Das Dilemma des Schreibunterrichts in Deutschland: Wenn für ...

Das Schreibmodell von Donald Murray....................................................... .... Schulkonzepte von James Britton, James Moffet und Janet Emig ...................... 65. 3.1.9.
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Jan-Christian Hansen

Das Dilemma des Schreibunterrichts in Deutschland Wenn für Schreiben im Deutschunterricht kein Platz ist

disserta Verlag

Hansen, Jan-Christian: Das Dilemma des Schreibunterrichts in Deutschland: Wenn für Schreiben im Deutschunterricht kein Platz ist, Hamburg, disserta Verlag, 2015 Buch-ISBN: 978-3-95425-806-2 PDF-eBook-ISBN: 978-3-95425-807-9 Druck/Herstellung: disserta Verlag, Hamburg, 2015 Covermotiv: © laurine45 – Fotolia.com

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Hinweis: In dieser Arbeit wird nur die männliche Form verwendet, wenn sowohl die männliche als auch die weibliche Form gemeint sind. In Zitaten wurden Doppelformen (z.B. LehrerInnen) gestrichen, ohne dass es explizit als Auslassung [...] im Zitat angegeben ist. Dies geschieht ausschließlich aus Formulierungsgründen sowie zur besseren Lesbarkeit und ist in keinster Weise wertend gemeint.

Inhaltsverzeichnis Einleitung: Schreibunterricht ist nicht gleich Schreibunterricht ................................................... 1 1.

Einführung in das Thema Schreiben und Schreibunterricht ................................................. 5

2.

Schreibforschung ................................................................................................................... 9 2.1.

Zur Geschichte der Schreibdidaktik und -forschung in den USA................................... 9

2.2.

Erkenntnisse der Schreibforschung in den USA .......................................................... 14

2.2.1.

2.4.

2.2.1.1.

Expressionistic Rhetoric – der expressive Ansatz ........................................ 15

2.2.1.2.

Rhetoric of Cognitive Psychology – der kognitive Ansatz ............................ 22

2.2.1.3.

Epistemic Rhetoric – der soziale Ansatz ...................................................... 23

2.2.1.4.

Das Schreibmodell von Donald Murray....................................................... 27

Erkenntnisse der deutschen Schreibforschung .......................................................... 34

2.4.1.

Schreibfähigkeit, Text- und Schreibroutinen....................................................... 37

2.4.2.

Schreibkompetenz............................................................................................... 43

2.4.3.

Literacy ................................................................................................................ 46

2.5. 3.

Prozesstheorien der US-amerikanischen Schreibpädagogik ............................... 15

Fazit: Unterschiede zwischen den USA und Deutschland ........................................... 47

Schreibdidaktik – institutioneller und curricularer Aufbau von Schreibunterricht in Deutschland und in den USA ............................................................................................... 50 3.1.

Schreibdidaktik und Schreibunterricht made in USA ................................................. 50

3.1.1.

Composition......................................................................................................... 52

3.1.2.

Creative Writing .................................................................................................. 55

3.1.3.

Writing Center ..................................................................................................... 57

3.1.4.

Writing Across the Curriculum ............................................................................ 58

3.1.5.

National Writing Project (NWP) .......................................................................... 59

3.1.6.

Associated Writing Program (AWP) ................................................................... 62

3.1.7.

Schreibunterricht an Schulen .............................................................................. 64

3.1.8.

Schulkonzepte von James Britton, James Moffet und Janet Emig ...................... 65

3.1.9. Schreibunterricht an Universitäten – Inhalte und Methoden von Schreibprogrammen in der universitären Schreibausbildung ............................................ 68 3.2.

Schreibunterricht in Deutschland............................................................................... 73

3.2.1. Schreiben von der Primarstufe bis zur SEK II – die curricularen und didaktischen Vorgaben an deutschen Schulen ............................................................................ 73 3.2.2.

Lehrpläne, Bildungsstandards, Fachanforderungen ........................................... 73

3.2.3.

Schreiben und Schreibprogramme an deutschen Universitäten ........................ 83

3.2.3.1.

Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität

Hildesheim ..................................................................................................................... 86 3.2.3.2.

Deutsches Literaturinstitut Leipzig (DLL)..................................................... 88

3.2.3.3. Das Kompetenzzentrum Schreiben und das SchreibArt-Programm an der Universität zu Köln .......................................................................................................... 92 4.

