Badisches Wiegenlied

»Ade, und grüß die Frau Trautvetter von mir.« ... Tatsächlich hatten Frau Trautvetter und Anna erst wenige ... »Oho – du wirst mir doch nicht untreu werden?
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GITTA EDELMANN

Badisches Wiegenlied

© Sarah Koska

Freiheit Als die 18-jährige Anna am 12. September 1847 im Gasthaus Salmen in Offenburg aushilft, in dem sich Demokraten aus ganz Baden zur Diskussion versammeln, ahnt sie nichts von der bevorstehenden Revolution. Doch schon im folgenden Frühling ist nichts mehr, wie es war, und zwischen Aufständen, Barrikadenkämpfen und Besatzungstruppen müssen Anna, ihr Bruder Franz und ihre Freundin Luise ihren Weg finden. Nicht nur die politische Lage macht es ihnen nicht leicht, denn immer wieder sucht ein „Radikalenmörder“ die Stadt heim und hinterlässt junge Männer mit durchschnittener Kehle, bevor er spurlos verschwindet. Und dann ist da noch ein preußischer Spitzel aus Bonn, dessen Lächeln Annas Herz schneller schlagen lässt … Nach längeren Auslandsaufenthalten in Brasilien und Schottland lebt die geborene Badenerin Gitta Edelmann seit über 20 Jahren in Bonn und schreibt dort Romane und Kurzgeschichten für Erwachsene und Kinder, meist mit kriminellem Touch und gerne mit einem Augenzwinkern. Doch sie macht auch Abstecher in andere Genres und hat so das erste Zendoodle-Buch für Grundschulkinder veröffentlicht. Außerdem leitet sie Seminare für Kreatives Schreiben und ist in verschiedenen Autorenvereinigungen aktiv. »Badisches Wiegenlied« ist ihr erster historischer Roman.

GITTA EDELMANN

Badisches Wiegenlied Historischer Roman

Besuchen Sie uns im Internet: www.gmeiner-verlag.de © 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0 [email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2017 Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt Herstellung: Mirjam Hecht Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung einer Lithografie von Frédéric Sorrieu, 1848: © ullstein bild – Roger-Viollet Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-8392-5271-0

BADISCHES WIEGENLIED

Schlaf, mein Kind, schlaf leis, dort draußen geht der Preuß; deinen Vater hat er umgebracht, deine Mutter hat er arm gemacht, und wer nicht schläft in guter Ruh, dem drückt der Preuß die Augen zu. Schlaf, mein Kind, schlaf leis, dort draußen geht der Preuß. Schlaf, mein Kind, schlaf leis, dort draußen geht der Preuß. Der Preuß hat eine blut’ge Hand, die streckt er übers bad’sche Land, wir alle müssen stille sein, als wie dein Vater unterm Stein. Schlaf, mein Kind, schlaf leis, dort draußen geht der Preuß. Schlaf, mein Kind, schlaf leis, dort draußen geht der Preuß. Zu Rastatt auf der Schanz, da spielt er auf zum Tanz, da spielt er auf mit Pulver und Blei, so macht er alle Bad’ner frei. Schlaf, mein Kind, schlaf leis, dort draußen geht der Preuß. Schlaf, mein Kind, schlaf leis, dort draußen geht der Preuß. Gott aber weiß, wie lang er geht, bis dass die Freiheit aufersteht, 5

und wo dein Vater liegt, mein Schatz, da hat noch mancher Preuße Platz. Schrei, mein Kindlein, schrei’s: Dort draußen liegt der Preuß!

»Badisches Wiegenlied« – bekanntes antipreußisches Lied aus der Revolutionszeit (1849)

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Offenburg, 12. September 1847 Die Stadt war voller Fremder; aus allen Himmelsrichtungen waren sie nach Offenburg angereist: mit der Eisenbahn, mit Kutschen und Wagen, zu Pferd oder zu Fuß. Anna hatte der Messe am Morgen in der Kirche kaum folgen können, sie war viel zu aufgeregt. Nun stand sie vor dem Spiegel, summte eine fröhliche Melodie vor sich hin und zog ihr kariertes Kleid mit dem Spitzenbesatz am Rock glatt. Wie hatte ihr Bruder Franz noch am Frühstückstisch gesagt? »Heute wird Geschichte geschrieben!« Sie musterte ihre streng zurückgeflochtenen Locken und steckte zur Sicherheit zwei weitere Haarnadeln in den Knoten am Hinterkopf. Das würde hoffentlich eine Weile halten. »Anna? Du bist noch nicht weg?«, rief ihre Mutter aus der Küche, als die Treppe unter Annas Füßen knarrte. »Doch, jetzt gleich!« »Der Franz ist schon längst unterwegs.« Anna griff nach dem Schutenhut, setzte ihn vorsichtig auf und band die blauen Bänder zur Schleife. »Der Franz wollte sich ja vorher auch noch mit seinen Freunden treffen, ich geh direkt in den Salmen. Dann ade, bis später, Mama!« »Ade, und grüß die Frau Trautvetter von mir.« Anna zog die Tür hinter sich zu und eilte zum Gasthaus Salmen. 7

