Christophorus Vor langer Zeit lebte einmal ein Mensch, groß und stark ...

Nachdenklich pfiff er seinem Hund, der die Schafe zusammen trieb. Dann wandte er sich um. „Bleib bei uns“, sagten die Dorfbewohner zu ihm. Doch der Riese ...
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Christophorus Vor langer Zeit lebte einmal ein Mensch, groß und stark. „Seht, da kommt der Riese“, flüsterten die Leute, wenn sich er sich zeigte. Rasch traten sie dann in den Schatten ihrer Häuser oder verbargen sich in einer der winkligen Gassen. Sie fürchteten sich vor ihm. Denn er war groß wie ein Baum und viel stärker als ein Bär. „Er hat Kraft zum Baumausreißen“, sagten die Leute. Ein Baumstamm samt Wurzeln diente ihm auch als Stock und Stab, wenn er unterwegs war. Doch obwohl er riesengroß und riesenstark war, hatte er nichts zu lachen. Er lebte in einer Hütte weit draußen am Rand der Wüste. Hier saß er oft stundenlang alleine auf der Türschwelle und starrte vor sich hin. Er war traurig. Er wusste mit seinen Kräften nichts anzufangen. Keiner sah ihn an und bewunderte ihn. Keiner brauchte ihn. Keiner mochte ihn. So aber kann kein Mensch leben. Der Riese war verbittert, hässlich und traurig. Reprobus nannten ihn die Menschen: den Hässlichen, den Verdammten. Eines Tages zog Reprobus mit seiner Schafherde durch das Dorf. Da begegnete er einem Ochsenkarren, der von der Straße abgekommen war. Zornig schlug der Fuhrmann auf die Ochsen ein. Als er aber den Riesen kommen sah, verkroch er sich hinter seinem Wagen. Reprobus überlegte nicht lange. Er spannte die Zugtiere aus. Dann hob er das schwere Gefährt hoch, als ob es ein Spielzeug wäre, und stellte es zurück auf die Straße. Die Leute aus dem Dorf hatten Reprobus beobachtet. Sie verließen ihre Häuser und kamen näher. Neugierig umringten sie den starken Mann. Zum ersten Mal hatten sie keine Angst vor ihm. Der Riese stand unbeholfen da. Immer mehr Menschen drängten sich um ihn. Sie flüsterten miteinander und bestaunten ihn. Plötzlich redete eines der Kinder ihn an: „Du bist so stark! Warum dienst du nicht dem mächtigsten Herrn der Welt?“ Reprobus zuckte zusammen. „Wer ist der Herr der Welt?“ wollte er wissen. Doch er bekam keine Antwort. Der Riese wunderte sich. Gab es denn einen Herrscher, der mächtiger war als alle anderen? Wen hatte das Kind gemeint? Nachdenklich pfiff er seinem Hund, der die Schafe zusammen trieb. Dann wandte er sich um. „Bleib bei uns“, sagten die Dorfbewohner zu ihm. Doch der Riese schüttelte nur den Kopf. In dieser Nacht schlief Reprobus sehr unruhig. Immer wieder musste er an die Frage des Kindes denken: „Warum dienst du nicht dem mächtigsten Herrn der Welt?“ Der Schweiß stand ihm auf der Stirne. Schließlich erhob er sich von seinem Lager. „Ich will den Herrn der Welt suchen“, murmelte er und griff nach dem Hirtenstab. Als er aus seiner Hütte trat, funkelten die Sterne am Himmel. Reprobus ging fort, ohne sich noch ein Mal umzusehen. Er ging nach Osten zu einem König, von dem er gehört hatte, er sei reich und mächtig; er herrschte über viele Länder und besitze ein großes Heer. „Wenn ich diesem König diene“, dachte der Riese, „habe ich teil an seiner Macht, an seinem Glanz.“ Der König fand Gefallen an der Größe und Stärke des Riesen. Er stellte ihn in seinen Dienst. Und weil es keinen gab, der sich mit der Kraft des Riesen messen konnte, machte ihn der König bald zum Anführer all seiner Soldaten. Nun war Reprobus jemand. Jetzt hatte er Ansehen. Alle Soldaten mussten auf sein Wort hören, seinem Wink gehorchen. Die Feinde aber gerieten vor dem Riesen und seinem gewaltigen Heer in Schrecken. Sie wandten sich ab, ergriffen die Flucht. Wenn Reprobus dann siegreich von der Schlacht nach Hause kam, rühmten die Sänger am Hof des Königs des Riesen Größe und Stärke. Er hatte nun, was er suchte: Ansehen und Bewunderung. Als Reprobus eines Tages wieder einen großen Sieg errungen hatte und gepriesen wurde: „Er fürchtet Tod und Teufel nicht“, rief der König unwillig aus: „Lasst mir den Teufel aus dem Spiel und auch den Tod!