Die Fünf Meister aus Sichuan (Sichuan wu junzi): Die ...

Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Zusammensetzung ..... Nanjing, März 1985) sowie der Chengduer Gruppe Feifei (槭槭 „Nicht-Nichtsein“). Die.
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Alexandra Leipold

Die Fünf Meister aus Sichuan (Sichuan wu junzi) Die Posthermetischen Lyriker Bai Hua, Zhang Zao, Zhong Ming, Ouyang Jianghe und Zhai Yongming

disserta Verlag

Alexandra Leipold

Die Fünf Meister aus Sichuan (Sichuan wu junzi) Die Posthermetischen Lyriker Bai Hua, Zhang Zao, Zhong Ming, Ouyang Jianghe und Zhai Yongming

Leipold, Alexandra: Die Fünf Meister aus Sichuan (Sichuan wu junzi): Die Posthermetischen Lyriker Bai Hua, Zhang Zao, Zhong Ming, Ouyang Jianghe und Zhai Yongming, Hamburg, disserta Verlag, 2011 ISBN: 978-3-942109-63-5 Druck: disserta Verlag, ein Imprint der Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2011

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Die Fünf Meister aus Sichuan (Sichuan wu junzi) Die Posthermetischen Lyriker Bai Hua, Zhang Zao, Zhong Ming, Ouyang Jianghe und Zhai Yongming

Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn

vorgelegt von Alexandra Leipold M. A. aus München

Bonn 2010

Gedruckt mit der Genehmigung der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Zusammensetzung der Prüfungskommission: Prof. Dr. Peter Schwieger: Vorsitzender Prof. Dr. Wolfgang Kubin (Betreuer und Gutachter) Prof. Dr. Thomas Zimmer (Gutachter) Prof. Dr. Stephan Conermann (weiteres prüfungsberechtigtes Mitglied) Tag der mündlichen Prüfung: 4. Oktober 2010 2

Für Gustav

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„Die begehrte Schönheit des Pendels bewegt sich unablässig zwischen Kafkas Einzelhandel und einer ‚Sinologie in der Westentasche’.“ Ouyang Jianghe

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Allgemeine Hinweise Zur Transkription chinesischer Orts- und Personennamen wie auch der Buchtitel und einzelner zitierter Textpasssagen wurde durchgängig das Hanyu-PinyinSystem verwendet. Bei Zitaten, die aus der nicht-chinesischen Sekundärliteratur übernommen wurden, habe ich die Schreibweise dem o.g. System angeglichen, wenn auch in den bibliographischen Hinweisen die jeweilige Originaltranskription nicht angetastet wurde. Sofern nicht anders angegeben, wird die abgekürzte Form (jianti) der Schriftzeichen auch für die Publikationen außerhalb der VR China beibehalten. Sämtliche chinesische Namen, Orte und Begriffe können dem Glossar am Ende der Arbeit entnommen werden. Die chinesischen Originaltexte aller wichtigen erwähnten sowie vollständig zitierten Gedichte sind im Anhang abgedruckt. Die Übersetzungen der Gedichte sind, wenn nicht anders angegeben, von der Verfasserin dieser Arbeit vorgenommen worden.

