Die Brüder Grimm und die Märchentradition: Arbeitsmethoden und ...

universelle und zeitlose Märchenform zu erschaffen und Jung und Alt mit ... 1 Heinz Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm – Quellen und Studien, Trier 2004,.
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Henrik Petersen

Die Brüder Grimm und die Märchentradition Arbeitsmethoden und Bedeutung der Brüder Grimm

disserta Verlag

Henrik Petersen Die Brüder Grimm und die Märchentradition: Arbeitsmethoden und Bedeutung der Brüder Grimm ISBN: 978-3-95425-045-5 Herstellung: disserta Verlag, Hamburg, 2013 Covermotiv: © laurine45 – Fotolia.com

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Alles was der Mensch genau betrachtet, ist wunderbar. Jacob Grimm

Inhaltsverzeichnis Einleitung ................................................................................ 9 1. Einführung in die Thematik ............................................ 13 1.1. Märchen und Märchentradition ................................... 13 1.2. Traditionen deutscher Märchenforschung vor Grimm 16 1.3. Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm............ 20 1.4. Traditionen deutscher Märchenforschung nach Grimm ......................................................................... 24 1.5. Unvereinbare Hauptrichtungen und unbeantwortete Fragen ......................................................................... 27 1.6. Methode und Gliederung der Studie ........................... 29 2. Das Märchen vom Märchen ............................................ 35 2.1. Naturromantik, Volksdichtung und Vorbilder ............ 35 2.1.1. Das romantische Ideal.......................................... 35 2.1.2. Volksdichtung und Fakten ................................... 43 2.1.3. Das Vorbild Philipp Otto Runge.......................... 46 2.2. Die Brüder Grimm und ihre Quellen .......................... 52 2.2.1. Junge Frauen aus Kassel ...................................... 52 2.2.2. Die Märchenfrau .................................................. 55 2.2.3. Mündliche Quellen .............................................. 60 2.3. Gattung Grimm: Kinder- und Hausmärchen als Erziehungsbuch ........................................................... 69 2.3.1. Reinheit in der Wahrheit ...................................... 69 2.3.2. Jugendfreie Märchen ........................................... 75 2.3.3. Mutterpädagogik und Familienwerte ................... 81 3. Beispiele der Arbeitsmethoden der Brüder Grimm ...... 89 3.1. Beispiel Froschkönig .................................................. 89 3.1.1. Das Mädchen und der Frosch .............................. 89 3.1.2. Entwicklung des Froschkönig-Märchens ............ 90 3.1.3. Der Froschkönig bei Grimm ............................... 94

3.2. Beispiel Rotkäppchen ................................................ 110 3.2.1. Das Mädchen und der Wolf ............................... 110 3.2.2. Entwicklung des Rotkäppchen-Märchens .......... 111 3.2.3. Rotkäppchen bei Grimm .................................... 118 3.3. Beispiel Schneewittchen ........................................... 130 3.3.1. Das Mädchen und die Stiefmutter ..................... 130 3.3.2. Entwicklung des Schneewittchen-Märchens ...... 131 3.3.3. Schneewittchen bei Grimm ................................ 137 4. Der Mythos vom Volksmärchen ................................... 155 4.1. Ein Mythos entsteht .................................................. 155 4.2. Eine jahrhundertlange volkskundliche Tradition ...... 160 4.2.1. Elias Lönnrot ..................................................... 160 4.2.2. Karl Felix Wolff ................................................ 164 4.2.3. Evald Tang Kristensen ....................................... 168 5. Zusammenfassung .......................................................... 175 Literaturverzeichnis ........................................................... 185

Einleitung Als die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm im Jahre 1812 die Erstausgabe von Kinder- und Hausmärchen herausgaben, standen sie am Anfang einer beispiellosen Erfolgsgeschichte. Sie verstanden es wie kaum jemand vor oder nach ihnen, eine universelle und zeitlose Märchenform zu erschaffen und Jung und Alt mit ihren magischen Geschichten zu fesseln. Während der vergangenen 200 Jahre wurde aus der Märchensammlung das weltweit bekannteste deutsche Buch neben der LutherBibel; als Weltbestseller wurde Kinder- und Hausmärchen in zahllose Sprachen übersetzt, die bekanntesten Märchen wurden dramatisiert, als Theatervorführungen und Ballette aufgeführt und seit den 1930ern mehrfach verfilmt. Im 20. Jahrhundert erlebte die Märchenforschung einen bisher nie erlebten Aufschwung: Die bekanntesten und beliebtesten Figuren und Motive aus Kinder- und Hausmärchen wurden nicht nur text- und kulturgeschichtlich, sondern ebenfalls politisch, soziologisch und vor allem psychologisch interpretiert und analysiert. Seit den 1930er Jahren ist die Sekundärliteratur zu Kinder- und Hausmärchen ins Astronomische gewachsen. Während der Vorbereitungen zu dieser Studie wurde ich daher nicht nur über die reichhaltige Auswahl qualitativ hochwertiger Literatur angenehm überrascht, sondern auch nachdenklich gestimmt beim Anblick der abstrusen Theorien, wofür die Grimmsche Märchensammlung über die Jahre hat herhalten müssen. Die Frage drängte sich auf, ob denn nicht alles über Kinder- und Hausmärchen bereits gesagt wäre. Obwohl es an den verschiedenartigsten Theorien und Deutungen nicht fehlt, scheint dies überraschenderweise nicht der Fall zu sein. Mir 9

