Die laotischen Kinder schreien nie - Swiss Laos Hospital Project

07.01.2013 - «Heimetli» genannten Haus in Stetten – ihr Herz hat sie allerdings an Asien verloren. Ihre Ferien ... Rubin bekam den Job. 1999 sah sie bei ...
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Hintergrund



MOntag, 7. Januar 2013

Marie-Louise Rubin ist seit 25 Jahren Hebamme im Kantonsspital Schaffhausen. Sie lebt in ihrem von ihr liebevoll «Heimetli» genannten Haus in Stetten – ihr Herz hat sie allerdings an Asien verloren. Ihre Ferien verbringt sie in Asien und unterstützt laotische Hebammen.

Visite, bevor die Frau nach Hause geht. Im Mother & Child Health Hospital in Vientiane.

Bild Lukas Messmer

«Die laotischen Kinder schreien nie» Von Lukas Messmer, Vientiane

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ie Sicherheit, mit der sich Marie-Louise Rubin nur wenige Minuten zuvor durch die Sakarin Road bewegt hat, ist verschwunden. Die Hebamme ist nervös. Ihr Leben lang stand nicht sie im Mittelpunkt, sondern andere. Bevor ihre Lebensgeschichte aus ihr heraussprudelt, bestellt sie das Mittagessen, das ihr eine Apothekerin in Laotisch auf einen Zettel geschrieben hat. Später wird sie merken, dass das ihre Passkopie war. Sie kommt direkt vom Gebärsaal des Mother & Child Health Hospital in der laotischen Hauptstadt Vientiane. Seit zwölf Jahren hilft sie hier. «Das Helfersyndrom, das hat man oder nicht», sagt sie. Wer Gutes tue, dem werde Gutes widerfahren, «Het Bun – Dai Bun» heisse dieses Prinzip in der buddhistischen Lehre. Sie spricht mit der tiefen Überzeugung, das Richtige zu tun. Wie hat es das Mädchen, das im konservativ-katholischen Schwarzwald an einer Klosterschule ihre erste Ausbildung machte, in das ärmste Land Südostasiens verschlagen?

«In Asien zu Hause» Sie hatte sich verliebt. Das war 1978, als 27-Jährige. «Als ich in Indien und Bangkok aus dem Flugzeug stieg, war es mir sofort klar», sagt sie, «hier in Asien bin ich zu Hause.» Rubin sucht nach Gründen, nach Worten, um das damalige Gefühl zu umschreiben. «War es der Geruch? Ich weiss es nicht.» ­Liebesbeziehungen können eben nicht rational erklärt werden. Marie-Louise Rubin wusste bereits mit 4 Jahren, dass sie «Gebärmutter» werden wollte. Es dauerte 26 Jahre, aber dann hatte sie es geschafft. Zuerst lernte sie Kinderpflegerin, dann Krankenschwester, und erst mit 30 Jahren absolvierte sie die Ausbildung zur Hebamme am Universitätsspital Zürich. Hier, im Zürich von 1982, lernte sie zwei Männer kennen, die ihrem Lebensweg einen Anstoss in Richtung Asien ga-

ben: ihren Ehemann und den Gynäkologen Urs Lauper, damals Assistenzarzt am Unispital. Zunächst brach sie mit ihrem Ehemann auf, um die Welt zu entdecken: 1984 bis 1986 Sydney, 1986 bis 1990 Manila. Er arbeitete bei der Zürich-Versicherung, sie baute in den Slums von

