Gisela Nauck
»Der neue Künstler protes/ert« (1919, Tristan Tzara) Zum Kri9kpotenzial der musikalischen Moderne -‐ ein Rückblick aus Zeiten des Verlusts?
Der neue Künstler protes9ert
1. Der »neue« Künstler heute – was ist aus dem Protest geworden? 2. Weltbezüge, Protest und Kri9k – die musikalische Moderne des 20. Jahrhunderts: Präzedenzfälle: -‐ Wien: Dodekaphonie -‐ Petersburg: russischer Futurismus 3. Kri9kstrategien der Avantgarde 3.1. Systemimmanente Kri9k: Ost-‐ und West-‐Avantgarde 3.2. Kri9kstrategien der West-‐ Avantgarde -‐ Material-‐, Komposi9ons-‐ und Ästhe9kkri9k -‐ Interpreta9ons-‐ und Aufführungskri9k -‐ Kri9k des Hörens -‐ Poli9sche,engagierte Musik – inhaltliche Kri9k -‐ Überführung von Musik ins Leben -‐ Ästhe9k der Achtsamkeit 4. Kurzes Fazit
Der neue Künstler protes9ert
Kri/k
Protest
Kri9k – griechisch kri9kḗ = die Kunst der Beurteilung Bemängelung – Einschätzung – Beurteilung – Protest – Nega9on – Tadel – Anprangern – Subversivität – Zerstörung – Dekonstruk9on – Gegenentwurf – Gegenkultur – Zersetzung (etwa der bürgerlichen Ordnung) – Opposi9on …
Protest – lat. protesto = Verwahrung, Einspruch einlegen Anfechtung – Appell – Auflehnung – Aufruhr – Beanstandung – Einspruch – Einwendung – Erhebung – Krawall – Meuterei – Rebellion – Revolte – Empörung – Opposi9on – Widerspruch – Widerstand
Seit Immanuel Kant: Kri9k meint nicht Kri9sieren, sondern Durchleuchten, Überprüfen, Grenzen von Erkenntnis bes9mmen.
Gisela Nauck
»Der neue Künstler protes/ert« (1919, Tristan Tzara) Zum Kri9kpotenzial der musikalischen Moderne -‐ ein Rückblick aus Zeiten des Verlusts?
Christoph Ogiermann (Jahrgang 1967) Weitere Werke -‐ Parole für vier verstärkte Solos9mmen mit 8-‐kanaligem Zuspiel, 2015 -‐ TSoG -‐ und die ganze Umgebung sieht nach geflüchteten Familien aus“ für: Tremor und Fester Gesang, zehn zilernde ZeugSpieler, Streicher, 4-‐kanaliges Zuspiel, Verstärkung und Licht, 2011 -‐ „vom Wunsch nach kollek/vem Ausdruck und vom Bedürfnis die Ergebnisse zu zerschneiden“ 4 Studien fuer 10 Streicher mit Zuspiel, 2006 -‐ "Schläge als Verführungsversuche", für Flöte, Saxophon, S9mme, Klavier, Violoncello und Zuspiel-‐ CD,2004 -‐„Geschichtsbegriffen“, für Orgel, 2 falseperende Bariton, Chor und Tonband (Konzeptstück 7), 2002 -‐„Gedanken über die rote Fahne: ridiventa straccio“ (Konzeptstück 6) Paraphrase zu einem Lied von Hanns Eisler für 6 Pianisten (an drei Klavieren), mind. 4 Holzbläser, 2 Spieler für die Filterung des Liveklangs, 2 Klangregisseure und Zuspielband (2000/2001) -‐Leben und Ansichten der schwedischen SchriZstellerin Karin Boye wie sie in der „Ästhe/k des Widerstands“ von Peter Weiss dargestellt werden" für Violoncello allein, 6 Ripieno-‐Celli, kleines Resonanz-‐Ensemble, Zuspielbänder und Verstärkung (1999/2001) – noch nicht aufgeführt -‐„Der unbewegte Beweger“ (Konzeptstück 1) für drei Spieler und elektron. Peripherie, 1998
Niklas Seidl (Jahrgang 1983) weitere Werke -‐ Das schmierigste Leben der Doreen Klax (4 players on cardboardboxes and 1 keyboard) 2016 -‐ alles, dies & das und noch viel mehr, für doublebell-‐blechblasquartel), 2014 -‐ bobchkulturen für 2 spieler an Tastaturen, 2010/13 -‐ ich mag müll, für piccolo & 4 pappkartons, 2012 -‐ chlor chlor & pommes mit adoleszenz, für 12 spieler, 2011 -‐ knolle, für ensemble, 2009 -‐ talgwaren & Absterben, 3 melodicas und diaprojektoren, 2008
Musikalische Revolu/onen im 20. Jahrhundert russischer und italienischer Futurismus, Dodekaphonie Dadaismus Serialismus Stochas9k musique concrète Fluxus elektronische Musik Cages Konzept von Unbes9mmtheit und Absichtslosigkeit Sound Art Digitalisierung
Arseny Avraamov
Symphony Of Factory Sirens, Public Event,
Anlass: 5. Geburtstag der sozialis9schen Oktoberrevolu9on UA 7.11.1922 im Hafen von Baku/Aserbaidshan) Besetzung : 2 Ar9lleriebalerien, 25 Dampflokomo9ven , mehrere Infanterie-‐ regimenter, Arbeiterchöre mit Tausenden von Sängern, mehrere selbst gebaute und tranportable Dampfmaschinen Avraamov dirigierte von einem Turm aus mit Signalflaggen. Explizite Anweisungen wurden am Tag vor der Aufführung in 3 Zeitungen veröffentlicht. Nur zuzuschauen war nicht erwünscht, staldessen war jeder aufgefordert, sich durch Gesang, Marschieren, oder Lärm zu beteiligen.
