Das Persönlichkeitsproblem. Methodologische Grundlagen ... - Buch.de

Gemeinsame Tätigkeit –. Basis und Triebfeder der Persönlichkeitsentwicklung. Kapitel V. 77. Interindividuelle Unterschiede unter Evolutionsaspekt. Kapitel VI.
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ICHS International Cultural-historical Human Sciences Herausgegeben von Hartmut Giest und Georg Rückriem Band 47 Aleksandr Grigor'evič Asmolov Teil 1: Das Persönlichkeitsproblem Teil 2: Tätigkeit und Einstellung

Aleksandr Grigor'evič Asmolov

Teil 1 Das Persönlichkeitsproblem Methodologische Grundlagen der kulturhistorischen Tätigkeitstheorie zur Untersuchung der Persönlichkeit im Prozess von Evolution und Geschichte

Teil 2 Tätigkeit und Einstellung

Berlin 2014

ICHS International Cultural-historical Human Sciences

ist eine Schriftenreihe, die der kulturhistorischen Tradition verpflichtet ist – das ist jene, vor allem von Lev S. Vygotskij, Aleksej N. Leont’ev und Aleksandr R. Lurija entwickelte theoretische Konzeption, die den Menschen und seine Entwicklung konsequent im Kontext der Kultur und der gesellschaftlich historischen Determination betrachtet. Dabei kommt der Tätigkeit als der grundlegenden Form der Mensch-Welt-Wechselwirkung für die Analyse der menschlichen Entwicklung und Lebensweise entscheidende Bedeutung zu, sowohl unter einzelwissenschaftlichen Aspekten und deren Synthese zu übergreifender theoretischer Sicht als auch im Hinblick auf praktische Problemlösungen. Die Schriftenreihe veröffentlicht sowohl Texte der Begründer dieses Ansatzes als auch neuere Arbeiten, die für die Lösung aktueller wissenschaftlicher und praktischer Probleme bedeutsam sind.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet unter: abrufbar.

Aleksandr Grigor'evič Asmolov Teil 1: Das Persönlichkeitsproblem Teil 2: Tätigkeit und Einstellung © 2014: Lehmanns Media GmbH • Verlag • Berlin www.lehmanns.de • www.ich-sciences.de ISBN: 978-3-86541-551-6 Druck: docupoint GmbH • Barleben

Teil 1

Aleksandr Grigor’evič Asmolov

Das Persönlichkeitsproblem Methodologische Grundlagen der kulturhistorischen Tätigkeitstheorie zur Untersuchung der Persönlichkeit im Prozeß von Evolution und Geschichte

Übersetzt von Wolfhart Matthäus Mit einer Einleitung von Wolfgang Jantzen Bearbeitet und herausgegeben von Georg Rückriem

Inhaltsverzeichnis Teil 1 Editorial

11

Wolfgang Jantzen: Einführung

15

Vorwort zur deutschen Ausgabe

29

Mobilis in mobili: der sich verändernde Mensch in einer sich verändernden Welt

Vorwort der russischen Ausgabe

33

Kapitel I

39

Die Existenz des Menschen in der Welt Ausgangspunkt einer marxistischen Persönlichkeitskonzeption

Kapitel II

45

Der Mensch und sein Ort in verschiedenen Systemen Die Systemcharakteristik der Persönlichkeit

Kapitel III

51

Grundsätze der evolutionär-historischen Persönlichkeitsauffassung

Kapitel IV

69

Gemeinsame Tätigkeit – Basis und Triebfeder der Persönlichkeitsentwicklung

Kapitel V

77

Interindividuelle Unterschiede unter Evolutionsaspekt

Kapitel VI

87

Individuumseigenschaften und Eigenarten der Verhaltensregulation

Kapitel VII

101

Die sozialhistorische Lebensform – Ursprung der Entwicklung der Individualität

Kapitel VIII Von der Mitwirkung zur Selbstkontrolle in der Ontogenese

111

10

Inhaltsverzeichnis Teil 1

Kapitel IX

117

Selbstverwirklichung der Persönlichkeit – Voraussetzung und Ziel der historischen Evolution der Gesellschaft (Statt eines Schlusswortes)