«Einige der schönsten Jahre meines Lebens waren in den Slums von Manila in einer Gesundheitsstation» Manila eine Gesundheitsstation für pränatale Untersuchungen auf. Alleine. Firmen wie Bayer spendeten Medikamente. «Das waren einige der schönsten Jahre meines Lebens. Ich hatte verwirklicht, was ich wollte», sagt Rubin. Heute lebt die Hebamme wieder in der Schweiz, in ihrem «Heimetli» in Stetten, wie sie ihr Haus liebevoll nennt. Sie kocht gerne, häufig Thai, schwimmt viermal die Woche und pflegt den Garten. Das Ehepaar kaufte das Haus aus Not: Niemand wollte den Rückkehrern aus den Philippinen und ihrem bissigen Schäferhund eine Wohnung vermieten. Ihren treuen Wachhund hatten sie nicht zurücklassen wollen. Kaum waren sie eine Woche wieder in der Schweiz, kündigte eine Hebamme am Spital Schaffhausen. Rubin bekam den Job. 1999 sah sie bei einer Fortbildung den Gynäkologen wieder, den sie vor 17 Jahren erstmals getroffen hatte. «Urs, ich hab’s geschafft!», sagte sie. Sie war in Asien gewesen. Denn Urs Lauper hatte damals gesagt: «Ich will mal in die Dritte Welt.» «Ich geh zuerst», habe sie geantwortet und gelacht. Sie hatte recht behalten. Lauper, bis heute Präsident des Swiss Laos Hospital Project, hatte 1999 die ersten Pläne für ein Projekt in Laos. Ein Jahr später, nach einem Abstecher nach Kambodscha, wo Rubin zusammen mit einer Oberärztin in sieben Wochen für Beat Richner eine Maternité aufbaute, war auch die Hebamme an Bord – bis heute.

«Jeden Tag gibt es im Geburtensaal Erlebnisse, die sehr ans Herz gehen», sagt Rubin. Sie erzählt von Frauen, die nach einem Geburtsstillstand auf dem WC gebären, und von Kindern, die im Licht einer Taschenlampe zur Welt kamen. Fliessendes Wasser sei in der Provinz ein Luxus, auch in Muang Kham, einem District Hospital in der Provinz Xieng Khouang, wo Rubin seit zwei Jahren arbeitet. Schwangere werden mit dem Pick-up gebracht, Schmerzmittel gibt es keine. «Es wird geboren wie bei uns vor 30 Jahren», sagt sie. Nach 24 Stunden gehen die Wöchnerinnen nach Hause, schlafen zwei Wochen neben einem Feuer und kriegen einen speziellen Kräutertee zu trinken. Beides soll die Wundheilung fördern. Was sie bis heute erstaunt: «Kinder schreien nie.» Die Mütter seien immer bei ihnen. Im April 2011 starb Rubins Mann, das Paar war kinderlos geblieben. Aber auch wenn die Hebamme nie Mutter wurde – Grossmutter ist sie trotzdem: Fünf Patenkinder hat sie in Laos. Ein siebenjähriges Mädchen heisst Marie-Louise, ein fünfjähriges Louise-Marie. «Es können ja nicht alle gleich heissen», sagt sie und schildert die tiefe, grenzenlose Dankbarkeit, die ihr die

Mütter entgegenbringen: «Die Frauen glauben, dass ihr Kind meinen Charakter hat, wenn ich die Nabelschnur durchtrenne.»

Kein Fan von Entwicklungshilfe Als Patin schenkt sie Bücher, Spielsachen, Velos, zahlt Englischunterricht und telefoniert mit ihnen. «Es ist goldig, wenn ich ihre Freude sehe.» Jeder Abschied ende mit Tränen. Sie zeigt auf ihrer Kamera Fotos von ihren Patenkindern, die als Abschiedsgeschenke einen Sack Reis und eine Papaya – ihre Lieblingsfrucht – in den Händen halten. Beim Wort «Entwicklungshilfe» verzieht sie das Gesicht. Es sei eine Unterstützung, getragen von Respekt und Wertschätzung den Menschen und ihrer Kultur gegenüber. Man sei nur Gast. «Menschen, die sich selbst heilen wollen, scheitern hier. Man braucht seelische und körperliche Stabilität», sagt Rubin. Im Kantonsspital Schaffhausen hat Rubin ein 70-Prozent-Pensum. Seit zwölf Jahren ist sie fünf bis sechs Wochen im Jahr – die ganzen Ferien – mit dem Swiss Laos Hospital Project unterwegs. Das Spital Schaffhausen war immer grosszügig, schenkte ihr gar ein-

