Der Mythos einer narzisstischen Epidemie bzw. die Psychopathologisierung unserer Gesellschaft Claas-Hinrich Lammers Asklepios Klinik Nord - Ochsenzoll Forum Persönlichkeitsstörung, Berlin 2015
Heidberg
Wandsbek
Ochsenzoll
Fragestellungen des Vortrages Teil 1. Ist die Verwendung des Begriffs „Narzissmus“ in Bezug auf gesunde Individuen bzw. ganzen Gesellschaften angemessen und legitim?
Teil 2. Gibt es empirische Befunde, welche eine reale Zunahme an „Narzissmus“ in unser Gesellschaft vermuten lassen?
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Thesen des Vortrages 1. Der Begriff „Narzissmus“ wird unkritisch auf gesunde bzw. normale Menschen angewendet
2. Die Psychopathologisierung des Alltages ist eine bedenklich Entwicklung
3. Es gibt keine empirischen Evidenzen für eine „narzisstische Epidemie“
4. Eine sog. Generationenkritik hat es immer gegeben und wird es immer geben
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Zitate
Die Zivilisation besteht darin, Dinge falsch zu benennen und anschließend über das Ergebnis nachzusinnen. Fernando Pessoa
Wenn Dein einziges Werkzeug ein Hammer ist, wirst Du jedes Problem als Nagel betrachten. Mark Twain
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Teil 1 Die Verwendung psychopathologischer Begriffe im Alltag am Beispiel des Begriffes „Narzissmus“
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Psychologisierung des Alltages • Zunehmende Betrachtung und Erklärung von Ereignissen des normalen Lebens mittels psychologischer Erklärungsmodelle und Ausschaltung anderer Modelle de Vos, 2011
• Abtretung der individuellen Erklärungs- und Problemlösekompetenzen an professionell tätige Menschen (z.B. Psychologen, Psychiater, Pädagogen)
• Zunehmend Individualisierung der Erlebnisweisen von Menschen
• Eine zunehmende Ich-Bezogenheit gerade durch Psychotherapie? Rieff 1965, Paris, 2014 November 27, 2014 PowerPoint® Guideline
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Unser alltäglicher Sprachgebrauch „Der ist total narzisstisch!“ „Damit befriedigt die doch nur ihren Narzissmus.“ „In der Partnerschaft hört der Narzisst nicht auf die Wünsche seiner Partnerin.“
„Dass er aber nicht ganz frei von narzisstischen Zügen war, zeigte sich in seinem Wunsch, seine Bücher publiziert zu sehen.“ „In unserer narzisstischen Gesellschaft denkt doch jeder nur an seinen eigenen Vorteil!“
„Der Patient hat neben seiner sozialen Phobie auch noch narzisstische Züge.“
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Typische Merkmale des Narzissmus • Hang zur Selbstdarstellung • Drang im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen
• Übermäßige Beschäftigung damit, äußerlich attraktiv zu sein
• Verführerisch in Erscheinung und Auftreten
Nein! „Histrionische“ Persönlichkeitszüge! (?)
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Sprechweisen sind Denkweisen – I
„Dieser Mensch ist narzisstisch“ versus
„Dieser Mensch ist sehr auf seinen beruflichen Erfolg fokussiert und offensichtlich weniger an einem guten Kontakt zu seinen Mitarbeitern interessiert.“
empathiearm
unangenehm
unsozial
ausbeuterisch
Narzissmus selbstverliebt
egozentrisch arrogant
geldgierig
eingebildet
Sprechweisen sind Denkweisen - II • Sog. Hammerbegriffe werden geschaffen, um eine bequeme Komplexitätsreduktion individueller und gesellschaftlicher Verhaltensweisen vorzunehmen
• George Orwell prägte in seinem Buch „1984“ den Ausdruck des Neusprech. Dieses Neusprech wurde entwickelt, um die Vielfalt der Gedanken zu verhindern
• Die Verwendung des Begriffs „Narzissmus“ ist normativ, d.h. bewertend und ababgrenzend zur Normalität
• Die Verwendung des Begriffs „Narzissmus“ beeinflusst unser Denken, Fühlen und Handeln November 27, 2014 PowerPoint® Guideline
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Sprache und Welt
„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“ Ludwig Wittgenstein, 1963
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Psychopathologisierung des Alltages Die „Die Zivilisation Freudschebesteht Weigerung, darin, Normalität Dinge falsch und Pathologie zu benennen voneinander und anschließend zu isolieren, über unddas die Freudsche Ergebnis nachzusinnen. Behauptung, beide grenzten zwangsläufig unmittelbar aneinander, führten zu einer Verdachtshermeneutik gegenüber gewöhnlichem Verhalten.“ Fernando Pessoa Eva Illouz (2009) Die Errettung der modernen Seele
Selbstsicherer, dominanter Persönlichkeitsstil?