Literatur

131

Teil 2: Tätigkeit und Einstellung

143

Inhaltsverzeichnis Teil 2

145

Kurzbiografien

305

Personenregister

377

Editorial Aleksandr Grigor’evič Asmolov – Doktor der Psychologie, Professor an der Moskauer Staatsuniversität, Dekan der Psychologischen Fakultät, Mitglied der Russischen Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, Stellvertretender Minister für Erziehung, Präsident der ORT Russland, Mitglied des World ORT Board of Trustees und Acting Chairman des Academic Advisory Council, dekoriert durch den Russischen Präsidenten Medvedev für seine „herausragenden Verdienste bei der Transformation der russischen Erziehung in ein modernes demokratisches System“ – ist einer der jüngeren und engeren Schüler von Aleksej N. Leont’ev. Vor allem aber ist er neben etwa V.V. Davydov, F.E. Vasiljuk oder Š.A. Amonašvili einer der wenigen Tätigkeitstheoretiker, die sich außerhalb ihrer akademischen Karriere schwerpunktmäßig auch praktischen und politischen Aufgaben widmen. In der Psychologie hat er sich in der Theorie und Methodologie der Persönlichkeitsforschung einen Namen gemacht.1 Sein im Rahmen der kulturhistorischen Psychologie spezifisches Interesse charakterisiert er folgendermaßen: „War für die klassischen Arbeiten von Aleksej Nikolaevič Leont’ev das Studium der Evolution der Psyche im naturhistorischen Entwicklungsprozess des Lebens charakteristisch, so wird in unseren Untersuchungen die Frage nach der Psyche als ewigem Motor der Entwicklung der biologischen, sozialen und eigentlich mentalen Systeme zur Hauptfrage.“2 Er ist einer der ersten, die dafür nicht nur die frühe internationale Systemtheorie (z.B. R. Ackoff, W.R. Ashby, K.L. von Bertalanffy, G.J. Klir, A. Rapoport, N. Wiener und später N. Luhmann) und ihre Diskussion in der SU (vor allem z.B. V.P. Alekseev, I.V. Blauberg, E.G. Judin, V.P. Kuz’min, V.N. Sadovskij, G.P. Ščedrovickij, und A.I. Uemov) eingearbeitet, sondern dabei auch die Schnittstellen zu den modernen Forschungen zur Evolutionstheorie und Umweltabhängigkeit (A.A. Bogdanov, K.M. Chajlov, M.D. Mesarovič, I.I. Šmal’gauzen, N.A. Severcov, M.I. Setrov, I.V. Vernadskij, K. Watt) berücksichtigt haben. Asmolov hat insofern nicht nur schon vor dem ersten Internationalen Kongress für Tätigkeitstheorie von 1986 die „multivoicedness“ gefordert, sondern auch das „Fenster“ der Tätigkeitstheorie zu den Entwicklungen der Nachbar1

2

Siehe die Zusammenstellung einiger seiner einschlägigen Veröffentlichungen im Literaturverzeichnis. In diesem Band.

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Editorial

disziplinen bereits weit aufgestoßen, lange bevor Yrjö Engeström dies zu Recht als ein Desiderat der westlichen Rezeption formulierte. Leont’evs Tätigkeitstheorie und Persönlichkeitstheorie sowohl methodologisch wie theoretisch an den neueren Forschungsstand herangeführt zu haben, ist daher wesentlich Asmolovs Verdienst. Dies ist in den USA – anders als in Europa – schon früh registriert worden, wie die Publikation seines Buches „Vygotsky Today: On the Verge of Non-Classical Psychology“ (1998) durch James Wertsch beweist. Da dieses wichtige Werk jedoch auch heute noch international zugänglich ist, konzentrieren wir uns darauf, Asmolovs grundlegende, in Westeuropa nicht übersetzte Arbeit zur Persönlichkeitspsychologie sowie seine wenig rezipierte Studie zum Einstellungsproblem in der Tätigkeit der deutschen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Büchlein zum Persönlichkeitsproblem – es umfasst im Original 96 Seiten – erschien im Herbst 1986 unter dem Titel „Psychologie der Persönlichkeit. Methodologische Grundlagen der Entwicklung der Persönlichkeit im historischevolutionären Prozess. Methodisches Lehrbuch für Studenten der Psychologischen Fakultät der Staatsuniversität.“3 Für die Übersetzung ergab sich eine besondere Schwierigkeit bei der Übertragung der im Original verwendeten Termini „ličnost’“ und „individual’nost’“, die beide – je nach Kontext – unterschiedlich übersetzt werden können. „Ličnost’“ kann sowohl Person als auch Persönlichkeit bedeuten, und „individual’nost’“ kann mit „Individualität“ und „Persönlichkeit“ wiedergegeben werden.4 Nach Rücksprache sowohl mit dem Autor als auch mit dem Übersetzer habe ich mich entschieden, ihrem Rat zu folgen und die beiden Termini in Abhängigkeit zum jeweiligen Kontext zu übersetzen. Der im Original 151 Seiten umfassende Text zum Problem der Einstellung, der hier ebenfalls erstmals in deutscher Übersetzung abgedruckt wird, erschien 1979 unter dem Titel „Tätigkeit und Einstellung“.5 Alle Zitate, die aus deutschen Texten stammen bzw. in deutscher Übersetzung vorliegen, werden nach ihrer deutschen Ausgabe wiedergegeben. Die beiden 3

