Die konstruktivistische Pädagogik in der Kritik

... der Ausgangsfrage vorgenommene konsequente Ableitung der konstruktivis- .... Die äußere Realität ist uns sensorisch und kognitiv unzugänglich. Wir sind mit ...
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Reinhard Keßler

Von blinden Flecken und logischen Fehlschlüssen

Die konstruktivistische Pädagogik in der Kritik

disserta Verlag

Keßler, Reinhard: Von blinden Flecken und logischen Fehlschlüssen: Die konstruktivistische Pädagogik in der Kritik, Hamburg, disserta Verlag, 2015 Buch-ISBN: 978-3-95425-830-7 PDF-eBook-ISBN: 978-3-95425-831-4 Druck/Herstellung: disserta Verlag, Hamburg, 2015 Covermotiv: © laurine45 – Fotolia.com

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ......................................................................................................................................... 1 2. Empirische Fundamente ................................................................................................................... 7 2.1 Kognitionsbiologische Ansätze und gehirnphysiologische Argumente .................................... 8 2.2 Autopoietische Systeme ........................................................................................................... 12 2.3 Sprache und Bewusstsein ......................................................................................................... 15 3. Konstruktivistische Konsequenzen ................................................................................................ 19 3.1 Erkenntnistheoretische Konsequenzen .................................................................................... 19 3.2 Das Viabilitätskonzept ............................................................................................................. 23 3.3 Ethische Konsequenzen ........................................................................................................... 24 4. Konstruktivistische Pädagogik....................................................................................................... 29 4.1 Anthropologische Grundlagen und die Modellierung des Subjekts ........................................ 32 4.2 Konstruktivistische Lehr- und Lerntheorie .............................................................................. 34 4.2.1 Lernen ............................................................................................................................... 35 4.2.2 Kommunizieren................................................................................................................. 41 4.2.3 Lehren ............................................................................................................................... 44 4.2.4 Zusammenfassung der Ergebnisse .................................................................................... 46 4.3 Konstruktivistische Didaktik.................................................................................................... 47 4.3.1 Die konstruktivistische Unterrichtssituation ..................................................................... 48 4.3.1.1 Die Modellierung der Inhalte ..................................................................................... 48 4.3.1.2 Die Modellierung der unterrichtlichen Beziehungen ................................................. 52 4.3.2 Die konstruktivistische Unterrichtsgestaltung .................................................................. 53 4.3.3 Konstruktivistische Unterrichtsziele und -inhalte ............................................................. 57 4.3.4 Zusammenfassung der Ergebnisse .................................................................................... 59 5. Unschärfen konstruktivistischer Erkenntnistheorie ....................................................................... 61 5.1 Konstruktivistische Theoriebildung zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung.................... 62 5.2 Die logischen Inkonsistenzen konstruktivistischer Erkenntnistheorie..................................... 66 5.2.1 Die konstruktivistische Behauptung eigener Geltung....................................................... 67 5.2.2 Der konstruktivistische Blick auf die empirischen Wissenschaften ................................. 68 5.2.3 Das reale Gehirn als Voraussetzung phänomenaler Wirklichkeit .................................... 70 5.3 Kritik der viabilistischen Wahrnehmungskonzeption .............................................................. 73 5.4 Zusammenfassung der Ergebnisse ........................................................................................... 75 6. Kritik konstruktivistischer Pädagogik............................................................................................ 77 6.1 Die Konstruktivität aller Kognition und der homo materia ..................................................... 77 6.2 Kritik der konstruktivistischen Lehr- und Lerntheorie ............................................................ 83 6.2.1 Unbestimmtes Lernen ....................................................................................................... 85 6.2.2 Aporien konstruktivistischer Kommunikation .................................................................. 89 6.2.3 Die Entprofessionalisierung der Lehre ............................................................................. 91 6.3 Kritik konstruktivistischer Didaktik......................................................................................... 95 6.4 Zusammenfassung der Ergebnisse ......................................................................................... 100 7. Schlussbetrachtungen ................................................................................................................... 103 8. Literaturverzeichnis ..................................................................................................................... 107

