Das Schleppergeschäft sinnlos machen

diese humanitäre Katastrophe der. Syrien-Flüchtlinge (vier Millionen im Ausland, acht Millionen Binnen- vertriebene) gemeinsam zu bewäl- tigen. Beide Seiten ...
105KB Größe 4 Downloads 94 Ansichten
4 WELTPOLITIK

DONNERSTAG, 12. NOVEMBER 20 15

Endlich sicher: Mohammed, 26, aus Aleppo in Syrien. Er ist über die Türkei nach Lesbos geflohen. Eine Fähre bringt ihn nach Athen. BILD: SN/AP

Das Schleppergeschäft sinnlos machen Nur eine weitreichende Übereinkunft der EU mit der Türkei kann den Flüchtlingsstrom unter Kontrolle bringen. Der österreichische Experte Gerald Knaus fordert ein Umdenken der europäischen Politiker.

Wir sprachen mit Gerald Knaus, dem Leiter der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI). Die Denkfabrik will Krisenlösungen vorlegen. SN: Wie sehr ist die EU bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise auf die Türkei angewiesen?

Knaus: Wenn es um die Kontrolle der Grenze in der Ägäis geht, ist die Europäische Union vollkommen auf die Türkei angewiesen. Denn über diese Grenze hat in diesem Jahr der allergrößte Teil der Flüchtlinge die EU erreicht. Wenn die Schiffe oder Boote die Türkei erst einmal verlassen haben, gelangen die Flüchtlinge nach Griechenland und sind wenige Tage später unvermeidlich auch in der übrigen EU.

SN: Können Sie einen Plan europäischer Politiker in der Flüchtlingskrise erkennen?

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat immer zwei Dinge genannt. Zum einen geht es darum, sich nicht bloß abzuschotten, sondern tatsächlich zu helfen – vor allem den syrischen Flüchtlingen, die derzeit die größte Anzahl von Flüchtlingen in der ganzen Welt

stellen. Zum anderen wollen die Europäer die Kontrolle über die Außengrenze bekommen, damit sie bestimmen können, wer auf den Kontinent gelangt und in welchem Tempo die Flüchtlinge die EU erreichen. Um das zu schaffen, braucht man die Türkei. SN: Wie könnte eine tragfähige und faire Übereinkunft der EU mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage ausschauen?

Man könnte der Regierung in Ankara anbieten, dass EU-Staaten wie Deutschland, Schweden, Österreich etc. eine bestimmte Anzahl der syrischen Flüchtlinge direkt in der Türkei übernehmen – bevor diese Menschen die lange, mühsame, auch gefährliche Reise machen, nämlich von der Türkei in Richtung Europa und quer durch den Balkan. Im Gegenzug verpflichtet sich die Türkei, die auf den griechischen Inseln gestrandeten Flüchtlinge zurückzunehmen – auf der Grundlage des Rücknahmeabkommens, das Athen und Ankara bereits vor 13 Jahren abgeschlossen haben. Das ist der Deal: Die Türkei hilft der EU bei der Kontrolle der Grenze in der Ägäis, damit das Geschäft der Schlepper sinnlos wird und zusammenbricht. Und die EU-Länder hel-

fen der Türkei, die Verantwortung für die große Anzahl syrischer Flüchtlinge zu teilen. SN: Welchen politischen Preis wird der türkische Präsident Erdogan für diese Kooperation in der Flüchtlingskrise fordern?

In der Europäischen Union herrscht noch immer die Illusion

BILD: SN/ESI

HELMUT L. MÜLLER

„Die EU ist auf die Türkei angewiesen.“ Gerald Knaus, Politikforscher

vor, dass man der Türkei bereits ein großzügiges Angebot gemacht habe. Man sei ja bereit, die Visa-Liberalisierung für türkische Staatsbürger zu beschleunigen, heißt es. Doch nach Gesprächen mit türkischen Diplomaten habe ich den Eindruck, dass die EU nach der Ansicht Ankaras bisher überhaupt noch kein Angebot gemacht hat. Der Visa-Dialog läuft bereits seit zwei Jahren. Selbst wenn die EU-Kommission jetzt anregen würde, die entsprechende EU-Richtlinie zu ändern und die Visumpflicht für die Türken aufzuheben, würde die Umset-

zung der Maßnahme sicherlich ein halbes Jahr dauern. Solche Signale verstärken auf der türkischen Seite das Gefühl, die EU wolle das Land doch bloß überreden, eine Pufferzone oder eine Art Auffangbecken für Flüchtlinge zu werden. SN: Lassen sich im Fall der Türkei die Themen Flüchtlingskrise und Beitrittsgespräche voneinander trennen?

Ja, auf jeden Fall. Das beweist der jüngste Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission. Zur Türkei hat es in puncto Demokratie, Menschenrechte und Medienfreiheit noch nie einen kritischeren Bericht gegeben. Die EU-Kommission zeigt anhand konkreter Beispiele, dass sich die Türkei zuletzt von europäischen Standards entfernt hat. Trotzdem ist es notwendig, dass europäische Politiker mit der Türkei über gemeinsame Interessen reden, etwa ein Zusammenwirken in der Flüchtlingskrise.

SN: Was sind die Voraussetzungen für einen produktiven Dialog mit der Türkei?

