Der Fuss vom Monte Scherbelino - Buch.de

Lektorat, Gestaltung und Satz: Verlagsbüro Wais & Partner, Stuttgart. Gedruckt auf ..... vergessen hatte, den Schlüssel mitzunehmen. In der zweiten war ihm gar ...
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Für Helpi

DER FUSS VOM MONTE SCHERBELINO Emmerichs sechster Fall

Kriminalroman von Stefanie Wider-Groth

„Der Fuß vom Monte Scherbelino“ ist ein Kriminalroman. Haupt- und Nebenfiguren sowie die Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten oder Namensgleichheiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Konrad Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG. © 2016 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Umschlaggestaltung: Stefan Schmid Design, Stuttgart Lektorat, Gestaltung und Satz: Verlagsbüro Wais & Partner, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3301-8 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF) 978-3-8062-3330-8 eBook (epub) 978-3-8062-3331-5

„Das sicherste Mittel, arm zu bleiben, ist, ein ehrlicher Mann zu sein.“ (Napoleon Bonaparte)

1 Draußen war es kalt und dunkel, in Frau Sonderbars Büro nur Letzteres. Kriminalhauptkommissar Reiner Emmerich, selbst aufgrund einer gerade noch im tolerablen Bereich liegenden Verspätung seiner Straßenbahn ein paar Minuten zu spät dran, schaltete das Licht ein. Der Schreibtisch, besser gesagt der Schreibtischstuhl seiner langjährigen Sekretärin war verwaist, kein Duft von frischem Kaffee erfüllte das Vorzimmer, stattdessen roch es ein wenig staubig. Während er gerade noch überlegte, ob er vielleicht einen bevorstehenden Arztoder Behördentermin Frau Sonderbars einfach vergessen haben konnte, etwas, das ihm durchaus zuzutrauen war, ertönte hinter ihm bereits ein Keuchen. „‘schuldigung“, hechelte Frau Sonderbar, hastete an ihm vorbei und beeilte sich, aus ihrem Wintermantel herauszuschlüpfen. „Ich bin zu spät.“ „Nicht einmal eine Viertelstunde.“ „Kaffee ist sofort fertig.“ „Jetzt machen Sie sich nicht ins Hemd. Darauf kommt’s jetzt auch nicht an.“ „Genau“, schnaubte Frau Sonderbar, wieder zu Atem kommend, aber keineswegs befriedigt. „So ist das nämlich heutzutage. Pünktlichkeit, Genauigkeit, Wahrhaftigkeit. Alles Dinge, auf die es nicht mehr ankommt. Der Anfang vom Ende eigentlich gut organisierter Staaten. Wir waren wirklich schon mal weiter.“ „Bitte?“ Emmerich, der das Thema „Verspätung“ innerlich bereits

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abgehakt hatte und auf dem Weg zu seinem Schreibtisch war, wandte sich um und zog die Brauen hoch. „In diesem Fall ist es der öffentliche Personennahverkehr“, dozierte seine Sekretärin, während sie sich eilig an der Kaffeemaschine zu schaffen machte. „Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, dass er immer unzuverlässiger wird?“ „Doch, natürlich. Das fällt doch jedem auf, der …“ „Falsch. Nur die, die es von früher her noch anders kennen, merken das. Die anderen stehen einfach da und glotzen ungerührt auf ihre Handys.“ „Jetzt übertreiben Sie“, machte Emmerich einen Versuch, das ihm zu dieser morgendliche Stunde unangemessen scheinende Ausmaß der Verärgerung zu dämpfen. „Meine S-Bahn hatte eine zwanzigminütige Verspätung“, fuhr Frau Sonderbar unbeeindruckt fort und füllte Kaffeepulver in den Filter. „Was glauben Sie, woran es lag?“ „Woher soll ich das wissen? Widrige Umstände, schlechtes Wetter, Überfüllung? Woran es üblicherweise halt so liegt.“ „Ein technischer Defekt auf der Strecke. Haben Sie nach zehn Minuten durchgesagt. Weil die Bahn nicht in der Lage ist, ihre Infrastruktur ordentlich in Schuss zu halten. Und weil sie mit unserer Großbaustelle überfordert ist.“ „Das alles haben sie gesagt? Die Leute von der Bahn?“ Frau Sonderbar betätigte mit Nachdruck den Schalter der Kaffeemaschine, nahm zwei Tassen aus dem Schrank und sah Emmerich freudlos an. „Nein, natürlich nicht“, räumte sie etwas ruhiger ein. „Es ist das, was ich behaupte. Tausende kommen zu spät zur Arbeit, verantwortlich ist keiner und alle halten das inzwischen für normal.“ „Entspannen Sie sich“, empfahl Emmerich. „Ich wüsste nicht, was unsereiner unternehmen könnte, um daran etwas zu ändern.“ „Eben“, seufzte Frau Sonderbar nunmehr deutlich resigniert und setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl. „Stellen Sie sich bloß mal vor, eine solche Arbeitsauffassung würde sich auch in den Krankenhäu-