Schreibpraxis – Probleme bei der didaktischen Umsetzung von Schreibunterricht .......... 95 4.1.

Problem 1: Fehlende Allgemeingültigkeit und fehlende Komplexität ........................ 95

4.2.

Problem 2: Kompetenzen im Schreibunterricht ......................................................... 96

4.3.

Problem 3: Allgemeine Bildungskonzepte vs. Schülerbedürfnisse ............................. 98

4.4.

Problem 4: Literatur- statt Schreibunterricht im Fach Deutsch .................................. 99

4.5.

Problem 5: Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis ................................................ 100

4.6.

Problem 6: Das falsche Verständnis von Literatur im Unterricht ............................. 102

4.7.

Problem 7: Die Paradoxie des Schreibens ................................................................. 104

4.8.

Problem 8: Die Rolle der Lehrkraft im Schreibunterricht.......................................... 106

4.9.

Problem 9: Falsche Bildungspolitik – DESI, NAEP und PISA ...................................... 110

4.10. Problem 10: Schreibunterricht als Teil des Deutschunterrichts ................................ 121 5.

Fächerübergreifender Schreibunterricht .......................................................................... 125 5.1. Lösungsansätze für die Probleme im Schreibunterricht .............................................. 125 5.1.1. Lösungsansatz 1: Fehlende Allgemeingültigkeit, Komplexität und Paradoxie des Schreibens (Problem 1 u. 7) .............................................................................................. 125 5.1.2. Lösungsansatz 2: Schreiben im Spannungsverhältnis von Norm und Normlosigkeit – Curricula vs. Schülerbedürfnisse (Problem 2 u. 3) .......................................................... 125 5.1.3. Lösungsansatz 3: Zwischen Tradition und fehlgeleiteter Bildungspolitik – Schreibunterricht als Teil des Deutschunterrichts (Problem 4, 9 u. 10) ........................... 126 5.1.4. Lösungsansatz 4: Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis (Problem 5) ............. 127 5.1.5. Lösungsansatz 5: Falsches Verständnis von Literatur (Problem 6).......................... 128 5.1.6. Lösungsansatz 6: Rolle der Lehrkraft im Schreibunterricht (Problem 8) ............. 131 5.1.7. Fazit: Chancen und Möglichkeiten eines fächerübergreifenden Schreibunterrichts in Deutschland................................................................................................................... 132 5.2.

Effektiver Schreiben – welche Methoden sind im Unterricht wirksam? .................. 134

5.3. (K)ein Curriculum für den fächerübergreifenden Schreibunterricht – ein Konzept für das Schreiben an Schulen und Universitäten in Deutschland ............................................... 142 Schluss: Why Germany Can’t Write! ......................................................................................... 152 Literatur ..................................................................................................................................... 155

Weitere Quellen ........................................................................................................................ 163 Tabellenverzeichnis ................................................................................................................... 166 Abbildungsverzeichnis ............................................................................................................... 167 Anhang ...................................................................................................................................... 168 Anhang 1: Auflistung der ausgewerteten Metaanalysen aus Philipp 2012 (mit Nummern aus Tabelle 2 in Klammern am Ende) .......................................................................................... 168 Anhang 2: Stufen in der kognitiven Schreibentwicklung nach Kellog (Abb. 16) ................... 170 Anhang 3: Vergrößerungen der Abbildungen 3, 6, 11, 12, 13, 15 ........................................ 171