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Vorwort…………………………………………………………………...…..8 I. EINLEITUNG.....................................................................................................9 1. ERKENNTNISINTERESSE .............................................................................12 2. VORGEHENSWEISE ....................................................................................14 3. FORSCHUNGSSTAND ..................................................................................18 II. HISTORISCHER RÜCKBLICK ..........................................................................20 1. VORWORT .................................................................................................20 2. KRITERIEN FÜR EINE MODERNE CHINESISCHE DICHTUNG ..........................22 2.1 DER DICHTER FENG ZHI ␾咂 (1905–1993) ...........................................29 2.2 DER DICHTER DAI WANGSHU 㓃㦪咡 (1905–1950)...............................32 3. DAS ENDE DER EMANZIPATION: DIE FORDERUNG NACH VEREINHEITLICHUNG. DIE ZEIT ZWISCHEN 1938 UND 1976..........................36 3.1 DIE KULTURREVOLUTION .......................................................................42 3.2 DIE WUNDENLITERATUR .........................................................................44 4. DER LYRISCHE NEUANFANG: DIE HERMETISCHE DICHTUNG (MENGLONG SHI)............................................49 III. DIE POSTHERMETISCHE DICHTUNG (HOU MENGLONG SHII) .........................52 1. ENTSTEHUNG, STRÖMUNGEN UND GRUPPIERUNGEN .................................52 2. SICHUAN: PROVINZ DER DICHTER UND DIE DICHTUNG DES SÜDENS. MUTMAßUNGEN & CAPRICCIOS ....................................................................56 3. DER 4. JUNI 1989 UND SEINE FOLGEN .......................................................60 IV. DIE FÜNF MEISTER AUS SICHUAN (SICHUAN WU JUNZI ⥪ぬ℣⚪⷟) BAI HUA, ZHANG ZAO, ZHONG MING, OUYANG JIANGHE UND ZHAI YONGMING ......................................................................................61 1. BAI HUA: INNERLICHKEIT ALS BRÜCKE ZWISCHEN ZWEI WIRKLICHKEITEN ..........................................................................................61

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2. DIE DICHTUNG ZHANG ZAOS: EXIL UND ENTFREMDUNG IN DER LYRIK ZHANG ZAOS ALS ÜBUNG DER DESTABILISIERUNG.......................................81 3. ZHONG MING: EIN VISIONÄR – KOMPLEXITÄT, INHALT UND ÄSTHETIK ...95 4. DAS WERK OUYANG JIANGHES: VISION ODER BESTRAFUNG DER INSPIRATION?..............................................................................................111 5. ZHAI YONGMING. DIE VERWANDLUNG EINER FRAU: VON DER NACHT ZUM TAG – WAS IM DUNKELN FLATTERT MUSS NICHT IMMER „FLEDERMAUS“ HEIßEN. DIE NEUE SELBSTIRONIE IM LYRISCHEN SPRECHEN ZHAI YONGMINGS .......126 V. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK.........................................................145 VI. CHINESISCHE VERSIONEN DER ZITIERTEN GEDICHTE ...............................152 VII. BIBLIOGRAPHIE .......................................................................................186 A LITERATUR IN CHINESISCHER SPRACHE ...................................................186 1. PRIMÄRLITERATUR DER FÜNF MEISTER AUS SICHUAN..............................186 2. SEKUNDÄRLITERATUR .............................................................................188 B LITERATUR IN WESTLICHEN SPRACHEN ...................................................191 4. LEXIKA UND NACHSCHLAGEWERKE ........................................................201 5. WÖRTERBÜCHER .....................................................................................202 VIII. GLOSSAR WICHTIGER BEGRIFFE.............................................................202 IX. GLOSSAR DER CHINESISCHEN NAMEN ......................................................206

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Vorwort Die vorliegende Dissertation wurde im Sommersemester 2010 am Sinologischen Institut der Rheinischen Friedrich-Willhelms-Universität Bonn zur Promotion angenommen. Besonderer Dank gilt an dieser Stelle der Konrad-AdenauerStiftung e.V., ohne deren Förderung diese Arbeit nicht geschrieben worden wäre. Darüber hinaus danke ich vor allem meinem Doktorvater Wolfgang Kubin, der die Entstehung der Arbeit in jeder Phase kritisch begleitet und motivierend unterstützt hat. Den weiteren Mitgliedern der Prüfungskommission, Thomas Zimmer, Stephan Conermann und Peter Schwieger, sei ebenfalls herzlich gedankt. Folgenden Personen möchte ich für ihre Unterstützung danken: Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn danke ich für den mir ermöglichten Zugang zu den Bibliotheksräumen auch außerhalb der Öffnungszeiten. Maghiel van Crevel und Michael Day haben wichtige Hinweise und Anregungen gegeben. Susanne Adamsky und Rita Nemeth danke ich für die Möglichkeit, meine Arbeit im Rahmen des DoktorandInnen-Treffens an der Rhenischen Friedrich-Willhelms-Unisversität vorstellen und diskutieren zu können. Für fachlichen Rat und freundschaftliche Unterstützung danke ich Richeza Herrmann, Silvia Egger, Alexander Huber, Hanna Kessler und Elmar Knobel. Besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle Caroline Lodemann für ihre Freundschaft und den steten, damit verbundenen Gedankenaustausch aussprechen. Meinen Eltern möchte ich für das mir entgegengebrachte Vertrauen danken, meinem Vater ganz speziell für seine Unterstützung bei computerrelevanten Fragen. Meinem Mann Thorsten Willmann danke ich für seine Zeit, seine Geduld und seinen unermüdlichen Zuspruch. Die kritische Lektüre des Manuskripts hat Susanne Adamyksy übernommen. Dafür sei ihr herzlich gedankt. Mirjam Meuser hat schließlich dazu beigetragen, dass die Arbeit zu einem guten Abschluss gebracht werden konnte.