4

5

A.G. Asmolov, Psichologija individual’nosti. Metodologičeskie osnovy razvitija ličnosti v istoriko-evolucionom processe. Učebno-metodičeskoe posobie. Moskva: Izdatel’stvo Moskovskogo Universiteta 1986. Vgl. Russisch-deutsches Wörterbuch (H.H. Bielfeldt). 14. Auflage. Berlin: AkademieVerlag, S. 260 (ličnost’), S. 350 (individual’nost’). Nemecko-russkij slovar’ (A.A. Lepinga i N.P. Strachovoj). Moskva: Izdatel’stvo Russkij jazyk 1958, 649. A.G. Asmolov, Dejatel’nost’ i ustanovka. Moskva: Izdatel’stvo MGU 1979.

Editorial

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unterschiedlichen Formen der Hervorhebung, die der Autor verwendet – Sperrung und Kursivierung –, werden vereinheitlicht und kursiv gesetzt. Zu allen erwähnten Personen werden – soweit irgend auffindbar – kurze biographische Notizen ergänzt, deren hier zusammengetragene Informationen in aller Regel aus wikipedia stammen. Bleibt noch zu erwähnen, dass alle hinzugefügten Ergänzungen und Erläuterungen des Bearbeiters in eckige Klammern gesetzt werden. Für zahlreiche Hinweise und Hilfen zu Dank verpflichtet bin ich Götz Hillig, Wolfgang Jantzen, Dmitrij A. Leont’ev, Gudrun Richter, Britta Rückriem und René van der Veer.

Berlin im Oktober 2013 Georg Rückriem

Methodologische Grundlagen der Persönlichkeitstheorie – eine Einführung Wolfgang Jantzen

„Das enzyklopädische Prinzip ist nach zwei Seiten ein Korrektiv: gegen die Faktenhuberei eines begriffslosen Empirismus und gegen das überfliegende Denken einer von den Erfahrungswissenschaften abgehobenen Philosophie.“ (Holz 2011, 415) Person im engeren Sinne ist „ein individueller Mensch als Körper-SelbstPerson-Einheit“, dessen vermitteltes Sein durch Gesellschaft, Geschichte und Kultur einen weiteren Begriff der Personalität begründet (Schürmann 2009, 144). Person und Personalität sind folglich durch Mitweltlichkeit konstituiert. Der Mensch ist auf gesellschaftlich vermittelte Sozialität ebenso angewiesen wie ein Wasserlebewesen auf das Wasser (Schürmann 2010). Dies wird sowohl in der philosophischen Anthropologie Plessners (1975) als Begriff der »Exzentrizität« des Menschen hervorgehoben als auch in dem Versuch der Grundlegung einer marxistischen Anthropologie durch Sève (1973), der mit Bezug auf die 6. These über Feuerbach von Karl Marx (1969, MEW 3, 6) argumentiert, dass der Mensch sein Wesen »außermittig« hat, dass Persönlichkeit weder auf Natur noch auf Gesellschaft reduziert werden kann, sie als seitlich in die Gesellschaft hinein versetzte »Juxtastruktur« betrachtet werden muss. Ähnlich wird bei Luhmann (1984) das Verhältnis von sozialem System und psychischem System gesehen, letzteres aber theoretisch nicht thematisiert. Person im weiteren Sinne kann und darf daher nicht substantialisiert werden, muss funktional, d.h. als vermittelte Relation von Individuum und Gesellschaft betrachtet werden. Vor allem darf die Eigenschaft, Person zu sein, nicht an irgendeine Art der Zuerkennung von Eigenschaften gebunden sein, welche eine Art von Aufnahmeprüfung zur Voraussetzung des Personstatus macht. Personalität wird somit zur Frage des gemeinsam geteilten Anerkennens, zu einem Rechtstatus, der prinzipiell an die Zuerkennung von Würde für jedes menschliche Individuum gebunden ist. „Persönlichkeit ist dann ein Titel für die je Einmaligkeit der Person“ (Schürmann 2009. 144). Dies erfordert jedoch, substantialisierende Definitionen von Persönlichkeit zu überwinden, wie z.B. Guilfords (1964) psychologische Definition von Persön-