1. Einleitung

Der von Kösel 1995 selbstbewusst proklamierte „Paradigmenwechsel in der Didaktik“ (Kösel 1995, S. 7) beschreibt einen ersten Höhepunkt der Akzentuierung subjektiver Wirklichkeitskonstruktionen in der Pädagogik bei zeitgleicher Zurückweisung der Möglichkeit einer vom Beobachter unabhängigen Erkenntnis. Als Ausgangspunkt einer als innovativ sich gebärdenden Pädagogik wird ein erkenntnis- und wissenschaftstheoretisches Paradigma propagiert, dessen radikalste Konsequenz in der Auflösung der „substantiellen Kategorien der Moderne“ (Pongratz 2005, S. 18) besteht.1 Die als Mythen apostrophierten Ansprüche einer nach Wahrheit strebenden Aufklärung werden durch das konstruktivistische Verständnis menschlicher Erkenntnis bereitwillig einem „funktionalistisch vereinnahmten Pragmatismus“ (ebd. S. 20) geopfert. Die Organisationsstruktur des konstruierenden Subjekts und die funktionalen Ansprüche der umgebenden Systemzusammenhänge erneuern als die entscheidenden Instanzen aller spezifischen Gewissheiten die Bedeutung des Objektiven. Die Objektivität wird in die Sphäre des Intersubjektiven verschoben und das Erlebnis einer Wirklichkeit wird an die subjektspezifische Wahrnehmungsverarbeitung und das sich ableitende Handeln gebunden. Während die Wahrnehmung einer zweifelsfreien Wirklichkeit in den Bereich des Unmöglichen verwiesen ist, präsentieren sich die konstruktivistische Erkenntnistheorie und die aus ihr hervorgehende konstruktivistische Pädagogik als empirisch untermauerte Konzeptionen, die mit Hilfe neurophysiologischer Argumente die scheinbar hilflosen Spekulationen traditioneller Erkenntnistheorie überwinden konnte und so eine unhaltbar gewordene europäische Denktraditionen abgelöst hat (vgl. v. Glasersfeld 1998; Siebert 2003; v. Förster/ Pörksen 2004; Reich 2005). Realität äußert sich aus konstruktivistischer Perspektive nur noch in handlungseinschränkenden Störungen, so genannten Perturbationen, deren spezifische Widerständlichkeiten den Einzelnen zur Entwicklung ausgleichender, passender oder konstruktivistisch gesprochen viabler Lösungsansätze zwingen. Das der Befähigung zur kreativen Konstruktion kompensatorischer Verhaltensweisen hinterlegte Erkenntnisverständnis birgt jedoch die Aufgabe normativer Kategorien in sich und ermöglicht es einer interpretativen, anpassungsorientierten Weltanschauung, pädagogisches Denken und Handeln zu bestimmen.

1

Die „substantiellen Kategorien“ verweisen nach Pongratz vor allem auf das Konzept der Rationalität, der Bildung und der Subjektivität (vgl. Pongratz 2005, S. 18).

1

Das Postulat einer geschlossenen und in rekursiven Kreisbahnen verlaufenden Wahrnehmung legt es gänzlich in die Verantwortlichkeit der einzelnen Individuen, eine Lebens- und Erfahrungsrealität zu entwerfen, in der das eigene Verhalten den Ansprüchen des umgebenden Milieus viabel entgegentritt. Intentionale Pädagogik zerläuft unter diesen Bedingungen zur bloßen „Anregung des Subjekts,

