nicht bewußte, Werte der Orientierung in gemeinsamen Situationen. Über Kultur wird in Gesellschaften, aber auch auf Märkten, in Organisationen, in Familien und anderswo geregelt, was als selbstverständlich wichtig gilt und was nicht. Jede Situation findet in diesem Sinne zu ihrer eigenen Kultur, die meist mehr, zuweilen weniger abhängig von anderen Situationen und deren Kultur ist. Unternehmerisch handeln kann nur, wer in der Lage ist, das Wichtige und Selbstverständliche im Kontrast zum Unwichtigen und Ungewöhnlichen zu sehen und bei Bedarf die Gewichte zu verlagern. Unternehmerische Chancen liegen dort, wo bisher niemand anderem etwas Wichtiges aufgefallen ist; das heißt, sie liegen in einem Bereich, den die selbstverständlich wirkende Kultur abschattet, wenn nicht unsichtbar macht. Der Unternehmer muß in der Lage sein, in diesen Bereich hineinzuleuchten, mit entsprechenden Widerständen zu rechnen und das Nichtwichtige in etwas Wichtiges zu verwandeln. Unternehmerisches Handeln ist Arbeit an der kulturellen Lücke, so sehr dann darauf zu achten ist, daß das Ausfüllen der Lücke nicht nur überrascht, sondern auch kulturell akzeptabel ist. Diese vier Fragen und das Wissen, das sie leitet, werden im folgenden etwas ausführlicher entfaltet. Dabei sind drei Aspekte maßgebend: (a) das Verständnis der jeweiligen Lücke, (b) das Wissen um den Kontext und (c) die Suche nach einem möglichst einfachen Handwerkszeug, das den Unternehmer im betrieblichen Alltag dabei anleiten kann, seine unternehmerischen Möglichkeiten zu

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entfalten. Wir werden sehen, daß sich die vier Problembereiche der Unternehmerausbildung im Wesentlichen als Designaufgaben darstellen lassen: als Aufgaben des Produkt-, Organisations-, Kontakt- und Kulturdesigns.

Wir sind alle Unternehmer Es entspricht der Ausgangskonzeption des Unternehmers als Lückenfinder, daß die Ausbildung im wesentlichen auf sach-, zeit-, sozial- und kulturverständig angeleitete Arbeitsgruppen rekurriert, in denen die Teilnehmer an den Kursen untereinander ihre Fähigkeit einüben, die vier genannten Fragen zu stellen und das Wissen zu mobilisieren, das auf diese Fragen Antworten zu geben vermag.30 Die Ausbildung geht, mit anderen Worten, davon aus, daß wir alle bereits Unternehmer sind und daß es nur darauf ankommt, die Impulse freizusetzen, die uns in die Lage versetzen, dies zu erkennen. Das Unternehmerverständnis ist entsprechend breit. Es bezieht sich nicht nur auf Unternehmensgründer, Selbständige und Spitzenmanager, sondern auch auf Geschäftsführer, Abteilungsleiter und Mitarbeiter. Und es bezieht sich nicht nur auf gewinnorientierte Organisationen, sondern auch auf nichtgewinn-orientierte Organisationen wie Vereine, Parteien, Kirchen, Schulen, Theater und so weiter. Es ist ein Unternehmerverständnis, das entgegen allen Erfahrungen, die wir gegenwärtig sammeln, Organisationen als veränderbar und lernfähig annimmt. Wir können über den Unternehmer nur nachdenken, weil wir bereits wissen, was ein Unternehmer ist. Sonst wüßten wir nicht, wonach wir fragen; und sonst könnten wir nicht entscheiden,

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Unter dem Stichwort »problemformulierende Bildung« ist die Arbeitsgruppe in anderen Zusammenhängen erfolgreich erprobt worden, siehe etwa Paulo Freire, Pädagogik der Unterdrückten: Bildung als Praxis der Freiheit. Dt. Übersetzung von Werner Simpfendörfer, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1973; ders., Erziehung als Praxis der Freiheit. Deutsche Übersetzung von Jens Fischer und Friedrich Irmen, Stuttgart: Kreuz, 1974. Siehe zur »Gruppendynamik«, auf die sich ein solches Ausbildungskonzept stützen kann, Kurt Lewin, Group Deci-sion and Social Change, in: Eleanor E. Maccoby, Theodore M. New-comb, Eugene L. Hartley, eds., Readings in Social Psychology, Third Edition, New York: Holt, Rinehart & Winston, 1958, S. 197-211.

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welche Überlegungen und Antworten uns überzeugen und welche nicht.31 Die Frage ist nur, aus welchem Kontext heraus uns Überlegungen und Antworten überzeugen. Halten wir uns an ein allgemein überliefertes, gesellschaftliches Bild des riskierenden und für die Gesellschaft riskanten Unternehmers oder an das von der Betriebswirtschaftslehre entworfene Bild eines rational gezähmten, aber immerhin strategischen Unternehmers? Nehmen wir die Position konservativer Skepsis oder liberalen Übermuts ein? Halten wir Organisationen für notwendige Übel (wenn wir überhaupt über sie nachdenken) oder für entscheidungsfähige Terrains gesellschaftlicher Institutionalisierung? Eine weitere Bemerkung muß den folgenden Überlegungen vorausgeschickt werden. Wir stimmen mit Beobachtern überein, die einen Unternehmer vor allem dadurch charakterisieren, daß er oder sie eine Persönlichkeit sei. Dennoch ist schwer vorstellbar, ein Ausbildungskonzept zu erarbeiten, daß sich auf den Versuch konzentriert, Persönlichkeiten zu erziehen. Wir gehen statt dessen anders vor und erarbeiten mit zukünftigen Unternehmern die Möglichkeit, sich auf Aufgaben vorzubereiten, die sie als Persönlichkeiten erfüllen können. Eine Persönlichkeit ist man nicht. Sondern man wird in einer Organisation zu einer Persönlichkeit gemacht (und am Familientisch dann heilsamerweise auch wieder dekonstruiert). Die Persönlichkeit, so würde man soziologisch formulieren, ist eine Entscheidungsprämisse, das heißt eine Festlegung der Art und Weise, wie welche Entscheidungen getroffen werden, durch Referenz auf eine Person, die diesen Entscheidungsmodus vorgibt, vorlebt und mitträgt.32 Über diese Entscheidungsprämisse wird im Zuge der Entscheidungsabläufe der Organisation mitentschieden. Sie steht und fällt mit dem Sinn, den sie in diesen Entscheidungsabläufen macht. Darum muß der Unternehmer lernen, Entscheidungen zu fällen, die im Organisationsablauf Sinn machen, bevor er erwarten kann, zur Persönlichkeit geadelt zu werden. 31

Siehe zu dieser erkenntnistheoretischen Position Humberto R Maturana, Was ist Erkennen? Aus dem Englischen von Hans Günter Holl, München: Piper, 1994, insbes. S. 57f. 32 Siehe Niklas Luhmann, Organisation, in: Willi Küpper und Günther Ortmann, Hrsg., Mikropolitik: Rationalität, Macht und Spiele in Organisationen, Opladen: Westdeutscher Verl., 1988, S. 165-185, hier: S. 177f-

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Produktdesign Das Bild des Unternehmers ändert sich mit der wirtschaftlichen Gesamtlage. Es gibt Zelten, da bewährt sich als Unternehmer, wer in der Lage ist, unqualifiziertes Personal zur Produktion zu disziplinieren und qualifiziertes Personal zur Mitarbeit zu gewinnen. in anderen Zeiten zählt die Fähigkeit der Kostenreduktion oder der Produktionsverlagerung. In wieder anderen Zeiten ist nichts wichtiger als die Pflege der politischen Landschaft. Und dann wieder kann es vorkommen, daß rechtzeitiges Erkennen technologischer Innovationen und neuer Organisationsformen den Ausschlag gibt. Um was für Zeiten es sich jeweils handelt, erkennt der Unternehmer an den Aktionen anderer Unternehmer. Er muß herausfinden, was andere probieren, und rechtzeitig, nicht zu früh und nicht zu spät, in ähnliche Versuche einsteigen. Steigt er zu früh ein, riskiert er das Unerprobte. Steigt er zu spät ein, läuft er Gefahr, den Anschluß zu verlieren. Unternehmerisches Handeln ist Handeln auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Unternehmer beobachten, wie andere Unternehmer nach Marktlücken suchen. Das ist der Sinn der Konkurrenz auf Märkten und um Märkte.33 Diese Beobachtung zweiter Ordnung vollzieht sich jedoch nicht im luftleeren Raum der passiven Observation, sondern an den eigenen Produkten und den Preisen, die man für sie erzielen kann. Unternehmerisches Handeln ist Handeln auf der Ebene des Produktvergleichs und des Preisvergleichs. Auf dieser Ebene entscheiden sich alle anderen Fragen des Umgangs mit dem Personal, der Einschätzung von Kostenreduktionsspielräumen und technologischen Innovationen, der Beobachtung politischer Maßnahmen der Förderung oder Verhinderung bestimmter Produkte und der Wahl bestimmter Organisationsformen. Es macht einen Unterschied, ob man im Stahlbereich tätig ist oder im Drogenhandel, in der Softwareent33

Ein wirtschaftssoziologischer Gemeinplatz. Siehe Georg Simmel, Soziologie der Konkurrenz, in: ders., Schriften zur Soziologie: Eine Auswahl, hrsg. und eingel. von Heinz-Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983, S. 173-193; Harrison C. White, Where Do Markets Come From? In: American Journal of Sociology 87 (1981), S. 517-547; Dirk Baecker, Information und Risiko in der Marktwirtschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988, insbes. s. 198 ff.