“ Reprobus aber hatte es bemerkt, wie der König bei dem Wort Teufel zu Tode erschrocken war und er wusste nun, da gibt es einen, der noch viel größer und mächtiger ist als der König. Nun hatte es sich Reprobus aber in den Kopf gesetzt, dem mächtigsten Herrn dieser Erde zu dienen. So verließ er den König, um von nun an in den Dienst des Teufels zu treten. Wo aber war dieser zu finden? Wie konnte man sein Diener werden? Es war nicht schwer, den Herrn des Bösen zu finden. Böses geschieht überall auf der Welt. Überall gibt es die Lüge, den Hass, Neid und Streit. Es war auch nicht schwer, diesem Herrn zu dienen. Es ging dem Riesen leicht von der Hand, die böse Saat auszustreuen, die Menschen anzustiften, immer rücksichtsloser zu werden, immer mehr haben zu wollen. Es war ein Kinderspiel, den Unfrieden zu verbreiten. Freilich, glücklich wurde der Riese dabei nicht. Sein Herz verhärtete sich und sein Gesicht verfinsterte sich mehr und mehr. Doch eines Tages machte der Riese eine Entdeckung. Mit dem Bösen unterwegs um Böses zu verbreiten, kamen sie an eine Wegkreuzung. Und da stand ein Kreuz. Daran hing ein Mensch, ausgespannt zwischen Himmel und Erde, die Arme ausgestreckt, als wolle er Menschen an die Hand nehmen und sie zur Mitte führen, zu seinem Herzen. Der Gekreuzigte schien nichts als reine Güte und Liebe auszustrahlen. Der Teufel aber konnte ihm nicht ins Auge sehen. Mit Furcht und Zittern wandte er sich ab und machte einen großen Bogen um das Kreuz. Da wurde es Reprobus leicht ums Herz. ER wusste nun, er konnte vom Bösen ablassen. Da gab es einen, der viel größer und mächtiger als der Teufel war, auch wenn er scheinbar hilflos und ganz ohne Macht am Kreuze hing! „Aber wer ist dieser Gekreuzigte und wie diene ich ihm?“ dachte der Riese. Die Leute, die Reprobus danach fragte, wiesen den Riesen in einen Wald, wo ganz zurückgezogen und still ein frommer Mann, ein Einsiedler in seiner Hütte hauste. Der könnte von dem Mann am Kreuz erzählen. Reprobus suchte den frommen Mann und blieb bei ihm lange Zeit. Er konnte nicht genug von dem Gekreuzigten hören. Er erfuhr, dass dieser Jesus heiße; dass Jesus viele Menschen von ihrer Angst befreit und ihnen Mut zum Leben gegeben habe; dass er Kinder in die Arme genommen und gesegnet habe und viele Kranke geheilt. Dass

er, obschon von seinen Feinden ans Kreuz geschlagen und getötet, am dritten Tage von den Toten auferstanden sei; dass er der wahre Sieger über Tod und Teufel sei. „Ihm allein will ich dienen“, entschloss sich der Riese und er bat den Einsiedler, ihm zu zeigen, wie er in den Dienst dieses Jesus treten könne. „Mach es wie ich“, gab der fromme Mann zur Antwort. „Bau dir hier in der Stille und Einsamkeit des Waldes eine Hütte. Bete und faste!“ Der Riese wurde traurig. „Ich kann das nicht“, sprach er. „Siehst du nicht meine Kraft in den Armen, in den Beinen, meine Kraft zum Baumausreißen? Gibt es denn nichts, wo ich diese Kraft einsetzen kann?“ Der Einsiedler dachte lange nach. Dann wusste er Rat. „Ein jeder diene Jesus mit den Kräften, die ihm gegeben sind. In der Nähe fließt ein wilder, reißender Fluss. Hörst du, wie er tost und braust? Keine Brücke führt darüber. Kein Boot kann ihn überqueren. Doch du bist groß und stark. Du könntest Menschen über seine gefährlichen Wasser ans andere Ufer tragen.“ Ja, das war etwas ganz nach dem Herzen und den Kräften des Riesen. Er befolgte den Rat des Einsiedlers, baute seine Hütte an das Ufer des Flusses und trug bei Tag und bei Nacht Menschen über die wilden Wasser. Sieben Jahre tat er unverdrossen seinen Dienst. Da rief ihn eines Nachts eine helle Stimme: „Fährmann, hol über!“ „War das nicht ein Kind, das da gerufen hat?“ dachte der Riese. Eilends stand er auf, und wahrhaftig, da stand mitten in der Nacht ein kleines Kind am anderen Ufer und wollte über den Fluss getragen werden. Der Riese nahm seinen großen Stock und stapfte ins Wasser. Er hob das Kind auf seine Schultern, um es durch die Flut zu tragen. Doch mitten im Fluss wurde ihm die Last so schwer. Es war ihm, als trüge er in dem Kind Himmel und Erde zugleich. Schon standen ihm die Wasser bis zum Hals. Mit letzter Kraft erreichte er das Ufer. Mit Verwunderung und Staunen nahm er das Kind von seinen Schultern. „Wer bist du?“ fragte er. Das Kind aber schaute den Riesen mit Augen an, die ihm das Herz ganz warm werden ließen und antwortete: „Ich bin der, den du suchst, Christus, der wahre Herr über Himmel und Erde. Es ist ein Geheimnis: Im Schwächsten trägst du den Mächtigsten. Im Kleinsten dienst du dem Größten. Im Geringsten achtest du den Höchsten. Dir gebe ich aber nun einen neuen Namen. Nicht mehr Reprobus sollst du heißen, der Verdammte, sondern Christophorus, der, der Christus trägt. Dies soll dir zum Zeichen sein: Stecke deinen dürren Stock in die Erde. Er wird dir grünen und blühen.“ Der Riese tat, was ihm das Kind geheißen. Als der Morgen kam, war der Riese voller Staunen. Aus dem dürren, toten Baumstamm war ein großer Baum geworden mit mächtiger Krone, reich an Ästen, Zweigen, Blüten und Blättern. Und als der Riese sein Gesicht im Wasser des Flusses wusch, sah er, dass es sich gewandelt hatte. Nicht mehr verbittert und hässlich war es, nein, es war ganz menschlich und schön geworden.