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I. EINLEITUNG Ein Überblick über die chinesische Dichtung des 20. Jahrhunderts verdeutlicht, dass seit Beginn der 1980er-Jahre in der Volksrepublik China (VRC) eine neue Generation von Dichtern und Dichterinnen begonnen hat ihre lyrische Stimme zu erheben: Die Posthermetiker (hou menglong shiren). Diese neue Generation ist auch unter Namen wie die „Dritte Generation“ (san dai ren), „Neugeborene Generation“ (xinsheng dai) oder die „Dichtung der zweiten Strömung“ (di erdai shihu) bekannt geworden. So können die zahlreichen lyrischen Gruppierungen innerhalb dieser Generation zwar anhand stilistischer bzw. inhaltlicher Merkmale voneinander abgegrenzt werden, nicht selten jedoch liegt ihre lyrische Affinität in einem gemeinsamen Freundeskreis begründet. So auch bei den Fünf Meistern aus Sichuan, die eine der wichtigsten Gruppen innerhalb der zeitgenössischen chinesischen Lyrik darstellen. Zu ihr gehören die Dichter Bai Hua 㩞◝ (geb. 1956), Zhang Zao ㆯ㨲 (1962-2010), Zhong Ming 朮炲 (geb. 1953), Ouyang Jianghe 㶶棂㻮㽂 (geb. 1956) und Zhai Yongming 剮㻇㢝 (geb. 1955). Diese Gruppe vereint nicht nur langjährige Freundschaften und gemeinsame Wurzeln in Südchina, sondern vor allem der Gedanke der „Intellektualisierung einer metaphysischen Innerlichkeit“. 1 Alle fünf Dichter streben es an, eine gefühlsbetonte, elegante, reife und gleichzeitig experimentelle Dichtung zu schreiben. Sie betonen laut eigener Aussage vor allem „die Innerlichkeit und Intellektualität, angereichert durch die Bewusstheit von kultureller Tradition“2 als Grundlage ihres lyrischen Schaffens. Mit dieser Aussage folgen sie einem Anspruch, der „statt auf Inspiration, Eingebung oder spontane Erhellung auf Reflexion und den Ausdruck gereifter Erkenntnis setzt“3 und repräsentieren damit eine der beiden Hauptströmungen, die sich bis in die heutige Zeit hinein entwickelt haben.4 1

ZHANG ZAO: „Zeitgenössische chinesische Lyrik und Sprachbewusstsein. Betrachtungen zum metapoetischen Verfahren der Postobskuren Lyrik“, in: Orientierungen. Zeitschrift zur Kultur Asiens, hrsg. von Berthold Damhäuser & Wolfgang Kubin, München: edition global, 2/1996, S. 63–81, hier S. 74. 2 ZHANG ZAO: Auf der Suche nach poetischer Modernität: Die neue Lyrik Chinas nach 1919. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Philosophie, Tübingen 2004, S. 215. 3 Ebd. 4 Zu ihnen gehören neben den Fünf Meistern aus Sichuan die Dichter Chen Dongdong 棗₫ ₫ (geb. 1961), Lu Yimin 棕㉕㟞 (geb. 1962), Xi Chuan 導ぬ (geb. 1963) und Song Lin ⸚ 䛂 (geb. 1959). Sie werden von der Literaturkritik als „intellektuelle Dichter“ (zhishi fenzi shiren) bezeichnet. Die andere Stilrichtung wird repräsentiert von der Gruppe Tamen (Ⅵⅻ, Nanjing, März 1985) sowie der Chengduer Gruppe Feifei (槭槭 „Nicht-Nichtsein“). Die Vertreter dieser beiden letztgenannten Gruppen werden als „Alltagsdichter“ (shenghuo shiren) oder auch als „Umgangssprache-Dichter“ (kouyu shiren) bezeichnet. Vgl. MICHAEL DAY: Chinas Second World of Poetry – The Sichuan Avant-Garde 1982–1992. Leiden University, Amsterdam: Digital Archive for Chinese Studies (Dachs), http://leiden.dachs– archive.org/poetry/md.html (PDF-download, eingesehen Januar 2009), 2005. 9