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wicklung oder in der Schokoladenproduktion. Aber in welchem Bereich auch immer man tätig ist, man tut gut daran, sich zunächst einmal daran zu orientieren, wie sich andere in diesem Bereich bewähren, und geführt durch diese Orientierung nach der eigenen Differenz zu suchen. Unternehmerisches Handeln ist geleitet von der Suche nach »distinctive capabilities«, aber die Unterschiede, auf die es dabei ankommt, sind Unterschiede innerhalb eines bereits hochstrukturierten Feldes, in dem nicht alles und vor allem nicht Beliebiges möglich ist.34 Das A&O des unternehmerischen Handwerks ist die Findung und Analyse des eigenen Produkts. Ausgehend von der Frage »Was fehlt?« kommt es darauf an, sich von der Fülle des bereits Angebotenen nicht erschrecken zu lassen, sondern mit hoher Bereitschaft, alles andere ebenso würdigen wie auch diskriminieren zu können, die Lücke zu entdecken, auf die hin das eigene Produkt entwickelt und positioniert werden kann. Eine Unternehmerausbildung, die diesen Namen verdient, beginnt mit Fragen des Produktdesigns im weitesten Sinne des Wortes: von der Marktanalyse über die Wertschöpfungsanalyse bis zum Produktdesign im engeren Sinne des Wortes. Es handelt sich um das Design einer Lücke, das heißt, es bestimmt sich von den Rändern her: von dem, was andere machen und nicht machen. Die erste Phase der Unternehmerausbildung beschäftigt sich mit verschiedenen Produkten. Hier wird geübt, genau hinzuschauen, überraschende Fragen zu stellen, die eigene Trägheit und die eigenen Vorurteile zu erkennen und sich zu bereits vorliegenden Produkten Variationen einfallen zu lassen. An exemplarischen Produkten wie der Seife, dem Kaffee, dem Flugzeug, der Blumenerde, dem Buch, der Unternehmerausbildung oder der Rechtssschutzversicherung wird der Blick für Form und Hintergrund geübt.35 Welche Gesellschaft, welche Wirtschaft, welche Organisation, was für Kunden, welche Konkurrenten lassen sich aus einem Produkt erschliessen? Und wenn es diese Gesellschaft, diese Wirtschaft, 34

Siehe dazu John Kay, Why Firms Succeed, New York: Oxford UP, 1995 Ansatzpunkte dafür bietet auch die Trendforschung. Siehe dazu beispielhaft Dj Prof. Fr@nz, Unbekannte Theorie-Objekte der Trendforschung (XVI): Der Fetisch im Kontext der Techno-Kultur, in: Wittener Jahrbuch für ökonomische Literatur 1996, Marburg: Metropolis, 1996, S. 13-24. 35

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diese Organisation, diese Kunden und diese Konkurrenten sind, was könnte man dann an den vorhandenen eigenen oder fremden Produkten ändern? Dieser Blick ist an den alltäglichsten Dingen zu üben, um herauszufinden, an welchen Stellen etwas nicht klappt.36 Jedes Produkt, davon wäre auszugehen, bewältigt eine tiefgreifende Unsicherheit und setzt die Unschuld einer bestimmten Sicherheit an ihre Stelle.37 Seine Brisanz gewinnt dieses Verfahren erstens aus der Analyse der Transformation von Unsicherheit in Sicherheit und zweitens aus der Analyse möglicher Verschiebungen zwischen Unsicherheits und Sicherheitsdimensionen. Psychische Unsicherheit wird durch bestimmte Produkte unter Umständen nicht psychisch, sondern technisch oder sozial aufgefangen; ökologische Unsicherheit wird durch bestimmte Produkte psychisch oder ökonomisch aufgefangen. Und so weiter. Nicht Problemlösung, sondern Problemverschiebung ist der gesellschaftliche Regelfall. Das macht es so schwer, Produkte auf ihre Funktion hin zu durchschauen.38 Und das macht es noch schwerer, neue Produkte zu finden, die eine entsprechende Funktion wahrnehmen können. Außerdem kann man bei diesem Verfahren nie wissen, über wessen Unsicherheit und Sicherheit man spricht: die der Kunden oder die eigene. Nur wer die eigenen Befindlichkeiten kennt, und sei es auf dem Wege ihrer Negation,39 kann ein guter Unternehmer werden. Rezepte des Produktdesigns gibt es nicht, aber Aussagen zu den Dimensionen, in denen ein Produkt Variationsmöglichkeiten hat, gibt es sehr wohl. Exemplarisch sind im Schaubild (Fig. i) die Dimensionen Preis, Qualität, Symbol und Kontext angeführt. 36

Siehe Hilfestellungen in Donald A. Norman, The Design of Everyday Things, New York: Basic Books, 1989, deutsche Übersetzung Die Dinge des Alltags, Frankfurt am Main: Campus, 1989.Vgl. nocheinmal Terry Winograd und Fernando Flores, Understanding Computers and Cognition: A New Foundation of Design, a.a.0. 37 Diese Formulierung im Anschluß an Christopher Alexander, Notes on the Synthesis of Form, Cambridge, Mass., 1964, S. 10. 38 Siehe auch die Idee der »Motivforschung« bei Peter Heintel, Motivforschung und Forschungsorganisation - ein neuer integrativer Ansatz, in: Heinz Fischer (Hrsg.), Forschungspolitik für die 90er Jahre, Wien und New York: Springer, 1985, S. 373-414 39 Eine bewährte Einsicht Freuds: Der Verdacht ist immer berechtigt.

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Fig i.: Produktdesign In diesen Dimensionen hat das Unternehmen Gestaltungsmöglichkeiten, muß sich Jedoch davon überraschen lassen, welche Chance der gewählte Preis im Konzert anderer Preise hat; wie sich die gewählte Qualität darstellt, wenn andere Unternehmen sie durch geschickte Wahl von Preis, Symbol und Kontext konterkarieren; welchen Symbolwert für Produktion und Konsum ein gewähltes Symbol hat, wenn sich die Wertigkeiten der Einschätzung von Produkten verschieben; und wie sich der Kontext ändert, wenn neue Technologien, neue rechtliche Vorschriften oder neue ökologische Empfindlichkeiten auf den Markt kommen.

einer eigenen Entwicklungsabteilung, die sich immer dann bewährt, wenn man den Rest der Organisation auf Routinetätigkeiten verpflichten will,40 bis zum Versuch, möglichst vielen Mitarbeitern, die an der Produkterstellung beteiligt sind, den Kundenkontakt zu sichern, der für die Suche nach denkbaren Produktvariationen sinnvoll ist. Die eigene Organisation ist nur selten Gegenstand unternehmerischer Innovationsphantasie. Die Organisation gilt traditionell als mehr oder weniger hinderliches Instrument der Verfolgung wirtschaftlicher Ziele. Dementsprechend wenig Phantasie wird auch darauf verwendet, sich vorzustellen, in welchem Ausmaß und aus welchen Gründen eine Organisation tatsächlich zum Hindernis innovativen Handelns wird und wie man dem eventuell gegensteuern kann. In bester betriebswirtschaftlicher Tradition gilt es die passenden Einschränkungen (von den Arbeitsverträgen über die Arbeitszeitgestaltung und die Arbeitsteilung bis zur Stellenhierarchie und zum Controlling) zu finden, die die Organisation in genau der Form halten, die man (aber wer?) für sinnvoll hält. Anschließend kann man sich nur darüber wundern, welches nichtintendierte Eigenleben diese restringierte Organisation entfaltet.41 In mehr oder weniger direktem Anschluß an die rationalitätskritische, ›verhaltenswissenschaftliche‹ Organisationsforschung der Nachkriegszeit, die herausgefunden hat, wieviel Aufmerksamkeit in klassischen Organisationen durch die Form der hierarchischen Organisation selbst absorbiert wird 42 orientieren sich neuere Experimente mit der Form der Organisation am Versuch, diese Auf-

Organisationsdesign Der zweite wichtige Schritt der Unternehmerausbildung besteht darin, den künftigen Unternehmern einen Sinn dafür zu vermitteln, daß sie die neuen Produkte nicht alleine finden und entwickeln. Darum ist die Geschichte der Erfindung des Walkman durch Akio Morita falsch. Tatsächlich gab es bereits Versuche und Vorprodukte mit ähnlicher Zielrichtung, die Sony-Ingenieure entwikkelt hatten und die Morita kannte, als er in Kalifornien am Pazifik entlangspazierte. Zum Handwerkszeug des Unternehmers gehört es daher, das eigene Unternehmen in die Lage zu versetzen, Produktphantasie zu entwickeln. Dies reicht von der Einrichtung 352

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Diese Verpflichtung wird durch die Einrichtung einer Entwicklungsabteilung signalisiert. Dann darf man sich allerdings auch nicht wundern, wenn sich alle anderen Abteilungen auf die Routineaufgaben zurückziehen und neue Entwicklungen als unwillkommene Störungen abweisen. 41 Hinweise darauf finden sich in der Literatur unter dem Stichwort »gaming«. Siehe etwa Michael Burawoy, Manufacturing Consent: Changes in the Labor Process under Monopoly Capitalism, Chicago: Chicago UP, 1979. 42 Vor allem James G. March und Herbert A. Simon, Organizations [1958], second edition, Cambridge, Mass.: Blackwell, 1993; Richard M. Cyert und James G. March, A Behavioral Theory of the Firm [1963], second edition, Cambridge, Mass.: Blackwell, 1992; Tom Burns