seine

Konstruktionen

von

Wirklichkeit

zu

hinterfragen,

zu

überprüfen,

weiterzuentwickeln, zu verwerfen, zu bestätigen“ (Werning 1998, S. 40). Beschreibt dies die pädagogische Konsequenz einer empirischen Alternative zum neuzeitlichen Wissenschaftspositivismus und damit die Überwindung der Widersprüchlichkeiten einer als gescheitert erfahrenen Moderne, oder handelt es sich nur um die hilflose Affirmation der strukturellen Dominanz einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft? Beschreibt die konstruktivistische Pädagogik eine viable Konstruktion? Eine frühe Anwendungen konstruktivistischer Theorie auf pädagogische Fragestellungen stammt aus dem Jahre 1986.2 Der Aufsatz „Verstehen Verstehen“ von Rusch kann als Beginn einer seit Ende der achtziger Jahre stark zunehmenden Verbreitung konstruktivistisch motivierter Ansätze zur Bearbeitung pädagogischer Probleme angesehen werden (vgl. Rusch 1986). Seither wendet sich das Interesse der konstruktivistischen Pädagogen auf zahlreiche Gegenstandsbereiche pädagogischer Forschung. So werden die konstruktivistischen Theoreme im Bereich der Wissensvermittlung und des Wissenserwerbs angewandt (vgl. Gerstenmaier/ Mandl 1995, S. 867ff.; Dubs 1995, S. 889ff.; Reich 1999, S. 70ff.; Rolf/ Siebert 1995). Zudem wird immer wieder die Bedeutung des konstruktivistischen Erkenntnisverständnisses für die Klärung didaktischer Fragen betont. Entsprechend werden konstruktivistische Postulate zur Gestaltung von Unterrichtsprozessen, Unterrichtszielen und Unterrichtsinhalten herangezogen (vgl. v. Glasersfeld 1995a, S. 7ff.).

Stets werden die konstruktivistisch motivierten Pädagogen dabei von dem innovativen Anstrich ihrer Konzeptionen beflügelt. Sie sind von der Hoffnung getragen, die metatheoretischen Postulate des Konstruktivismus könnten die überkommenen pädagogischen Konzepte der linearen Übertragung scheinbar objektiven Wissens auflösen und durch eine, die konstruierende Eigenständigkeit des Individuums betonende, offen gestaltete Erlebenswelt ersetzen. Die Selbstreferentialität der Wissensaneignung, die konstituierende Organisationsstruktur der Individuen und die erfolgreiche Anpassung an einschränkende Umgebungsbedingungen steigen so zu maßgeblichen pädagogischen Kriterien auf. Die konstruktivistische Perspektive auf den Prozess des Lernens verschiebt den Fokus von der Belehrung der Lernenden auf die Ermöglichung des Lernens. 2

Zum Verlauf der Veröffentlichungsgeschichte von Texten zur Nutzbarmachung konstruktivistischer Theorie in pädagogischen Kontexten vgl.: Diesbergen. 1998, S. 63f. Zudem gibt Terhart einen fundierten Überblick über die Auseinandersetzung mit konstruktivistischer Didaktik in deutschsprachigen Publikationen (vgl. Terhart 1999, S. 631).

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Genauso alt wie die erwartungsvolle Anwendung der konstruktivistischen Theorie in pädagogischen Kontexten ist auch die Kritik an ihren theoretischen Grundlagen und ihrer pädagogischen Relevanz. Ausgangspunkt der Kritik ist das als widersprüchlich angesehene Konzept einer naturalisierten Erkenntnistheorie. Es wird bemängelt, dass auf der einen Seite empirische Erkenntnisse zur Renaturalisierung

