Systemansatz und Tätigkeitsprinzip. Methodologische Probleme der

Methodologische Voraussetzungen des system- orientierten .... der Tätigkeitstheorievor allem deshalb, weil er sie vom Stand des systemischen Den- kens aus ...
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ICHS International Cultural-Historical Human Sciences Herausgegeben von Hartmut Giest und Georg Rückriem Band 28 Georg Rückriem (Hrsg.) Erik Grigor’evič Judin Systemansatz und Tätigkeitsprinzip Methodologische Probleme der modernen Wissenschaft

Georg Rückriem (Hrsg.)

Erik Grigor’evič Judin Systemansatz und Tätigkeitsprinzip Methodologische Probleme der modernen Wissenschaft

Aus dem Russischen übersetzt von Isolde Maschke-Luschberger, Gudrun Richter und Elena Hoffmann Bearbeitet und herausgegeben von Georg Rückriem

Berlin 2009

ICHS International Cultural-Historical Human Sciences ist eine Schriftenreihe, die der kulturhistorischen Tradition verpflichtet ist – das ist jene, vor allem von Lev S. Vygotskij, Aleksej N. Leont’ev und Aleksandr R. Lurija entwickelte theoretische Konzeption, die den Menschen und seine Entwicklung konsequent im Kontext der Kultur und der gesellschaftlich historischen Determination betrachtet. Dabei kommt der Tätigkeit als der grundlegenden Form der Mensch-Welt-Wechselwirkung für die Analyse der menschlichen Entwicklung und Lebensweise entscheidende Bedeutung zu, sowohl unter einzelwissenschaftlichen Aspekten und deren Synthese zu übergreifender theoretischer Sicht als auch im Hinblick auf praktische Problemlösungen. Die Schriftenreihe veröffentlicht sowohl Texte der Begründer dieses Ansatzes als auch neuere Arbeiten, die für die Lösung aktueller wissenschaftlicher und praktischer Probleme bedeutsam sind.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Natio-nalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet unter: abrufbar.

Georg Rückriem (Hrsg.) Erik Grigor’evič Judin 2009: Lehmanns Media , Berlin www.lehmanns.de • www.ich-sciences.de ISBN: 978-3-86541-674-2 Druck: Docupoint Magdeburg

Inhaltsverzeichnis

Editorial

9

Boris Grigor’evič Judin: Mein älterer Bruder. Vorwort zur deutschen Ausgabe

11

Michael Otte: Der Beitrag E. G. Judins zur Tätigkeitstheorie im Lichte neuerer Tendenzen in der Epistemologie Einleitung zur deutschen Ausgabe

27

Vorwort der Herausgeber der russischen Ausgabe

61

Teil 1 Struktur und Funktionen des methodologischen Wissens Kapitel I.

Entwicklung und Formen des Selbstbewusstseins der Wissenschaft 1. Die Veränderung des Typs der innerwissenschaftlichen Reflexion 2. Allgemeinwissenschaftliche Konzeptionen und Disziplinen 3. Weltanschauliche und methodologische Voraussetzungen der Revolution in den Naturwissenschaften 4. Die Veränderung der Erklärungsschemata in der wissenschaftlichen Erkenntnis

Kapitel II.

63

63 65 69

75 82

Hauptaufgaben und Formen der methodologischen Analyse

87

1. Die Natur des methodologischen Wissens

87

6

Inhaltsverzeichnis

2. Allgemeine Charakteristik und Niveaus des modernen methodologischen Wissens 3. Das Verhältnis des theoretischen und methodologischen Wissens 4. Die Struktur der wissenschaftlichen Forschung 5. Methodologische Charakteristik des Prozesses der wissenschaftlichen Forschung Kapitel III. Das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft als methodologisches Problem 1. Die Wissenschaft im theoretischen Selbstbewusstsein der Neuzeit 2. Die Transformation der Vorstellungen über das Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie 3. Der Unterschied des einzelwissenschaftlichen und des philosophischen Wissenstyps

91 101 105 115 119 120 128 132

Teil 2 Der systemorientierte Ansatz, seine Entwicklung und methodologischen Grundlagen Kapitel I.

Der systemorientierte Ansatz in der modernen Wissenschaft 1. Allgemeine Charakteristik des systemorientierten Ansatzes 2. Die Hauptrichtungen der modernen Systemforschung

Kapitel II.