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merksamkeit auf andere Belange umzudirigieren .43 In der klassischen Organisation dreht sich alles um die Frage »Wer ist oben, wer ist unten?« In der postklassischen Organisation soll sich dagegenalles um die Frage drehen «Was haben wir bisher getan, was könnten wir anders tun?» Die jüngere Managementphilosophie ist ein einziger Versuch, den Mitarbeiter aus der Ecke erzwungener Gleichgültigkeit,44 in die ihn die Disziplinierungs- und (das ist die andere Seite der zunächst selben Medaille) Individualisierungsmaßnahmen des 19. Jahrhunderts manövriert haben, 45 wieder herauszuholen, um ihn an Entscheidungen über das Schicksal derOrganisation zu beteiligen.46 Der Unternehmer ist ein Unternehmer-in-einer-Organisation. Er setzt in dieser Organisation Zeichen und er wird durch die Organisation in der Reichweite seiner Aktionen, aber auch seiner Imaginationen eingeschränkt. Er beherrscht die Organisation, und er wird durch sie beherrscht. Er muß daher lernen, eine Organisationsdiagnose anzufertigen, die nicht nur auf Effizienz und Effektivität achtet, sondern auch darauf, herauszufinden, womit sich die Organisation aktuell beschäftigt. Die Frage danach, was in einer Organisation nicht entschieden wird, ist die Frage danach, was in ihr nicht beobachtet (oder zumindest nicht kommuniziert) wird. Mit der Explizierung im-

und George M. Stalker, The Management of Innovation, London: Tavistock, 1961. 43 Die Literatur dazu ist nicht mehr überschaubar. Siehe nur Wolf V. Heydebrand, New Organizational Forms, in: Work and Occupations 16 (1989), S.323-357 44 Der terminus technicus ist »lndifferenzzone~. Siehe Chester I. Barnard, The Functions of the Executive, thirtieth anniversary edition with an Introduction by Kenneth R. Andrews, Cambridge, Mass.: Harvard UP, 1968, S. 167 ff. 45 Aufschlußreich dazu: Rudolf M. Lüscher, Henry und die Krümelmonster: Versuch über den fordistischen Sozialcharakter, aus dem Nachlaß herausgeben vorn Freundeskreis R. M. Lüscher, Tübingen: Gehrke, o.J. [1988]. 46 Tom Peters ist der Meisterdenker dieser Managementphilosophie. Siehe Thomas J. Peters und Robert H. Waterman, In Search of Excellence, New York: Harper & Row, 1982; Tom Peters, Thriving on Chaos, New York: Knopf 1987; ders., Liberation Management: Necessary Disorganization for the Nanosecond Nineties, London: Pan Books, 1993; ferner seine »Seminarbände«.

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pliziten Wissens ist es dabei nicht getan.47 Entscheidend ist, die Mitarbeiter in die Lage zu versetzen, Entscheidungsbedarf zu erkennen und zu beantworten. Das setzt erstens voraus, von der liebgewordenen Idee Abschied zu nehmen, Entscheidungen würden an der Spitze einer Organisation getroffen und von der Organisation nur ausgeführt. Diese Idee spielte der unverzichtbaren Feier der Organisationshierarchie in die Hände, stimmt jedoch nicht mit der Organisationswirklichkeit überein. Statt dessen gilt es einzusehen, daß Arbeitsabläufe Entscheidungsabläufe sind, von der Entscheidung über aufgewendete Zeit und Mühe bis zu Entscheidungen über eher routinierte oder eher variationsfreundliche Arbeitserledigung. Und zweitens können Entscheidungen dann nicht mehr im Sinne der rational choice theory als Auswahl aus Alternativen gesehen werden, sondern müssen im Sinne zum Beispiel der österreichischen Marktprozeßtheorie als Erfindungen möglicher Zukünfte gesehen werden 48 die durch Anschlußentscheidungen entweder aufgegriffen oder fallengelassen werden. ES kommt im Rahmen dieses Konzepts einer Unternehmerausbildung nicht darauf an, den Studenten und Managern fertige Organisationsrezepte an die Hand zu geben. Fertige Rezepte waren Situationen angemessen, in denen Organisation sozial durchgesetzt und gegen Widerstände aller Art abgesichert werden mußten. Fertige Rezepte sind Ausdifferenzierungsinstrumente. Heute kann man davon ausgehen, daß die Institution der Organisation im großen und ganzen akzeptiert ist und es daher vor allem darauf ankommt, die Organisation wieder so in die Gesellschaft einzubetten, daß überflüssige Differenzen abgebaut werden können. Grundsätzlich bleibt es zwar dabei, daß zwischen Produktionsanforderungen und sozialen Anforderungen Spannungen bestehen, die nicht überbrückt beziehungsweise nur durch die Ausdifferenzierung der Organisation überbrückt werden kön47

So der vieldiskutierte Ansatz von Ikujiro Nonaka, The KnowledgeCreating Company, in: Har-vard Business Review 69 (November-December 1991), S.96-I04. 48 So vor allem G. L. S. Shackle, Information, Formalism, and Choice, in: Mario J. Rizzo (Hrsg.), Time, Uncertainty, and Disequilibrium: Exploration of Austrian Themes, Lexington, Mass., 1979, S. 19-31 . Ferner ders., Epistemics and Economics: A Critique of Economic Doctrine, Cambridge 1972.

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nen.49 Aber inzwischen geht man davon aus, daß diese Spannungen nicht versteckt werden müssen, sondern daß sie offengelegt werden können.50 Denn diese Spannungen können Ansatzpunkte für alternative Organisationsvorstellungen sein.51 Auf den kürzesten Nenner gebracht, geht es bei den Organisationsumstellungen, die seit einigen Jahrzehnten in allen Branchen der Industrie und Dienstleistungsbereiche beobachtet werden können, um den Wechsel von hierarchisch vorgegebener zu interaktiv ausgehandelter Arbeitsteilung.52 Da es jedoch keinen Sinn macht, zukünftige Unternehmer erst einmal in einen ausführlichen Kurs über Organisationstheorie zu schicken, wäre zu überlegen, durch welche einfache Fragestellung ein hinreichendes Gespür für organisationsdiagnostische Probleme und organisationsgestalterische Spielräume zu wecken wäre. Die Frage «Was wird nicht entschieden» wäre dafür eine geeignete einfache Fragestellung (Fig. 2). Wir spitzen sie zu auf die Frage »Was wird nicht entschieden, weil die Zeit dafür fehlt?« Diese Frage führt dazu, den Alltag des Entscheidungsverhaltens in Organisationen zu untersuchen; herauszufinden, was die Aufmerksamkeit der Mitarbeiter tatsächlich beschäftigt; nach den nicht getroffenen, aber wünschenswerten Entscheidungen zu fragen; und zu überlegen, wie man den Mitarbeitern die Zeit verschaffen kann, die sie brauchen, um das tun zu können, was man für wünschenswert hält. Interessanterweise gibt es bereits ausgefeilte Überlegungen zum Organisationsdesign als Zeitdesign. Aber diese Überlegungen laufen genau in die Gegenrichtung, indem sie die klassische, auf hierarchischer Arbeitsteilung beruhende Organisation unter Zeitdruck setzen und zur Bewältigung dieses Zeitdrucks interaktive 49 Vgl. im Anschluß an eigene Untersuchungen in traditionellen und modernen Gesellschaften Stanley H. Udy, jr., Structural lnconsistency and Management Strategy in Organizations, in: Craig Calhoun, Marshall W Meyer und W Richard Scott (Hrsg.), Structures of Power and Contraint: Papers in Honor of Peter M. Blau, New York: Cambridge UP, 1990, S. 217-233. 50 Obwohl ich mir in diesem Punkt nicht so sicher bin. 51 Vgl. Arthur L. Stinchcombe, Information and Organizations, Berkeley: California UP, 1990. 52 Siehe dazu noch einmal Tom Burns und George M. Stalker, The Management of Innovation, a.a.0.

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Fig. 2: Organisationsdesign Arbeitsteilung einfordern. Letztlich handelt es sich dabei um eine Formalisierung der früher vieldiskutierten sogenannten ›informalen‹ Organisation.53 Diese Organisationsmethode mag sich zum Aufholen unternehmerischer Vorsprünge anderer eignen. Aber sie hat dort ihre Grenzen, wo es um die Freisetzung von Innovationspotentialen geht. Zeit zu schaffen, ist daher die Idee, die dein hier vorgestellten Curriculum der Unternehmerausbildung zugrundeliegt. Es kommt darauf an, die Organisation als Objekt unternehmerischer Gestaltung wiederzuentdecken, wie dies einmal zum Grundverständnis dessen gehörte, was ein Unternehmen ausmacht.54 In der Differenz von Entscheidungsgewohnheiten und Entscheidungsbedarf stecken klassische Unterscheidungen wie die zwischen Istzustand und Sollzustand, doch geht es bei einem Zeitdesign einer Organisation nicht primär darum, Abweichungen zu verhindern, sondern vielmehr darum, Abweichungen zu er53

Diese Überlegungen sind unter dem Titel »lean production« bekannt geworden. Siehe vor allem James P. Womack und Daniel T. Jones und Daniel Roos, The Machine That Changed the World, New York: Maxwell Macmillan, 1990. 54 So etwa bei Daniel Bell, The Coming of Post-Industrial Society: A Venture in Social Forecasting, New York: Basic Books, 1973, S. 267 ff.