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sern dieser Republik verbreiten. In Operationssälen, auf Intensivstationen, bei …“ „Ich stell’s mir lieber nicht vor“, verkürzte Emmerich die Diskussion, hoffte, dass sich die kulturpessimistischen Anwandlungen der Sekretärin in der nächsten Stunde wieder legen würden und betrat das eigene Büro. Natürlich hatte auch er sich während des verlängerten Wartens auf die Straßenbahn den einen oder anderen Gedanken gemacht. An „seiner“ Haltestelle hatten zwar die Leute nicht geglotzt, sondern samt und sonders telefoniert, um Freunde, Kollegen, Chefs oder wen auch immer über verspätete Bahnverbindungen zu unterrichten, das aber machte gar nichts besser. Die, nach seinem selbstverständlich durchaus subjektiven Dafürhalten, stets noch steigerungsfähige Unpünktlichkeit der Bahnen war ein Ärgernis, welches anscheinend von niemandem behoben werden konnte, freilich auch nicht von ihm selbst. Vielmehr handelte es sich um eine der vielen, dem allgemeinen System innewohnenden Eigenheiten, mit denen es zu leben galt. Auch wenn man innerlich der Überzeugung war, dass dieses System in der Vergangenheit schon einmal besser funktioniert hatte, so tat man gut daran, Derartiges für sich zu behalten. Die Gefahr, in den Ruf eines querulierenden Alten, dessen „Früher-war-alles-besser“-Mentalität nicht ernst genommen wurde, zu geraten, war einfach viel zu groß. Und das galt nicht nur im Zusammenhang mit dem öffentlichen Personennahverkehr. Prompt meldete sich nun auch sein eigenes mobiles Telefon, den Eingang einer SMS anzeigend. Emmerich sah auf das Display und nahm zur Kenntnis, dass die Kollegin Gitti Kerner später eintreffen würde. Frau Sonderbar steckte den Kopf zur Tür herein. „Ob Sie schnell mal an die Pforte kommen könnten?“ „Wozu? Hat der Pförtner auch Verspätung?“ „Nicht, dass ich wüsste. Ein Mann steht unten und will einen Mordermittler sprechen.“ „Davon gibt es auch andere im Haus.“ „Es scheint aber noch keiner da zu sein. Wie ich vorhin schon sagte …“

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„Geschenkt“, unterbrach Emmerich Frau Sonderbars Versuch, sich einmal mehr über die Unzulänglichkeiten der modernen Zivilisation auszulassen. „Ich geh schon.“ Im weitläufigen Eingangsbereich des Polizeipräsidiums wartete tatsächlich ein etwas durchgefroren wirkender junger Mann. In der einen Hand hielt er die Plastiktüte eines bekannten Discounters, in der anderen ein Handy, dessen Bildschirm er aufmerksam studierte. Emmerich störte das Studium kurzerhand: „Wollten Sie zu mir?“ „Moment“, entgegnete der Mann, vollführte ein paar gelenkige Bewegungen mit dem Daumen und schob das Handy ein. „Sind Sie von der Mordkommission?“ „Dezernat für Tötungsdelikte“, korrigierte Emmerich. „Dezernat für was?“ Der Mann starrte verständnislos. „Tötungsdelikte.“ „Also nicht für Morde?“ „Doch.“ „Warum sagen Sie das dann nicht gleich? Im Fernsehen …“ „Worum geht es?“ „Hier.“ Der Mann, der bei näherer Betrachtung noch jünger wirkte als auf den ersten Blick, hielt Emmerich die Plastiktüte hin, sagte ein zweites Mal „Moment“ und holte sein leise brummendes Handy wieder aus der Jacke. „Ey, Schnecke, ‘sch kann jetz nich’ sprechen“, nuschelte er schlecht verständlich. „‘sch geb grad die Tüte ab. Ja … so mach isch … ja … bis gleich.“ „Was ist da drin?“, begehrte Emmerich, nunmehr recht streng, zu wissen. Seine Motivation, sich am frühen Morgen länger als unbedingt erforderlich mit einem Spätpubertierenden, der dazu noch telefonierte, zu befassen, tendierte gegen Null. „Ein Schuh“, erläuterte der junge Mann. „Keine gute Marke. Haben wir im Wald gefunden. Gestern. Meine Schnecke und ich.“ „Wieso bringen Sie mir das?“ „Die Schnecke“, meinte der junge Mann, angeekelt das Gesicht verziehend. „Sie glaubt, da ist ein Fuß im Schuh.“