Die Entstehung des systemorientierten Ansatzes 1. Allgemeinwissenschaftliche Voraussetzungen der Entstehung des systemorientierten Ansatzes 2. Methodologische Voraussetzungen des systemorientierten Ansatzes 3. Funktionalismus, Strukturalismus und systemorientierter Ansatz

145

145 145 153 159 159 165 171

Inhaltsverzeichnis

7

Kapitel III. Der systemorientierte Ansatz als methodologische Richtung der wissenschaftlichen Forschung 1. Platz und Funktionen des systemorientierten Ansatzes im modernen methodologischen Wissen 2. Methodologische Struktur des systemorientierten Ansatzes 3. Zur Analyse der inneren Struktur verallgemeinerter Systemkonzeptionen 4. Der systemorientierte Ansatz und die allgemeine Systemtheorie 5. Systemstrukturelle Methodologie und dialektischer Materialismus Kapitel IV. Analyse der Grundbegriffe des systemorientierten Ansatzes

Kapitel V.

185 185 194 200 209 214 221

1. Der Begriff „System“ und seine Funktion in systemstrukturellen Untersuchungen 2. Andere Grundbegriffe des systemorientierten Ansatzes

221 226

Die Anwendung des systemtheoretischen Ansatzes auf die Konstruktion des modernen wissenschaftlichen Wissens

236

1. Systemideen in der Psychologie 2. Systemorientierter Ansatz und soziale Steuerung 3. Methoden der systemorientierten Forschung in der Ethnographie Kapitel VI. Perspektiven der Weiterentwicklung des systemorientierten Ansatzes 1. Die Grundprinzipien der allgemeinwissenschaftlichen Methodologie: Ein Vergleich des systemorientierten Ansatzes mit der Kybernetik 2. Das Prinzip der Ganzheitlichkeit in der Systemforschung

236 245 263 277

277 284

8

Inhaltsverzeichnis

Teil 3 Das Problem der Tätigkeit in Philosophie und Wissenschaft

293

Kapitel I.

Bestimmung und Funktionen der Kategorie der Tätigkeit

293

Kapitel II.

Die Evolution des Tätigkeitsbegriffs in der Geschichte des Denkens

301

1. Natur und Tätigkeit 2. Von der Natur zur Tätigkeit als erklärendem Prinzip

302 309

Kapitel III. Tätigkeit als erklärendes Prinzip

318

Kapitel IV. Tätigkeit als Untersuchungsgegenstand in der Psychologie

329

1. 2. 3. 4. Kapitel V.

Tätigkeit und gegenständliches Handeln Tätigkeit und Operation Tätigkeit und Verhalten Tätigkeit und Schöpfertum