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mutigen. Denn Abweichungen von Gewohnheiten sind der Stoff, aus dem eine Organisation ihre Innovationen gewinnt. Das darf nicht dazu führen, die Abweichung um der Abweichung willen zu suchen. Neben der Variation gilt es auch, die Selektion und die Retention, also die Fähigkeit der Auswahl von Variationen und die Fähigkeit der Beharrung auf (wie lange noch?) sich bewährenden Variationen zu sehen und zu fördern.55 Aber ohne den Sinn für Variation, der hier aus einer Temporaldiagnostik gewonnen wird, ist keine Organisation unternehmerisch zu führen. Im übrigen ist der Zeitgewinn im Zusammenhang mit dem Zeitdruck zu sehen. Auf die Dosierung kommt es an. Darum wird in neueren Organisationslehren so viel Wert auf die Entwicklung eines Prozeßverständnisses gelegt.56 Ein innovationsfreundlicher Prozeß kombiniert Momente des Zeitgewinns mit Momenten des Zeitdrucks. Die hohe Kunst der Unternehmensführung beginnt dort, wo über Zeitdruck und Zeitgewinn eine Konstruktion der Umwelt erarbeitet wird, auf die sich das Unternehmen einlassen will und muß. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Idee der losen Kopplung.57 Diese Idee ist eine der Leitvorstellungen der neueren Organisationstheorie, weil sie Ansatzpunkte bietet, Operationsnotwendigkeiten in einer als turbulent dargestellten Umwelt mit Möglichkeiten des Zeitgewinns zu kombinieren, also nicht etwa von Turbulenz auf Beschleunigung, sondern von Turbulenz auf steigenden Beobachtungsbedarf zu schließen.58 Lose Kopplung 55 Dies im Sinne von Karl E. Weick, Der Prozeß des Organisierens, aus dem Amerikanischen von Gerhard Hauck, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985. Siehe dort, S. 344 f., auch weitere Anregungen zu Fragen zur Organisationsdiagnose und anschließend, S. 346 ff., Ratschläge für die Praxis. 56 Zum Beispiel Margit Osterloh, Prozeßmanagement als Kernkompetenz, Wiesbaden: Gabler, 1996. 57 Ausgehend von: Karl E. Weick, Educational Organizations as Loosely Coupled Systems, in: Administrative Science Quarterly 21 (1976), S. 119. Ferner ders., Management of Organizational Change Among Looseley Coupled Elements, in: Paul S. Goodman and Associates (Hrsg.), Change in Organizations: New Perspectives on Theory, Research, and Practice, San Francisco: Jossey-Bass, 1982, S. 375-408; J. Douglas Orton und ders., Loosely Coupled Systems: A Reconceptualization, in: Academy of Management Review 15 (1990), S. 203-223 58 Der Begriff der Turbulenz paßt zur ldee der losen Kopplung, weil es bei

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führt Abschottungen zwischen traditionell im Verbund operierenden Organisationseinheiten (Abteilungen, Stellen) ein, um (a) jede Einheit davor zu schützen, unmittelbar von Veränderungen in anderen Einheiten tangiert zu werden, und (b) diese Sicherheit vor den Experimenten anderer Einheiten dazu nutzen zu können, sich die Resultate dieser Experimente anzuschauen (ohne gleich das eigene Immunsystem zur Ablehnung des Ungewohnten mobilisieren zu müssen). Ging es beim Produktdesign vor allem um die Entwicklung der Fähigkeit zur Problemverschiebung, so geht es beim Organisationsdesign um die Entwicklung der Einsicht in den Zusammenhang von Rekursivität und Evolution. Man hat in der Organisation nichts anderes als die Organisation, um die Organisation zu verändern. Man kann durch Entscheidungen verändern, wie in Organisationen verändert wird. Nur setzt dies voraus, daß man einen genauen Blick für die Eigenzustände der Organisation vor, während und nach den angezielten Veränderungen besitzt. Auch hier gibt es keine Rezepte, sondern nur irrtumsanfällige und über Fehlerproduktion lernfähige Einschätzungsmöglichkeiten lokaler Situationen.

Netzwerkdesign Nicht nur ist der Unternehmer nicht allein in seiner Organisation. Auch die Organisation ist nicht allein in ihrem Feld. Die Organisationsforschung hat in den vergangenen Jahren die strikte Gegenüberstellung von hierarchischer Organisation und atomistischem Markt auf gelöst und statt dessen Wert auf die Untersuchung quasiorganisierter Netzwerke (›organizational fields‹) gelegt, die das Umfeld strukturieren, in dem Organisationen tätig werden könTurbulenz nicht etwa nur auf Unordnung und Wirbel ankommt, sondern vor allem auf überraschende, weil nicht zuzurechnende und stark verzögerte Rückwirkungen des eigenen Verhaltens auf Möglichkeiten weiteren Verhaltens. Siehe in diesem Sinne E E. Emery und E. L. Trist, The Causal Texture of Organizational Environments, in: Human Relations 18 (1965), S. 21-32. Und mit Hoffnungen, in dieser Situation noch auf Lernen setzen) zu können: Peter M. Senge, The Fifth Discipline: The Art and Practice of the Learning Organization., New York: Doubleday, 1990.

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nen.59 Eines der Motive für diese Aufmerksamkeitsverlagerung ist die Einsicht, daß die Basiseinheit für die Analyse organisationaler Evolution nicht die einzelne Organisation, sondern eine Population von Organisationen ist.60 Organisationen ändern sich nicht auf eigene Faust, sondern nur im Verbund. Das ist eine schlechte Nachricht für Unternehmer, die glauben, die Dinge in ihrer Organisation in den Händen zu haben und selbständig Änderungen anregen zu können. Sie können nur Änderungen anregen, die im Feld bereits akzeptiert sind. Sie können Anpassungsmaßnahmen vornehmen. Aber sie können nicht aus ihrer Organisation etwas machen, was keine andere Organisation bereits ist. Einzelne ›mavericks‹ sind nicht nur die Ausnahme, die diese Regel bestätigen, sondern die Markierungen, die den nächsten möglichen Trend bezeichnen beziehungsweise als eine Art Frühwarnsystem vor möglichen Fehlschlägen warnen. Die gute Nachricht aus dieser Einsicht in die Rolle von organizational fields ist, daß Unternehmer darin bestätigt werden, sehr viel mehr Wert auf die Pflege von Kontakten aller Art zu legen, als ihnen dies betriebswirtschaftlich bislang zugebilligt wurde. Sie bewegen sich in »enterprise webs«61, in denen sich Gelegenheiten unternehmerischen Handelns nicht aus einer Beobachtung anonymer Märkte, sondern aus zufallsempfänglichen Kontakten mit 59 Siehe dazu Mark Granovetter, Economic Action and Social Structure: A Theory of Embeddedness, in: American Journal of Sociology 91 (1985), S. 481-510; Harrison C. White und Robert G. Eccles, Control Via Concentration? Political and Business Evidence, in: Sociological Forum I (1986), S.131-157; Neil Fligstein, The Transformation of Corporate Control, Cambridge, Mass.: Harvard UP, 1990; Paul DiMaggio, Nadel's Paradox Revisited: Relational and Cultural Aspects of Organizational Structure, in: Nitin Nohria, Robert G. Eccles (Hrsg.), Networks and Organizations: Structure, Form, and Action, Boston, Mass.: Harvard Business School Pr., 1992, S. 118-142; David Stark und Gernot Grabher, Organizing Diversity: Evolutionary Theory, Network Analysis, and Postsocialist Transformations, in: dies. (Hrsg.), Restructuring Networks: Legacies, Linkages, and Localities in Postsocialism, New York: Oxford UP, 1996. 60 So im Anschluß an Michael T. Hannan und John Freeman, The Population Ecology of Organizations, in: American Journal Of Sociology 82 (1977), S. 929-964. 61 So Robert B. Reich, The Work of Nations: Preparing Ourselves for 21st-Century Capitalism, New York: Alfred A. Knopf, 1991, S. 91 ff .

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anderen Unternehmen ergeben. Nicht die »strong ties« bereits etablierter Produktionsbeziehungen, sondern die »weak ties« möglicher Kontakte zu Dritten bieten die interessantesten Chancen, wenn (ein starkes ›wenn‹) alle Beteiligten über kurze, das heißt informationsintensive Wege miteinander verknüpft sind.62 Drei Stichworte bestimmen das Verhalten in Netzwerken: Komplementarität, Kooperation und Konkurrenz. Das Stichwort der Komplementarität verweist auf die Grundlage der jüngeren Karriere von Netzwerken, nämlich das wachsende Ausmaß, in dem Unternehmen aufgrund technologischer Zusammenhänge voneinander abhängig werden.63 Mehr und mehr riskieren es Unternehmen, wichtige Vorund Nebenprodukte ihrer Produktion nicht im eigenen Haus zu produzieren, sondern auszulagern und am Markt zu erwerben.64 Die vertikale Integration der Produktionsabläufe wird vielfach aufgegeben und weicht einer intensiven Ausnutzung loser Kopplungen zwischen komplementären und unabhängigen Produktionseinheiten.65 Damit wird jedoch auch die Idee hierarchischer Kontrolle der Produktion aufgegeben. Statt dessen setzt man auf autonomisierte Produktionszentren, die in marktförmige Beziehungen zueinander treten (und zwar sowohl innerhalb einer Organisation als auch zwischen Organisationen) und sich unter dem Gesichtspunkt struktureller Äquivalenz, das heißt Austauschbarkeit, beobachten. Auf dieser Grundlage komplementärer Beziehungen lassen sich die Unternehmen auf kooperative und kompetitive Beziehungen 62

Siehe zur Bedeutung von »bridges«, das heißt schwachen, aber alternativenlosen Verbindungen zwischen Cliquen, die aus starken Verbindungen bestehen: Marc Granovetter, The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology 78 (1973), S. 1360-I380. 63 Siehe Paul Milgrom und John Roberts, The Economics of Modern Manufacturing: Technology, Strategy, and Organization, in: American Economic Review 80 (1990), S. 511-528. 64 Den riskanten Zusammenhang von asset specificity und Opportunitätschancen, der zu aversen Selektionen führen kann, erforscht Oliver E. Williamson, The Economic Institutions of Capitalism: Firms, Markets, Relational Contracting, New York: Free Press, 1985. 65 Siehe dazu Daniel Bieber, Systemische Rationalisierung und Produktionsnetzwerke, in: Thomas Malsch und Ulrich Mill (Hrsg.), ArBYTE: Modernisierung der Industriesoziologie? Berlin: edition sigma, 1992, S. 271-293.