vorhandene Aufnahme = Computersimula9on, produziert 2003 vonLeopoldo Amigo und Miguel Molina der Forschungsgruppe Intermediate Laboratory Crea9ons (LCI) der Polytechnischen Universität von Valencia nach Avraamovs No9zen und Anweisungen
Der Sieg über die Sonne (Pobeda nad solncem)(1913) – konzipiert als An9-‐Oper, An9-‐Kunstwerk
Handelnde: zukunxianische Kraxmenschen, ein Flieger, ein Reisender, Nero und Caligula, ein Übelsinniger, ein Unfreund, ein Rauyold, mehrere Totengräber und Sportler, ein Vorleser, ein Dickwanst, ein Chor Libreio: Alexej Krutschonych, Welimir Chlebnikow – gereimte Verse, freie Verse, Lieder, rhymisierte Prosa, Alltagssprache, Laut-‐ und Unsinnpoesie Musik: Michail Matjuschin – Kriegslieder, Chöre, Sololieder Bühnenbild, Kostüme: Kasimir Malewitsch – kubufuru9s9sche Rüstungen aus Pappe, das schwarze Quadrat auf dem Vorhang, den zu Beginn zwei Kraxmenschen zerreißen (nicht öffnen) Mitwirkende, Professionelle Schauspieler, Sänger, Laiendarsteller, + Publikum
Herrmann Keller, geb. 1945
Konzert für Klavier und Orchester (1980-‐81)
Herrmann Keller, Klavier Junge Deutsche Philharmonie Dirigent: Heinz Holliger Mitschnil des Konzerts am 8.10.1984, Gewandhaus zu Leipzig Reiner Bredemeyer (1929-‐1995) Aufschwung OST für Klavier, Oboe, Schlagzeug und Tuba unter treuhänderischem Missbrauch der Nr. 2 aus den Phantasiestücken op.12 von Robert Schumann (1993), 1. Satz Gerhard Erber, Klavier, Burkhard Glaetzner, Oboe, Gerd Schenker, Schlagzeug, Friedrich Schenker, Trombone Mitschnil des MDR, 22.3.1993, Kleiner Saal, Gewandhausorchester zu Leipzig
Theodor W. Adorno „Die Forderungen, die vom Material ans Subjekt ergehen, rühren vielmehr davon her, daß das ‚Material‘, selber sedimen9erter Geist, ein gesellschaxlich, durchs Bewusstsein von Menschen hindurch Präformiertes ist. Als ihrer selbstvergessene, vormalige Subjek9vität hat solcher objek9ve Geist des Materials seine eigenen Bewegungsgesetze. Desselben Ursprungs wie der gesellschaxliche Prozeß und stets wieder von dessen Spuren durchsetzt, verläux, was bloße Selbstbewegung des Materials dünkt, im gleichen Sinne wie die reale Gesellschax, noch wo beide nichts mehr voneinander wissen und sich gegensei9g befehden. Daher ist die Auseinandersetzung des Komponisten mit dem Material die mit der GesellschaZ, gerade so weit diese ins Werk eingewandert ist und nicht als bloß Äußerliches, Heteronomes, als Konsument oder Opponent der Produk9on gegenübersteht.“ (Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, Frankfurt/Main: suhrkamp, taschenbuch, Erste Auflage 1978, S. 39/40)
Harry Lehmann: Gehaltsästhe9sche Wende Die »gehaltsästhe9sche Wende« benennt einen sich gegenwär9g abzeichnenden Paradigmenwechsel im Kunstsystem. Nachdem der Materialfortschril als Kriterium des Neuen ausgereizt ist, verharrte die Kunst für eine Weile im metastabilen Zwischenstadium der Postmoderne und wendet sich nun verstärkt ästhe9schen Gehalten zu. Neu in den Künsten sind – sei es nun neue Literatur, neue Malerei oder neue Musik – die ästhe9schen Gehalte, die sich in den einzelnen Werken ar9kulieren.