333 336 338 341

Tätigkeit als Gegenstand der Projektierung in der Ergonomie

356

Kapitel VI. Tätigkeit und Wissenschaft

365

Nachwort der russischen Ausgabe

377

Anhang

401

Die wissenschaftlichen Arbeiten E. G. Judins

399

V. V. Davydov und Radzichovskij, Rezension des Buches von Judin

411

Personenregister

421

Literaturverzeichnis zu Teil 1

427

Literaturverzeichnis zu Teil 2

431

Literaturverzeichnis zu Teil 3

449

Editorial

Erik Grigorevič Judin gehört zusammen mit I.V. Blauberg, A.P. Ogurcov, G.P. Ščedrovickij und V.N. Sadovskij zu den profiliertesten Vertretern einer systemtheoretisch orientierten Methodologie der Wissenschaften in der Sowjetunion und ist zugleich einer der frühesten und entschiedensten Analytiker der Tätigkeitstheorie. Wegen der besonderen politischen Bedingungen seiner Biographie und wissenschaftlichen Karriere (vgl. dazu das Vorwort von Boris G. Judin in diesem Band) konnte er seine Schriften in der Sowjetunion nur unter großen Schwierigkeiten veröffentlichen. Obwohl einige seiner Aufsätze auch in der DDR erschienen, blieb die Rezeption seiner damals neuartigen methodologischen Analysen, die sich auch auf Probleme der Ergonomie, Soziologie, Psychologie, Semiotik und Pädagogik bezogen, im deutschsprachigen Raum sehr begrenzt. Insbesondere das vorliegende Buch Judins wurde außer von Michael Otte und Falk Seeger, in deren Institut für die Didaktik der Mathematik in Bielefeld die einzige Übersetzung ins Deutsche erstellt wurde, sowie von Bernd Fichtner, Joachim Lompscher und Arne Raeithel nicht rezipiert. Andererseits wurde auf dem letzten Internationalen Kongress von ISCAR in San Diego (2008) nicht zuletzt von Yrjö Engeström zu Recht darauf hingewiesen, dass die wachsende internationale Verbreitung der Tätigkeitstheorie mit einer zunehmenden methodologischen Verflachung einhergehe. Der aktuelle Bedarf an methodologischer Reflexion konzentriert sich allenfalls auf zwei anhaltende Hauptkontroversen. Sie betreffen die immer noch heftig umstrittene tätigkeitstheoretische Kontinuität von Vygotskij zu Leont’ev und die ebenfalls umstrittene methodologische Berechtigung, Tätigkeit nicht nur als Erklärungsprinzip, sondern auch als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung zu verwenden. Judin war einer der ersten, die die methodologische Bedeutung des Tätigkeitsprinzips für verschiedene Wissenschaften erforschten und sich in diesem Zusammenhang mit beiden Fragen beschäftigten. Obwohl kaum zur Kenntnis genommen, sind seine Auffassungen gerade heute hoch aktuell. Zur Verbesserung der Kenntnisse über die Biographie Judins fügen wir dieser Ausgabe die von B.G. Judin überarbeitete Fassung seines Vorworts bei, das er für ein 1997 posthum erschienenes Buch seines Bruders verfasst hatte. Die von den russi-

10

Editorial

schen Herausgebern des vorliegenden Buches ursprünglich als Vorwort gedachte, dann aber „mit Rücksicht auf die Zensur als Nachwort versteckte“ (B.G. Judin, im vorliegenden Band, S. 24) hervorragende Zusammenfassung erübrigt jeden Versuch einer neuerlichen Kurzdarstellung (und verbleibt daher, wie im Original, am Ende des Bandes). Wohl aber soll der nicht selbstverständliche Anschluß der tätigkeitstheoretischen Positionen Judins an die westeuropäische epistemologische Diskussion durch eine aktuelle Einleitung unterstützt werden, für die wir auf einen Beitrag von Michael Otte zurückgreifen. Die im Anhang beigefügte Rezension von Davydov/Radzichovskij soll den Zusammenhang mit der russischen Diskussion seiner Auffassungen herstellen. Für unverzichtbar halten wir den Beitrag Judins zur Diskussion der Methodologie der Tätigkeitstheorievor allem deshalb, weil er sie vom Stand des systemischen Denkens aus reflektiert. Dabei unterscheidet er zwischen der allgemeinen Systemtheorie und einem systemischen Denken in den Wissenschaften und verwendet dafür den Terminus „sistemnij podchod“, den wir mit „systemorientierter Ansatz“ übersetzen, um diesen Unterschied auch terminologisch zu betonen. Dieses Buch wäre ohne die Mitwirkung und Hilfe einiger freundlicher Menschen nicht zustande gekommen, die mich dazu ermutigten, das Projekt der Herausgabe dieses Buches überhaupt zu beginnen und mir durch finanzielle Unterstützung dabei halfen, die Übersetzung des Buches fertig zu stellen. Ich danke in erster Linie Isolde Maschke-Luschberger, die die Hauptlast der schwierigen Übersetzung trug, und Falk Seeger, der mir das Manuskript dieser Übersetzung überließ, sowie Gudrun Richter, die das Nachwort übersetzte, und Elena Hoffmann, die die Übersetzung des im Manuskript fehlenden Teils von Kapitel V und des Kapitels VI übernommen hat. Michael Otte danke ich für die Erlaubnis zum Nachdruck seines Beitrags. Besonders herzlich danke ich Boris G. Judin, der sich sofort bereit erklärte, das Vorwort mit wichtigen biografischen Informationen über seinen Bruder Erik G. Judin für die vorliegende deutsche Ausgabe zu überarbeiten. Er besorgte mir auch das einzige der Familie verbliebene Foto seines Bruders und stand mir jederzeit für Auskünfte und Klärungen zur Verfügung. Ihnen allen bin ich zu großem Dank verpflichtet.