Die Fünf Meister aus Sichuan sind nicht nur mit der eigenen Tradition, der literarischen Moderne Chinas sowie der chinesischen Gegenwartsliteratur vertraut, sondern besitzen darüber hinaus reiche Kenntnisse hinsichtlich der gesamten Weltliteratur. Ihre Heimatverbundenheit zu Südchina spielt dabei eine ebenso wichtige Rolle wie das Chinesische als sprachliche Heimat im globalen Kontext. Wichtige Merkmale dieser sprachlichen Zugehörigkeit finden sich in Begriffen wie Tradition, Transzendenz und Dekadenz, Gelassenheit und sprachlicher Raffinesse.5 Viele ihrer lyrischen Werke können daher auch unter einer „daoistischen Dimension, die die integrale Verbindung von Leben und Tod, von Leben und Kunst“6 zu ästhetisieren beabsichtigt, gesehen werden. Den lyrischen Neuanfang sehen die Fünf Meister aus Sichuan in der seit 1979 veränderten politischen Situation, in den gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen und vor allem in der Sprache selbst begründet.7 Ihr Schwerpunkt liegt in der für die Posthermetiker so typischen Auffassung einer Autonomie, die „allein durch die Sprache und nicht durch den Inhalt eines Gedichtes realisiert“8 werden kann. Wo für ihre Vorgänger, die Hermetiker (menglong shiren), „immer wieder der Rückgriff auf den Humanismus und die differenzierte Bedeutung des Menschlichen, die Stärkung des Gefühlsausdrucks, das Streben nach dem Gefühl geistiger Freiheit, die Bewahrung des Optimismus inmitten aller Zweifel und der Versuch, dem traurigen Bewusstsein der Entfremdung zu widerstehen“ 9 elementar blieb, ist für die folgende Epoche vor allem der

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Wichtige Anmerkungen hierzu sind zu finden in XIAO KAIYU: „Nanfang shi – putong de guancha, chuaice he suixiang (Die Poesie des Südens: Gewöhnliche Beobachtungen, Mutmaßungen und Capriccios)“, in Huacheng 5/1997, S. 198–208, hier S. 201; RAFFAEL KELLER: Poesie des Südens. Eine vergleichende Studie zur chinesischen Lyrik der Gegenwart. Bochum: Projekt Verlag, 2000, S. 74 und CHENG GUANGWEI: Zhongguo dangdai shige shi (Die Geschichte der zeitgenössischen chinesischen Dichtung). Peking: Renmin Daxue Chubanshe, 2003. 6 ZHANG ZAO 2004, S. 213. 7 Die Posthermetiker sehen sich einerseits in unmittelbarer Nachfolge zu ihren berühmten Vorgängern, den Hermetikern (menglong shiren) – zu ihnen gehören die weltbekannten Autoren Bei Dao ▦拢 (geb. 1949), Gu Cheng 欍⩝ (1956–1993), Yang Lian 㧷䍋 (geb. 1955) und Shu Ting 咡ⴆ (geb. 1952) u.a. – bekennen sich andererseits jedoch vehement zu einem lyrischen Neuanfang. Vgl. hierzu z. B. TANG XIAODU: Zhongguo shiyan shixuan (Experimentelle chinesische Lyrik), Shenyang: Chunfeng Wenyi Chubanshe, 1994b. 8 Ebd. 9 TANG XIAODU: Tang Xiaodu shixue lunji (Tang Xiaodu über die Dichtung). Peking: Zhongguo Shehui Kexue Chubanshe, 2001, S. 77. Zur Dichtung der Hermetiker vgl. MICHELLE YEH: Modern Chinese Poetry: Theory and Practice since 1917. New Haven & London: Yale University Press. 1991; MAGHIEL VAN CREVEL: Language Shattered. Contemporary Chinese Poetry and Duo Duo. Leiden (NL): CNWS Publications, Research School, 1996; WOLFGANG KUBIN: Bei Dao – Notizen vom Sonnenstaat. Gedichte. München: Hanser, 1991 und BONNIE MCDOUGALL & KAM LOUIE: The Literature of China in the 20th Century. New York: Columbia University Press. 1997, hier v.a. S. 421–440. Zur 10