wurde bald bewusst, dass die bekanntesten psychologischen, soziologischen und dekonstruktivistischen Interpretationen sich ausschließlich auf der 7. Ausgabe von Kinder- und Hausmärchen beziehen, wobei sowohl die text- und kulturgeschichtlichen Aspekte als auch Wilhelm Grimms ständige Änderung wichtiger Märchenmotive von Ausgabe zu Ausgabe komplett ignoriert wurden. Kinder- und Hausmärchen ist jedoch kein statisches Gebilde; bis zum Erscheinen der 7. Ausgabe, der sogenannten „Ausgabe letzter Hand“ im Jahre 1857, ließ Wilhelm Grimm gerade in den bekanntesten – und daher am meisten interpretierten – Märchen eine Reihe bedeutender literarisch und kulturell bedingter Änderungen sowohl in der Handlung als auch in der Erzählweise durchführen. Wer z.B. die 7. Ausgabe von Hänsel und Gretel oder Schneewittchen interpretiert, kommt daher zu einem völlig anderen Ergebnis als derjenige, der sich mit der Urfassung aus dem Jahre 1810 beschäftigt. Mein Wunsch besteht deshalb darin, die Grimm-Forschung mithilfe dieser Studie zurück zu ihrem Ursprung zu führen und einen Blick hinter die unzähligen Interpretationen und Analysen zu werfen, um dadurch eine erneute Vertrautheit mit den Arbeitsmethoden, Vorgehensweisen, Wünschen und Vorstellungen der Brüder Grimm entstehen zu lassen. Für die verschiedenen Ausgaben von Kinder- und Hausmärchen verwendeten die Brüder Grimm insgesamt 240 separate Texte aus 70 verschiedenen Quellen.1 Der Textvergleich, den der Rahmen dieser Studie zulässt, befasst sich daher lediglich mit einem kleinen Teil eines immensen Stoffs. Für die Zitate gilt, dass sie in moderner Rechtschreibung und 1

Heinz Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm – Quellen und Studien, Trier 2004, Seite 37

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mit wenigen Ausnahmen mit modernisierter Interpunktion wiedergegeben sind. *** An dieser Stelle möchte ich einer Reihe wunderbarer und einmaliger Menschen, ohne deren Hilfe diese Studie in seiner jetzigen Form nicht zustande gekommen wäre, meinen tiefsten Dank aussprechen: - Dr. phil. Steffen Arndal für die interessanten Gespräche und Diskussionen, die wir während der Planungsphase und im Verlauf des Schreibprozesses geführt haben. - Annett Bauer und Philipp B. Koll für das kritische Durchlesen, Korrigieren und Kommentieren der Arbeit. - Tina C. Madsen für die zahllosen anregenden Gespräche, Diskussionen und Brainstorms zum Thema Märchen. - Gry Mortensen, meiner Lebensgefährtin und Muse, für den äußeren und inneren Frieden, den ich zum Schreiben brauche, sowie für ihren grenzenlosen Glauben an meine Fähigkeiten.

Henrik Petersen Rødekro, im Juli 2012

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1. Einführung in die Thematik 1.1. Märchen und Märchentradition Das Wort Märchen ist eine Diminutivform des heute veralteten Substantivs Mär oder Märe. Dieses Grundwort ist eine Substantivierung des Verbs mæren mit der Bedeutung verkünden oder rühmen. Das Substantiv Mär bedeutet Nachricht, Kunde oder Erzählung.2 Das heute bekannteste Beispiel für diese Bedeutung dürfte Luthers Weihnachtslied Vom Himmel hoch, da komm‘ ich her. Ich bring‘ euch gute neue Mär sein. Wurde unter Mär ursprünglich hauptsächlich mündlich vorgetragene Erzähltexte unterschiedlicher Art verstanden, unterlag die seit dem 15. Jahrhundert bezeugte Verkleinerungsform Märchen einer interessanten Bedeutungsveränderung. Im frühen 19. Jahrhundert war der Terminus Märchen zwar immer synonym mit Nachricht; das Wort wurde jedoch in zunehmendem Umfang in der Bedeutung Gerücht sowie der einer kleinen unglaubwürdigen oder erfundenen Geschichte mit fantastischem Inhalt verwendet.3 In ihrem Deutschen Wörterbuch4 vertieften Jacob (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) die 2