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Methodologische Grundlagen der Persönlichkeitstheorie

lichkeit als „unique pattern of traits“. Vergleichbar zur Argumentation in der modernen Ethnologie und Kulturwissenschaft ist es notwendig, von einer „trait geography“ zu einer „process geography“ zu kommen. „Apparent stabilities are themselves largely artefacts of specific trait based idea“ (Appadurai 2001, 8). Will man folglich einen Begriff von Persönlichkeit des Individuums als „individualisierte Gesamtheit der Invarianten seines Verhaltens“ überwinden und Persönlichkeit als „historisch-biographisch sich entwickelndes System von Aktivitäten“ (Sève 1990, 651) begreifen, so ist hierfür der Begriff der gesellschaftlichen Vermitteltheit in der Relation von Persönlichkeit und gesellschaftlichen Verhältnissen eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung. Es muss gleichzeitig die naturgeschichtliche Basis dieses Systems ebenso phylogenetisch wie ontogenetisch als System von Prozessen mitgedacht werden. Eine Theorie der Persönlichkeit kann nicht, ohne dass dies einengende Folgen hätte, bloß im historischen Materialismus begründet werden, wie Sève (1973, 2004, 2009) dies vorschlägt, sondern bedarf, so Vygotskij (1985, 251f.), darüber hinaus eines eigenen psychologischen, biologischen und soziologischen Materialismus als weiterer Teilaspekte eines dialektischen Materialismus. Diese Konstitutionsproblematik haben wir über lange Jahre im Kontext der modernen Humanwissenschaften und unter Rückgriff auf die kulturhistorische Theorie, die Tätigkeitstheorie verfolgt, aber ebenso in Bezug auf die philosophischen (vor allem Marx und Spinoza) und naturwissenschaftlichen Grundlagenprobleme (hier insbesondere Anochin und Bernstein zur Theorie funktioneller Systeme sowie die Selbstorganisationstheorie und die Kybernetik zweiter Ordnung).6 Insofern habe ich mit großem Interesse die hier publizierten beiden Bücher von Alexandr G. Asmolov gelesen und viele Anregungen daraus gewonnen und weiß mich mit ihm auf einem gemeinsamen Weg. In vielem treffen sich seine Überlegungen mit meinen eigenen, eine Reihe von herangezogenen Autoren sind mir neu, in anderer Hinsicht wäre Asmolovs methodologische Diskussion um die unsrige zu ergänzen. Aber seine Texte sind nicht einfach zu verstehen, insbesondere der über Persönlichkeit und die methodologischen Grundlagen ihrer Erforschung. Er bedarf eines Kommentars, um die sehr dichte Darstellung zu entschlüsseln, zusätzlich 6

Vgl. u.a. Feuser 1995, Feuser & Jantzen 1994; Jantzen 1987/1990; 2013a. Den Ausgangspunkt unserer Beschäftigung bildete vor allem und zunächst das Buch von Erich Jantsch „Die Selbstorganisation des Universums“ (1978), auf Grundlage dessen wir uns Schritt für Schritt große Teile der dort verwendeten Originalliteratur und die daran bis in die Gegenwart ansetzenden Diskussionen erschlossen haben.