Pluralismus, die Individualität, die künstlerische Freiheit und die Betonung des Ästhetischen charakteristisch. Weder steht die Situation des Einzelnen noch die der gesamten Gesellschaft mehr im Mittelpunkt, da sich nun der Fokus verstärkt auf das kreative Selbst, das Schreiben, die Dichtung, ihre Sprache und deren Situation zu richten beginnt. Aus diesem Grund steht für viele Posthermetiker besonders die Auseinandersetzung mit dem eigenen lyrischen Sprechen im Vordergrund. So lassen sie neben der vermehrten Konzentration auf das Private und das Alltägliche vor allem das eigene Sprachbewusstsein zum Mittelpunkt ihres Interesses werden. Diese neue Grundtendenz lässt sich zu Beginn der 1980er-Jahre nicht nur in den vielen verschiedenen lyrischen Strömungen und Stilen erkennen, sondern sie ist es, die bis heute die chinesische Literaturszene nachhaltig beeinflusst. 10 Damit ist die selbstständige Entwicklung neuer dichterischer Ausdrucksformen fern der politisch vorgegebenen Ideologie für die heutige Generation als charakteristisch, und die daraus resultierende Frage nach dem „Wie“ des dichterischen Schreibens als wesentlich anzusehen. In vielerlei Hinsicht bedeutet also die Etablierung der „materiellen Gegenwart von Sprache, die im poetischen Akt eine eigene räumliche Konkretheit erlangen kann“11 das wichtigste Merkmal der Posthermetischen Dichtung. Besonders die Dichter der Gruppe der Fünf Meister aus Sichuan verkörpern mit ihren Forderungen nach einer ästhetischen Neuorientierung, einer gefühlsbetonten, autonomen und autarken Dichtung, eine Abkehr von altbekannten Sichtweisen und politischen Machtstrukturen. Dass sie dies nicht mittels lyrischem Pathos und idealisierten Wertvorstellungen tun, verdanken sie den Erfahrungen ihrer Vorgänger. Dass sie es geschafft haben, ihre Aufmerksamkeit vermehrt auf die ästhetischen Fragen der Dichtung und Kunst zu richten, beweist im Grunde genommen ihre fortwährende Suche nach einer adäquaten 12 lyrischen Sprechweise. Denn, so die Dichterin Zhai Yongming: „Die Frage ist nicht was, sondern wie geschrieben wird und was aus dem Schreiben geworden ist.“ 13 Das kann jedoch wiederum heißen, dass das Schreiben über das Schreiben – als konkreter Akt des Selbstausdrucks – für sie bei Weitem mehr bedeutet, als vorerst anzunehmen ist. Vor allem steht es für eine radikale Abkehr von jeglicher Politisierung, denn, so der Dichter Zhong Ming, „der konsistenteste und tiefste Widerstand [liegt] im rein ästhetisch Begriffserläuterung vgl. HANS PETER HOFFMANN: Gu Cheng – Eine dekonstruktive Studie zur Menglong–Lyrik. Frankfurt am Main: Peter Lang, 1993, S. 80 ff. 10 Vgl. hierzu MAGHIEL VAN CREVEL: Language Shattered, Contemporary Chinese Poetry and Duo Duo. Leiden (NL): CNWS Publications, Research School, 1996, S. 77 ff. 11 ZHANG ZAO 2004, S. 230. 12 Es ist nicht bestimmbar, welche Bedeutung der Begriff „adäquat“ an dieser Stelle hat, da noch unklar ist, wonach die fünf Dichter suchen. Er ist somit in keiner wissenschaftsgerechten Entität zu charakterisieren. 13 SHEN YONG MIKLITZ: „Zhai Yongming“, in: HEINZ LUDWIG ARNOLD (Hrsg.): Kritisches Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur. 57. Nlg., 1983, München: Edition text und kritik GmbH, 2002, S. 5. 11