DUDEN: Das Herkunftswörterbuch – Etymologie der deutschen Sprache, Mannheim 2007, Seite 508 3 DUDEN, Seite 508 4 Brüder Grimm: Deutsches Wörterbuch (künftig DW), herausgegeben von der Universität Trier und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; Stichwort Märchen: http://dwb.uni-trier.de/Projekte/WBB 2009/DWB/wbgui_py?lemid=GA00001 (Einsehdatum: 15. Juni 2011)

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verschiedenen Bedeutungen des Wortes Märchen und dokumentierten wichtige Aspekte der deutschen Märchentradition mithilfe von Beispielen aus der Literatur. Für die Brüder Grimm bedeutete Märchen „in schärferem Sinne“ 5 etwas bewusst Gelogenes oder Erfundenes. Die noch heute gängige Redewendung „Erzähl mir keine Märchen!“6 dokumentiert diese Bedeutung. Besonders interessant für diese Studie sind vor allem die Betrachtungen über das Märchen als „ein bloßes Fantasiegebilde, eine Einbildung dessen, was sein oder geschehen könnte“, oder als „eine Erzählung aus der Zauberwelt.“7 Das Märchen wurde nicht als eine hohe literarische Kunst angesehen; ihm haftete etwas Bäuerliches und Derbes an, und wie wenig die magische Erzählung dem Geschmack eines gebildeten Publikums bisher entsprochen hatte, unterstrichen die Brüder Grimm mit einem Zitat aus Wielands Die Abenteuer des Don Sylvio: Dass wir selbst von allem, was Don Sylvio seinem getreuen Pedrillo erzählt hat, eben so wenig glauben, als von … den Erzählungen vom roten Käppchen und irgendeinem anderen Märchen, womit uns ehemals unsere geliebte Amme einzuschläfern pflegt. … Ihr wisst, wie es geht: Ammen erzählen Märchen, Kinder und Narren glauben sie.8 5

Grimm: DW, modernisierte Rechtschreibung Max Lühti: Märchen, Stuttgart 2004, Seite 1 7 Grimm: DW, modernisierte Rechtschreibung 8 Grimm: DW – Vergl. Zitat aus Christoph Martin Wieland: Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva in C.M. Wielands Sämtliche Werke, Band 11, Leipzig 1795, Seiten 96-97 6

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Aus dieser herablassenden Erwähnung der magischen Erzählung scheint hervorzugehen, dass Märchen gegen Ende des 18. Jahrhunderts – wie von zahlreichen frühen Märchensammlern behauptet – wohl hauptsächlich als mündliche Erzählung von Frauen aus niederen sozialen Schichten an Kinder wohlhabender Eltern vermittelt wurden. Mit einem Zitat aus Goethes Dichtung und Wahrheit dokumentierten die Grimms jedoch, dass das ursprüngliche Märchenpublikum bei weitem nicht nur aus Kindern bestand: Nachdem ich in jener Laube zu Sesenheim meine Erzählung vollendet, in welcher das Gemeine mit dem Unmöglichen anmutig genug wechselte, sah ich meine Hörerinnen … von meiner seltsamen Darstellung aufs äußerste verzaubert. Sie baten mich inständig, ihnen das Märchen aufzuschreiben.9

Goethes Schilderung lässt erahnen, wie das Märchen in seiner Jugend noch zum größten Teil von der direkten persönlichen Vermittlung – ob vorgelesen, nacherzählt oder als Mischform – lebte. Diese Auffassung wird durch ein Zitat aus Immermanns Münchhausen bestätigt: „Er zog die Blätter und Blättchen, auf welche er das Märchen geschrieben hatte, … aus der Tasche, las und erzählte

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Grimm: DW – Vergl. Zitat aus Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben – Dichtung und Wahrheit in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band IX, Hamburg 1967, Seite 449

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frei, wechselweise.“10 Aus diesen Zitaten lässt sich bereits eine deutsche Märchentradition erkennen, an die die Brüder Grimm erfolgreich anknüpfen sollten. Das Märchen als zum Teil improvisierte mündliche Erzählung hauptsächlich für Frauen und Kinder – ja, als vornehmstes Beispiel einer bedrohten deutschen Volksdichtung überhaupt – sollte zum Fundament ihrer eigenen Märchensammlung werden.11

