Blackbox Gardening

mit versamenden pflanzen gärten gestalten reif | kres s | be cker ... Die Menschheit hat die Natur in Nationalparks und geschützten. Biotopen gerettet, da ...
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jonas reif | christian kress | jürgen becker

m i t v e r s a m e n d e n p f l a n z e n g ä r t e n g e s ta lt e n

jonas reif | christian kress | mit fotos von jürgen becker

m i t    v e r s a m e n d e n    p f l a n z e n    g ä r t e n    g e s ta lt e n

Inhalt

l a sset d i e sp i e l e b eg i n n e n

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Vorwort

Samen und Initialpflanzen verwenden Ein Korn oder tausend Pflanzen?

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Gut vorbereitet ist halb geblüht Den Boden verbessern Wie man’s kennt: die Pflanzung Selbst aussäen – auch kein Problem!

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Wolfram Kunick – Pionier der Pioniere

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Wie man einen Standort verändert Den Boden abmagern Oberflächenstruktur verändern pH-Wert erhöhen pH-Wert absenken Weitere Möglichkeiten

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Einen Garten von unten gestalten

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het vl ackel an d – schn ell erblüh t e dyn amische pr acht

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was i st bl ackbox-garden ing ?

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Die Blackbox – was haben Gärten damit zu tun?

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Vorteile und Potenziale Sind Blackbox-Gärten aufwendig?

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Die Strategie versamender Pflanzen

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Wer früher stirbt, lebt vorher intensiver Einjährige Zweijährige Mehrjährig einmalblühende Pflanzen Kurzlebige Stauden Langlebige Stauden

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d ung eness – ein bl ackbox- garten von mut ter natur

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p f leg e- un d g e sta ltun gsstr ategien

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Lässt sich die Dynamik bändigen?

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Die Geister, die ich rief ...

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Jedes Bild braucht einen Rahmen Das Geheimnis des „Dutch Wave“

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Ton ter Linden – Blackbox beeindruckend

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Mind the Gap – Pflanzen in Spalten und Fugen In der Horizontalen In der Vertikalen

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Ein Kalksplitt-Beet entsteht

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Wiesen – Blackbox-Gardening im großen Stil

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Die Kunst des Wegnehmens Die Reichblühenden Die Erhabenen Die Lückenfinder Die Bodenständigen

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Gärtnern mit der Zeit Keimlingsstadium Während des Aufwuchses Zu Beginn der Blüte Während der Blüte Zum Ende der Blüte Nach dem Samenfall

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Nur der Wandel ist stetig

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walt ham pl ace – n at ü rlichke it fo rmal ger ahmt

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b l ack b ox-p fl a nze n Arten für Fugen, Kies- und Splittbeete Arten für Blumenbeete Arten für sonnige Staudenpflanzungen Arten für den Halbschatten und Schatten

se rvi ce Bezugsquellen Gezeigte Gärten Zum Weiterlesen Register Nachwort & Dank Die Autoren

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Vorwort Ein Mensch ist klinisch tot, wenn es zu einem Ausfall des HerzKreislauf-Systems gekommen ist. Klinisch tot ist aber auch eine passende Umschreibung, wenn man die neuen „Gärten“ betrachtet, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts unsere Städte und Ortschaften prägen: großformatige Plattenbeläge (dazwischen unkrauthemmender Fugensand), Flächen mit buntem Rindenmulch (darunter Unkrautvlies) und meterhohe Gabionenwände. Der Rasen wird dank Mährobotern bei 2 cm eingefroren und Gehölze – welche auch immer – werden regelmäßig zu oval-kugeligen Grünobjekten zurechtgestutzt. Für Akzente sorgen Buddhas, Granitstelen und die Beleuchtung bei Nacht. Die blühend gekauften Topfpflanzen werden – wenn sie bis dahin überleben – im Herbst entsorgt. Nächstes Jahr gibt es ja neue! Die Menschheit hat die Natur in Nationalparks und geschützten Biotopen gerettet, da brauchen wir sie nicht auch noch neben der Terrasse, scheint das Credo von Gartenbesitzern zu lauten, die gerade ihren Kindern das Geräusch einer Biene auf der Tierstimmen-App vorspielen und nebenbei eine neue LandlustAusgabe in ihren Lounge-Möbeln genießen. Waren wir von der Natur jemals weiter entfernt als heute?