Man muss endlich anerkennen, dass die Türkei in der Flüchtlingsfrage tatsächlich Großartiges geleistet hat: Sie hat ihre Grenzen offen

gehalten und ist damit zum Land mit den weltweit meisten Flüchtlingen geworden. Die türkische Gesellschaft spürt, dass mehr als zwei Millionen Flüchtlinge im Land sind. Dennoch redet man beim Dialog zwischen der EU und der Türkei noch immer aneinander vorbei. Das Misstrauen, ob es die andere Seite auch ernst meint, wächst. SN: Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass es zu einer effizienten Kooperation zwischen der EU und der Türkei kommt?

Das Allerwichtigste ist, dass man wegkommt von Scheindebatten. Weder Aufnahmezentren an der Außengrenze noch ähnliche Maßnahmen auf der Balkanroute können Teil einer Lösung sein. Man muss ehrlich aussprechen, worum es wirklich geht – nämlich darum, diese humanitäre Katastrophe der Syrien-Flüchtlinge (vier Millionen im Ausland, acht Millionen Binnenvertriebene) gemeinsam zu bewältigen. Beide Seiten müssen tatsächlich ihren Anteil an der Lösung der Krise tragen. Ein echtes Entgegenkommen der EU könnte es Erdoğan erleichtern, jenen Flüchtlingen, die in der Türkei bleiben wollen, mit sektoraler Öffnung des Arbeitsmarkts eine Perspektive zu bieten.

Die EU verspricht Afrika Milliarden – und zahlt nicht Wie kann Europa die Migration aus Afrika eindämmen? Ideen gibt es, beim EU-Afrika-Gipfel liegen sie auf dem Tisch. VALLETTA, BRÜSSEL. Es sind zwei ganz unterschiedliche Dinge, die die EU und Afrika in der Flüchtlingskrise wollen. Europa ächzt unter der Last der größten Flüchtlingsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Seit Jahresbeginn kamen allein über das Mittelmeer knapp 800.000 Migranten. Das sollen weniger werden – zumal aus EU-Sicht viele Afrikaner kommen, die nicht schutzbedürftig sind und nicht bleiben dürfen. Die afrikanischen Staaten setzen dagegen auf eine ganz andere Lösung des Problems und verlangen mehr Möglichkeiten für die legale Einwanderung. Etwa Visa für Studenten und Geschäftsleute. Dann müssten sich nicht mehr so viele

Afrikaner illegal auf den Weg nach Europa machen, lautet ihr Argument. Um diese beiden widerstrebenden Interessen gab es schon im Vorfeld des EU-Flüchtlingsgipfels mit afrikanischen Staaten Streit. Dieser hat am gestrigen Mittwoch in Malta begonnen und dauert bis heute, Donnerstag. Die 35 eingeladenen afrikanischen Staaten verlangten etwa Quoten für die legale Einreise, also genaue Zahlen, wie viele Bürger pro Jahr nach Europa kommen dürfen. Der Entwurf für die Abschlusserklärung („VallettaAktionsplan“) enthält keine Quoten. Er stellt aber in Aussicht, die Visa-Vergabe zu fördern. Das wichtigste Ziel in Malta ist aus Sicht der Europäer, die afrikani-

schen Herkunftsländer dazu zu bringen, ihre Bürger von der Abreise abzuhalten und sie nach der Abschiebung wieder aufzunehmen. Dabei verspricht die EU den Ländern praktische Hilfe, etwa Knowhow und Geld. Die Afrikaner sollen sich verpflichten, bei der Rückführung von Flüchtlingen und deren Identifizierung zu helfen. Die EU fordert auch, dass die afrikanischen Staaten europäische Reise-Ersatzdokumente (Laissezpasser) für Migranten ohne Pass anerkennen. Dann könnten EU-Staaten Migranten zurückschicken, die ihre Pässe weggeworfen haben, um ihre Herkunft zu verschleiern. Die EU verlangt zudem, dass Transitländer wie Libyen ihre Grenzen bes-

ser schützen und gegen Schlepper vorgehen. Doch wie kann Europa die Afrikaner zur Kooperation bewegen? Viele Staaten wie etwa Eritrea oder Sudan haben Herrscher, die selbst der Grund für die Flucht sind. Zudem funktionieren die Wirtschaften vieler Länder nur, weil geflüchtete Ex-Bürger viel Geld an ihre Familien in der Heimat überweisen. Der EU bleibt nur, den Afrikanern etwas zu bieten – nach dem Motto: Wer mehr kooperiert, erhält auch mehr Hilfe. In dem Aktionsplan verspricht die EU bis Ende 2016 Entwicklungshilfe in allen Bereichen, um die Armut zu bekämpfen. Es sollen Jobs für junge Leute entstehen. Gemeinsam wolle man

politische Krisen angehen, etwa in der Sahelzone und am Horn von Afrika. Von dort machen sich besonders viele Migranten auf den Weg nach Europa. Zu den zehn TopHerkunftsländern über das Mittelmeer gehören laut UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Eritrea, Nigeria, Somalia und der Sudan. Doch die Erfolgsaussichten hängen vom tatsächlichen Handeln ab, und da kommen die Europäer ihren Versprechen nur langsam nach. 1,8 Milliarden Euro hat die EU-Kommission in der Flüchtlingskrise in einem Fonds für Afrika bereitgestellt. Die EU-Staaten sollen noch einmal so viel geben – bisher ist aber erst ein Bruchteil (47 Mill. Euro) zusammengekommen. SN, dpa