Einleitung: Schreibunterricht ist nicht gleich Schreibunterricht „Schreiben ist Denken für andere, Lesen ist Denken von anderen – und irgendwo zwischen den Zeilen wartet das Ich auf seine Entdeckung.“ Jan-C. Hansen Der Aufsatzunterricht in der Schule heißt nicht mehr Aufsatzunterricht sondern Schreibunterricht. Ansonsten bleibt sich der Deutschunterricht treu. Es werden weiterhin Aufsätze im Unterricht geschrieben und die traditionellen Aufsatzformen, wie Bericht, Erörterung, Interpretation, Inhaltsangabe und Beschreibung, sind fester Bestandteil dieses neuen Schreibunterrichts. Formal gesehen sind die aktuellsten Erkenntnisse der Schreibforschung in der Schulpraxis angekommen, objektiv und praktisch gesehen haben es nach fast 35 Jahren nicht einmal die Erkenntnisse von Hayes & Flower (1980) und Bereiter (1980) in die Schulpraxis geschafft – und wenn sie in Curricula oder didaktischen Leitbildern für Unterricht auftauchen, dann allenfalls in abgespeckter, normierter und allgemein testbarer Form. Schreiben gilt als Kulturtechnik, als Kernkompetenz und als Medium, in dem sich Lernprozesse vollziehen. Schreiben beeinflusst Lernprozesse positiv und fördert Lernen. Kurzum: Schreiben ist ein Werkzeug des Denkens und Lernens, dass das Individuum mit sich selbst, seiner Umwelt, seinen Mitmenschen und deren Meinungen konfrontiert. Schreiben trägt zu einem fruchtbaren Diskurs bei, der die kognitiven, kommunikativen und sozialen Fähigkeiten des Individuums fördert und festigt. Schreibenlernen heißt Lebenlernen. Es hilft dabei, sich selbst und seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Aufsatzunterricht allerdings in Schreibunterricht umzubenennen und darauf zu hoffen, dass sich diese Entwicklungen von selbst ergeben oder sich die Schreibkompetenz der Schüler irgendwie und irgendwann verbessert, lenkt von dem eigentlichen Schreibproblem ab: Am Schreibunterricht in der Schule hat sich nichts geändert – außer der Name. Das Potential des Schreibens für den Unterricht und für das Leben sowie die Komplexität des Schreibens sind in Forschung und Theorie zwar gleichermaßen anerkannt, aber am Schreibunterricht und wie dieser in der Praxis auszusehen hat, scheiden sich die Geister. Es kommt zu Bildungsdebatten, zu Diskussionen und sogar zu Bildungsrefor-

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men, ohne dass überhaupt eine allgemeine oder universale Theorie zum Schreiben oder zum Schreibprozess existiert. Oder metaphorisch ausgedrückt: Alle fischen im Dunkeln, glauben aber wahrhaft daran, den Fisch im Teich zu sehen, obwohl es gar keine Fisch im Teich gibt. Die Schreibforschung verfügt über Erkenntnisse und Theorien, die den Schreibunterricht verbessern könnten, aber trotz einheitlicher und in dieselbe Richtung gehender Erkenntnisse in Sachen Schreiben unterscheidet sich der Schreibunterricht nicht nur international sondern auch national von Schule zu Schule und von Universität zu Universität in Deutschland. Es gibt kein einheitliches Konzept. Das Forschungsinteresse dieser Arbeit liegt in den Chancen und Möglichkeiten eines fächerübergreifenden Schreibunterrichts in Deutschland. In dieser Arbeit wird zuweilen fächerübergreifend, fächerunabhängig und eigenständig synonym verwendet, denn das Fächerübergreifende ist dem Schreiben inhärent. Die Abwägung und Abschätzung von Chancen und Möglichkeiten eines solchen Schreibunterrichts in Deutschland bedarf erstens einer Definition, was eigentlich mit (fächerübergreifendem) Schreibunterricht und Schreiben gemeint ist, und zweitens wird ein Beispiel für einen fächerübergreifenden Schreibunterricht als Referenz benötigt, da derartige Strukturen von (Schreib-)Unterricht zuweilen in Deutschland nur sporadisch oder gar nicht existieren. Die Schwierigkeit dieser Arbeit besteht darin, von einem nicht vorhandenen Ist-Zustand auf einen Ideal-Zustand zu schließen bzw. welche Veränderungen nötig sind, um die für den fächerübergreifenden Schreibunterricht benötigten Strukturen in Deutschland aufzubauen. Als Beispiel dient Schreiben und Schreibunterricht in den USA, das mit der deutschen Auffassung von Schreiben und Schreibunterricht kontrastiert wird. Dieser Vergleich bietet nicht nur einen Ansatzpunkt für Kritik und Reflexionen, sondern von ihm ausgehend können Rückschlusse und Prognosen angestellt sowie Probleme aufzeigt werden, die mit der didaktischen Umsetzung eines fächerübergreifenden Schreibunterrichts in Deutschland einhergehen. Ein Konzept für einen fächerübergreifenden Schreibunterricht kann nur aufgestellt werden, wenn man sich im Vorfeld gleichermaßen mit Schreibgeschichte, Schreibforschung, Schreibdidaktik und Schreibpraxis auseinandersetzt. Ausgehend vom Ist-Zustand des Schreibunterrichts und seiner (historischen) Rahmenbedingungen in den