erkenntnistheoretischer

Argumentationsfiguren

instrumentalisiert

werden,

während auf der anderen Seite die verabsolutierte Annahme der Konstruktion aller Kognition zu schwerwiegenden Aporien im Umgang mit empirischen Aussagen führt und schon auf der Ebene der Theoriebildung am Ast der Bedingungen eigener Möglichkeit sägt.3 Der drohenden Selbstwiderlegung trotzend entwickeln konstruktivistisch motivierte Pädagogen dennoch individuelle und je nach Bedarf modellierte Variationen eines Ansatzes, dessen innerer Zusammenhang scheinbar nur durch die Verdrängung seiner paradoxen Konstruktionsgrundlage erkennbar wird.4 Um der Ausgangsfrage nach der Viabilität der konstruktivistischen Pädagogik nachzugehen, bedarf es in Entsprechung zu den genannten Gegenstandbereichen der kritischen Überprüfung der konstruktivistischen Erkenntnistheorie sowie der sich ableitenden Konzeptionen konstruktivistischer Pädagogik. Der Viablitätsbegriff soll dabei im Sinne seiner theorieinternen Verwendung als konstruktivistische Chiffre der Eignung verstanden werden. Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen (v. Gasersfeld 1998, S. 43). 5

Es wird also zu klären sein, ob und unter welchen Bedingungen eine auf der Grundlage konstruktivistischer Theoreme entworfene Pädagogik eine funktional angemessene Konstruktion ist und welche pädagogische Relevanz dem konstruktivistischen Denken in dieser Verbindung zukommt. Ausgehend von den theoretischen Bezugspunkten konstruktivistischen Denkens als eine Theorie der Genese des Wissens von den Dingen, muss das Verhältnis von konstruktivistischer Theorie und pädagogischem Selbstverständnis dabei als das Verhältnis von konstruktivistischer Wahrnehmungsauffassung und pädagogischem Denken und Handeln erörtert werden. Die konstruktivistische Antwort auf die Frage nach dem menschlichen Erkenntnisvermögen wird im Rahmen dieser Arbeit 3

Siebert weist daraufhin, dass es vor allem die Gewichtung der Neurophysiologie als Grundlage des Konstruktivismus ist, welche den Grad der kritischen Diskussion bestimmt. Die Verabsolutierung neurowissenschaftlicher Grundlagen der Kognition führe unweigerlich zu den Vorwürfen „des Biologismus, Naturalismus, auch des Sozialdarwinismus“ und sei deshalb zu relativieren (Siebert 2003a, S. 13). 4 Die konstruktivistisch motivierte Pädagogik versucht den entstehenden Widersprüchlichkeiten durch die Modellierungen abgeschwächter Konzeptionen zu entgehen, ohne sich jedoch von dem unwiderruflich beanspruchten Impuls, dem neurophysiologischen Begründungszusammenhang, hinreichend distanzieren zu können. Im Rahmen dieser Arbeit sollen daher die Kompensationsbemühungen konstruktivistischer Pädagogik nicht anerkannt werden und stattdessen die Konsequenzen der neurophysiologischen Untermauerung sowohl erkenntnistheoretischer als auch pädagogischer Konzeptionen zum Ausgangspunkt der Betrachtungen und zum rahmenden Hintergrund der kritischen Bewertung erklärt werden. 5 So wie der gesamte Text werden auch alle Zitate dieser Arbeit entsprechend der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung vom 1. August 2006 wiedergegeben. Die abweichenden Stellen werden stillschweigend korrigiert, ohne den Aussagegehalt der zitierten Passagen zu berühren.

