Die verlorene Ehre der Familie Sürücü

wird Ayhan Sürü- cü im Film gefragt. „Für meine ... ge Ahmad Mansour im Film. Interview mit dem Täter ... auch im britischen Parlament zur Sprache zu bringen.
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6 WELTPOLITIK

D IENSTAG, 26. JÄNNER 20 16

Die verlorene Ehre der Familie Sürücü Sie trug kein Kopftuch und ging auf Partys – weil Hatun Sürücü sich nicht den Vorstellungen ihrer Familie anpasste, wurde sie erschossen. GERD HÖHLER

Sie war gerade erst 15 Jahre alt, als ihre Familie sie in der Türkei zur Heirat mit ihrem Cousin zwang. Wenig später wurde die junge Deutsch-Türkin Hatun Sürücü schwanger und hielt es nicht mehr aus. Sie ging zurück nach Berlin und änderte ihr Leben: Ihren kleinen Sohn zog sie allein groß, sie ging gern auf Partys, hatte deutsche Freunde und machte eine Ausbildung zur Elektroinstallateurin. Irgendwann legte sie auch das Kopftuch ab. Doch der Wandel zum westlichen Lebensstil passte der aus Ostanatolien stammenden Familie nicht. Vor knapp elf Jahren wurde die 23-jährige Hatun Sürücü bei einer Bushaltestelle in Berlin von ihrem jüngsten Bruder erschossen. Der Mordfall erschütterte Deutschland. Und er ist noch nicht zu den Akten gelegt. Fast elf Jahre später kommen jetzt zwei mutmaßliche Anstifter in Istanbul vor Gericht. Der Prozess beginnt heute, Dienstag. Der damals 18-jährige Ayhan Sürücü, der jüngste Bruder des Opfers, gestand den „Ehrenmord“: Er habe seine Schwester erschossen, weil sie sich „wie eine Deutsche benommen“ und damit die Ehre der kurdischen Familie in den Schmutz gezogen habe. Der Fall löste seinerzeit in Deutschland eine hitzige Debatte über Zwangsehen, Integration und Parallelgesellschaften aus. Ayhan Sürücü sagte vor Gericht aus, er habe seine Schwester am

BERLIN, ISTANBUL.

Tatabend in ihrer Wohnung aufgesucht und sie wegen ihres Lebenswandels zur Rede gestellt. Dann sei es zu einem Streit gekommen. Ayhan folgte seiner Schwester zu der Bushaltestelle. „Bereust du deine Sünden?“, soll er Hatun gefragt und sie dann drei Mal in den Kopf geschossen haben. Ayhan wurde nach dem Jugendstrafrecht zu neun Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Im Juli 2014 wurde er entlassen und sofort in die Türkei abgeschoben, weil er „keine glaubhafte Reue gezeigt“ habe. Schon bei der Verurteilung von Ayhan Sürücü hieß es in den Medien, der Prozess lasse viele Fragen offen. Beobachter gingen bereits seinerzeit davon aus, dass die ganze Familie in die Planung der Tat verwickelt war und der jüngste Sohn den Mord verüben sollte, weil er mit der geringsten Strafe davonkommen würde – ein in der Türkei bei sogenannten Ehrenmorden durchaus übliches Verfahren. Ayhans ältere Brüder Mutlu und Alpaslan, zur Tatzeit 24 und 25 Jahre alt, wurden zwar ebenfalls angeklagt, aus Mangel an Beweisen aber freigesprochen. Der Bundesgerichtshof hob die Freisprüche zwar 2007 auf. Da hatten sich die beiden aber bereits in die Türkei abgesetzt. Ein deutsches Auslieferungsgesuch lehnten die türkischen Behörden ab. Die Istanbuler Justiz leitete aber 2013 ein eigenes Strafverfahren gegen die beiden Männer ein und erhob im vergangenen Jahr Anklage wegen Mordes. Sie werden verdächtigt, ihren

Interview mit dem Täter

Hatun Sürücü hatte ihre eigene Vorstellung vom Leben.