Narzissmus Pathologie Persönlichkeitsstörung
Normalität Persönlichkeitsvariable
Dimensionales Modell November 27, 2014 PowerPoint® Guideline
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Was ist Gesundheit? Was ist Normalität? Gesundheit Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen
WHO, 1948
Abnormität Abweichung von einer jeweiligen Bezugsgruppe, die durch ihren soziokulturellen Kontext definiert ist (Wer aber definiert diese Abweichung von der Norm?)
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Die Problematik einer
Psychopathologisierung des Alltags • Diskreditierung bzw. Stigmatisierung von Menschen, deren Verhalten einer bestimmten Norm nicht entspricht -> normative Eigenschaft des Begriffs „Narzissmus“
• Entwertung von alternativen Handlungs- und Erklärungskonzepten (Stichwort „Hammerbegriff“) • Suggestion eines erreichbaren „gesunden“ bzw. „idealen“ Zustandes von Einzelpersonen oder der Gesellschaft (definiert von Psychiatern und Psychotherapeuten?!?)
• „Die Verwendung klinischer Begriffe (Narzissmus, Exhibitionismus, Körperbildstörung, Jugendwahn) für soziale Neubildungen ist zunächst einmal nur eine wilde Deutung“ Martin Dornes, 2012. Die Modernisierung der Seele November 27, 2014 PowerPoint® Guideline
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Charakter vs. Kontext • „Ist“ jemand „narzisstisch“ oder handelt jemand „narzisstisch“ in einem bestimmten Kontext?
• Verhaltensweisen lassen sich besser durch die situativen Umstände erklären, in welchen das Verhalten auftritt, als durch die Persönlichkeit des Betreffenden!
Nisbett & Russ (2011) The person and the situation
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Teil 2 Die angeblich neuzeitliche narzisstische Gesellschaft
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Die angeblich narzisstische Gesellschaft
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Die angeblich narzisstische Gesellschaft
Wenn Dein einziges Werkzeug ein Hammer ist, wirst Du jedes Problem als Nagel betrachten. Mark Twain
„Wir befinden uns in einer Zeit zwischenmenschlicher Verrohung, und das ist für mich einer der Hauptgründe für die eklatante Zunahme von Narzissmus.“ Prof. Reinhard Haller „Die Presse“ 2013 November 27, 2014 PowerPoint® Guideline
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Die angebliche Zunahme an „Narzissmus“
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Das Narzisstische Persönlichkeitsinventar (NPI) Fragebogen zur Erfassung der Persönlichkeitsdimension des Narzissmus (Raskin & Terry, 1988)
Faktorenstruktur 1. Autorität 2. Selbstsuffizienz 3. Superiorität 4. Exhibitionismus 5. Ausbeutung
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Das Narzisstische Persönlichkeitsinventar (NPI)
Beispiel für Items A „Ich will einfach nur glücklich sein“ B „Ich will etwas darstellen in der Welt“ A „In vielerlei Hinsicht bin ich wie jeder andere Mensch“ B „Ich bin eine außergewöhnliche Persönlichkeit“ A „Ich will erfolgreich sein“ B „Mir ist Erfolg nicht besonders wichtig“ A „In werde nie zufrieden sein, bis ich alles bekomme, was mir zusteht“ B „Ich bin zufrieden mit dem, was mir der Zufall gibt“ A „Der Gedanke, dass ich über die Welt herrschen sollte, versetzt mich in Panik“ B „Wenn ich über die Welt herrschen würde, hätten wir eine bessere Welt“ November 27, 2014 PowerPoint® Guideline
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Kritik am Narzisstischen Persönlichkeitsinventar (NPI) • Mit dem NPI lässt sich keine kategoriale Aussage über „Narzissmus“ treffen
• Der NPI dient nicht der Erfassung von krankhaften oder „negativen“ Persönlichkeitseigenschaften !
• Misst der NPI wirklich „Narzissmus“ oder vielmehr selbstbewusstes Verhalten?
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Empirische Evidenzen für eine narzisstische Epidemie?
• Dieser Anstieg besteht überwiegend bei Frauen
• Es gibt keine Aussage darüber, welche Items positiv geworden sind
• Es gibt keine Hinweise, dass diese Zunahme an „Narzissmus“ mit den zu erwartenden Verhaltensweisen und Konflikten einhergeht Arnett, 2013
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Empirische Evidenzen für eine narzisstische Epidemie? Studien mit ähnlichem Design und gleicher Fragestellung erbrachten negative Resultate (Trzesniewski et al., 2008)
Einschluss dieser Studien in die ursprüngliche Metaanalyse von Twenge brachten deren positives Resultat zum Verschwinden (Roberts et al., 2010) Metanalyse von Twenge Einschluss von neuen Studien in die Metanalyse von Twenge
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Empirische Evidenzen für eine narzisstische Epidemie?