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als eine auf den empirischen Ergebnissen der Neurophysiologie fußende Konzeption begriffen. Aus diesem Grunde soll vor die Darstellung der erkenntnistheoretischen Implikationen konstruktivistischen Denkens die Offenlegung der zugrunde gelegten neurophysiologischen Forschungsergebnisse und der mit ihnen in enger Verbindung stehenden kognitionsbiologischen Konzeptionen treten. Terhart betont, dass es gerade die „Abstützung durch gehirnphysiologische Forschung“ (Terhart 1999, S. 632) ist, welche der konstruktivistischen Erkenntnistheorie das Selbstbewusstsein zur radikalen Distanzierung von der „philosophischen Spekulation“ (ebd.) traditioneller Erkenntnistheorie verleiht. Welchen Wirkungsgrad dieses empirische Selbstbewusstsein für die konstruktivistische Erkenntnistheorie hat, wird zu überprüfen sein. Die zur Beantwortung der Ausgangsfrage vorgenommene konsequente Ableitung der konstruktivistischen Theorie aus den Forschungsergebnissen einer mit der Kognitionsbiologie verwobenen Neurophysiologie verursacht die analytische Grundlegung eines konstruktivistischen Wahrnehmungsverständnisses, welches die eigenen Postulate in ihrer weitreichenden Bedeutung für die Erkenntnistheorie, die Vorstellungen von Lehr- und Lernprozessen und schließlich auch für die Konzeptionalisierungen didaktischer Ansätze ernst nimmt und sich nicht in verfremdenden Modellierung auf kleinste gemeinsame Nenner konstruktivistischen Denkens zurückzieht. Für die argumentative Rhythmik der vorliegenden Arbeit ist damit zweierlei gewonnen: Zum einen entgeht sie den fruchtlosen Diskussionen zwischen radikalen und gemäßigten Konstruktivisten um konkrete Abgrenzungsgebiete und spezifische Wirksamkeiten und zum anderen umschifft sie die Untiefen verzerrender Aufweichungen konstruktivistischer Theoreme, deren Existenz nicht selten das Resultat einer funktionalen Anpassung an bestimmte Verwendungsgebiete ist und deren Folgewirkungen und inhärenten Widerspruchspotentiale weniger der konstruktivistischen Verfasstheit zuzuschreiben sind, als vielmehr der spezifischen Form des Zugriffs. Ausgangs- und Bezugspunkt der folgenden Argumentation soll daher ein konsequenter Konstruktivismusbegriff sein, der in enger Verknüpfung mit seinen empirischen Grundlagen bezüglich seiner Bedeutung als erkenntnistheoretische Grundlagentheorie pädagogischen Denkens und Handelns befragt werden soll.6 Da sich aus der konstruktivistisch motivierten Erkenntnistheorie nicht unmittelbar eine Pädagogik oder eine Didaktik ableiten lässt, muss zur Beantwortung der Frage nach der Bedeutung des Konstruktivismus für pädagogisches Denken und Handeln die Wirkung der konstruktivistischen Erkenntnisvorstellung auf das pädagogische Selbstverständnis in allgemeiner Form offen gelegt werden. Teil I dieser Arbeit widmet sich daher neben der Bestandsaufnahme des neurophysiologi6

Wenn in der folgenden Analyse auf Autoren zurückgegriffen wird, die in ihren Darstellungen den Begriff des Radikalen zur Darstellung des Konstruktivismus verwenden, dann unterscheidet sich dieser keineswegs von dem hier vorgeschlagenen neurophysiologisch untermauerten Theorieverständnis und soll deshalb in der vorliegenden Arbeit unter dem Begriff Konstruktivismus subsumiert werden.