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USA und in Deutschland sollen Unterschiede hervorgehoben, Probleme aufgezeigt und didaktische Überlegungen angestellt werden, die zu Lösungsansätzen für die didaktischen (Umsetzungs-)Probleme von Schreibunterricht in Deutschland und letztlich

zu

einem

didaktischen

Konzept

für

einen

fächerübergreifenden

Schreibunterricht führen, der die Komplexität des Schreibens und des Schreibprozesses sowie das schreibende Individuum berücksichtigt. Im ersten Teil dieser Arbeit wird in die Thematik Schreiben und Schreibunterricht eingeführt und Begriffe und Differenzierungen vorgenommen, die für das Verständnis des Schreibens und des Schreibprozesses wichtig sind. Der Hauptteil der Arbeit (2., 3. u. 4. Teil) liefert durch den Vergleich des USamerikanischen mit dem deutschen Schreibunterricht wichtige Erkenntnisse, die ein Bild des fächerübergreifenden Schreibunterrichts entstehen lassen. Im zweiten Teil stehen einige ausgewählte Erkenntnisse der deutschen und USamerikanischen Schreibforschung im Blick, die durch einen kurzen historischen Abriss der Schreibdidaktik beider Länder abgerundet werden und einen Überblick darüber liefern, wie es zu den verschiedenen Auffassungen und Umsetzungen von Schreibunterricht in beiden Ländern kam. Der dritte Teil beinhaltet eine Analyse der didaktischen Umsetzung von Schreibunterricht an Schulen und Universitäten in beiden Ländern, aus dem wesentliche Unterschiede hervorgehen. Auf Grundlage dieser unterschiedlichen Auffassungen lassen sich Probleme ableiten, was den deutschen Schreibunterricht betrifft, da diese Strukturen und Rahmenbedingungen in Deutschland noch fehlen. Der vierte Teil hebt die Problemdimensionen des Schreibens und die Probleme bei der didaktischen Umsetzung von Schreibunterricht in Deutschland hervor. Die ersten vier Abschnitte der Arbeit liefern das Grundgerüst und bereiten den fünften Abschnitt vor, in dem die Entwicklung von Lösungsansätzen der didaktischen Probleme, eine effektive und wirksame Schreibförderung und die Chancen und Möglichkeiten für die Initiierung eines fächerübergreifenden Schreibunterrichts in Deutschland im Fokus stehen, die letztlich zu einem Konzept für den fächerübergreifenden Schreibunterricht führen und die fehlenden Rahmenbedingungen aufzeigen. Das Beispiel der USA soll in dieser Arbeit jedoch keineswegs als schlichtes Vorbild dienen, dass es unreflektiert zu übernehmen gilt oder das herangezogen werden soll, um

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qualitative Einschätzungen darüber abzugeben, welches Land den besseren Schreibunterricht hat. Die Chancen und Möglichkeiten eines fächerübergreifenden Schreibunterrichts hierzulande stehen und fallen mit den institutionellen Rahmenbedingungen und das Beispiel der USA soll lediglich verdeutlichen, welche bürokratischen und ideologischen Hürden überwunden werden müssen, damit ein fächerübergreifender Schreibunterricht an deutschen Schulen und Universitäten etabliert werden kann.