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untereinander ein, wobei die Pointe darin besteht, kooperative im Horizont kompetitiver und kompetitive im Horizont kooperativer Beziehungen zu sehen. Die mathematische Spieltheorie beeindruckt in der gegenwärtigen Managementtheorie vor allem deswegen, weil sie die Bedeutung dieses Horizontwechsels unter dem Gesichtspunkt unternehmerischer Chancen zu thematisieren vermag.66 Die Schwäche dieser Spieltheorie besteht darin, daß sie zwar die dauernde Möglichkeit des Umschlags von Konkurrenz in Kooperation und von Kooperation in Konkurrenz zu beschreiben vermag und daraus auch Einsichten in die Möglichkeit der Stabilisierung permanent gefährdeter Beziehungen gewinnt, jedoch relativ ratlos ist, wenn es darum geht, in einem unübersichtlichen Feld die möglichen Mitspieler und Gegenspieler überhaupt erst einmal herauszufinden. Sie muß Spieler und Einsätze als gegeben annehmen. Erst dann entfaltet sie ihre analytische Kraft. Diesem Mangel der spieltheoretischen Konzeption hilft unsere Ausgangsfrage » Wer macht nicht mit?« ab. Sie dient dazu, den Gedanken an die Unübersichtlichkeit des Umfeldes (innerhalb und außerhalb der Organisation) wachzuhalten und laufend Aufmerksamkeit dafür zu mobilisieren, wo mögliche Kooperationspartner zu finden und mögliche Konkurrenten zu befürchten sind. Denn Netzwerke bestehen in beiden Hinsichten, in der kompetitiven wie in der kooperativen Hinsicht, nicht nur aus aktuellen, sondern vor allem aus aktualisierbaren, aus potentiellen Beziehungen.67 Ferner konzipieren wir zu Komplementarität, Kooperation und Konkurrenz eine übergreifende Fragestellung, die sich dazu eig-

66 Siehe John Kay, Why Firms Succeed, a.a.O.; und jüngst vor allem Barry Nalebuff und Adam Brandenburger, Coopetition - kooperativ konkurrieren: Mit der Spieltheorie zum Unternehmenserfolg, aus dem Englischen von Hartmut J. H. Rastalsky, Frankfurt am Main: Campus, 1996. 67 Siehe mit dieser Akzentsetzung Ulrich Mill und Hans-Jürgen Weißbach, Vernetzungswirtschaft: Ursachen, Funktionsprinzipien, Funktionsprobleme, in: Thomas Malsch und Ulrich Mill (Hrsg.), ArBYTE: Modernisierung der Industriesoziologie? Berlin: edition sigma, 1992, S. 315-342. Die dazu passende Markttheorie entwerfen William J. Baumol et al., Contestable Markets and The Theory of Industry Structure, New York 1982.

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riet, das unternehmerische Handeln im Netzwerk auf den Punkt zu bringen. Diese übergreifende Fragestellung ist das Problem der Kontrolle. Denn zu einem guten Teil ist die Netzwerktheorie nichts anderes als eine Version der bereits in der Kybernetik entwickelten Einsicht, daß Kontrolle nicht von Akteuren ausgeht, sondern von Zusammenhängen, Verknüpfungen, Beziehungen, Interaktionen.68 Die ›Kontrollillusion‹ der Manager ist in der Organisationsforschung ein bekannter topos,69 doch selten untersucht man, worauf diese Illusion beruht beziehungsweise welche Form die Kontrolle hat, von der Manager und Unternehmer annehmen, sie würden sie ausüben. Die Kybernetik gibt auf die Frage nach der Möglichkeit der Kontrolle eine einfache Antwort: Laß dich kontrollieren, wenn du kontrollieren willst.70 Das heißt, Kontrolle ist nur als wechselseitige möglich, wenn sie überhaupt möglich ist. Kontrolle ist symmetrische Interaktion, die nur dann in die Unterscheidung Kontrollierender / Kontrolliertes asymmetrisiert wird, wenn entsprechende Selbstdarstellungen eines vermeintlichen Kontrolleurs oder Verantwortungsabweisungen eines vermeintlich Kontrollierten abgerufen werden sollen. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, daß es massive Ungleichheiten zwischen denen gibt, die an einer Kontrollinteraktion teilnehmen. Aber vor allem in wirtschaftlichen Beziehungen71 gibt es keine Ungleichheit, auf die sich 68

Vgl. dazu für die Netzwerktheorie Harrison C. White, Identity and Control: A Structural Theory of Action, Princeton, NJ: Princeton UP, 1992; für die Kybernetik Norbert Wiener, Cybernetics: or Control and Communication in the Animal and the Machine, second edition, Cambridge, Mass.: MIT Pr., 1961, und Ranulph Glanville, Die Frage der Kybernetik, in: ders., Objekte, aus dem Englischen von Dirk Baecker, Berlin: Merve, 1988, S. 197-218. Auch die sogenannte Distributed Artificial Intelligence nähert sich dieser Einsicht, siehe Les Gasser, Social Conceptions of Knowledge and Action: DAI Foundations and Open Systems Semantics, in: Artificial Intelligence 47 (1991), S. 107-138. 69 Siehe als Ausgangspunkt einer Theorie organisationalen Lernens Chris Argyris, Overcoming Organizational Defenses: Facilitating Organizational Learning, Boston: Allyn, 1990. 70 Vgl. auch Dirk Baecker, Ranulph Glanville und der Thermostat: Zum Verständnis von Kybernetik und Konfusion, in: Merkur 43 (1989), S. 513-524. 71 Für die politischen Beziehungen ist die Kontrollinteraktion seit Machiavelli fester Bestandteil politischer Theorie.

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der aktuell Überlegene verlassen sollte. Und für den aktuell Unterlegenen gilt, daß er sich über unternehmerisches Handeln gar nicht erst Gedanken zu machen braucht, wenn er Ungleichheiten für unveränderlich hält. Unternehmerisch Handeln heißt, Kontrollinteraktionen gegen den Strich zu bürsten, um Aktionsmöglichkeiten, die den Zirkel der Kontrolle erweitern, unterbrechen oder variieren können, zu entdecken. Wer sich von Ungleichheit entmutigen läßt, wird nicht Unternehmer. » Wer macht nicht mit?« führt auf die Frage danach, wer sich nicht kontrollieren läßt und keine Kontrollabsichten hegt. Wer sich nicht kontrollieren läßt und keine Kontrollabsichten hegt, steht entweder (a) indifferent zu einem bestimmten Netzwerk unternehmerischer Chancenverteilung oder (b) potentiell supplementär oder (c) potentiell komplementär. Hier kommt es darauf an, einen Sinn für Netzwerkbeziehungen und deren Varianz zu wecken. Ebenso wie in der mathematischen Spieltheorie kommt es auch darauf an, einen Sinn dafür zu wecken, daß Netzwerkbeziehungen Beziehungen der Beobachtung zweiter Ordnung sind (Fig. 3). Es geht nicht nur darum, herauszufinden, welche eigenen Züge möglich sind, sondern auch darum, sich vorzustellen, wie Mitspieler angesichts ihrer Erwartung bestimmter (kooperierender, substitutiver oder komplementärer) Züge anderer Mitspieler ihre eigenen Züge auswählen. Und nicht zuletzt geht es darum, deutlich zu machen, daß Verwicklungen des Typs, die zum Sherlock Holmes/ Moriarty-Paradoxführen, 72 um so unwahrscheinlicher sind je mehr Ressourcen das Netzwerk bereitstellt, entweder im Wettbewerb oder in der Kooperation ein stabiles Eigenverhalten zu finden. Das Netzwerk ist endogen unruhig, aber es stellt eigene Motive bereit, die dazu führen, daß es sich nicht chaotisch, sondern entweder kooperativ oder kompetitiv verhält. Die Ressourcen des Netzwerks liegen in Sanktionsmöglichkeiten jeweiliger Abweichungen, die Motive in der projizierten Dauerhaftigkeit des Netzwerks. Für das Verständnis von Netzwerken ist es wichtig, sowohl Rekursivität als auch Verschiebungen des Netzwerkverhaltens ak72

Das ist die Form, die das Problem der doppelten Kontingenz in der mathematischen Spieltheorie annimmt: Wenn A seine Aktion von B abhängig macht, und B seine Aktion von A abhängig macht, ist die Situation blockiert und kann nichts geschehen. Siehe zu Holmes und Moriarty: Oskar Morgenstern, Wirtschaftsprognose, Wien 1928, S. 98.