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schen Forschungsstandes (vgl. Kapitel 2) der Darstellung der konstruktivistisch modellierten Erkenntnistheorie (vgl. Kapitel 3) sowie ihrer Nutzbarmachung in pädagogischen Kontexten (vgl. Kapitel 4). Durch die aufeinander aufbauende Darstellung konstruktivistischer Erkenntnistheorie und der aus ihr hervorgehenden Pädagogik soll die Basis einer logisch-kritischen Untersuchung geschaffen werden, die sich der Absicht widmet, das konstruktivistische Paradigma hinsichtlich seiner Bedeutung für die Pädagogik zu befragen. Dabei ist zu überprüfen, ob die zugrunde gelegten theoretischen Postulate sowie die abgeleiteten pädagogischen Konzeptionen konsistente Entwürfe beschreiben oder problematische Widersprüchlichkeiten in sich tragen. Teil II dieser Arbeit bildet deshalb den Analyseteil, welcher im Rückgriff auf die Ergebnisse des ersten Teils nach der Beschaffenheit der theorieimmanenten Begründungszusammenhänge der konstruktivistischen Erkenntnistheorie fragt (vgl. Kapitel 5) und die Auswirkungen der konstruktivistischen Erkenntnistheorie auf pädagogisches Denken und Handeln untersucht (vgl. Kapitel 6). Die den angestrebten Betrachtungen hinterlegte These ist freilich eine zweifelnde. Mit Blick auf die theoriegeschichtliche Verwurzelung des Konstruktivismus und seinem radikalen Bruch mit der traditionellen Erkenntnistheorie entstehen Irritationen, die dem Verdacht der Inkonsistenz Vorschub leisten. Eine konstruktivistisch motivierte Erkenntnistheorie, die sich ihrer hermeneutischen Verankerung mit der traditionellen Philosophiegeschichte entzieht und stattdessen einer empirischen Modellierung erkenntnistheoretischer Fragestellungen das Feld ebnet, scheint sowohl bei der Konzeptionalisierung eigener Theoreme als auch im Rahmen der pädagogischen Inbesitznahme unfreiwilligen Widersprüchlichkeiten zu erliegen. Ob dieser skeptischen Annahme berechtigte Einwände entsprechen oder ihre Entstehung sich auf die anspruchsvolle, weil ungewohnte Einfindung in ein neues erkenntnistheoretisches und pädagogisches Paradigma zurückführen lässt, soll die folgende Untersuchung zeigen. Den Abschluss dieser Arbeit soll der Versuch einer ergebnisverschränkenden Beantwortung der Frage nach der Viabilität der konstruktivistischen Pädagogik bilden (vgl. Kapitel 7).

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2. Empirische Fundamente Die Neurophysiologie der Gegenwart ist dem Bemühen verschrieben, Erkenntnisleistungen kausal zu rekonstruieren. Die modernen Forschungsverfahren ermöglichen es, geistige Prozesse, sofern diese als funktionale Arbeitsweisen des Gehirns verstanden werden, experimentell zu beobachten und zu prüfen. Die bildgebenden Verfahren erlauben eindringliche Einblicke in den Arbeitsprozess des Gehirns und den Verlauf neuronalen Organgeschehens. Mit der Hilfe neuer Visualisierungstechniken lässt sich die modulare Organisationsstruktur des Großhirns nachzeichnen, was zu einem Funktionsmodell des Gehirns als Erkenntnissystem führt, welches die traditionellen Modellierungen grundlegend revolutioniert. Die überkommene Vorstellung von der schlichten Abbildungsfunktion des Gehirns oder der ergänzenden Arbeit einzelner konkret bestimmter Informationseinheiten lassen sich vor dem Hintergrund des neurologischen Forschungsstandes nicht länger rechtfertigen (vgl. Birbaumer/ Schmidt 2006). Das Gehirn erscheint seither vielmehr als hochverdichteter Schaltkreis, dessen qualitativ wie quantitativ einzigartige Organisationsform schon in den Beschreibungsversuchen der neurologischen Entdeckerzeit deutlich zum Ausdruck kommt: „Jede einzelne Nervenzelle ist sowohl eine Recheneinheit, als auch ein Kommunikationsapparat für sich. Nicht das Gehirn ist ein Computer, sondern es besteht vielmehr aus Milliarden von Computern, von denen jeder eine interne, höchst komplexe Struktur und chemoelektrische Funktion hat und die alle zusammen ein Netz von Interaktionen bilden, dessen Gesamtzustand uns immer unbekannt bleiben wird“ (Oeser/ Seitelberger 1988, S. 173). Die erkenntnistheoretischen Behauptungen konstruktivistischen Denkens und ihr Verständnis von dem Verhältnis von Wissen und Wirklichkeit beruhen auf der interpretativen Inbesitznahme der neurophysiologischen Forschungsergebnisse und der Fortsetzung kognitionsbiologischer Konzeptionen (vgl. Rustemeyer 1999). Beide Wissenschaftsbereiche sollen daher im weiteren Verlauf dieses Kapitels in ihrer wechselseitigen Ergänzungs- und Erweiterungsfunktion als konstruktivistisch verschränkter Begründungszusammenhang erläutert werden.7

Die von Siebert formulierte „Kernthese des Konstruktivismus“ (Siebert 2003, S. 5) soll dabei als strukturierende Orientierung der im Folgenden vorgenommenen Begriffsklärungen dienen, fallen doch in ihr die zentralen Begriffe der Neurophysiologie und der Kognitionsbiologie in ihrer konstruktivistischen Verdichtung zusammen.