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In Erinnerung an die Tauben bei Aschenputtel fühlte Emmerich sich für den Bruchteil einer Sekunde veranlasst, mit „Ruckediguh“ auf diese Mitteilung zu antworten, riss sich aber umgehend zusammen: „Ein Fuß? Von einem Menschen?“ „Na ja, die Viecher tun ja keine tragen, oder? Schuhe jetzt.“ Nein, das taten sie wohl nicht, die Viecher, die Logik seines Gegenübers war in diesem Punkt unschlagbar. Vorsichtig positionierte Emmerich die Nase etwas oberhalb der Tüte und schnüffelte. „Riecht nach nichts Besonderem“, kommentierte der junge Mann seine Bemühungen und zog die Henkel der Discountertüte so weit auseinander, dass man hineinsehen konnte. „Muss ein ziemlich alter Fuß sein, mein’ ich. Wenn die Schnecke recht hat.“ Ein Geruch nach feuchter Erde, allenfalls ein kleines bisschen modrig, erreichte Emmerichs Nase, widerwillig warf er einen Blick auf die Quelle des Geruchs. Zu sehen gab es einen knöchelhohen Turnschuh in einem schlechten Zustand. Laub und Schmutz hafteten daran, im Schaft war eine undefinierbare Masse auszumachen, die alles Mögliche, vorzugsweise aber einfach Dreck sein konnte. „Wie kommt Ihre Freundin denn darauf, dass es sich bei diesem Ding um einen Fuß handeln könnte?“, wollte Emmerich, wieder den jungen Mann ins Visier nehmend, skeptisch wissen. „Tja“, meinte der verlegen, stellte seine Tüte vor Emmerichs eigenen Füßen ab und sah zur Seite. „Das … ähm … also … ist vielleicht ein bisschen schlecht gelaufen. Weil … wie soll ich das jetzt erklären …?“ „Versuchen Sie es einfach.“ „Tja“, wiederholte der junge Mann, sichtbar nach Worten ringend, und schnaufte zweimal schwer, bevor er entschlossen hervorstieß: „Eigentlich waren das ja gar nicht wir, verstehen Sie? Die, wo den Schuh gefunden haben. Aber meine Schnecke schwört, dass da ein Knochen drin war. Oben hat er rausgeguckt, sie sagt, sie is’ sich da ganz sicher. Also muss ich ihr das glauben, Sie wissen doch, wie Frauen sind. Die ganze Nacht hat sie gesagt, sie kann nicht schlafen, vor lauter diesem blöden Fuß. Bis ich ihr versprochen hab, dass ich