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zentuieren zu können. Abgänge und Neuzugänge unter den Mitspielern sind ebenso in Rechnung zu stellen wie die Möglichkeit, daß aus Partnern Konkurrenten werden und umgekehrt oder aus stakeholdern stakeprovider und umgekehrt. Auch die shareholderBeziehungen sind reziprok zu sehen, das heißt als Beziehungen zwischen shareholdern und shareprovidern.

Fig. 3: Netzwerkdesign Ferner ist herauszufinden, in welchen Dimensionen ein Netzwerk seine Ressourcen und Motive organisiert. Denn das ist der ›Kitt‹, der das Eigenverhalten des Netzwerks jenseits seiner Neigung zum Chaos aufgrund der Möglichkeit des Umkippens komplementärer in substitutive und substitutiver in kompetitive Beziehungen bedingt. Sind diese Ressourcen und Motive ökonomischer, technologischer, juristischer, politischer, religiöser, ethnischer oder anderer Art? Und: Wie findet man heraus, worin der Kitt eines Netzwerks besteht? Wie findet man heraus, auf wen man sich verlassen kann (und will) und auf wen nicht? Auf welche Informationen verläßt man

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sich, und auf welche nicht? Welche Rolle spielen Vertrauensvorschüsse, und wie lange hält man sie durch? Wie groß ist die Risikobereitschaft, die man von seinen Partnern verlangt, und ab wann erscheint ihre Risikobereitschaft zu groß?73 Auf welche schriftlichen Informationen greift man zu? Welche Rolle mißt man Gerüchten bei? Wie führt man Verhandlungen, und wie kann man Verhandlungen zur Informationserhebung nutzen? Wie kann man seine eigenen Kontakte so gestalten, daß das mißtrauensbereite Vertrauen der Kontaktpartner regeneriert werden kann? Diese und ähnliche Fragen führen auf ein kaum zu professionalisierendes Kommunikationsgeschick von Unternehmern.74 Sie müssen in eine sinnvolle Unterrichtsgestaltung mit aufgenommen werden. Konkrete Fragestellungen an ein Netzwerkdesign wären etwa: A Auf welche Kontakte ist Wert zu legen? Wie werden diese Kontakte angebahnt, motiviert und gepflegt? Wie werden die Kontakte überwacht? Welche Aufmerksamkeit wird auf die Beobachtung möglicher alternativer Kontakte (sowohl eigener wie der Kontaktpartner) gelegt? Und wie vergleicht und entscheidet man, ob man sich eher auf ökonomische (Gewinne) oder juristische (Legalität/ Illegalität)75 , auf politische (Privilegien und Protektionen)76 oder 73 Siehe zur Idee der »Risikostrukturen« Dirk Baecker, Womit handeln Banken? Eine Untersuchung zur Risikoverarbeitung in der Wirtschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991, S. 135 ff 74 Und dies jeweils sowohl nach innen als auch nach außen. Sogar Führung, so Rudolf Wimmer, Kann man Führung lernen? Professionalisierungschancen in veränderter wirtschaftlicher Situation, in: Ratio 2, Nr. 4 (Juli 1996), S. 15-18, wird sich in Zukunft nur noch im Team, das heißt unter Bedingungen intensiver Kommunikation, abspielen. Vgl. ders., Die Zukunft von Führung: Brauchen wir noch Vorgesetzte im herkömmlichen Sinn? In: Organisationsentwicklung 15 (1996), Nr. 4, S. 46- 57. 75 Man weiß, daß kaum ein Netzwerk stabiler ist als dasjenige, an dem nur Akteure teilnehmen, die sich durch einen mehr oder minder großen kriminellen und bislang juristisch nicht verfolgten und publizistisch nicht bekannten Akt erpreßbar gemacht haben. Die Erpreßbarkeit schafft Verläßlichkeit, restringiert jedoch den Rekrutierungsspielraum des Netzwerks. Siehe dazu Niklas Luhmann, Kausalität im Süden, in: Soziale Systeme: Zeitschrift für soziologische Theorie I(1995), S. 7-28. 76 Der »gemeinsame Markt« der EU ist auch eine Auseinandersetzung um Vernetzungsstile, die durch die Semantik der »Handelskriege« in der »Triade« gefüttert wird.

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technologische (Produktionsprozeß)77 oder auf religiöse und ethnische (Religions- und Stammeszugehörigkeit)78 Motive und Ressourcen verläßt?79 Auch hier gilt der Refrain, daß es für das Netzwerkdesign keine Rezepte gibt, sondern nur der Sinn für die Dynamik von Netzwerken geschärft werden kann, um beobachten zu können, wo in Netzwerken eigene und fremde unternehmerische Chancen liegen.

Kulturdesign Noch vor zwei Jahrzehnten hätte man mit der Behauptung, Unternehmensmanagement sei zu einem guten Teil auch Kulturmanagement, nur Verblüffung geerntet. Wirtschaftliches Handeln und kulturelles Handeln gehörten, trotz vereinzelter Gegenstimmen, zu einem der stabilsten Gegensatzpaare des Nachdenkens über soziale Zusammenhänge. Wirtschaft, so die Unterstellung, hat es mit Bedürfnis und Interesse, Kultur dagegen mit Bedeutsamem und Erhabenem zu tun. Anfang der achtziger Jahre hat sich das geändert, obwohl man den neuen Einsichten noch nicht so recht über den Weg traut und sie eher für Phänomene hält, die man sich im Konjunkturaufschwung leisten kann, als für unverzichtbare Bestandteile unternehmerischen Managements. Mit einer gewissen Vorsicht, aber wachsender Überzeugung ist die ›Unternehmenskultur‹ in den Rang eines möglichen Erfolgsfaktors unternehmerischen Handelns erhoben worden.80 77

Das »Ende der Massenproduktion« ist vor allem technologisch bedingt. In neuen Produktions- und Informationstechnologien liegen neue und noch unausgeschöpfte Potentiale der Vernetzung, wie unter anderem die Diskussion über Internet und Internet tagtäglich in den Tageszeitungen dokumentiert. 78 Vor allem in puncto Kapitalmarkt nicht zu unterschätzen, wie man weiß. 79 Anregungen zu verschiedenen Typen von Netzwerken unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsplatzschaffung finden sich bei D. J. Storey und S.Johnson, Job Generation and Labour Market Changes, London 1987. 80 Die Texte, die die Diskussion ausgelöst haben, sind Thomas j. Peters, Robert H. Waterman, In Search of Excellence, a.a.O.; Terence E. Deal

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Allerdings ist nicht immer klar, was unter einer Unternehmenskultur zu verstehen ist. Für die Managementphilosophie ist sie ein Gestaltungsfaktor der Unternehmensorganisation unter dem Gesichtspunkt größerer Partizipationschancen für alle Mitarbeiter, stärkerer Akzentuierung der historischen Individualität eines Unternehmens und, aus beidem resultierend, der Förderung emotionaler Bindungsbereitschaft an den Betrieb. Für die Organisationsforschung geht es dagegen eher darum, eine Untersuchungsperspektive für die allzu lange ausgeblendeten sozialen Dimensionen betrieblicher Wirklichkeit zu gewinnen, sowie einen Blick für die Bedeutung von Kommunikation und Emotion zu entwickeln, die nur zum Teil Planungsgegenstand von Maßnahmen der Unternehmensführung sein können.81 Für die Unternehmerausbildung ist aus dieser Diskussion im wesentlichen eine Konsequenz zu ziehen: Was auch immer der Unternehmer oder Manager tut, sein Verhalten wird innerhalb der Organisation beobachtet. Darauf beruht seine Einflußmöglichkeit. Allerdings hängt sein Einfluß nicht direkt von seinem Verhalten, sondern eher indirekt von der Beobachtung dieses Verhaltens durch andere ab. Das ist ein wichtiger Unterschied, denn er bringt diejenigen, die ›beeinflußt‹werden sollen, als entscheidende Einflußfaktoren der Möglichkeit der Beeinflussung mit ins Spiel.82 Wenig spielt der Beobachtung dieses Verhalten eine größere Rolle als der Unterschied zwischen deklarierten Absichten und tatsächlichem Verhalten.83 An diesem und Allen A. Kennedy, Corporate Cultures: The Rites and Rituals of Corporate Life, Reading, Mass.: Addison-Wesley, 1982; William G. Ouchi, Theory Z: How American Business Can Meet the Japanese Challenge, Reading, Mass.: Addison-Wesley, 1981. Das Konzept überzeugt auch in Unternehmen. Siehe etwa Bertelsmann Stiftung und Hans-Böckler-Stiftung, Hrsg., Vorteil Unternehmenskultur, verantwortet von Heinrich Beyer, 6 Hefte, Gütersloh: Bertelsmann, 1996. 81 Siehe zu dieser Debatte Linda Smircich, Concepts of Culture and Organizational Analysis, in: Administrative Science Quarterly 28 (1983), S. 339-358. 82 In der Tat kann man Einfluß nicht anders als über die Zuschreibung von Einfluß definieren. Siehe etwa Jeffrey Pfeffer, The Ambiguity of Leadership, in: Academy of Management Review (1977), S. 104-112; ferner ders., Power in Organizations. Cambridge, Mass.: Ballinger, 1981. 83 Eine eindrucksvolle Studie dazu ist Anthony F. Chelte, Peter Hess,