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Die erschlossenen Inhalte beziehen sich im Wesentlichen auf die Analysen von: Maturana/ Varela 1987; Roth 1994a; Miller-Kipp 1995; Schmidt 1996; v. Förster 2003; Birbaumer/ Schmidt 2006.

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Die Kernthese des Konstruktivismus lautet: Menschen sind autopoietische, selbstreferentielle, operational geschlossene Systeme. Die äußere Realität ist uns sensorisch und kognitiv unzugänglich. Wir sind mit der Umwelt lediglich strukturell gekoppelt, das heißt, wir wandeln Impulse von außen in unserem Nervensystem ‚strukturdeterminiert‘, das heißt auf der Grundlage biographisch geprägter psycho-physischer, kognitiver und emotionaler Strukturen, um. Die so erzeugte Wirklichkeit ist keine Repräsentation, keine Abbildung der Außenwelt, sondern eine funktionale, viable Konstruktion, die von anderen Menschen geteilt wir und die sich biographisch und gattungsgeschichtlich als lebensdienlich erwiesen hat. Menschen als selbstgesteuerte ‚Systeme‘ können von der Umwelt nicht determiniert, sondern allenfalls perturbiert, das heißt ‚gestört‘ und angeregt werden (ebd.).

2.1 Kognitionsbiologische Ansätze und gehirnphysiologische Argumente Die Forschungsergebnisse der Biologen Maturana und Varela haben gezeigt, dass isoliert beobachtete Prozesse immer in Systeme involviert sind, deren Systemeigenschaften sich nicht hinreichend durch analytische Herleitungsverfahren erklären lassen, sondern erst durch Emergenzphänomene beschreibbar werden, die das Auftauchen neuer Qualitäten durch die Kombinationen und die Wechselwirkungen der einzelnen systembildenden Elemente in den Mittelpunkt der Untersuchungen rücken (vgl. Maturana/ Varela 1987). Nicht im einzelnen Element selbst und auch nicht in einem präzisen Studium seines Aufbaus oder seiner unmittelbaren Nachbarschaft sondern im Muster seiner Interaktionen mit allen anderen Elementen und dem übrigen Geschehen im Inneren des umgebenden Systems verbirgt sich das Geheimnis seiner Bedeutung. Beobachtbare Prozesse erscheinen unter diesen Voraussetzungen stets zurückgeworfen auf ihre netzwerkartige Verknüpfung in das bedingende System. So auch die Wahrnehmungen des Menschen als Emergenzphänomene des Systems Gehirn. Lebende Systeme bestehen aus einer Vielzahl von Elementen, die sich durch die von ihnen gebildete spezifische Systemstruktur auszeichnen. Die individuelle Gestalt des systemintern geknüpften Netzwerkes geht in der Organisationsform ihrer materialen Existenz auf und ist zugleich die Grundlage potentieller Emergenzphänomene. Die menschliche Systemstruktur ist durch die Epidermis klar von der umgebenden Umwelt abgetrennt. Sie begrenzt das menschliche System und verbindet es zugleich mit seiner Umgebung. Umweltreize, die aus dem umgebenden Milieu durch den sinnlichen Filter dieses strukturell vorgegebenen Koppelungsverhältnisses auf das System Mensch treffen, verursachen interne Strukturveränderung. 8 Maturana und Varela folgend stehen nur die konkreten Strukturen der von den einzelnen Elementen des Systems unterhaltenen netzwerkartigen Verbindungen in einem reaktiven Verhältnis mit der Umwelt, während die Organisationsform

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Der hier ungewohnt erscheinende Milieubegriff stammt aus der Kognitionsbiologie und ersetzt im sprachlichen Innenraum konstruktivistischer Theorie den Begriff der Umwelt.