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1. Einführung in das Thema Schreiben und Schreibunterricht Im Vorfeld dieser Arbeit sollen zur besseren Verständlichkeit und um Missverständnissen vorzubeugen, einige Begriffe erklärt und Differenzierungen vorgenommen werden, die das Schreiben und den Schreibunterricht betreffen. Gleichzeitig dienen diese Begriffe dazu, in das Thema einzuführen. Die Schreibforschung unterscheidet in Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Eine allgemeine Differenzierung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, um das Sprechen vom Schreiben abzugrenzen, lautet: Mündlichkeit gilt als die Sprache der Nähe. Schriftlichkeit als die Sprache der Distanz. Ong (1987) bezeichnet in „Oralität und Literalität“ die Wechselbeziehung zwischen Schriftlichkeit (Schreiben) und Mündlichkeit (Sprechen) prägnant als „Neukonstitution des Denkens durch das Schreiben“. Das Schreiben richtet unser Denken neu aus und konstruiert unser Denken auf eine andere Art und Weise, denn „Schreiben und schreiben können hat etwas mit der geistigen Entwicklung von Menschen, von Individuen und von Gruppen zu tun. Der Gebrauch von Schrift verändert den Sprachgebrauch und das Denken“ (KARG 2007, 185). Das Schreiben initiiert und kennzeichnet eine Entwicklung, die noch nicht abgeschlossen ist, was sich vor allem daran zeigt, „dass es bislang noch keinen einheitlichen Begriff des Schreibens gibt, der alle historischen oder gegenwärtigen Vorstellungen und Praxen des Schreiben umfassen würde“ (vgl. WROBEL 2010, 202). Die Unterscheidung einzelner Begriffe und Teilprozesse des Schreibens, wie beispielsweise eine Differenzierung von Schreiben und Textproduktion ist im Gegensatz zur Aufstellung einer universalen Theorie für das Schreiben möglich: Schreiben ist einfach ausgedrückt, der (motorische) Vorgang bei dem Worte bzw. Schriftzeichen zu Papier gebracht werden, wohingegen die Textproduktion nicht automatisch Schreiben bedeutet oder damit zu tun hat, denn nicht immer wenn wir einen Text produzieren, schreiben wir auch (vgl. LUDWIG 1995; BECKER-MROTZEK/BÖTTCHER 2011, 12). Empirische Untersuchungen von Gould (1980) und Matsuhashi (1981) kamen zu dem Ergebnis, dass Textproduzenten bei der Erstellung ihrer Texte bis zu 70 Prozent von der Gesamtzeit pausieren und nur 30 Prozent der Zeit mit dem eigentlichen Schreiben bzw. Schreibprozess verbringen. Die Komplexität des Schreibens und der Textproduktion erfordert, dass im Schreibunterricht nicht nur die 30 Prozent (des eigentlichen Schreibens) gelehrt werden, sondern auch die anderen 70 Prozent, bei denen es sich um die

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unbewussten und kognitiven Prozesse des Schreibens handelt, die erst vom Unbewussten ins Bewusstsein der Schreiber überführt werden müssen. Diese (verborgenen) Prozesse sind ebenso wichtig wie die Vermittlung von Konventionen und Anforderungen der Textproduktion. Für die Textproduktion gelten zwei Besonderheiten: „1. Sie verändert fortwährend ihre eigene materielle Grundlage, weil der bereits vorliegende Textentwurf Einfluss hat auf die vorausgehenden Schritte. [...] 2. Schreiben greift nicht nur auf die kognitiven Voraussetzungen des Schreibers zu, sondern die Textproduktion verändert diese. Der Grund hierfür liegt in dem verlängerten Planungs- und Ausführungsprozess. Die beim Schreiben verlangsamte Sprachproduktion macht Prozesse bewusst, die in der mündlichen Kommunikation eher unbemerkt ablaufen“ (vgl. BECKER-MROTZEK/BÖTTCHER 2011, 29) Die Mechanismen und Prozesse des Schreibens sowie die Anforderungen der Textproduktion müssen im Unterricht entschlüsselt werden. Dieses Umdenken in der Schreibforschung und die Fokussierung auf die unbewusst ablaufenden 70 Prozent ist der Entwicklung von der Produktorientierung hin zur Prozessorientierung geschuldet, die Anfang der 1980er Jahre vor allem durch die Schreibmodelle und -theorien von Hayes & Flower (1980) und Bereiter (1980) ausgelöst wurde. Im Unterricht steht nicht mehr allein der fertige Texte im Zentrum der Lehre, sondern auch der Prozess seiner Entstehung – und gemeint ist mit Entstehung auch „eine Orientierung am Entwicklungsprozess der Schüler“ (vgl. ebd., 25). Eine andere Definition für den Begriff Text lautet: „Sprechhandlungen, die aus ihrer primären Situation herausgelöst und für eine zweite Sprechsituation gespeichert werden“, nennen wir einen Text (vgl. ebd., 14). Schreiben ist immer eine zerdehnte Sprechsituation/Kommunikation, da für die geschriebene Sprache die Trennung von Schreiber und Leser signifikant ist und das Schriftliche im Gegensatz zum Mündlichen dauerhaft besteht, so dass „Produktion und Rezeption zeitlich und räumlich auseinanderfallen können“ (ebd., 56f.; siehe 2.4.). Diese Trennung muss im Schreibunterricht rückgängig gemacht werden. Schreiben erfordert vom Schreiber entsprechendes Wissen, denn die „Produktion eines Textes ist eine komplexe Handlung (vgl. REHBEIN 1977), die aus mehreren Schritten besteht. Sie beginnt damit, dass der Schreiber seine aktuelle Situation so einschätzt, dass er darin einen Schreibanlass sieht. Erst dadurch wird aus den objektiven Umständen für den Handelnden eine Schreibsituation, eine Situation der schriftlichen Kommunikation. Der Schreiber entwickelt aufgrund dieser Einschätzung eine Schreibmotivation, die er anschließend in ein konkretes Ziel umsetzen muss“ (BECKER-MROTZEK/BÖTTCHER 2011, 28).