Berlin, Frühjahr 2009

Georg Rückriem

Mein älterer Bruder1 Vorwort zur deutschen Ausgabe Boris Grigor’evič Judin

Mein Bruder Erik Grigor’evič Judin wurde 1930 in Niznednepropetrovsk, im Gebiet Dnepropetrovsk der heutigen Ukraine geboren. Unsere Eltern waren studierte Ökonomen und arbeiteten als Ministerialbeamte im Bereich der Eisen- und Stahlindustrie. Erik war der älteste Sohn der Familie, nach ihm wurden noch zwei Schwestern und zwei Söhne geboren. Ende der 30er Jahre, in der Zeit der Massenverfolgung in der Sowjetunion, informierte ein Freund unseren Vater Grigorij Naumovič Judin, dass geplant sei, ihn zu verhaften. Daraufhin floh er mit seiner ganzen Familie schnell nach Taganrog im Gebiet Rostov und zog einige Jahre später, Anfang der 40er, nach Moskau. Nach seinem Examen an der Moskauer juristischen Fakultät im Jahr 1951 begann Erik Judin ein Zweitstudium, diesmal in Philosophie, an der Moskauer Städtischen Fakultät für Pädagogik „Vladimir Potёmkin“. Übrigens wurden beide Fakultäten bald nach seinem Studienabschluss geschlossen. In dieser Zeit engagierte er sich als hauptamtlicher Aktivist im Komsomol und wurde 1954 sogar Vorsitzender im Studentenausschuss des Moskauer Stadtkomitees des Komsomol, so dass er sein Studium nicht fortsetzen konnte. Im Jahr 1955 kehrte Erik Judin zu seinem Zweitstudium zurück und verteidigte im selben Jahr seine Dissertation im Fach Philosophie. In dieser Zeit heiratete er die Studentin der „Vladimir-Potёmkin-Fakultät“ für Pädagogik, Irina Romanova. Später, im Jahr 1957, schrieb mein Bruder in einem Brief an die Sekretärin der Kommunistischen Partei, Ekaterina Furtseva: „Obwohl ich die Gelegenheit hatte, in Moskau zu arbeiten, ließ ich diese Möglichkeit außer Acht und bat das Bildungsministerium, mich zu einer Arbeit in der Provinz zu schicken, wo ich meiner Meinung nach für die Partei nützlicher sein könnte. Ich wurde nach Tomsk geschickt und arbeitete dort ab Februar 1956 in der Fakultät für Pädagogik als Assistent für marxistisch-leninistische Philosophie.“2

1 2

Aus dem Englischen übersetzt von Georg Rückriem.

E.G. Judin. Metodologija nauki. Sistemost’. Dejatel’nost’. Moskva, 1997, 355. Übersetzung aus dem Russischen vom Verfasser.