Der Verein Swiss Laos Hospital Project

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as Swiss Laos Hospital Project ist ein im Jahr 2000 von Ärzten, Hebammen und Pflegenden gegründeter Verein. Zweimal im Jahr reist eine Gruppe aus der Schweiz nach Laos. Das Team bildet laotisches Personal aus, baut und renoviert Spitäler oder nimmt medizinische Geräte in Betrieb. So fanden zum Beispiel in den letzten 12 Jahren 35 Ultraschallgeräte den Weg nach Laos. Die Köpfe hinter dem Projekt sind der pensionierte Gynäkologe Dr. Urs Lauper, der acht Monate im Jahr in Laos lebt, sowie Dr. Marion Mönkhoff, Chefärztin Neonatologie des Spitals Zollikerberg. Das Gesundheitssystem in Laos ist etwa auf dem Stand wie jenes der

Schweiz vor 130 Jahren. Etwa 90 Prozent der Mütter gebären zu Hause, die Kindersterblichkeit ist zwanzigmal so hoch wie in der Schweiz, die Versorgung in den kleineren Spitälern miserabel.

Sieben Tonnen Spenden Hauptfokus des Vereins ist die Senkung der Mütter- und Kindersterblichkeit durch Verbesserung der Schwangerschaftsvorsorge und Geburt sowie die bessere Betreuung der Früh- und Neugeborenen. Einmal im Jahr schickt das Team einen Container mit gespendetem Material nach Laos: Im Dezember 2012 waren das sieben Tonnen mit einem Neuwert von fast 750 000 Franken. www.swisslaos.ch

mal zwei Wochen. Man realisiert: Rubin hat die europäische Work-Life-Balance umgekehrt. Sie verbraucht ihre Energie in den Ferien, in Laos, und findet Entspannung während der Arbeit, in der Schweiz. Ihre beiden Lebensmittelpunkte könnten nicht verschiedener sein: der eine steinreich, der andere mausarm. «Die Schweiz bedeutet Sicherheit», sagt sie. Alles sei geordnet, das Leben sorgenfrei von der Geburt bis zum Tod. Laos ist das krasse Gegenteil. Trotzdem könnten die Schweizer von den Laoten lernen, manchmal etwas Ruhe, Geduld und Ausdauer zu zeigen. «Dieses In-sich-ruhen-können, diese buddhistische Gelassenheit ist uns abhandengekommen», sagt Rubin. «Der Europäer hechelt, der Asiate lächelt.» Die Hebamme aus der Schweiz lächelt immerfort. Anderswo geht sie nicht mehr hin. Sie hat es versucht. Die Ferien in Kroatien und Italien seien ein Desaster gewesen. Um 18 Uhr hatte sie Hunger, aber erst um 20 Uhr öffneten die Restaurants. Das Wetter war kalt. Sie sehnte sich nach der Wärme Asiens und reiste wieder ab: «Nun lebe ich hier oder zu Hause in meinem Heimetli.» Marie-Louise Rubin ist 61-jährig und hat ihren Platz im Weltgefüge gefunden. «Ich liess mich immer treiben und dachte, es kommt schon gut. Vielleicht hatte ich darum so viel Glück?» Sie wird sich wohl auch nach der Pension treiben lassen. Ihr einziger, noch etwas diffuser Plan: Sich mit Sterbehilfe auseinanderzusetzen. «Da gibt’s Parallelen zur Geburt. Zuerst der Schmerz, dann die totale Entspannung», sagt sie. Niemand solle leiden, weder bei der Geburt, noch beim Tod. «Wer in meine Hände fällt, lasse ich nicht leiden», sagt sie fast drohend. Sie zahlt die Rechnung. Das Essen, sagt sie, sei natürlich auch ein Grund, warum sie Asien so möge. Mit einigen Worten Laotisch bedankt sie sich beim Kellner – und springt ihm dann sofort nach, um ihre Passkopie wieder zu erhalten.