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Im Zusammenhang mit „Einschätzung, Motivation und Zielsetzung“ spricht die Schreibforschung von „kognitiven Voraussetzungen“, die ein Schreiber nachweisen muss, um einen Text zu produzieren. Das Einschätzen von (Schreib-)Situationen und Rezeptionsbedingungen erfordert „sowohl die Fähigkeit zur sozialen Kognition (Empathie, Perspektivübernahme) als auch Sachverhaltswissen, etwa über den Adressaten“, und „ist ein Schreiber motiviert, einen Text zu produzieren, benötigt er einen Schreibplan“. Das Vorhandensein von Schreibplänen setzt jedoch „entsprechendes Wissen“ voraus, die Fähigkeit selbst einen Plan zu erstellen, „auf vorhandene Pläne zurückzugreifen“ oder die Lernbereitschaft, sich das Wissen über solche Pläne anzueignen (vgl. ebd.). Die Schreibmotivation ist ein entscheidender Faktor, der im Schreibunterricht (beim Lernenden) vorhanden sein muss und Einschätzung und Zielsetzung von Texten und dem eigenen Geschriebenen werden im Rahmen des Schreibunterrichts gelehrt, trainiert und perfektioniert. Es gibt zwei übergeordnete Formen des Schreibens: 1. „Schreiben für sich selbst“ und 2. „Schreiben für andere“, die jeweils über Subformen verfügen, auf die noch detaillierter in dieser Arbeit eingegangen wird. Die Unterscheidung in Schreiben für sich selbst, vorwiegend therapeutisches und entlastendes Schreiben (z.B. Tagebuchschreiben), und Schreiben für andere, kommunikatives Schreiben, ist eine wichtige Differenzierung, wobei Schreiben hauptsächlich kommunikativen Zwecken dient und das kommunikative Schreiben (Schreiben für andere) die wichtigste Funktion in der Vermittlung von Schreibkompetenz einnimmt. „Schreiben für andere hat drei Funktionsbereiche: • Erkenntnis stiftet ein Text, wenn er neues Wissen vermittelt, wie bei einer Nachricht, oder Wissen bearbeitet, wie beim Argumentieren. • Praxis stiftet ein Text, wenn er den Leser zu einer Handlung bewegt, beispielsweise bei Aufforderungen oder Anleitungen. • Gemeinschaft stiftet ein Text, wenn er den Leser einbezieht in einen sozialen Kontext, so, wie es bei erzählenden Texten der Fall ist, die eine Erzählgemeinschaft etablieren und den Leser teilhaben lassen an der Geschichte des Schreibers“ (ebd., 15) Becker-Mrotzek und Böttcher weisen daraufhin, dass ein Schreiber jedes Mal, wenn er einen anderen Menschen zu einer Handlung bewegen möchte, dies nicht tun kann, „ohne ihm Wissen zu vermitteln und Gemeinschaft zu stiften“. Für den Text gilt dasselbe: Texte vermitteln stets Wissen und tragen zur Bildung einer Gemeinschaft bei,