12

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Er wechselte in die sibirische Stadt Tomsk zusammen mit seiner Frau, die ihr Studium an derselben Fakultät fortsetzte. Gegen Ende des Jahres 1956 jedoch trafen tragische Entwicklungen seine Familie. Nach den Sommerferien, die sie in Moskau verbrachten, kehrte mein Bruder alleine nach Tomsk zurück. Seine Frau war schwanger und es war von den Verwandten beschlossen worden, dass es besser wäre, die Entbindung in Moskau zu haben. Inzwischen, im Herbst 1956, brachen die Ungarischen Aufstände los, die von den Sowjetischen Truppen heftig unterdrückt wurden. Allgemeiner formuliert, es begann eine Zeit des radikalen Umbruchs im politischen Leben der Sowjetunion. Diese Jahre wurden geprägt durch das „Chruščov’sche Tauwetter“. Auf dem 20. Parteitag der KPdSU (im Februar 1956) hielt Nikita Chruščov seine berühmte „geheime“ Rede, in der er den so genannten Personenkult um Josef Stalin verurteilte. Nach dieser Rede wurden Urteile revidiert, mit denen viele Personen für politische Verbrechen, wie z.B. antisowjetische Agitation und Propaganda usw., verurteilt worden waren, und viele Gefangene wurden frei gelassen. Die Atmosphäre war durchdrungen von der Idee der Denkfreiheit, Bücher von vormals verbotenen Autoren wurden veröffentlicht, der „Eiserne Vorhang“ wurde durchlässig und die Gesellschaft engagierte sich in leidenschaftlichen ideologischen und politischen Diskussionen. Nach der Unterdrückung des Ungarischen Aufstandes jedoch entschieden die Sowjetischen Führer, dass es zu viel Freiheit gab und dass es notwendig sei, Maßnahmen zur Stärkung der Partei und der staatlichen Kontrolle des gesellschaftlichen Lebens zu ergreifen. Eine neue Welle der politischen Unterdrückung schwappte durch das ganze Land. Natürlich waren sie nicht so hart wie die Repressionen unter Stalin, jedoch erwiesen sich ihre Auswirkungen für viele als sehr spürbar. Tomsk, die Stadt vieler Bildungsinstitutionen und dementsprechend vieler freiheitsliebender Studenten, wurde zum Hauptziel der Repressionen, die als erstes die Fakultät für Pädagogik und die Staatliche Universität in Tomsk trafen. In der Fakultät für Pädagogik begannen die Ereignisse nach einer Rede Erik Judins auf einem Parteitreffen der Fakultät. Später, im Jahr 1964, beschrieb er die Situation in einem Brief an eine offizielle Stelle folgendermaßen: „Am 14. November 1965 fand die Jahreskonferenz der Parteiorganisation der Fakultät für Pädagogik statt. Auf dieser Konferenz hielt ich eine Rede, in der ich die Tätigkeit des Parteibüros der Fakultät kritisierte. Am Ende meiner Rede berührte ich kurz zwei allgemeine Fragen und regte an, die Menschen über Partei und Staat besser zu informieren (wobei ich an die Ereignisse in Ungarn im Herbst 1956 dachte, als es zeitweise schwierig war, die Bedeutung der Ereignisse zu verstehen und die Fragen der Studenten zu beantworten), und ich schlug vor, dass die höheren Parteiorgane – die Parteikomitees des Distrikts und der Stadt – die Mitglieder der Grund-

Boris Grigorevič Judin

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organisationen der Partei regelmäßig über ihre Tätigkeit informieren sollten. Der Erste Sekretär des Parteikomitees der Stadt, M. B. Duchnin, der das Treffen besuchte, ging in der schärfsten Form auf mich los. Er nannte mich einen Heuchler, eine Person, die nur Lippenbekenntnisse zur Kritik an seine Adresse ablegte. Als ich ihn bat, Gründe für diese Anschuldigungen zu nennen, weigerte er sich. Danach sagte ich, dass sein Verhalten die Normen der Parteiethik verletze. Auf derselben Konferenz wurde ich trotz meiner beharrlichen Bitte, meine Nominierung zurückzunehmen, als Mitglied des Parteibüros gewählt. Meine Bitte wurde durch Duchnin und den Institutsdirektor Fedorov unterstützt.“3

Die erste Reaktion auf diese Rede war eher ruhig; im Gegenteil, Erik Judin wurde Mitglied des Parteibüros der Fakultät. Aber schon bald begann die Situation sich zu ändern: Die Parteibüros der Stadt und des Bezirks verlangten nach entschiedeneren Maßnahmen, und dann schaltete sich auch noch der KGB von Tomsk in den Fall ein. Bereits am 14. November hatte das Parteisekretariat des Tomsker Bezirk das Zentralkomitee der KPdSU informiert, dass „einige Kommunisten unter dem Vorwand der Erweiterung der internen Parteidemokratie versucht hatten, ungesunde und in einigen Fällen parteifeindliche Ansichten zu verbreiten. Der Dozent für Philosophie der Fakultät für Pädagogik Judin erklärte in seiner Rede, dass es eine unzulässige Situation in unserer Partei gäbe, weil gewöhnliche Kommunisten nicht in die Arbeit und Beratung von Kernfragen der Parteipolitik einbezogen würden. Dann behauptete er, dass Mitglieder des Zentralkomitees in den 20er Jahren in die Provinz gingen und die einfachen Parteimitglieder über die Tätigkeit des Zentralkomitees informierten. Jetzt sei das nicht der Fall. Das Zentralkomitee informiere uns nicht über seine Tätigkeit.“4

