Andere Umstände: Hebamme sucht Glück

am Leben blieb. »Warum passiert mir nicht so ein Unfall?«, sagte Selina mehr zu sich selbst und erschrak im gleichen Moment. Ungläubig schaute die. Frau auf ...
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Heike Jonack, selbst seit vielen Jahren als Hebamme tätig, ist mit diesem Erstlingswerk ein dichter Beziehungsroman gelungen, der Einblicke gibt in den faszinierenden aber oft auch aufreibenden Arbeitsalltag einer Hebamme – einer Hebamme, die in den 90er Jahren in den neuen Bundesländern praktiziert, zwischen Aufbruch und verkrusteten Strukturen. Gleichzeitig erzählt die Autorin mit Witz und Charme, wie die junge Hebamme Selina es schafft, neben ihrem fordernden Berufsleben den eigenen Wünschen ein Stück näher zu kommen.

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ISBN 978-3-943793-17-8 © 2013 Stadelmann Verlag Nesso 8 87487 Wiggensbach Fax 0 83 70-88 96 www.stadelmann-verlag.de E-Mail: [email protected] 1. Auflage 2013 Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Stadelmann Verlages. Lektorat: Kristina Reiss, Überlingen Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell Aktuelle Informationen zum Buch und Heike Jonack finden Sie unter www.stadelmann-verlag.de

»Glück ist kein Traum. Sondern befindet sich hinter den Mauern, die wir selbst errichtet haben.« (unbekannter Verfasser)

1. Kapitel elina öffnete die Tür, die hinaus auf die Dachterrasse der Arztpraxis führte und den Ausblick auf alte Bäume preisgab, und ließ die frische Herbstluft hinein. Die Frau, die vor ihr saß, schien von all dem nichts wahrzunehmen. Selina beobachtete sie aus den Augenwinkeln, während sie alles für die Blutentnahme vorbereitete. Die Frau sah auf ihre ineinander verkrampften Hände. Nur ihr rechter Fuß wippte schnell hin und her. »Sie machen keinen so glücklichen Eindruck.« Die Frau sah sie an. »Es ist nicht gerade ein Wunschkind. Eher ein Unfall.« Der Satz traf Selina. Während die Schwangere ihren Arm streckte und die Hand zur Faust ballte, dachte sie über das Wort Unfall nach. Ein Wort, das Frauen in dieser Situation oft benutzten. Für sie als Hebamme war ein Unfall etwas Furchtbares, etwas, das ohne Vorwarnung geschah und Leid und Schmerz mit sich brachte. Selina fragte sich, wie es Frauen, die werdendes Leben in sich trugen, möglich war, diesen Ausdruck zu benutzen. Sahen sie ihre Situation wirklich so? Weil eine Liebesnacht, in der alle Vernunft ausgeschaltet gewesen war und nur noch Gefühl und Verlangen in ihnen gewesen war, ihr ganzes Leben veränderte? Wenige Sekunden Lust – für die sie anschließend ein ganzes Menschenleben Verantwortung tragen mussten. Welche Ironie bestand darin, dass die Frau gerade in ihrer fruchtbaren Zeit so scharf auf den Mann war, den sie zu lieben glaubte. Während Selina die Spritze aus der Plastikumhüllung nahm überlegte sie, ob es wirklich möglich war, das ganze Handeln mit allen Konsequenzen zu beherrschen – und wenn ja, wo dabei der Spaß

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am Leben blieb. »Warum passiert mir nicht so ein Unfall?«, sagte Selina mehr zu sich selbst und erschrak im gleichen Moment. Ungläubig schaute die Frau auf dem Stuhl sie an. »So wie Sie aussehen, haben Sie keine Ahnung von durchwachten Nächten. Unsere beiden Kinder sind aus dem Gröbsten raus. Wir können wieder abends weggehen, einfach so, ohne Absprache, wer auf die Kleinen aufpasst. Wir können am Wochenende ausschlafen. Und vor zwei Jahren habe ich wieder mit der Arbeit begonnen. Das will ich nicht schon wieder alles aufgeben.« Selina führte die Kanüle in die Vene der Frau. »Ich wollte die Pille nicht mehr nehmen. Mein Mann hatte seit längerem das Interesse an mir verloren. Aber dann gab es diese eine Nacht. Und nun sitze ich hier. An was wird unsere Beziehung eher scheitern? An der Verantwortung für ein weiteres Kind oder daran, diese Verantwortung von sich geschoben zu haben?« »Das kann ich nicht beantworten. Sie können nur auf ihr Herz hören.« »Hören Sie denn auf ihr Herz? Warum kriegen sie nicht ein Kind, wenn sie sich eins wünschen?« Selina beschriftete das gefüllte Blutröhrchen und legte es zu den anderen in den Kühlschrank. Dann blickte sie zur offenen Balkontür hinaus. Wie konnte sie einer fremden Frau offenbaren, was sie sich selbst nicht eingestehen wollte? Dass ihr der Mut fehlte für so eine Entscheidung. Da war die Sehnsucht nach noch so einem Kind wie ihre erste, bereits vierjährige süße Tochter Fabia. Die Sehnsucht nach einer Geburt in ihrem Heim, mit Wolf, ihrem Mann, und einer Hebamme, die sie gemeinsam auswählen würden. Die Sehnsucht, wieder ein Kind an ihrer Brust zu stillen und den Wunsch ihrer