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bestehend aus Autor und Leser, die zeitversetzt miteinander kommuniziert. Diese Kommunikation kann glücken oder auch nicht. Ein Autor kann die Bedürfnisse von Lesern lediglich antizipieren, aber nicht zu hundert Prozent treffen. Es handelt sich beim Schreiben allenfalls um eine kommunikative Annäherung, aber auch diese Annäherung erfordert Wissen, (Schreib-)Fähigkeiten, (Schreib-)Strategien und eine Menge Übung. Schreiben ist nicht allein auf den kommunikativen Aspekt beschränkt, so hat auch das Schreiben für sich selbst drei grundlegende Funktionen: Erstens stiftet Schreiben auch Erkenntnis für den Schreiber selbst, er lernt im Schreibprozess und der Textproduktion komplizierte „Sachverhalte, Probleme oder Planungsprozesse“ aufzuschlüsseln und je geübter ein Schreiber darin ist, desto „leichter verarbeitet und versteht“ er diese. Schreiben für sich selbst dient „der Bewusstmachung und Wissensbildung“, eine Form, die „auch als heuristisches und epistemisches Schreiben“ bezeichnet wird. Zweitens erfüllt Schreiben eine Speicherfunktion, mit Schrift und Texten stehen „Mittel bereit, um Wissen außerhalb des Gedächtnisses zu speichern“. Drittens wirkt Schreiben psychisch entlastend, indem man etwas nach außen bringt, das einen innerlich belastet“ (vgl. ebd., 16). Schreibunterricht versucht diese beiden übergeordneten Formen (inklusive aller Subformen) des Schreibens miteinander zu koppeln und zusätzlich die Dimension der Gesellschaft einzuführen, in die der Schreiber sich als soziales Wesen zu integrieren versucht und die die Normen und Konventionen des sozialen Zusammenlebens diktiert. Schreiben und vor allem der Schreibunterricht sieht sich, angesichts dieser drei Dimensionen des Schreibens, mit einigen Problemen konfrontiert: Es gibt unzählige Theorien und Begriffe. Aus diesem Grund sollen alle für den Schreibunterricht und für diese Arbeit relevanten Theorien und Begriffe im nächsten Kapitel unter Berücksichtigung der US-amerikanischen und der deutschen Schreibforschung weiter ausdifferenziert werden.

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2. Schreibforschung 2.1. Zur Geschichte der Schreibdidaktik und -forschung in den USA Irrtümlicher Weise werden die Erkenntnisse der Schreibforschung Anfang der 1980er Jahre in den USA, die auch Einfluss auf Deutschland hatten, als entscheidende Entwicklung bezeichnet, durch die „nicht mehr der Text als fertiges Produkt im Vordergrund steht, sondern die Prozesse (dahinter), die notwendig sind, um einen Text zu verfassen“ (vgl. WROBEL 2010, 203). Die entscheidenden Veränderungen, damit dieses Umdenken überhaupt möglich war, setzen jedoch weitaus früher in der Geschichte der USamerikanischen Schreibpädagogik an, und viel wichtiger erscheint in diesem Kontext ohnehin die Entwicklung von composition und creative writing zu sein, wodurch Schreiben in den USA den Status eines eigenständigen Faches erhielt. „Der Ursprung US-amerikanischer Schreibpädagogik wird gern als Ergebnis einer Entwicklung ‚from Rhetoric to Composition‘ beschrieben“ (BRÄUER 1996, 26). Die Rhetorik, in der der geschriebene Text als Vorlage für den mündlichen Vortrag (scripted speech) galt, entwickelt sich immer mehr zum Gegenstand stillen Lesens (silent prosa), der in composition im Zentrum steht. Diese Entwicklung, die sich im 18. und 19. Jahrhundert vollzieht, geht einher mit der Ersetzung des Lateinischen als Lehrsprache durch das Englische, aber die Etablierung von English Composition als eigenständiges Fach gelingt erst zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (vgl. ebd.). Schreiben

„als

Medium

Weiterentwicklung

von

und

Mittel

Wissen“

zur

sowie

Aufarbeitung, als

Verarbeitung

„Methodeninventar

und

moderner

Kommunikation“ verlangt vor allem in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts und zu Zeiten der rasanten industriellen Entwicklung in den USA nach Erweiterung. Der klassisch-rhetorische Ansatz des Schreibens kann allein aufgrund des öffentlichen und privaten Informations- und Nachrichtenaustausches nicht mehr als schlichte schriftliche Repräsentation

des

Mündlichen

beibehalten

werden.

So

wächst

mit

der

Weiterentwicklung von Schreibutensilien wie Papier und Schreibgerät auch das kommunikative Bedürfnis und die Tätigkeitsstruktur des Schreibens an sich (vgl. ebd., 27). Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung zu Beginn des 19. Jahrhunderts strömen junge Menschen aus der middle class an die Universitäten des Landes, die ihren

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