»Da bin ich! Was soll ich tun?«, rief sie und sah sich suchend in der Küche um. Hier blubberten und garten die Speisen in großen Töpfen, während mehrere Köche dem Küchenpersonal Anweisungen zuriefen. Es duftete nach angebratenen Zwiebeln und Speck. »Probieren?« »Untersteh dich!« Frau Trautvetter, die Wirtin, drohte Anna, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen. »Die Tische kannst du decken helfen, wir haben über zweihundert Anmeldungen fürs Mittagessen. Und wenn die Leute nachher zur Versammlung kommen, kannst du den Herren die Hüte abnehmen. Das schaffst du sicher besser als die Resi. Und …« Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und seufzte. »Luise ist immer noch nicht da. Dabei hat sie’s mir gestern versprochen.« »Vielleicht muss sie wieder ihrem Vater helfen.« »Das ist nicht recht, die Arbeit eines Arztes sollte eine Frau nicht tun«, sagte Frau Trautvetter und kniff ihre Lippen zusammen. Anna hob die Achseln. Luise war eben so. Sie wäre besser ein Junge geworden. Oder ihr kleiner Bruder und ihre Mutter hätten einfach nicht sterben dürfen, dann wäre sie sicher weiblicher erzogen worden. Aber Luise war immer hilfsbereit und eine treue Freundin, da konnte man ihr so manches nachsehen. Tatsächlich hatten Frau Trautvetter und Anna erst wenige Gedecke auf die Tische gelegt, als Luise ihnen zu Hilfe kam. Erleichtert atmete die Wirtin auf. »Wie viele Leute kommen wohl zu dieser Versammlung, wenn allein schon zweihundert zum Essen kommen?«, fragte Luise und griff nach dem Besteck. 8

»Sehr viele«, antwortete die Wirtin. »Guckt mal, hier.« Sie ging hinüber zum Geschirrschrank und holte ein zerlesenes Wochenblatt aus der Schublade. »Mein Mann hat nicht nur Flugblätter verteilen lassen, es steht auch in der Zeitung«, sagte sie stolz und las die Anzeige vor: »Am nächsten Sonntag, dem zwölften September, mittags ein Uhr, findet im hiesigen Gasthause zum Salmen eine Versammlung von Verfassungsfreunden aus verschiedenen Teilen des Landes statt, zum Zwecke gegenseitiger Besprechung und Verständigung.« »Mein Bruder kommt natürlich auch«, sagte Anna und rückte einen Teller zurecht. »An der Universität in Freiburg reden sie scheint’s von nichts anderem mehr. Alle wollen diesen Hecker sprechen hören.« »Aber selbst dieser Hecker wird zuerst was essen müssen, also beeilen wir uns.« Luise und Anna halfen nicht zum ersten Mal bei einer großen Veranstaltung im Salmen aus. Doch heute würden sie nicht nur ein wenig Geld verdienen, sondern auch die Gelegenheit haben, dem einen oder anderen berühmten Redner zu lauschen. Der Wirt machte sicher ein gutes Geschäft, überlegte Anna. Und vielleicht kam ja mit all den Gästen ein gutaussehender, reicher junger Mann in den Salmen, der sich auf den ersten Blick in sie verliebte … »Fertig!«, rief Luise. Anna zuckte zusammen. »Na, hast du wieder von deinem Prinzen geträumt?«, fragte Luise. Anna streckte ihr kurz die Zunge raus. Luise lachte. Ja, wer wusste schon, was dieser wunderschöne Tag noch bringen würde und welche Menschen, die sie heute zum ersten Mal sahen, in ihrer Zukunft vielleicht eine Rolle spielen würden? 9