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gleich heute Morgen noch mal hinfahre und das Ding hierher bring. Wo ich doch sowieso vorbei komm, am Präsidium, auf dem Weg zur Autobahn.“ „Langsam“, versuchte Emmerich, das Gehörte geistig zu sortieren. „Wer hat denn nun das Ding entdeckt? Wenn Sie’s nicht waren?“ „Na, der Hund. Wir haben einen Labrador. Vielleicht nicht ganz reinrassig, aber fast. Drei Jahre alt. Ein Superhund. Wenn ich Ihnen erzählen würde, was der alles kann …“ „Lassen Sie das lieber mal. Erzählen Sie von gestern Abend.“ „Wie? Ach so, ja, natürlich.“ Mit der freien Hand fuhr sich der junge Mann nervös durchs Haar, bevor er fortfuhr: „Also, die Schnecke hat ihn rausgelassen, den Hund, mein ich, wie ich mal kurz ans Bäumchen musste. Und dann kam er mit … mit dem da … aus den Büschen. Natürlich ohne Tüte, da hab ich das Ding nur rein getan, weil ich es nicht einfach so … so ohne alles … Sie verstehen mich schon, oder?“ „Rausgelassen?“ „Aus dem Auto. Ich wollte bloß kurz halten, weil …“ „Und wo soll das gewesen sein?“ „Ein Parkplatz. Am Waldrand. In der Kurve. Da, wo’s den Berg raufgeht zur Autobahn, von Botnang aus gesehen. Ich weiß nicht, wie die Straße heißt, der Berg jedenfalls ist ganz bekannt, mir fällt gerade bloß nicht ein …“ „Wahrscheinlich meinen Sie den Birkenkopf?“ „Genau. Es lag mir auf der Zunge.“ „Gestern also? Wann? Um wie viel Uhr?“ „Weiß nich’ genau. So gegen sechs vielleicht, es war schon dunkel. Ich jedenfalls hab nichts gesehen, nichts Genaues, meine ich. Nur, dass der Hund was hatte, aber nichts mit Knochen, oder so. Wie ich fertig war mit … Sie wissen schon … hab ich einfach ‚Aus‘ gesagt … Unser Terry hört aufs Wort. Er hat das Dingens fallen lassen, ist zurück ins Auto, wir sind weiter. Bis die Schnecke angefangen hat zu nerven. Da wollt ich aber nicht mehr umdrehen, wir waren schon fast in Kaltental und das ist alles Schnellstraße, dahinten …“

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„Und Ihre Freundin glaubt …“ „Sie glaubt das nicht, sie schwört“, verbesserte der junge Mann. „Deshalb sag ich ja, dass das jetzt schlecht gelaufen ist. Weil, der Knochen … also, der, wo rausgeguckt hat, aus dem Schuh … dieser Knochen ist jetzt …“ „Ja?“ „Weg.“ „Wie weg?“ „Der Hund …“ „ … hat ihn gefressen, meinen Sie?“ „So sieht’s wohl aus“, bestätigte der junge Mann zerknirscht, relativierte diese Bestätigung aber umgehend. „Vielleicht auch nur zerbissen. Falls er wirklich da war. Ich hab ihn nicht gesehen, wie gesagt. Aber die Schnecke …“ „Schwört. Ich hab’s verstanden.“ Emmerich betrachtete die Tüte und kratzte sich am Kopf. Es blieb nichts anderes übrig, als den Inhalt untersuchen zu lassen und zu hoffen, dass die Schnecke sich geirrt haben mochte. Der junge Mann trat unschlüssig von einem Bein aufs andere, bis er sich schließlich räusperte: „Ähem. Ich sollte dann mal weiter. Die Arbeit ruft.“ „Wie?“ Emmerich zuckte zusammen und erwachte aus der leichten Lethargie, in die er kurzfristig und lediglich sekundenlang verfallen war. „Tut mir leid, das geht nicht. Sie kommen mit in mein Büro, ich brauche Ihre Personalien, die von Ihrer Freundin und ein Protokoll.“ „Aber … ich muss nach Heilbronn.“ „Geht genauso wenig. Falls das in der Tüte ist, was Ihre Freundin glaubt, fahren wir heute noch zu diesem Parkplatz. Sie und ich und Ihre Freundin.“ Dazu voraussichtlich auch eine Hundertschaft der Polizei, um das Gelände abzusuchen, doch das behielt Emmerich vorerst für sich. Der junge Mann wurde nervös. „Das glaub ich nicht, das kann nicht wahr sein. Ich hab ihr gleich gesagt, dass das nur Ärger bringt. Wenn ich hierher komm, meine ich. Mir ist das doch scheißegal, ob da so ein verfickter Fuß im Wald liegt, dafür riskier ich doch nicht meinen Job …“