Formalen, unter bewusstem Verzicht auf die Macht“14 . Seiner Meinung nach soll das Gedicht nicht ideologiekritisch, sondern sprachkritisch sein, auch oder gerade unter einem totalitären System. Aus der sprachlichen Selbstreflexion folgt damit nicht nur die Dekonstruktion altbekannter Sichtweisen, sondern auch der Gewinn einer neuen Dimension: der einer paradoxen Autonomie von Sprache.15 Aufgrund anhaltender Skepsis und der Infragestellung hoher Ideale entwickelt sich also ein Trend, der auf metapoetischer Ebene vor allem eines widerspiegelt: die Einsamkeit des Dichters, der sich auf der Suche nach der Realität, der Sprache und der eigenen Identität befindet.16

1. ERKENNTNISINTERESSE In der vorliegenden Studie wird daher der Schwerpunkt auf der Analyse und Interpretation ausgewählter Gedichte der Gruppe der Fünf Meister aus Sichuan liegen. Im Fokus des Interesses steht dabei vor allem ihre Auseinandersetzung mit Sprache und dem lyrischen Sprechen. Das heißt, es soll erörtert werden, welche Fragen sich auf textueller und metatextueller Ebene in ihrer Lyrik als Andeutungen auf ihre Auseinandersetzung mit dem eigenen lyrischen Sprechen erkennen lassen. So können sich z.B. private Symbole, intertextuelle Referenzen oder Metaphern auf allgemeine Problematiken der Poetik beziehen und spiegeln damit möglicherweise Kontroversen zur Adäquatheit des lyrischen Ausdrucks, den Inhalten und Formen von Dichtung, ihrer gesellschaftlichen Relevanz und Angemessenheit wider. Dabei finden sich sprachkritische neben gesellschaftskritischen Fragen ebenso wieder wie Reflexionen über das Leben 14

ZHANG ZAO 2004, S. 213. Vgl. hierzu das Beispiel Zhang Zaos in ZHANG ZAO 2004, S. 240. Hier kommt der Spaziergang durch die Stadt einem Spaziergang durch die Poesie gleich. So erfahren die Dinge eine neue Dimension der Poetisierung und „gewinnen eine merkwürdige, paradoxe Autonomie.“ Viele Posthermetiker sprechen von einer Autonomisierung der Sprache, die ihrer Ansicht nach durch die im Gedicht stattfindende Selbstreflexion auf Metaebene zustande kommt. Diese Vorstellung hat ihre Wurzeln womöglich in der sprachkritischen Suche nach dem adäquaten lyrischen Ausdruck, in dem Wunsch nach Freiheit und nicht zuletzt in der Wiederentdeckung des eigenen Ichs. Denn es ist davon auszugehen, dass der Prozess der Wortsuche zur Überwindung der Sprachlosigkeit im Grunde genommen als Akt des Wiederaufbaus eines Ich gesehen werden kann, das von der Wirklichkeit und der Gesellschaft geschunden und zerrissen wurde. 16 Es scheint hier einen möglichen Zusammenhang zu geben zwischen der Spätzeit von Diktaturen und einer bestimmten Form des lyrischen Sprechens. So entwickelte sich etwa auch in der DDR-Lyrik der 1980er-Jahre eine Form sprachkritischer, an hermetische Traditionen anknüpfender Lyrik, die sich der Suche nach einer durch staatliche Zwänge schwer beschädigten individuellen Identität verschrieb. Vgl. hierzu JANINE LUDWIG & MIRJAM MEUSER: „In diesem besseren Land - Die Geschichte der DDR-Literatur in vier Generationen engagierter Literaten“, in: JANINE LUDWIG & MIRJAM MEUSER (Hrsg.): Literatur ohne Land? Schreibstrategien einer DDR-Literatur im vereinten Deutschland. Freiburg im Breisgau 2009, S. 11–71. 15

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