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Empirische Evidenzen für eine narzisstische Epidemie? Jährliche Untersuchung an insgesamt 477.380 Highschool-Absolventen von 1976–2006 haben nahezu keine Anzeichen von Veränderungen über die Jahre für die folgenden Eigenschaften gefunden:
• Egoismus • Individualismus • Selbstüberschätzung • Hoffnungslosigkeit • Freude • Lebenszufriedenheit • antisoziales Verhalten • Zeit verbracht mit Arbeit oder Fernsehen • politische Aktivitäten • Bedeutung der Religion • Bedeutung des sozialen Status (Trzesniewski u. Donnellan, 2010)
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Shell-Jugendstudie 2010 Zugenommen haben bei Jugendlichen in Deutschland u.a.: • das politische Interesse • ihr soziales Engagement • ihre Wertschätzung von Freundschaft • ihre Wertschätzung einer vertrauensvollen Partnerschaft und eines guten Familienlebens • Fleißig und ehrgeizig sein • das Leben in vollen Zügen zu genießen • eigenverantwortlich leben und handeln • sozial Benachteiligten und Randgruppen helfen
Abgenommen haben u.a.: • Meinungen tolerieren, denen man nicht zustimmen kann • Eigene Bedürfnisse gegenüber anderen durchzusetzen
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Individualität und Gemeinschaft Es gibt eine positive Korrelation zwischen individualistischer Selbstverwirklichungsorientierung und sozialem Engagement (kooperativer Individualismus) Dalton, 2009 (zit. nach Dornes, 2013)
33% der Jugendlichen gehen regelmäßig einer freiwilligen sozialen Tätigkeit nach und 42% gelegentlich (1950 waren es knapp 8%...) Shell-Studie, 2006 (zit. nach Dornes, 2013)
Die Bedeutung sozialer Werte (Prosozialität) hat bei Jugendlichen seit 1992 zugenommen Gaiser & de Rijke, 2006 (zit. nach Dornes, 2013)
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Die Generationenkritik - Seit Generationen
2013
1976
„Der Felsen, an dem die meisten blumengeschmückten Ehen zerbrechen, ist der moderne Kult des Individualismus; die Verehrung des unverschämten Kalbes des Selbst.“ Anna Rogers „The Atlantic“
1906 November 27, 2014 PowerPoint® Guideline
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Die Generationenkritik - Seit Generationen August Hermann Niemeyer diagnostizierte (1787) bei der jüngeren Generation einen Mangel an Bereitschaft, sich anzustrengen und eine schleichende Erschlaffung der ganzen Denkungsart, die zu einer Verschiebung des Tugendkanons von Arbeit, Wissenschaft und Pflichterfüllung hin zu Trägheit, Sinnlichkeit und Hedonismus führe. zit. nach Dornes (2006) „Die Modernisierung der Seele“
„Ich habe keine Hoffnung mehr für die Zukunft unseres Volkes, wenn sie von der leichtfertigen Jugend von heute abhängig sein sollte. Denn diese Jugend ist ohne Zweifel unerträglich, rücksichtslos und altklug. Als ich noch jung war, lehrte man uns gutes Benehmen und Respekt vor den Eltern. Aber die Jugend von heute will alles besser wissen.“ Hesiod 700 v. Christus November 27, 2014 PowerPoint® Guideline
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Die Generationenkritik
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Baseline-Shift „Unser Begriff des Normalen orientiert sich an der Übereinstimmung mit allgemein akzeptierten Maßstäben des Verhaltens und der Gefühle innerhalb einer bestimmten Gruppe, die diese Maßstäbe ihrer Gruppe auferlegt. Jedoch verändern sie sich mit einer Kultur, einer Periode, einer Klasse und dem Geschlecht.“
Karen Horney, 1937
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Informationsverzerrung Bestätigungs-Fehler (confirmation bias) Informationen werden so wahrgenommen und verarbeitet, dass diese den eigenen Erwartungen und Ansichten entsprechen. Widersprechende Informationen werden nicht wahrgenommen, fehlinterpretiert und unterdrückt.
Verfügbarkeits-Bias (availabiliy-bias) Die Häufigkeit bzw. Ausprägung von Ereignissen wird anhand der präsentierten Informationen beurteilt.
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Fazit 1. Der Gebrauch von psychopathologischen Begriffen für die Beschreibung von alltäglichen, normalen Ereignissen und Verhaltensweisen ist problematisch
2. Psychiater und Psychotherapeuten haben keine Deutungshoheit bzgl. der Definition von Normalität
3. Es gibt keine überzeugende empirischen Evidenzen für eine Zunahme narzisstischer Eigenschaften in unser Gesellschaft
4. Jede Generation ist eine „Ich-Generation“ (bis sie ein gewisses Lebensalter erreicht hat)
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Persönliches „Dem Referenten ist dieses Thema doch nur so wichtig, weil er selbst
so narzisstisch ist und sich mit der Normalisierung dieser Eigenschaft von dem etwaigen Vorwurf reinwaschen will!“ Mein persönlicher NPI-Wert (16 von 40)
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Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit
Claas-Hinrich Lammers Asklepios Klinik Nord - Ochsenzoll Forum Persönlichkeitsstörung, Berlin 2015
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Wandsbek
Ochsenzoll