Um die Anspannung ganz zu verstehen, unter der sich mein Bruder befand, ist es wichtig zu erwähnen, dass an demselben Tag, dem 28. November 1956, in Moskau seine Tochter geboren wurde. Erst viel später hatte er die Gelegenheit, sie zum ersten Mal zu sehen. Der Druck auf Teile der Parteiverwaltung des Bezirks wurde immer stärker, und am 20. Dezember fand ein streng vertrauliches Treffen des Parteibüros von Kirovs Distriktkomitees der KPdSU statt. Das Büro entschied, Judin einen strengen Verweis zu erteilen, eine Verwarnung in seine Personalakte einzutragen5, seine Partei-Glaubwürdigkeit zu bemängeln, seine weitere Arbeit als Dozent in der Abteilung für Marxismus-Leninismus für unmöglich zu erklären und auf einer Parteisitzung der Fakultät die Frage seiner Entfernung aus dem Vorstand des örtlichen Parteibüros zur Diskussion zu stellen. Trotzdem versuchte die Parteigruppe der

3 Ebd., 412. Es ist wichtig, sich bewusst zu halten, dass diese Passage aus einem Brief stammt, der zu dem Zweck geschrieben wurde, die Rehabilitation zu erreichen. Das ist auch der Grund dafür, dass Eriks Kritik an der Sowjetischen Invasion in Ungarn und an anderen Aspekten der Tätigkeit der kommunistischen Partei in diesem Brief in derart sanften Worten formuliert wurde. 4

Aus dem Archiv von Tomsk ČDNI TO F. 607. OP. 1 D. 2416. L. 137-140

5

Die härteste Parteistrafe nach dem Parteiausschluss, B. G. Judin.

14

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Fakultät auf ihrer am nächsten Tag stattfindenden Sitzung, die Sanktionen abzuschwächen und beschloss, „das Büro des Stadtkomitees der KPdSU6 zu bitten, den Genossen Judin in der Parteiorganisation der Fakultät und in der Arbeit an der Fakultät zu belassen.“7 In diesen Tagen verbreitete jedoch das Zentralkomitee der KPdSU ein ziemlich hartes Rundschreiben „Über die Stärkung der politischen Arbeit der Parteiorganisationen in den Massen und die Unterdrückung des Angriffs antisowjetischer feindlicher Elemente“. Wie der Historiker Rudolf Pichoja berichtet, „ wurde bereits am 4. November auf der Sitzung des Zentralkomitees der KPdSU neben vielen Fragen im Zusammenhang mit dem Ungarnaufstand auch die spezielle Frage ‚Über die Reinigung der Institute für höhere Bildung von ungesunden Elementen’ aufgeworfen.“8 Die Motive des Rundschreibens ergaben sich aus der Tatsache, dass die sowjetischen Autoritäten nach den antisowjetischen Aktionen von 1956 zuerst in Polen und dann in Ungarn beschlossen hatten, dass die Denunzierung des Stalinschen Personenkults zu weit gegangen sei und dass jetzt eine Rückkehr zum Vorherigen notwendig sei, verbunden mit härteren Methoden des Kampfes gegen Dissidenten. Dieses Rundschreiben war von der vom Zentralkomitee der KPdSU speziell ernannten Kommission ausgearbeitet worden, die der Sekretär des ZK und Kandidat für das Präsidium des ZK Leonid Brežnev (dem späteren, seit 1964 über 20 Jahre amtierenden Partei- und Staatratsvorsitzenden der UdSSR) leitete. Am 19. Dezember 1956 wurde das Rundschreiben unter den Parteiorganisationen des ganzen Landes verteilt. „Die direkte Konsequenz des Dezember-Rundbriefs des Zentralkomitees“, schreiben Elena und Aleksandr Papovjan, „bestand im Jahr 1957 in einer anwachsenden Zahl von Aktionen als Antwort auf die (angenommenen) konterrevolutionären Verbrechen. Die daraufhin folgende Zahl der Verurteilungen war um 25% höher als 1954, mehr als doppelt so hoch im Jahr 1955 und 1956 mehr als viermal so hoch. Sicherlich kann die Zahl der 1957 Verurteilten (2.948 Personen) nicht der Zahl derjenigen gegenübergestellt werden, die während der letzten Jahre von Stalins Herrschaft verurteilt wurden (27.098 in 1952, 13.611 in 1953). Trotzdem beeinflusste diese teilweise Rückkehr krimineller Anklagen für viele Menschen nicht nur die Redefreiheit, sondern die Freiheit überhaupt.“9

6

Innerhalb der Parteihierarchie war das Stadtkomitee dem Distriktkomitee übergeordnet.