1.2. Traditionen deutscher Märchenforschung vor Grimm Seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts hatte sich im deutschsprachigen Raum ein historisches und literarisches Interesse für die Volksdichtung entwickelt. Vor allem Johann Gottfried Herders Aufruf zum Sammeln von Märchen, Volkssagen und Mythologien und seine Vorstellung von einer deutschen Volksdichtung sollte sich bei den Romantikern bald zu einer vermehrten Wertschätzung der Erzähltradition niederer sozialer Schichten entwickeln.12 Sie arbeiteten systematisch daran, die mündlichen Überlieferungen in verschiedensten Formen festzuhalten und bald erschienen erste Sammlungen mit Volkspoesie, die kurze, überschaubare 10

Grimm: DW – Vergl. Zitat aus Karl Leberecht Immermann: Münchhausen – Eine Geschichte in Arabesken, Herausgegeben von Peter Hasubek, München 1977, Seite 472 11 KHM7/1, Seiten 15-16 12 Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm – Entstehung, Wirkung, Interpretation, Berlin 2008, Seite 493

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und spannungsreiche Wundergeschichten enthielten.13 Das Märchen erlebte dadurch eine Renaissance, die von der zur gleichen Zeit neu entstehenden Kinderliteratur profitierte, die wie kaum ein anderer Faktor zur Aufwertung des Märchens mitwirken sollte: Statt der bisherigen Herabwürdigung des Märchens als unglaubwürdig und unbedeutend gab es einen Trend, Märchen als literarische Gattung aufzuwerten und als ideale Lektüre für jugendliche Leser zu betrachten.14 Vor allem Novalis scheint ein äußerst inniges Verhältnis zum Märchen und zur kindlichen Fantasie gehabt zu haben. Für ihn ist nicht der Inhalt oder die Botschaft, sondern die wundersame Erzählung für sich entscheidend; in seiner Würdigung wird das Märchen dadurch zu einem Medium, das alles Fantastische und Traumhafte zusammenfasst: Ein Märchen ist eigentlich wie ein Traumbild – ohne Zusammenhang – Ein Ensemble wunderbarer Dinge und Begebenheiten – z.B. eine musikalische Fantasie – die harmonischen Folgen einer Äolsharfe – die Natur selbst. Wird eine Geschichte ins Märchen gebracht, so ist dies schon eine fremde Einmischung.15

Mit seiner Ansicht, das Märchen sei ein kaum greifbares Traumbild, stellte Novalis sich skeptisch zum Bemühen seiner Zeitgenossen, die mündliche Erzähltradition in 13

Uther 2008, Seite 493 Uther 2008, Seite 495 15 Richard Samuel, Hans-Joachim Mähl & Gerhard Schulz (Hrg.): Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Band III, Stuttgart 1968, Seite 454, Aufzeichnung 986. 14

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Buchform festzuhalten. Laut Novalis entsteht ein höheres Märchen nur, wenn es dem Erzähler gelingt, Bedeutung oder Zusammenhang in die Geschichte zu bringen, ohne den „Geist des Märchens“16 zu zerstören. Für Novalis war das Märchen nicht nur ein Ausdruck der spontanen und unverfälschten Naturpoesie, sondern ebenfalls „eine Redoute“;17 es war ein Zufluchtsort der spielenden Fantasie. Hinter dieser Beschreibung verbirgt sich die Neigung der frühen Romantiker zum Magischen, zum Unvollendeten und zu der sich stets neu entwickelnden Erzählung. Novalis‘ Würdigung erklärt, warum gerade die Romantiker sich für das Märchen – eine Erzählform, die von der Interaktion zwischen Erzähler und Publikum lebt und nur dann wirklich zum Ausdruck kommt, wenn sie im kleinen Kreise ohne Manuskript mündlich, und daher mit unendlichen Variationsmöglichkeiten, vorgetragen wird – begeistern konnten. Die Brüder Grimm waren somit weder die ersten noch die einzigen, die sich für Märchen interessierten. Bereits 1782 hatte Johann August Musäus den ersten Band seiner Volksmärchen der Deutschen herausgegeben; 1787 erschien Wilhelm Günthers Kindermärchen aus mündlichen Erzählungen gesammelt. Dieses Buch wurde 1789 von Benedikte Nauberts Neue Volksmärchen der Deutschen gefolgt, und schließlich publizierte der mit Jacob und Wilhelm Grimm nicht verwandte Albert

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Samuel 1968, Seite 454 Samuel 1968, Seite 454

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