- eine Einführung

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erschwert durch Literaturbezüge, die uns nur teilweise durch Übersetzungen aus dem Russischen zugänglich sind. Der Schlüssel zum Begreifen von Asmolovs Denken liegt in der Überwindung des Unmittelbarkeitsprinzips in der Erforschung und Rekonstruktion psychischer Prozesse. In der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie bemerkt Karl Marx: „der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät“ (MEW 1, 378). Wie aber diese Vermittlung denken? Dies zu erhellen ist die Intention von Asmolovs methodologischer Studie zum Problem der Persönlichkeit. Ob er mit den Evolutionsbiologen von der Lebensweise als systembildender Basis für alle Formen lebendiger Materie spricht, mit Luria von der gemeinsamen Tätigkeit als systembildender Basis für die menschliche Existenz, Vygotskijs Begriff der sozialen Entwicklungssituation aufgreift oder für die Entwicklung von Gruppenbeziehungen eine Unbestimmtheitszone im Verhältnis zur Welt hervorhebt, die auf dieser Ebene mit Vygotskijs Begriff der Zone der nächsten Entwicklung zu fassen ist, immer geht es um dieses Problem der Vermitteltheit, das auf menschlichem Niveau durch die Gesellschaftlichkeit der Menschen und die soziale Vererbung von Erfahrungen eine neue Qualität gewinnt. Die psychologische Seite dieser Prozesse ist vorrangig seitens der kulturhistorischen Theorie Vygotskijs und der Tätigkeitstheorie Leont’evs erforscht worden; was nun auf der Tagesordnung steht, ist die Öffnung der Persönlichkeitstheorie für den systemischen (Welt-) Zusammenhang, in dem sich das konkrete Individuum, die konkrete Person grundsätzlich befindet. Alexandr G. Asmolov ist beeinflusst durch seine akademischen Lehrer A.N. Leont’ev und A.R. Lurija. Im Zentrum seiner Arbeiten steht nicht nur eine Rekonstruktion der russischen Psychologie als Ganzes, sondern die Weiterentwicklung einer nichtklassischen Psychologie im Kontext ihrer historischmethodologischen Wurzeln philosophischer und methodologischer Art (vgl. Asmolov 1998). Dazu gehört die dialektisch-materialistische Basis der kulturhistorischen und tätigkeitstheoretischen Psychologie im Rückgriff auf Marx, aber ebenso auf Hegel und Spinoza, aber auch der Einfluss des naturwissenschaftlichen systemtheoretischen Denkens in Russland, dann in der ehemaligen Sowjetunion, sowie in der weltweiten Diskussion darüber hinaus u.a.m.

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Methodologische Grundlagen der Persönlichkeitstheorie

Und umgekehrt ist die kulturhistorische und Tätigkeitstheorie von hoher Bedeutung für die Weiterentwicklung der Systemtheorie.7 Dieses systemtheoretische Denken ist weit umfangreicher, als es bisher zur Kenntnis genommen wurde, so z.B. in Luhmanns Rezeption von Teilen der russischen Systemtheorie auf der Basis des Buches von Blauberg, Sadovsky und Judin (1977). In Luhmanns Theorie selbst zeigt sich dies insbesondere in der Unterscheidung zwischen Systembegriff und Komplexitätsbegriff. Außerhalb des Systems Gesellschaft sei der Systembegriff nicht anwendbar, denn die Ökologie habe es mit Komplexität zu tun, die kein System sei, da sie über keine eigene Umwelt verfüge, so Luhmann (1984, 55). Gemäß Vernadskij ist die Biosphäre jedoch ein System und hat ihrerseits das System der Geosphäre als Umwelt (1998). „Insgesamt ist die Biosphäre ein gigantisches, vielfältig untergliedertes, thermodynamisch offenes, selbstregulierendes selbstorganisierendes und evolvierendes System“ (Hofkirchner & Löther 1997, 10), das vielfältig in die Geosphäre eingreift und deren Funktionen umgestaltet. Rekursivität von Systemen liegt demnach auch außerhalb gesellschaftlicher Teilsysteme und von Gesellschaft als Ganzes vor8, wobei Vernadskij noch eine zusätzliche Differenzierung in Form der Noosphäre einführt (1945, 1997). Diese resultiert aus der durch die Tätigkeit der Menschen umgestalteten Biosphäre, was sich in naturwissenschaftlicher Hinsicht rekursiv sowohl auf die Gestalt der Biosphäre wie der Geosphäre auswirkt (u.a. durch Freisetzung von Elementen in reiner Form, wie sie in der Natur nicht vorkommen, z.B. von Aluminium; vgl. Vernadsky 1945, 249). So betrachtet wäre, um auf Luhmann zurückzukommen, die Gesellschaft ein zentrales System innerhalb des Systems der Noosphäre.9 Als entscheidenden Motor dieser Umwandlung betrachtet Vernadskij die Zephalisation des Menschen und damit die Freisetzung des Denkens, wodurch die Menschheit zu einer eigenen Totalität im Leben der Erde wird. Allerdings wirft dies seiner Ansicht nach ein neues Rätsel auf, denn Denken ist keine Form der Energie; wie kann sie Materielles beeinflussen? (ebd.)