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Unterschied lassen Mitarbeiter ihre Vorgesetzten auflaufen, sobald er ihnen auffällt. Unternehmerisches Handeln findet nicht in einem kulturfreien Raum statt. Der Unternehmer rekurriert auf die selbstverständlichen Werte der Kultur, auch wenn sie ihm nicht bewußt sind. Und er verändert die selbstverständlichen Werte, sobald er auf die Idee kommt, neue Produkte einzuführen, Arbeitsprozesse anders zu organisieren und neue Kontaktnetze zu verknüpfen; und dies auch dann, wenn er nicht die Absicht hat, in die überlieferte Kultur einzugreifen.84 Unternehmerisches Handeln ist Veränderung der Kultur auf der Grundlage der Kultur, also ein paradoxes, irritierbares und irritierendes Unterfangen. Man könnte die Geschichte des Unternehmens in der Neuzeit als Geschichte der Coevolution irritierender Unternehmen und irritierter Gesellschaft schreiben.85 Wir operationalisieren die ambivalente und nichtlineare Dynamik der kulturellen Konsequenzen unternehmerischen Handelns für unsere Zwecke der Unternehmerausbildung in die einfache Differenz, daß unternehmerische Kompetenz darin liegt, die Frage danach aufwerfen und entscheiden zu können, was wichtig ist und was nicht. Wir übersetzen die Probleme einer Definition von Kultur86 in die einfache Aussage: Kultur ist Entscheidung über Werte. Werte können akzeptiert werden, Werte können abgelehnt werden und Werte können neu vorgeschlagen werden. Nun wird kein Unternehmer sich darauf einlassen, mit seinen Mitarbeitern Werte zu diskutieren. Denn diskutierte Werte sind schon nicht mehr verläßlich. Die Diskussion führt die Werte als disponibel vor, weckt den Widerspruch und schwächt die Werte, Russell Fanelli und William P. Peters, Corporate Culture as an Impediment to Employce Involvement: When You Can't Get There From Here, in: Work and Occupations 16 (1989), S. 153-164. 84 Thorstein Veblen, The Theory of Business Enterprise, Reprint Clifton, N.J.: Kelley, 1973, S. 2, ging so weit, das industrial system als material framework of modern civilization zu bezeichnen und das business enterprise als seine directing force. 85 Einige Hinweise dazu in Dirk Baecker, Die Form des Unternehmens, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993. 86 Siehe zu einem soziologisch entspannten Kulturbegriff Howard S.Becker, Culture: A Sociological View, in: Yale Review 71 (1982), S. 513-527.

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indem sie sie zur Entscheidung stellt. Wir haben es hier mit dem interessanten Fall zu tun, daß die Diskussion über etwas nicht weiterführt. Werte müssen kommuniziert werden. Aber wenn über sie kommuniziert wird, sind ihnen bereits die Zähne gezogen.87 Wenn man sieht, wozu man sich entscheiden soll, kann man sich auch anders entscheiden. Die Kompetenz des Unternehmers liegt darin, Werte zu kommunizieren, indem er durch sein Verhalten, seine Entscheidungen und seine Stimmungen zum Ausdruck bringt, was er für wichtig hält und was nicht. Führung bekommt diese Kommunikation dadurch, daß explizit und verbal allenfalls zum Ausdruck gebracht wird, was nicht wichtig ist. Daran, ex negativo, entscheidet sich, was wichtig ist. Denn würde man sagen, was man für wichtig hält, wäre dies bereits eine Kommunikation über Werte. Das, was man für wichtig hält, wird indirekt (und oft unfreiwillig) kommuniziert, nämlich durch das, was man tatsächlich tut. Unternehmerisches Handeln ist demnach durch die Asymmetrie gekennzeichnet, das, was man für wichtig hält, zu tun, und über das, was man nicht für wichtig hält, zu reden.88 Beides, darüber sollte man sich nicht täuschen, sind Kommunikationen. Denn beides wird beobachtet und hat auf dem Wege der Beobachtung Einfluß. Aber beides hat auf unterschiedlichen Ebenen Einfluß: das Handeln auf der Ebene der Imitation (oder Anpassung) und die Rede auf der Ebene der Vergewisserung über die eigene Haltung. Die Aktionen laufen über die Positiv- beziehungsweise Anschlußwerte der vorgeführten Handlungen, die Absicherung über die Negativ- beziehungsweise Reflexionswerte der abgelehnten Alternativen.89 87 Wir formulieren salopp, aber dahinter stecken Einsichten des Formkalküls von G. Spencer-Brown, Gesetze der Form, aus dem Englischen von Thomas Wolfe, Lübeck: Bohmeier, 1997. Ein beobachteter Unterschied ist nicht identisch mit einem getroffenen Unterschied. Die Beobachtung erfährt die Unterscheidung als kontingent, ja sogar als paradox (es wird unterschieden, was nicht unterschieden ist) - und rechnet sie daher dem zu, der sie trifft. 88 Über Meisterstücke auf diesem Gebiet berichten Joanne Martin und Caren Siehl, Organizational Culture and Counterculture: An Uneasy Symbiosis, in: Organizational Dynamics 12 (1983), S.52-68, am Beispiel der Rolle von John DeLoran bei General Motors. 89 Es soll nicht verschwiegen werden, daß mit dieser Terminologie von

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Es ist, nebenbei bemerkt, kein Wunder, daß sich Rhetorikkurse großer Beliebtheit bei Managern erfreuen. Denn die Rhetorik ist ein mittlerweile unterschätztes Wissen über die Bedeutung des Wechsels von der Handlungsebene auf die Beschreibungsebene. Es ist allerdings auch kein Wunder, daß Manager (und andere) immer wieder enttäuscht werden durch Rhetorikkurse. Denn diese erwecken im Unterschied zur großen Tradition den Eindruck, es käme nur darauf an, das richtige, das überzeugende, das überrumpelnde und entwaffnende Wort zu finden. Unsere Idee einer Unternehmerausbildung setzt auf die Verfolgung der Fragestellung »Was ist nicht wichtig?«. Unternehmerisches Handeln wird als Fähigkeit der Diskriminierung gesehen, weil die unternehmerische Chance dort verborgen ist, wo man sich dazu aufrafft, so und so viele Dinge nicht für wichtig zu nehmen. Der Unternehmer ist ein Selektionskünstler. Und dies aus zwei Gründen: Erstens weiß er seine Selektionen zu setzen. Und zweitens hält er an seinen eigenen Selektionen nur solange fest, wie sie nicht selbst dem Verdikt verfallen, nicht wichtig zu sein. Die Selektionskunst des Unternehmers kontrolliert sich an Negationen, denn über Negationen führt er sich vor, worauf er sich nicht einlassen will.90 Der Unternehmer ist habituell ablehnend gestimmt, denn über die Ablehnung, nicht über die Begeisterung, strukturiert er sich den Zugang zu dem, was er jetzt für wichtig hält, weil er anderes nicht für wichtig hält, was jedoch bald selbst riskiert, abgelehnt zu werden. Es ist diese Fähigkeit der Ablehnung, die den Unternehmer in eine Kontraststellung zur Kultur gebracht hat. Denn die Kultur gilt gemeinhin als das, was es zu bewahren und zu pflegen gilt. Sie gilt als etwas, dem zugestimmt werden muß, weil der Mensch in dieser Welt nichts hat, was ihm verläßlicher von seiner Stellung in der Welt berichtet. Ohne Kultur, so vor allem der deutsche Gedanke, wären wir mit der Zivilisation alleingelassen. Aber dieses KulturAnschluß- und Reflexionswerten auf eine Logik angespielt wird, die zweiwertige Operationen in mehrwertigen Kontexten (Polykontexturen) zu konzipieren vermag. Vgl. dazu Gotthard Günther, Die Theorie der »mehrwertigen« Logik, in: ders., Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 2, Hamburg: Meiner, 1979, S. 181 -202. 90 Zu einem passenden Negationsbegriff vgl. Dirk Baecker, Was leistet die Negation? In: Friedrich Balke und Joseph Vogl (Hrsg.), Gilles Deleuze - Fluchtlinien der Philosophie, München: Fink, 1996, S. 93-102.

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verständnis greift zu kurz. Kultur ist nicht nur Wertpflege, sondern Kultur impliziert die Fähigkeit, Werte in Frage zu stellen und Werte abzulehnen.91 Wahrscheinlich kommt sie anders (nämlich über den dreifachen Versuch, Werte zu kritisieren, bedrohte Werte zu retten und andere Werte einzuführen) gar nicht in Gang. Aber genau dies bedingt die Möglichkeit, die unternehmerische Leistung als Kulturleistung zu sehen, die nicht kritiklos, vor allem nicht kulturkritiklos zu sehen ist, die jedoch nichtsdestoweniger anzuerkennen ist. Die Kulturleistung des Unternehmers hat sich europaweit in den vergangenen Jahren auf die Ablehnung und Reduktion des vorherrschenden Kostenaufwands (vor allem der Arbeitskosten, weniger der Kapitalkosten) reduziert, die inzwischen so weit geht, den ›Standort Europa‹ insgesamt in Frage stellen zu können. Wenn es darum geht, das unternehmerische Handeln als Form gesellschaftlicher Intelligenz wiederzubeleben, die auch ›Europa‹ zugute kommt, darf es dabei nicht bleiben. Es sind andere Dimensionen der Ablehnung wiederzufinden. Es kommt nicht nur darauf an, die Option der Abwanderung zu aktualisieren, sondern auch darauf, die Verhältnisse, die sich in Europa vorfinden, zu variieren. Die aktuelle Diskussion, die den Unternehmern vorwirft, ihrer Verantwortung nicht mehr gerecht zu werden, hat angesichts der erloschenen Phantasie der Unternehmer so unrecht nicht. Andererseits hat es der Unternehmer schwer, gegen eine politische Stimmung anzutreten, die jeder Ablehnung mißtraut und den Unternehmer auf diejenige Produktion, Organisation und Vernetzung zu verpflichten sucht, auf die er sich bislang eingelassen hatte. Kulturarbeit setzt die Fähigkeit, selbstverständliche Gewohnheiten in Frage zu stellen und kontingent zu setzen, voraus. Erst wenn man sieht, was unter Umständen wegfallen kann, erkennt man, was immer noch wichtig ist. Auf das, was die eigene Ablehnungsfähigkeit überlebt, sollte man seine unternehmerische Tatkraft konzentrieren. Entscheidend ist dabei die Frage, wie man einem Unternehmen diejenige Schlagseite garantieren kann, die es sachlich, sozial, zeitlich und kulturell durchsetzungsfähig macht. Ohne eine geschickt 91

Siehe dazu Dirk Baecker Der Einwand der Kultur in: Berliner Journal für Soziologie 6 (1996), S. 5-14.