Tochter nach einem Geschwisterchen zu erfüllen. Aber sie hatte auch Angst. Angst, wie es mit ihrer Selbständigkeit weitergehen sollte. Sie brauchten ihr Einkommen, und sie kannte die Ängste von Wolf. »Weil ich nicht den Mut dazu habe, und weil ich mir nicht sicher bin, ob mein Mann es genauso gern möchte wie ich«, sagte sie leise.

2. Kapitel ie Pappeln und Birken waren hoch hinauf geschossen und der Bambusstrauch auf der kleinen Wiese wie jedes Jahr zu einem Riesenbusch herangewachsen. Rechts neben den Stühlen, die Selina vom Sperrmüll geholt und rot angestrichen hatte, wuchs Wein, dessen Blätter sich bereits gelb und rot einfärbten, an einem Spalier aus verknorpelten Ästen. Wolf hatte es errichtet. Wie alles von ihm war es einzigartig und schön, fand Selina. Links, wo der Fluss vorbei floss, rankte Efeu die Ufermauer hinauf. »Schläft Fabia schon?«, fragte Wolf, während er sich eine schwarze, halblange Haarsträhne hinter das rechte Ohr klemmte und eine Flasche Wein öffnete, von denen er stets eine ausreichende Menge im Keller deponierte. »Ich denke schon«, antwortete Selina, die ihren Mann von der Seite beobachtete – wie immer von seinen hohen Wangenknochen fasziniert, die ihm unter Freunden den Spitznamen »Der Schamane« eingebracht hatte. Obwohl er bereits vor drei Jahren die dreißig überschritten hatte, zeigte sein Gesicht keine Spur einer Falte, und auch sein Bauch war flach geblieben. Als Selina vor sieben Jahren Wolf ihren Eltern vorstellte, waren diese mit ihrer Wahl wenig zufrieden. »So ein Hämpfling« hatte ihre Mutter gesagt, und ihr Vater meinte: »Mit solchen Händen kann man doch nicht zupacken«. Doch so, wie sich Selina in Wolfs markantes und völlig ebenmäßiges Gesicht verliebt hatte, hatten es ihr auch seine feingliedrigen Hände angetan. »Er ist Feinmechaniker!«, hatte sie ihrem Vater damals gekontert. »Nicht nur was grob und schwer geht, ist eine gute Arbeit.«Bei ihrer Mutter hingegen hatte Selina geschwiegen. Denn ja,

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sicherlich hätte sie es lieber, Wolf wäre ein wenig kräftiger gebaut – schließlich liebte sie es, an einer breiten Männerbrust einzuschlafen. Dass Wolf ihre Körpergröße von Einmeterfünfundsiebzig nur um drei Zentimeter überragte, störte sie dagegen nur an den wenigen Tagen, an denen sie in ein Schuhgeschäft kam. Es faszinierte Selina jedes Mal aufs Neue, wie hochhackige Pumps, Stiefeln, Sandalen ihre langen Beine noch schmaler und länger werden ließen. Doch Wolf mochte solche Schuhe nicht. Nicht nur, weil sie ihn damit überragte, sondern weil er auf dieses »Tussihafte«, wie er sagte, nicht stand. Wenn Selina erwiderte: »Also ich finde es eher elegant«, meinte er: »Wohl eher damenhaft, alt.« Ihre Augen trafen sich, und sie sah seinen fragenden Blick. »Es ist nichts. Nur die übliche Diskussion, dass Fabia so gern bei uns im Bett schlafen würde«, fügte sie mit abgewandten Augen hinzu. Wolf sah sie weiter an, und nicht zum ersten Mal bemerkte er diesen traurigen Zug um ihre beinahe schwarzen Augen. Auch ihm war es nicht egal, wenn Fabia sich beschwerte: »Ihr zwei habt euch immer. Ihr seid immer zusammen, schlaft immer in einem Bett. Und ich muss alleine schlafen.« Doch er war nicht bereit, sich deswegen noch ein Kind anzuschaffen. Was wäre, wenn sich Fabia mit einem kleinen Geschwister gar nicht verstand oder wenn Selina und er sich dann ihr Bett mit zwei Kindern teilen mussten? Sicher, Wolf genoss es, wenn sich Fabia mitten in der Nacht anschlich und er den weichen Kinderkörper an seinem spürte, wenn er dabei wach wurde und ihr kleines Gesicht im Schlaf beobachten konnte. Doch sie würden noch Jahre in diesen Genuss kommen. Warum dann noch ein Kind? Unmerklich schüttelte er den Kopf. Er fand, Selina nahm sich das alles zu sehr zu Herzen. Eine Kindheit ohne Geschwister schien für