Über Jahrhunderte versuchte der Mensch mit viel Fleiß, der Natur Nahrung und Schönheit abzutrotzen, und erntete dafür Erfolg und Misserfolg, was letztlich aber dennoch zu wichtigen Erkenntnissen führte. Das Paradies, ein Garten, in dem der Mensch nichts tun muss, wird immer eine Utopie bleiben. Zum Glück. Denn es gibt nichts Schöneres, als den Lohn seiner Arbeit so hautnah und gegenwärtig zu spüren, wie direkt vor unserer Haustür. Man gärtnert nie alleine: Die Natur ist immer mit dabei. Es liegt an uns, welche Rolle sie einnimmt. Sie als Feind zu betrachten, ist wenig hilfreich, denn in dieser Position ist sie uns weit überlegen. Aber sie ist auch keine Freundin per se, sondern will gefordert werden, man soll mit ihr spielen. Und genau auf solch ein Spiel sollten wir uns einlassen. Nichts macht mehr Spaß, als Dinge zu gestalten, die von einer unsichtbaren Hand mal in die eine, mal in die andere Richtung gelenkt werden und so zu etwas Einmaligem werden. Etwas, das es nirgendwo zu kaufen gibt, etwas, das man sich von niemand so bauen lassen kann ...

Stockrosen (Alcea rosea), Wegwarten (Cichorium intybus) und Königs­kerzen (Verbascum spec.) umsäumen ein traditionelles Haus auf der Ostseeinsel Bornholm. Oft reichen schon wenige Zentimeter offener Erdboden und ein schützender Dachvorsprung, um einen lebendigen, blütenreichen „Garten“ anzulegen.

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wa s ist b l ackbox-g ar deni n g?

Blackbox-Gardening ist eine sich vom traditionellen Gärtnern unterscheidende Philosophie des Gestaltens und Pflegens von Gärten, die beide Aspekte eng miteinander verknüpft. Es wird nicht gegen, sondern mit der Natur gearbeitet, Dynamik und Zufall nehmen in diesem Prozess eine bedeutende Rolle ein. Die Verwendung von versamenden Pflanzen ist das wesentliche Merkmal eines Blackbox-Gartens. Doch es gehört noch mehr dazu …

di e bl ac kbox

Die Blackbox – was haben Gärten damit zu tun? Unter einer Blackbox verstehen Wissenschaftler ein System, das nur von außen betrachtet werden kann. In der Verhaltensbiologie wird die Blackbox zum Beispiel als eine Metapher für psychische und kognitive Prozesse gesehen, die (noch) nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden zu beschreiben sind. Man kann die Einflussgrößen und -mengen messen, und ebenso das, was das System als sogenanntes Output wieder verlässt. Durch die Veränderung der Einflussgrößen ändern sich auch die Ergebnisse. Dennoch bleibt die genaue Funktionsweise der Blackbox im Unklaren. Ähnlich verhält es sich in einem Garten, in dem natürliche Prozesse zugelassen werden. Hier können zwar die standört­ lichen Gegebenheiten wie Boden-, Licht- und Feuchtigkeitsverhältnisse ermittelt und potenzielle „Saatgutlieferanten“ ausfindig gemacht werden, dennoch kann nie genau vorausgesagt werden, welcher Sämling an welcher Stelle und in welchem Umfang auftreten wird – die Einflussgrößen sind zu vielfältig! Gerade das Unerwartete ist es, das uns immer wieder ins Staunen versetzt: Wenn plötzlich eine Pflanze in Erscheinung tritt, die wir seit Jahren nicht gesehen haben. Oder wenn in einem Jahr eine Art in einem bis dato unbekannten Umfang in Blüte steht. Oder wenn durch Hybridisierung plötzlich neue Farben und Formen darunter sind. Was genau die Ursache ist, bleibt ein Rätsel. Aber wir können dazu beitragen, unseren Garten noch etwas mysteriöser werden zu lassen. Bei einer konventionellen Gartenplanung werden für jeden Bereich detaillierte Bepflanzungspläne ausgearbeitet, eine bestimmte Gestaltungsidee wird also durch genau platzierte Pflan-