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plazierte Schlagseite gibt es keine Kultur. 92 Ein Unternehmen muß sich für bestimmte Werte engagieren, sei es in der Produktion, in den verwendeten Technologien, beim Einsatz und Umgang mit dem Personal oder bei der Kontaktfindung, und am besten in allen diesen Dimensionen auf Jene aufeinander abgestimmte Art und Weise, die unter dem Titel ›corporate identity‹ Eingang in die Techniken der Unternehmensführung gefunden hat. Das Unternehmen muß ein Ungleichgewicht suchen: eine verrückte Idee, die ihm jenen Schwung sichert, der durch den dominanten Hang zur Rationalität eher ruiniert denn gesichert wird.93 Es braucht eine ›Vision‹, wenn man darunter nicht eine Technik versteht, von allem Irdischen abzusehen, sondern eine Möglichkeit, alles Bekannte in eine andere Perspektive zu rücken. Es muß in einer Arbeitsteilung, in der nicht alles gleichwichtig sein kann, bestimmten Dingen, Abläufen, Verfahren und Zielen Prominenz zuzuweisen riskieren,94 denn an Prioritäten schärft sich der Blick für Wichtiges und Unwichtiges, schärft sich der Blick für Umwertungsmöglichkeiten und entzündet sich das Engagement der Bevorzugten wie der Benachteiligten. Man kann einen beachtlichen Teil der gegenwärtigen Krise des Management darauf beziehen, daß man nicht mehr so recht weiß, wie Prominenz zuDie traditionelle Aufteilung zwischen zuweisen ist.95 Gewinninteresse, ingenieursmäßiger Gestaltung der Produktion und rebellisch kooperierender Arbeiterschaft wird allmählich zur Erzählung aus alten schönen Zeiten. Ohne wirklichen Erfolg bemüht sich seither die Managementphilosophie, unter verschiedenen Schlagworten den Mut zur Akzentsetzung wiederzubeleben. Aber wiederum: Dieses Engagement für bestimmte Werte ist keine Sache der wortreichen Beschwörung, der mission statements und einer ausgeklügelten Unternehmensphilosophie, sondern eine Sache der Tat, genauer: des sich selbst festlegenden Willens, der den 92

Darum definiert Mary Douglas, The Active Voice. London 1982: »culture is bias.« Siehe im Anschluß daran Michael Thompson, Richard Ellis und Aaron Wildavsky, Cultural Theory, Boulder, Colorado: Westview Pr., 1990. 93 Vgl. Nils Brunsson, The Irrational Organization: Irrationality as a Basis for Organizational Change and Action, Chichester: Wiley, 1985. 94 Siehe zum Konzept der »Prominenz« Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, a.a.O., S. 87, 95 Vgl. auch den Beitrag ›Profit und Management‹ in diesem Band.

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Weg vorzeichnet, den Anschlußhandlungen einschlagen können. Unternehmerisches Handeln impliziert die Fähigkeit, von der Kognition zur Volition zu wechseln, das heißt sich selbst als Quelle eines Willens und damit einer Selbstfestlegung zu betrachten, die anschließend wiederum Gegenstand kognitiver Überlegungen sein kann.96 Die Begriffe der ›Schlagseite‹, des ›Engagements‹, des ›Willens‹ und andere Begriffe ähnlicher Art dienen dazu, den Unterschied zwischen einem Unternehmen und seiner Umwelt zu markieren. Ohne diesen Unterschied gibt es kein unternehmerisches Handeln. Denn dann wäre über den Versuch bereits entschieden, den das Unternehmen unternimmt. Unternehmerisches Handeln vollendet sich darin, daß es sichtbar macht, welchen Unterschied es macht. Das heißt, es trifft den Unterschied nicht nur, sondern es bringt alle Beteiligten in die Lage, den Unterschied mitzuvollziehen. Es schafft eine kulturelle Situation, eine Auswahl bestimmter und Ablehnung anderer Werte, die im gelungenen Fall ansteckend ist. Es ist nicht zu übersehen, daß dies durch krisenhafte Situationen, die einem das Aussortieren unpassender Werte abnehmen und den Bedarf an neuen Werten unstrittig machen, eher gelingen kann als im Zuge des normalen Geschäfts. Nichts schafft Kultur verläßlicher als das Nachlassen des Schreckens und die nachträgliche Bewertung des überstandenen Stresses.97 Aber das kann nicht bedeuten, daß man nur die Wahl hat, auf die Krise zu warten oder die Krise selbst in Szene zu setzen.98 Sondern es soll bedeuten, sich auf die Suche nach möglichen Chancen zu machen, einer Organisation eine Schlagseite zu geben. Es kommt darauf an, Geist und Gemüt zu lockern und das ana96 Wille und Vernunft bilden keinen Gegensatz, sondern sind zwei komplementäre Weisen, in denen sich ein Subjekt auf seine Umwelt bezieht, einmal über Selbstreferenz sich selbst und dann über Fremdreferenz das andere bezeichnend. So Gotthard Günther, Cognition and Volition, a.a.0. 97 So Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen: Entwurf einer kulturgenetischen Theorie, Wien: Springer, 1996, 98 Letzteres wird als Managementtechnik unter dem Titel des »annealing« diskutiert. Siehe Eric M. Leifer und Harrison C. White, Wheeling and Annealing: Federal and Multidivisional Control, in: iames E Short, jr. (Hrsg.), The Social Fabric: Issues and Dimensions, Beverly Hills: Sage, 1986, S. 223-242.

Fig. 4: Kulturdesign lyrische Vermögen, das dem buddhistischen Vermögen, Abhängigkeiten zu erkennen, so unähnlich nicht ist,99 zu schärfen. Beim Wertedesign ähnlich wie schon beim Produktdesign gilt es der eigenen Angst davor, Dinge in Frage zu stellen, zu begegnen. Damit läßt man sich allerdings auf ein sehr diffiziles Gebiet ein. Ungeschützt, das lehren viele Erfahrungen, sollte man diesen Versuch nicht machen. Wodurch also kann man sich schützen? Eine Antwort auf diese Frage bietet die Erkundung, wie eine Organisation anhand ihrer tatsächlichen Entscheidungen ihre eigene Kultur generiert und welchen Spielraum in dieser Genese unternehmerische Entscheidungen haben können (Fig.4). Nach der Analyse also die Synthese. Allerdings wäre das Lernziel bei diesem Schritt nicht etwa, den Eindruck zu erwecken, man könne Organisationskulturen zusammenstellen, wie es einem beliebt. Vielmehr kommt es darauf an, einen Sinn für die Eigendynamik zu entwickeln, mit der eine Kultur entsteht, sich durchsetzt, sich in Subkulturen differenziert und gegen kulturrevolutionäre Bestrebungen zu behaupten sucht. Zu diesem Zweck ist die Frage »Was ist nicht wichtig?« umzudrehen in die Frage »Warum wird es (dennoch) für wichtig gehalten (und von wem)?«. Entscheidend ist hier eine evolutionäre Auffassung von der Organisation, in der ein Großteil der Organisationskultur unwillkürlich ist und nur 99

Diesen Vergleich zieht Peter Sloterdijk, Selbstversuch: Ein Gespräch mit Carlos Oliveira, München: Hanser, 1996.

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geringe Spielräume für die Variation dieser Organisationskultur durch eigene Aktionen bestehen. Damit schließt sich der Kreis, und der Unternehmer, der Manager, der Student, sind dort wieder angelangt, wo sie waren, als sie sich dafür entschieden haben, einen Kurs in Unternehmerausbildung zu belegen. Aber sie haben gelernt, worin die eigenen Absichten bestehen können, was ihnen im Wege steht, worauf zu achten ist, wenn sie verfolgt werden sollen, und inwiefern sie sich bei allem unternehmerischen Handeln auch selbst im Wege stehen. Hier gilt, was in allen Fällen beabsichtigter Interventionen gilt: Wer unternehmerisch in ein Unternehmen eingreifen will, hat es sofort mit zwei Fällen zu tun:100 mit dem Unternehmen und mit sich im Unternehmen. Der eine Fall ist nur zu lösen, wenn auch der andere Fall gelöst wird. Dies zu erkennen und dafür ein geeignetes Handwerkszeug zu erwerben, ist Sinn und Zweck des hier vorgestellten Konzepts einer Unternehmerausbildung.

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So Paul Auster über den Detektiv.

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