sie der Inbegriff von Egoismus, Einsamkeit und Traurigkeit zu sein. Seit ihr Vater siebzig geworden war, schien sie der Gedanke nicht mehr loszulassen. Damals hatte sie erschrocken bemerkt: »Stell dir vor, irgendwann sterben meine Eltern. Hätte ich dann meine Brüder nicht, wäre ich ganz allein auf der Welt.« »Aber du hast doch noch uns«, hatte er geantwortet. »Das ist nicht dasselbe. Wir werden nie gemeinsame Erinnerungen aus den Tagen unserer Kindheit haben«, hatte sie gesagt – und damit auch ihn traurig gemacht. Mit dem Unterschied, dass er ihr seine Beweggründe dafür nicht nennen konnte. Diese Angst, die er sich selbst kaum eingestand, war die Angst, wieder ausgeschlossen zu sein. Würde sich das bei einem zweiten Kind ändern? Würden diese Gefühle, die er das erste Mal bei Fabias Geburt gespürt hatte, damit vergehen? Dieses Gefühl, nicht dazuzugehören, ein Eindringling zu sein. Schon mehrmals hatte er sich gefragt, ob es anders gewesen wäre, wenn er bei der Geburt von Fabia nicht weggeschickt worden wäre, sondern bei seiner Frau hätte bleiben dürfen. Wann hatte dieses Gefühl angefangen? Als Selina die Wehen noch zu Hause veratmen konnte, als sie beide in ihrer Wohnung auf und ab marschierten, war er der wichtigste Mensch für seine Frau gewesen. Im Krankenhaus aber wurde er nach Hause geschickt. Da war es zum ersten Mal: Das Gefühl des Ausgeschlossenseins, der Hilflosigkeit. Dabei stand vom ersten Tag ihrer Schwangerschaft an fest, dass sie in einem so wichtigen Moment ihres Lebens zusammenbleiben wollten. Doch dann musste Wolf warten, bis die Hebamme es für richtig hielt, dass er wiederkommen durfte. Ein Privileg, das ihnen nur zustand, weil Selina mit dem Oberarzt befreundet war. Denn damals, zwei Jahre vor der Wende, galt eine Entbindung in Anwesenheit des Vaters als ein gebrochenes Tabu. Dreimal rief er im Kreißsaal an, immer bekam er

die gleiche gefürchtete Antwort: »Es ist noch lange nicht so weit!« Die Hebamme hatte den Satz noch nicht mal ausgesprochen, da wurde er von dem Gefühl erfasst, sie wollte ihn nicht dabei haben, als hätte er nichts in ihrem Revier zu suchen. Doch ihr Revier war seine Frau. Beim dritten Anruf ließ die Hebamme ihn unfreundlich wissen: »Sie sollen jetzt kommen!« Später erzählte ihm Selina, sie habe es kaum noch ohne ihn ausgehalten und hatte gespürt, dass Wolf es war, der wieder anrief. Bevor die Hebamme den Hörer abnahm, um ihn erneut zu vertrösten, rief sie deshalb schnell: »Er soll jetzt aber kommen!« Als Wolf endlich wieder bei Selina war, fühlte er Erleichterung – doch schnell kam er sich störend und unwichtig vor. Die beiden Hebammen waren unentwegt um seine Frau bemüht. Sie wollten ihrer Kollegin eine besonders schöne Geburt zuteil werden lassen. Nur vergaßen sie Wolf dabei, der hilflos daneben stand, vieles nicht verstand, was die Hebammen taten und sich nicht traute, Selina seine Hilfe anzubieten. Dabei sah er nur zu deutlich, wie sie sich nach ihm sehnte. Es lief ihm kalt den Rücken herunter, wenn sie in den Wehen seinen Namen rief, als wäre er ihr Retter. Denn so kam er sich gar nicht vor. Als sich ihre Kleine auf den Weg nach draußen machte, stand Wolf noch mehr im Abseits. Selina hatte noch keinen Pressdrang und doch sollte sie das Kind aus sich herausdrücken. »Noch nicht. Ihr täuscht euch. Es ist noch nicht so weit!«, sagte seine Frau wiederholt. Sie gab sich die größte Mühe, aber es verging eine Wehe um die andere und nichts geschah. Da flüsterte Selina so leise, dass er sein Ohr nah an ihren Mund bringen musste: »Das überlebe ich nicht.« Später gestand sie ihm, dass sie von Vorstellungen geplagt worden war, zwei mächtige Kräne rechts und links zögen an ihren Beinen und