jüngeren Bruder mit dem Mord beauftragt und ihm die Tatwaffe besorgt zu haben. Am heutigen Dienstag beginnt der Prozess vor dem 10. Schwurgericht im asiatischen Teil Istanbuls. Die beiden Angeklagten wiesen die Vorwürfe in bisherigen Aussagen zurück, wie aus Gerichtsakten hervorgeht. Demnach streiten sie ab, ihren jüngsten Bruder zum Mord an Hatun angestiftet oder ermutigt zu haben. Die Version der Brüder steht im Widerspruch zu der Aussage der damaligen Freundin des jüngsten Bruders Ayhan. Sie war schon in dem Berliner Prozess als glaubwürdig eingestuft und mit ihrer Mutter ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen worden. Ihr ehemaliger Freund soll ihr nach der Tat erzählt haben, dass er die Waffe von seinem Bruder Mutlu bekommen habe. Der andere, Alpaslan, soll laut Anklage dem Mörder am Tatort

KURZ GEMELDET Bischof kritisiert Ausländerfeindlichkeit

Tschechien schickt Waffen in den Irak

WARSCHAU. Der Vorsitzende der Polnischen Bischofskonferenz (KEP), Erzbischof Stanisław Gądecki von Posen, hat Angriffe auf Ausländer in seinem Land als „kranken Nationalismus“ verurteilt. Nach Angaben der Erzdiözese vom Wochenende betonte er zugleich, Polen seien seiner Meinung nach nicht fremdenfeindlich. SN, KAP

PRAG.

Präsident Ashraf Ghani.

EU fordert Waffenruhe im Krieg gegen Kurden

Präsident droht der IS-Terrormiliz

Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini hat einen „sofortigen“ Waffenstillstand in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei gefordert. Mogherini äußerte die Forderung am Montag nach Gesprächen mit türkischen Regierungsvertretern in Ankara. Zugleich verurteilte sie scharf „alle Arten von Terrorismus“. Die türkische Armee geht seit Mitte Dezember mit aller Härte gegen Kämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vor. SN, AFP

KABUL.

BRÜSSEL.

Tschechien liefert mehr als 6500 Sturmgewehre und sieben Millionen Schuss Munition in den Irak. „Das ist unsere Unterstützung im Kampf gegen den ,Islamischen Staat’“, sagte Ministerpräsident Bohuslav Sobotka am Montag. SN, dpa

BILD: SN/AFP

„Wir werden den ‚Islamischen Staat‘ begraben“, sagte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani am Montag. „Die Afghanen wollen nun Rache. Der IS hat sich mit den falschen Leuten angelegt.“ Die Islamisten hätten in der Provinz Nangarhar „unfassbare Grausamkeiten“ begangen. In dieser Region schließen sich vor allem enttäuschte Taliban dem IS an. Die afghanische Armee hat eine Offensive mit US-LuftunterstütSN, AFP zung begonnen.

Kroatischer Minister wühlt in alten Wunden Der neue kroatische Veteranenminister Mijo Crnoja fordert jetzt, dass die Schulbücher positiver über den Krieg mit Serbien berichten. Das Fernsehen solle mehr patriotische Filme zu zeigen. SN, dpa

ZAGREB.

Luftangriff im Jemen tötete hohen Richter Bei einem Luftangriff der von Saudi-Arabien geführten Koalition im Jemen sind ein ranghoher Richter und sieben Angehörige getötet worden. Der Jurist war auf Terrorfälle spezialisiert. SN, AFP SANAA.