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von dieser unberührt bleibt (vgl. Maturana/ Varela 1987). Im Rahmen der internen Strukturveränderungen findet ihrer Argumentation folgend kein externer Bestandteil Eingang in das menschliche System, sondern die als Perturbationen bezeichneten äußeren Einwirkungen erzeugen unspezifische Impulse zu systemimmanenten Veränderungsprozessen (vgl. ebd.). Eine These, die, wenn man sie von der allgemeinen Ebene lebender Systeme auf die spezielle Ebene der menschlichen Kognition zuspitzt, radikale Folgen nach sich zieht. Die Rezeptoren der Sinnesorgane bringen Nervenimpulse hervor, die das Gehirn nach eigenen Maßgaben verarbeitet. Die Produktion kognitiv verwertbarer Impulse ist ein Überführungsprozess, bei dem die Sinnesorgane das, „was in unserer Umwelt passiert, in die Sprache des Gehirns“ (Roth 1994a, S. 80) übersetzen. Der Übergang von der chemischen und physikalischen Umwelt zu den Wahrnehmungsgegenständen des Gehirns verläuft folglich in Form eines radikalen Umwandlungsprozesses, in dem die „Komplexität der Umwelt“ (Schmidt 1996, S. 155) zerlegt wird in „Erregungszustände von Sinnesrezeptoren, aus denen das Gehirn durch komplexe Mechanismen die überlebensrelevante Komplexität der Umwelt erschließen muss“ (ebd.). Der Operationsmodus des Gehirns ist demnach informationell geschlossen. An dieser Stelle findet ein zentrales Argument der konstruktivistischen Erkenntnisauffassung seine neurophysiologische Grundlage, das Prinzip der undifferenzierten Codierung (vgl. v. Förster 2003). Den Darstellungen von Försters ist zu entnehmen, dass die Erregungszustände der Sinneszellen keinerlei Rückschlüsse auf die physikalische oder chemische Natur des Reizes zulassen, sondern lediglich unterschiedliche Reizintensitäten verzeichnen. Die Sinneszellen sind „sämtlich blind für die Qualität der Reize und sprechen lediglich auf deren Quantität an“ (v. Förster 2004, S. 44). Die Signale, die über die Sinneszellen das Gehirn erreichen, beinhalten keine Hinweise auf die Eigenschaften des Reizerregers, sondern verweisen ausschließlich auf den gereizten Körperbereich und die Intensität des wahrgenommenen Reizes (v. Förster 2004, S. 44). Folgt man der These der undifferenzierten Codierung, vollzieht sich Wahrnehmung demnach innerhalb eines geschlossenen Systems, welches keinerlei Abbildung der in der Außenwelt befindlichen Objekte erzeugen kann, sondern bei der Hervorbringung von Wahrnehmung stets auf systemimmanente Kodierungen zurückgreifen muss. Neurologisch gesprochen wird die Welt unseres Erlebens in den Aktivitätsmustern der Nervenzellen und Nervenzellverbänden verkörpert. Die jeweiligen Wahrnehmungszustände sind die Ergebnisse spezifischer neuronaler Zustände und ihrer äußerlich angeregten und intern vollzogenen Modifikation. Wie diese Modifikationen aus äußeren Reizen gebildet werden hängt, dabei nicht von der Beschaffenheit des Reizes ab, sondern vom strukturellen Zustand des Nervensystems. Im Wahrnehmungsprozess interagiert das Nervensystem folglich mit seinen eigenen Zuständen im Modus der funktionalen Selbstreferentialität.

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