Gisela Nauck
»Der neue Künstler protes/ert« (1919, Tristan Tzara) Das Kri9kpoten9al der musikalischen Moderne -‐ ein Rückblick aus Zeiten des Verlusts?
Gehaltsästhe/sche, poli/sche Musik durchzieht die musikalische Moderne von den Anfängen bis heute -‐ Arnold Schönberg, „Ein Überlebender aus Warschau“ für Erzähler, Männerchor und Orchester (1942) -‐ Hanns Eislers „Zeitungsausschniie“für hohe S9mme und Klavier (1925-‐26) -‐ Dmitri Schostakowitschs, 7. Sinfonie (1941), -‐ Iannis Xenakis Chorstück „Nuits“ (1967) -‐ Luigi Nono, „Non consumiamo Marx“ (1968) -‐ Bernd Alois Zimmermann, „Requiem für einen jungen Dichter“ (1969) -‐ Friedrich Schenker, „Sinfonie in Memoriam Mar/n Luther King (1971) -‐ Hans-‐Werner Henzes „We came to the river“ (1974) -‐ Georg Katzer, radiophones Hörstück „Aide mémoire“ (1978) -‐ Klaus Huber, Oratorium „Erniedrigt – geknechtet – verlassen – verachtet…“ (1982) -‐ Reiner Bredemeyer, Einmischung in unsere Angelegenheit (M.Gorbatschow, W.I.Lenin) für Baß und Orchester (1985) -‐ Chris9an Wolff, Eisler Ensemble Pieces (1983) -‐ Nikolaus A. Huber, Klavierstück „Beds and Brackets“ für Klavier mit zu öffnenden Türen und Fenstern (1990) -‐ Rolf Riehm, Les Chants de la Revolu/on sont des Chants de l'Amour , für Sopran, Orchester und electron. Zuspielungen (1989) -‐ Vinko Globokar, Der Engel der Geschichte, Teil 1 „Zerfall“, Teil 2 „Mars“, Teil 3 „Hoffnung“ (2001-‐2004) -‐ Jakob Ullmann, voice books and fire (1990-‐ -‐ Herrmann Keller, Der Wegwerfmensch für Flöte, Klarinele, Violine, Schlagzeug, Klavier (2006) -‐ Nicolaus Brass, fallacies of hope – deutsches requiem. Musik für 32 S9mmen in vier Gruppen mit Textprojek9on ad libitum (2006/13) (Textprojek9on nach Peter Weiss’ Ästhe9k des Widerstands -‐ Dieter Schnebel, Kammertheater „Utopien“ (2008-‐2013) -‐ Helmut Oehring, Massaker. Hört ihr, MASSAKER! (an Racep Tayyip Erdogan) (2015) Melodram für Solo Gitarre/S9mme, 12-‐s9mmigen Frauenchor und Streichorchester
Chris9an Wolff, Changing Systems, 1972-‐73, Aufnahme von 2004, Konzert zu seinem 70. Geburtstag. Frederic Rzewski, Komponist und Pianist „Die erste Begegnung mit der Musik von Chris9an Wolff hinterlässt den Eindruck, als ob man gerade etwas von einem anderen Stern gehört hat, das anders ist als alles bisher Vernommene. Und doch merkt man beim Nachdenken darüber, dass es gleichzei9g etwas ganz Gewöhnliches, Normales ist, auf seine Weise so vertraut wie jede der ritualisierten Handlungen, die unseren Alltagsleben bes9mmen: Morgens aufstehen, zur Schule gehen, Arbeit, Kirche, Geschirr abwaschen, die täglichen Aufgaben im Haus und in der Familie erledigen. … Man kann die Musik aber auch für surrealis9sch halten – ihre Formen sind nicht vertraut, denn sie enthüllt hinter ihnen die Unberechenbarkeit des Lebens.“