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„Wenn es hilft, dann rufe ich persönlich Ihren Chef an“, versuchte Emmerich, beruhigend auf sein Gegenüber einzuwirken, erreichte aber das Gegenteil. „Meinen Chef?“, kreischte der junge Mann entgeistert. „Ja, das wär’s wohl, wenn ich einen hätte, das täte Ihnen so gefallen, dann könnte ich auch einfach fehlen, so wie andere Leute auch. Aber so isses nich’, nein, nein, so isses nich’, was mach ich denn jetzt bloß …?“ „Schildern Sie mir das Problem. Es lässt sich sicher regeln.“ „Wenn ich nicht pünktlich da bin … im Logistikzentrum … dann holt ein anderer die Ware. Dann hab ich keine Aufträge, dann fehlt mir das Geld. Und alles wegen einem Haufen Dreck?“ „Verdienstausfälle können wir ersetzen. Natürlich nur bis zu einem gewissen Grad …“ „Sie verstehn das nicht, ich war letzte Woche schon mal krank, die nehmen mir den Laster weg …“ „Lassen Sie mich raten“, meinte Emmerich in ruhigem Ton. „Sie sind gar nicht angestellt, Sie fahren auf selbstständiger Basis …“ „Was denn sonst?“ Zwei uniformierte Kollegen blieben ein paar Meter weiter stehen und beobachteten das Geschehen aufmerksam. Emmerich bedeutete dem jungen Mann zu warten, nahm die Tüte, brachte sie einem der Polizisten, wechselte ein paar Worte mit ihm und kam mit dem zweiten Polizisten wieder zurück. „Haben Sie einen Ausweis dabei?“ „Führerschein“, entgegnete der junge Mann. „Der Kollege“, sagte Emmerich, „überprüft jetzt Ihre Daten und nimmt sie auch gleich auf. Ich brauche Ihre Handynummer und muss wissen, wo ich Ihre Freundin finde, falls es nötig ist. Sie war ja dabei, als der Hund den Schuh gefunden hat, nicht wahr?“ „Schon. Bloß … die ist jetzt auch auf Arbeit.“ „Hier? In der Stadt?“ Er erntete ein Nicken und fuhr fort: „Wir brauchen eine kleine Weile, um zu prüfen, ob sich der Verdacht bestätigt. Wenn nicht, dann ist der Fall erledigt. Wenn ja, kommen wir wieder auf Sie zu. Oder auf Ihre Freundin. Wann sind Sie zurück?“

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„Irgendwann heut Abend.“ Der junge Mann entspannte sich ein wenig. „Ich weiß nie, wie lang ich unterwegs bin …“ „Schreiben Sie mir alles auf. Und dann machen Sie, dass Sie in Ihr Logistikzentrum kommen.“ ✶✶✶ „Thank you for help and hospitality“, sagte der gut gebaute Kerl aus Osteuropa in nicht besonders schönem Englisch. Florina Kappel schloss hinter ihm die Wohnungstür. Ein schusseliger Gast war das gewesen, in der ersten Nacht hatte er sie herausgeklingelt, weil er vergessen hatte, den Schlüssel mitzunehmen. In der zweiten war ihm gar ihre Adresse entfallen, Florina hatte sie einem Taxifahrer diktieren müssen. Bei seiner Rückkehr hatte der Kerl einen angetrunkenen Eindruck gemacht und am heutigen Morgen auch prompt verschlafen. Weshalb Florina ihm, ohne auf seine mit balkanesischem Charme vorgetragenen Ausflüchte und Komplimente einzugehen, einen halben Tag zusätzlich berechnete, den er schließlich auch bezahlte. Im Gästezimmer roch es nach Rasierwasser, Alkohol und Tiefschlaf, sie öffnete das Fenster und machte sich daran, das Bett abzuziehen. Unter der Decke fand sie ein weißes Herrenhemd nebst gedeckter Krawatte, der junge Mann hatte am Wochenende ein Familienfest besucht. Ihren nächsten Gast erwartete sie bereits in wenigen Stunden, eine Frau, die schon mehrfach dagewesen war und aus geschäftlichen Gründen kam. Solche Leute waren ihr die liebsten, man kannte sich ein wenig, wechselte freundliche Worte und bemühte sich ansonsten, den jeweils anderen so wenig wie möglich zu stören. Florina hätte es sicherlich vorgezogen, kein Zimmer vermieten zu müssen, aber nicht nur die Nebenkosten der Jugendstilwohnung im Stuttgarter Westen erforderten einen Haufen Geld, sondern der Rest des Lebens auch. Das Internetportal, auf dem sie das Zimmer ihren Gästen anbot, ersparte ihr wenigstens die Installation einer dauerhaften Mitbewohnerin. Bei einem Übernachtungspreis zwischen 45 und 60 Euro – Florina machte inzwischen saiso-