zen umgesetzt. Anschließend erhält der Gärtner die Aufgabe, die Bepflanzung so zu pflegen, dass sie den angedachten Zustand erreicht und ihn dann möglichst langfristig behält. Auch beim Blackbox-Gardening existiert am Anfang eine Vorstellung davon, wie der Garten einmal aussehen könnte. Statt vieler Pflanzen, die man entsprechend eines Planes an einen „endgültigen“ Standort setzt, werden jedoch geeignete Arten in Form von Samen oder wenigen Initialpflanzen in den Garten eingebracht. Mit der Zeit „suchen“ sich deren Abkömmlinge Stellen, an denen sie sich dauerhaft erhalten können. So entsteht von selbst eine Bepflanzung, die nur durch Einzelentnahmen und größere Bestandsreduktionen gelenkt wird. Je artenreicher diese Kompositionen sein sollen und umso mehr man mit ihnen konkrete gestalterische Ziele verfolgt, desto mehr erfordern sie zeitlich passende Eingriffe. Gezieltes Ein­greifen setzt jedoch eine kontinuierliche Beobachtung der Vorgänge im Garten voraus – ein weiteres Merkmal des Blackbox-Gardenings. Um eine besonders vielfältige Vegetation zu erhalten, ist es außerdem möglich, einzelne Standorte im Garten entsprechend den Bedürfnissen gewünschter Arten anzupassen. Aber dazu später mehr ... Blackbox-Gardening ist in seinen Bestandteilen nichts Unbekanntes, sondern eine Verknüpfung von Vorhandenem. Es handelt sich um eine konsequente Weiterentwicklung eines gestalterischen und philosophischen Ansatzes, der uns zu ganz neuen, hochdynamischen und dadurch besonders lebendigen Gärten führt. Haben Sie Lust, sich auf ein Experiment mit vielen Blüten(er)folgen einzulassen?

? Blumenwiesen kommen nur dort vor, wo konkurrenz­stärkere Pflanzen aus klimatischen Gründen oder durch die Einwirkung des Menschen nicht überleben können. Crested Butte ist ein beliebtes Wintersportzentrum in Colorado, USA . Im Sommer sind auf den artenreichen Hochgebirgswiesen unter anderem Akeleien (Aquilegia caerulea), Lupinen (Lupinus argenteus) und der orangerot blühende Indianerpinsel (Castilleja linariifolia) zu entdecken.

Input

Output

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wa s i st b l ack b ox- g a r den in g?