BILD: SN/DPA/DPAWEB

„geistigen Beistand“ geleistet haben. „Es muss angenommen werden, dass, wenn auch kein Indiz allein ausreicht, um die Schuld der Verdächtigen zu beweisen, dennoch die Gesamtheit der Indizien den nötigen Beweis liefern kann“, heißt es in der Anklageschrift beim Istanbuler Strafgericht. Skandal am Rand: Der in die Türkei abgeschobene Mörder Ayhan betreibt einen Köfte-Imbiss in Istanbul, machte dort aber parallel Karriere bei einer Sicherheitsfirma – und tat als Wachmann ausgerechnet in der Sommerresidenz des deutschen Botschafters im Istanbuler Nobelvorort Tarabya Dienst. Dort bewachte der 28-Jährige, der gegenüber Reportern aus seinem „Hass auf Deutschland“ keinen Hehl macht, im Auftrag der Sicherheitsfirma ATK an mindestens zwei Tagen das Gelände. Erst als seine Identität aufflog, wurde er eilig abSN, n-ost gelöst.

Im Jahr 2011 brach der verurteilte Mörder Ayhan Sürücü sein Schweigen und sprach im Gefängnis mit zwei Reportern des Rundfunks Berlin-Brandenburg. Jo Goll und Matthias Deiß haben eine Dokumentation gedreht, die der Frage auf den Grund geht, was den erst 18-jährigen Ayhan zum Mörder werden ließ. „Verlorene Ehre – Der Irrweg der Familie Sürücü“ ist in der Mediathek des rbb online zu sehen. „Warum konnten Sie die Lebensweise Ihrer Schwester nicht akzeptieren?“, wird Ayhan Sürücü im Film gefragt. „Für meine Vorstellung war sie zu freizügig. Zu offen, was den Umgang mit Männern betrifft“, lautet Ayhans Antwort. Hatun hätte ihm an jenem Abend an der Bushaltestelle gesagt, er solle sich aus ihrem Leben raushalten. „Sie hat einen Satz rausgehauen wie: Sie könne schlafen, mit wem sie wolle. Da hab ich nicht mehr nachgedacht.“ Nach Ayhans Abschiebung in die Türkei empfing ihn die Familie herzlich. Es wurde ein Köfte-Laden eingerichtet, den er seither führen darf. „Ich glaube, die Familie sieht ihn als Helden, nicht als Mörder“ sagt Psychologe Ahmad Mansour im Film.

Für Asylbewerber in Wales gilt eine Armbandpflicht Die Kennzeichnung von Asylbewerbern mit einem roten Armband hat in Großbritannien empörte Reaktionen hervorgerufen. Ohne ein solches Erkennungszeichen erhalten die Bewohner eines Flüchtlingsheims in der walisischen Hauptstadt Cardiff kein Essen, wie die Zeitung „The Guardian“ berichtete. Politiker und Menschenrechtsaktivisten verurteilten diese Maßnahme. Der Waliser Flüchtlingsrat (WRC) zog einen Vergleich zu den Judensternen in der Nazidiktatur. „Das ist absolut entsetzlich“, sagte WRC-Mitarbeiterin Hannah Wharf. „Sie werden wie Tiere bei der Fütterung behandelt.“ Die Justizexpertin der oppositionellen Labour-Partei, Jo Stevens, kündigte an, die Affäre auch im britischen Parlament zur Sprache zu bringen. Der Betreiber des Flüchtlings-

LONDON.

heims in Cardiff, Clearsprings, erklärte, die Armbänder seien ausgegeben worden, um angesichts der stark angestiegenen Zahl von Flüchtlingen in der Erstaufnahmeeinrichtung für Ordnung bei der Essensausgabe zu sorgen. Der ehemalige Heimbewohner Eric Ngalle beklagte, das rote Armband kennzeichne die Flüchtlinge als „Ausgestoßene“. Manche Autofahrer hätten die Armbänder gesehen und angefangen zu hupen – begleitet von dem Ruf: „Geht zurück in eure Länder!“ Wenn man das Armband abmache, lasse es sich nicht wieder verschließen. „Wer also essen will, muss es die ganze Zeit tragen.“ Im Nordosten Englands war eine ähnliche Debatte entbrannt. Asylsuchende, die in der Stadt Middlesbrough gezielt in Wohnungen mit roten Türen einquartiert wurden, klagten über Beschimpfungen und Übergriffe. Die britische Regierung leitete Ermittlungen ein. SN, AFP