7

Aus dem Archiv von Tomsk ČDNI TO F. 321. OP. 10 D. 2. L. 97-106

8

Rudolf Pichoja, Medleno tajuščij led (1953-1958). Analitičeskie issledovanija v istoričeskoi nauke. Archiv, no. 7, 2000.

9

Elena Papovjan/Alexander Papovjan, Učastie verchovnogo cuda SSSR v vyrabotke repressivnoj politiki 1957-1958. In: Korni travy: Sbornik statej molodych istorikov. Pod red. L. S. Eremina und E. B.

Boris Grigorevič Judin

15

Als dieses Rundschreiben eingetroffen war, wurde eine Parteisitzung des Stadtbüros der KPdSU einberufen, auf der der Tagesordnungspunkt „Über den Genossen Judin, E. G.“ diskutiert wurde. In seiner Entschließung erklärte das Stadtbüro die früheren Beschlüsse nicht nur der Parteiorganisation der Fakultät, sondern auch des Distriktbüros Kirow für inkorrekt, bestätigte die Entscheidung über die Entlassung Judins aus seiner Tätigkeit und schloss ihn schließlich „wegen parteifeindlicher Reden auf der Jahresversammlung und wegen regelmäßiger Fehler und Entstellungen in seinem Philosophieunterricht“ aus der Partei aus. Zur selben Zeit hielt es „das Büro des Stadtkomitees der KPdSU für notwendig zu bemerken, dass der Beschluss des Parteibüros des Kirov-Distrikts am nächsten Morgen den Studenten in allen Einzelheiten bekannt wurde. Genosse Judin leugnete nicht, dass er Gespräche mit Studenten, manchmal auch in seiner Wohnung, hatte, in denen seine Entlassung diskutiert wurde. Es ist daher kein Zufall, dass ziemlich bald ein Schreiben von 160 Studenten beim Stadtbüro der KPdSU eintraf, in dem sie erklärten, dass der Genosse Judin während seiner Lehrtätigkeit eine korrekte Darstellung der Hauptfragen der marxistisch-leninistischen Philosophie abgab, und darum baten, ihn in seiner Anstellung an der Fakultät zu belassen.“10

Es muss wohl kaum erwähnt werden, dass solche Reaktionen der Studenten, die versuchten ihren Lehrer zu schützen, den besonders heftigen Unwillen der Parteiautoritäten des Stadtbüros erregten, und dass die Tatsache, dass Judin den Studenten von seinem Härtefall erzählt hatte, von den Autoritäten als absolut unzulässig und geradezu kriminell betrachtet wurde. Nach seiner Entlassung von der Fakultät und seinem Parteiausschluss beschloss mein Bruder, nach Moskau zu gehen, um dort eine Revision der Entscheidungen von Tomsk zu beantragen. Wie er sich später erinnerte, wurde er jedoch bereits auf dem Bahnhof von Tomsk „von dem Vorsitzenden der Parteikommission des Bezirkskomitees, Genosse Kozyrew, festgehalten, der, nachdem er mir eine faire Untersuchung des Falles versprochen hatte, mich bat, bis zur Sitzung des Parteibüros des Distriktkomitees zu bleiben, das am selben Tag stattfand. Ich blieb, war aber nicht in der Lage, auf der Sitzung irgendetwas zu sagen: Sobald ich auch nur den Mund öffnete, unterbrach mich der Sekretär des Bezirkskomitees mit Fragen wie ‚Warum hassen Sie die Partei und die Sowjetmacht so sehr?’ Das Bezirkskomitee bestätigte nicht nur die vorherigen Beschlüsse des Stadtkomitees, sondern beschloss auch noch, mir meinen Doktorgrad abzuerkennen.“11

Žemkova. Moskau, 1996. 10

Aus dem Archiv von Tomsk ČDNI TO F. 80. Оp. 4. D. 904. L. 5-7.

11

Judin, Metodologija nauki. 1997, 413.