Vorteile und Potenziale Warum sollte man am bekannten, vertrauten Gärtnern etwas ändern – immerhin hat es über Jahrhunderte hinweg gut funk­ tioniert und zu passablen Gärten geführt? Eine Frage, die berechtigt ist. Doch die Zeiten ändern sich, und damit auch unsere Vorstellungen und Wünsche, die wir mit einem Garten verbinden oder in diesem verwirklichen wollen. Viele der heutigen Erwartungen an einen Garten und dessen Ausstattung lassen sich durch das Blackbox-Gardening erfüllen. __ Für Ungeduldige. Trotz der „zusätzlichen“ Keimung und Versamung sind Ergebnisse schnell sichtbar. Viele der vorgestellten Pflanzen blühen schon im ersten oder zweiten Jahr und bleiben danach dauerhaft im Garten erhalten. __ Farbenfroh und blütenreich. Viele der geeigneten Arten sind kurzlebig und somit darauf angewiesen, sich reich zu vermehren. Und dies geht in der Natur am besten durch einen farbintensiven, reichen Blütenflor und viele Samen. __ Ein Naturerlebnis. Man wird zum hautnahen Beobachter von Lebenszyklen – also dem Keimen, Heranwachsen, Blühen, Fruchten, Versamen und Vergehen. Pflanzen werden genau so wahrgenommen, wie sie von ihrem Charakter her sind – ohne ständiges Zurückschneiden und Drangsalieren. Hoch­ gezüchtete, sterile Sorten, die nur einen geringen Wert für die Tierwelt haben, finden sich in Blackbox-Gärten nicht. __ Keine ausufernde Wildnis. Durch das Hinzufügen von Arten und das Entfernen von überzähligen Pflanzen wird nach ästhetischen Kriterien gestaltet. Blackbox-Gardening

beschränkt sich nicht dogmatisch auf heimische Pflanzen, jedoch sei jedem natursensiblen Gärtner ans Herz gelegt, auf potenziell sich gefährlich in die freie Natur ausbreitende Arten zu verzichten. __ Kombination aus Neuem und Vertrautem. Blackbox-Gardening und traditionelles Gärtnern können nebeneinander existieren. Durch den entstehenden Kontrast können die Eigenheiten beider Ansätze sogar noch positiv verstärkt werden. __ Fast überall möglich. Blackbox-Gardening funktioniert in eingewachsenen wie noch jungfräulichen Gärten gleichermaßen. Blackbox-Gardening bedarf aber nicht einmal eines eigenen Gartens, sondern funktioniert überall, wo sich etwas Humus ansammeln kann, sei es auf Balkonien, in einer Spalte des Gehweges, in den Fugen einer Mauer oder auf einem Flachdach, das mit Kieselsteinen bedeckt ist. __ Überraschende Effekte. Da kein projiziertes Bild einer Bepflanzung versprochen wird oder etwa kostbare Pflanzen verloren gehen, gibt es auch kaum Negativerlebnisse. Im Gegenteil: Unerwartetes begeistert noch stärker. __ Preiswert. Statt einer größeren Stückzahl, die für eine „fertige“ Bepflanzung notwendig ist, werden nur wenige Initialpflanzen oder Samen gebraucht. __ Anfänger-geeignet. Es sind nur die wenigen Vorkenntnisse notwendig, die in diesem Buch vermittelt werden. Viele der aufgeführten Arten lassen sich relativ einfach im Garten etablieren.

Kurzlebige Pflanzen sind darauf angewiesen, reichlich Samen anzusetzen. Auch Insekten profitieren davon, weil sie mehr Nektar sammeln oder einen Teil der Samen verzehren können.

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vo rt e i le u nd pot e nz i a le

oben: Blackbox-Gardening lässt sich auf kleinstem Raum realisieren, wie hier mit dem Duft-Veilchen (Viola odorata) auf einem Balkon. unten: Vor Ort gesammelte oder gekaufte Samen sind schöne Urlaubsan­denken, die jahrelang nachwirken.

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wa s i st b l ack b ox- g a r den in g?

Im Garten von Great Dixter in England spielen versamende Pflanzen eine tragende Rolle. Selbst dort, wo man sie aufgrund der gruppenartigen Anordnung und perfekten Höhenabstimmung kaum erwarten würde – in der großen Rabatte –, haben sich mehr als die Hälfte aller Pflanzen von selbst eingefunden. Allerdings benötigt man hoch qualifizierte und speziell sensibilisierte Gärtner, um solch ein Bild über mehrere Jahre aufzubauen.

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