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nale Unterschiede – blieb darüber hinaus auch mehr Geld für weniger Nächte übrig, meist hatte sie die Wohnung sogar ganz für sich allein. Routiniert tauschte sie die gebrauchten Laken gegen neue aus, wischte notdürftig mit einem feuchten Tuch ein paar Oberflächen ab und ging einmal mit dem Sauger durch den Raum. Das Herrenhemd wanderte mit der Bettwäsche in die Waschmaschine, die Krawatte kam dorthin, wo auch das saubere Hemd später landen würde. Florina hatte längst ein Abteil des Einbauschranks im Flur für die Hinterlassenschaften ihrer Gäste reserviert. Teilweise wurden diese sogar wieder abgeholt oder mit der Post hinterhergeschickt, vieles aber blieb einfach liegen, um nach einer angemessenen Frist im Müll entsorgt oder verschenkt zu werden. Gegenwärtig hatten sich zweieinhalb Paar Herrenschuhe, ein taubenblaues Sakko, eine schwarze Reisetasche mit Zahlenschloss, ein Trekkingrucksack mit neonfarbenen Applikationen, vier Kulturbeutel, sechs Krawatten und ein Bademantel in Florinas Schrank angesammelt. Vergessene Socken oder Unterwäsche, insbesondere benutzte, weigerte sie sich aufzubewahren. Sie legte die siebte Krawatte zu den anderen und nahm einen der Kulturbeutel heraus. Der immerhin gehörte ihrem nächsten Gast und wurde von Florina aus Servicegründen gehütet. Sie stellte ihn samt einer Flasche Wasser und einigen Bonbons als Willkommensgruß auf dem Nachttischchen des Gästezimmers bereit, sah sich noch einmal um und wandte sich schließlich in der Küche den Resten ihres Frühstücks zu.

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2 Frau Sonderbar drehte den Kopf nur leicht von ihrem Bildschirm weg, als Emmerich zurückkam. „War es wichtig?“, wollte sie in einem Ton, der deutlich erkennen ließ, dass eine bejahende Antwort nicht erwartet wurde, wissen. Emmerich, der davon ausging, dass der Inhalt der Discountertüte sich als schlichter Abfall entpuppen würde, gab entsprechend gleichgültig zurück: „Eher nicht.“ „Frau Kerner hat vor ein paar Minuten angerufen. Sie kann frühestens in einer halben Stunde hier sein. Die S-Bahn …“ „Das macht mir nichts.“ „Aber mir“, seufzte abgrundtief Frau Sonderbar, den Blick wieder auf ihren Bildschirm heftend. „Weshalb?“ Emmerich war klar, dass ein solcher Seufzer eine Nachfrage erforderte. Frau Sonderbar zeigte anklagend auf den Bildschirm. „Ausgerechnet heute, wo ich sie wirklich einmal gut gebrauchen könnte.“ „Vielleicht kann ich ja helfen?“, machte Emmerich höflichkeitshalber ein durchaus halbherziges Angebot. „Ach nein, ich glaube nicht“, entgegnete Frau Sonderbar. „Sie sind ja ein Mann.“ Eine Bemerkung, die geeignet war, bei Emmerich immerhin einen Anflug von Neugier zu erwecken, auch wenn er überzeugt war, dass seine Kenntnisse und Fähigkeiten keine ernsthafte Hilfe bei der Erledigung von Sekretariatsarbeiten zuließen. Nicht weil er davon ausging, dass dies eine Geschlechterfrage war, mit dergleichen Themen pflegte er sich ohnehin nicht zu beschäftigen. Der Mensch im Allgemeinen, fand Emmerich, sollte das tun, was er

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