2 Es kamen tatsächlich viele Leute zu der Versammlung der Verfassungsfreunde. Es mussten über 800 sein, die sich in den Salmensaal drängten, Anna hatte das Zählen bereits bei 117 aufgegeben. Alle Klassen waren vertreten: Handwerksgesellen, Fuhrleute und Bauernknechte ebenso wie honorige Bürger. Luises Vater, Doktor Rasch, kam mit dem Gemeinderat Apotheker Rehmann, direkt gefolgt vom Herrn Bürgermeister Rée. Dazu waren dank der Eisenbahn, deren Strecke nun schon von Mannheim bis Schliengen fertig war, viele Mannheimer und Heidelberger gekommen, die man leicht an ihrer Sprache erkennen konnte. Und – Anna war überrascht – sogar eine ganze Menge Frauen. »Ich hoffe, du kommst nicht auf so wilde Gedanken wie die Frau vom Struve«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Die meint doch tatsächlich, Frauen bräuchten auch alle möglichen Rechte.« »Franz! Jetzt hast du mich aber erschreckt!« Anna drehte sich zu ihrem Bruder um. »Du bist spät dran. Es ist schon ganz schön voll. Ah, guten Tag, Erwin, wie geht’s? Lang nicht gesehen.« Erwin, Franz’ Freund und Studienkollege, grinste. »Ja, in Freiburg gibt es eben auch hübsche Mädchen, also muss ich nicht ständig zurück nach Offenburg kommen.« »Oho – du wirst mir doch nicht untreu werden?« Luise stand plötzlich neben ihnen und streckte Erwin die Hand hin. »Aber nie im Leben!«, versicherte Erwin und deutete einen Handkuss an. »Nicht, nachdem du mir das Leben gerettet hast, liebste Luise.« 10

»Na ja, ich hab damals den Schnitt an deiner Hand verbunden, aber vielleicht hätte ich besser nach deinem Kopf schauen sollen?« »Wieso – da ist alles in Ordnung, wäre ich sonst hier bei den Verfassungsfreunden?« »Dann guckt mal, ob ihr noch einen Platz findet«, empfahl Anna mit einem Blick auf einen jungen Mann, der sich energisch durch die Menge schob. »Ich steh lieber an der Tür«, erklärte ihr Bruder, »so kann ich zwischendurch schnell mal nach draußen und mir ein Bier holen. Was meinst du, Erwin?« »Hervorragende Idee!« »Da kommt der Rudi«, sagte Luise. »Das überrascht mich jetzt.« Ein junger, hagerer Mann mit hervorstehendem Adamsapfel verbeugte sich kurz vor ihr. »Fräulein Rasch.« »Ach Rudi, sei nicht so förmlich«, wehrte Luise ab. »Wir kennen uns doch schon ewig.« Rudi Müller nickte ernst. »Aber früher warst du ein kleines Mädchen und jetzt bist du eine junge Dame.« Luise lächelte. »Mach ihm keine falschen Hoffnungen, der hat sowieso ein Auge auf dich geworfen«, flüsterte Anna ihr zu, als Rudi weitergegangen war. »Oder gefällt er dir?« Luise grinste. »Ich werde ganz bestimmt keinen Metzgergesellen heiraten, wenn ich überhaupt je heiraten sollte«, flüsterte sie zurück. »Aber irgendwie ist er putzig, der dünne Stock.« Anna schüttelte den Kopf. »Ruhe, ihr Klatschbasen, gleich geht es los«, mahnte Franz. 11

Luise nickte und machte sich auf den Weg hinauf zur Galerie, auf der viele Frauen Platz gefunden hatten. Von dort aus konnte sie sicher besser hören und sehen. Anna blieb mit Erwin und Franz bei der Tür stehen. Es war schrecklich eng und heiß in dem Saal, was das Zuhören nicht leicht machte. Anna ertappte sich dabei, dass stattdessen ihre Augen über die Anwesenden glitten und bei gut aussehenden jungen Männern stets ein bisschen länger verweilten. Mhm. Durch diese Versammlung waren eine ganze Menge interessanter Fremder nach Offenburg gekommen. Und als Oppositionelle waren sie hier auch sehr willkommen. Schließlich war der Bürgermeister selbst eines der größten Talente auf Seiten der Opposition, wie ihr Vater immer sagte. Und tatsächlich gelang es Bürgermeister Rée mit seiner kurzen Ansprache sofort, Ruhe und Ordnung einkehren zu lassen. Annas Blick schweifte weiter. Die zwei Männer da hinten waren bestimmt Eisenbahner. Und der da drüben war vielleicht ein Zeitungsreporter. Oder gar ein Spitzel? Franz hatte vermutet, dass sich Spitzel des Großherzogs einschleichen würden. Anna beobachtete den blonden jungen Mann, der sich an die rechte Wand gelehnt hatte. Immer wieder guckte er sich um und machte eifrig Notizen. Plötzlich sah er ihr direkt in die Augen. Sein linker Mundwinkel verzog sich zu einem halben Lächeln. Annas Magen sackte ein Stück ab, wie damals, als der Nachbar sie beim Kirschenklauen erwischt hatte, und sie merkte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Schnell blickte sie nach vorn zur Bühne. Das also war dieser Struve, von dem alle sprachen! Der Mann am Rednerpult war wohl um die vierzig Jahre alt und trug einen 12