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„Luria`s work, Leontiev’s and Vygotsky’s work is extremely important to that field I just mentioned: cybernetics, information processing, systems theory.“ (Braun 1989, 26). Vgl. zur Bedeutung Lurijas in dieser Hinsicht auch Jantzen 2009. Dies gilt auch über die Geosphäre hinaus, so die von Asmolov ebenfalls referierte Heliobiologie von Čiževskij, eine Forschungsrichtung der Ökologie, welche das System Sonne-Biosphäre untersucht und damit „die Abhängigkeit des irdischen Geschehens vom solaren“ (Hofkirchner und Löther 1997, 10). Zur Diskussion von Luhmanns Systemtheorie aus kulturhistorischer Sicht vgl. Jantzen 2004.

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Die Behandlung dieses Rätsels, das als Teil des Bieri-Dilemmas Kernbestand des sog. Leib-Seele-Problems ist (vgl. Jantzen 2010), verlangt jedoch über die Theorie von Biosphäre und Noosphäre hinaus die Verfolgung weiterer systemtheoretischer Ansätze in der Verflechtung von Makro- und Mikrobereich der Evolution. Ausgehend vom systemtheoretischen Makroaspekt Vernadskijs behandelt Asmolov insbesondere die evolutionsbiologischen Theorien von Severcov und Schmalhausen, die in Verfolgung von Vernadskijs Begriff der »lebendigen Materie« wesentliche systemtheoretische Überlegungen zur je gattungsspezifischen und historischen Organismus-Umwelt-Relation im Prozess der Evolution entwickeln. Hier tauchen Begriffe auf, die ähnlich wie später in der SemiotikTheorie Lotmans (2010 a,b), die ebenfalls auf Vernadskij aufbaut, eine Differenzierung zwischen graduellem und sprunghaftem Wandel erlauben, wobei die »Lebensweise« die systembildende Basis der Fortentwicklung ist. Aromorphose kennzeichnet das Auftreten neuer Eigenschaften, die zu einer Umwandlung der Lebensweise führen, Idioadaptation (Severcov) bzw. Allomorphose (Schmalhausen) kennzeichnet Prozesse der graduellen Abstimmung in der je gegebenen ökologischen Situation (vgl. Levit et al. 2004 bzw. 2006 zu Severcov bzw. zu Schmalhausen), eine Betrachtungsweise, die interessante Parallelen zu Vygotskijs Analyse ontogenetischer Entwicklungsprozesse am Beispiel des Problems der Altersstufen aufweist. Lebewesen selbst werden als komplexe, selbstregulierende Viel-Ebenen-Systeme betrachtet, die aus Prozessen ihrer phylogenetischen und ontogenetischen Systemogenese10 begriffen werden müssen. Diese wiederum kann nur im Kontext von Vernadskijs Theorie der Biosphäre als Biogeozönose11 verstanden werden. Die Biogeozönose wird auf allen Ebenen von Individuen beeinflusst, wobei diese ihrerseits in Form ihrer je gegebenen Phänotypen auf allen Stufen ihrer Lebenszyklen und verfügbaren Ressourcen im Wettbewerb mit anderen Individuen einer Population durch die Biogeozönose kontrolliert werden (Levit et al. 2006, 99). Wir haben damit methodologisch betrachtet eine Relation von Teil und Ganzem vorliegen, wie wir sie in der systemtheoretischen Diskussion unterschiedlicher Provenienz wieder finden: 10

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Vgl. zu diesem Begriff auch Anochins (epigenetische/ ontogenetische) Theorie der Systemogenese in der Entwicklung von Organsystemen in einem ganzheitlichen Organismus (Anochin 1978). Eine Biozönose (von altgriechisch bios „Leben“ und koinós „gemeinsam“) ist eine Gemeinschaft von Organismen verschiedener Arten in einem abgrenzbaren Lebensraum (http://de.wikipedia.org/wiki/Biozönose)