wollten sie entzwei reißen. Wie aus dem Nichts heraus blitzte in diesem Moment eine Schere zwischen Selinas Beinen auf und erzeugte ein Geräusch, das Wolf nie wieder vergaß. Die jüngere Hebamme drückte mit aller Kraft ihre Fäuste auf Selinas Bauch, den Wolf stets so vorsichtig und respektvoll berührt hatte. Seitdem blieb bei ihm der Gedanke haften, dass eine Geburt doch auch ganz anders verlaufen konnte, irgendwie normaler, ohne Gewalt. Eine Geburt, bei der er seiner Frau wirklich beistehen würde. Von Anfang bis zum Ende. Selina riss ihn aus den Gedanken. »Du bist ja so nachdenklich. Ist was nicht in Ordnung?« »Nein, alles okay!«, antwortete er rasch, »lass uns anstoßen.« Ihr Blick fiel auf den Wecker. »Mist! Wir haben verschlafen«, fluchte sie und sprang aus dem Bett. »Wolf, es ist kurz vor acht, du wolltest um acht auf dem Bau sein!«, sprach sie in die Richtung, in der ihr Mann eingekuschelt unter der Decke lag. »Nein, nicht schon wieder!«, dachte Selina. Sie würde ihn erst liebevoll, dann immer weniger nett wecken, am Ende laut und forsch, ohne Liebe in ihren Worten, »Wolf steh jetzt endlich auf!«, rufen, um dann seine entsetzliche Morgenmuffeligkeit ertragen zu müssen. Während sie darüber nachdachte, warum sie sich das antat und warum Wolf sich das Recht herausnahm, jeden Morgen länger zu schlafen, warum er selbstverständlich davon ausging, dass sie ihn nicht nur wecken würde, sondern auch das Frühstück bereitete, obwohl sie außer Tee nichts zu sich nahm, tat sie doch genau das, was sie immer tat: Sie unternahm mehrere Versuche, ihn aus dem Bett zu holen, während sie sich anzog, ihre Tochter weckte, der Kleinen beim Anziehen half und den Frühstückstisch deckte. Als ihr Mann endlich

das Bad betrat, kochte es in Selina. Und doch würde sie nichts sagen, schließlich kannte sie die gefürchtete, spitze Antwort: »Was willst du eigentlich von mir?« Stattdessen nörgelte sie Fabia an, sie solle gefälligst nicht kleckern und fragte sich, ob jemand erahnen konnte, wie sie diese Morgenszenarien hasste. Selina fand es schlimm genug zu verschlafen. Aber auch noch den Frühstückstisch mit einem Mann zu teilen, der grau, in sich versunken, jegliche Körperspannung vergessend, Null-Bock-Stimmung auf dem Gesicht am Tisch Platz nehmen würde, überforderte ihre Kräfte – und, noch schlimmer: ihre Liebe. Das einzige, was Selina dabei ein wenig aufbaute, war, dass Wolf grundsätzlich frisch geduscht und mit geputzten Zähnen erschien. Wolf hielt die Zahnbürste in der Hand, war sauer auf sich und auf alles und jeden. Es ärgerte ihn maßlos, dass er immer wieder diese Probleme mit dem Wachwerden hatte. Umso mehr, weil er das Bett mit einer Frau teilte, die frühmorgens munter aus den Federn sprang. Das verstärkte noch seine Wut. »Bringst du Fabia in den Kindergarten?«, war das Erste, was er vernahm, als er aus dem Bad kam. »Wieso ich? Ich müsste schon längst auf dem Bau sein!«, antwortete er barsch. Warum musste Selina ihn schon mit einer Forderung ansprechen, noch bevor er richtig am Tisch saß? »Wieso ich? Ich habe auch meine Termine. Wenn du früh nicht raus kommst, musst du halt abends eher ins Bett gehen.« »Steh du doch eher auf!« konterte er und war sich der Ungerechtigkeit bewusst. Selina war diese Streitereien am Morgen so leid. Warum benahm

sich ihr Mann nur so? Er musste doch überhaupt nichts machen. Warum konnte er dann nicht wenigstens freundlich sein? An solchen Tagen bekam sie das Gefühl, mit einem gänzlich fremden Mann zusammenzuleben. Doch darüber konnten sie mit ihm nicht reden. Jedes Mal, wenn sie das Gespräch auf Wolfs Verhalten bringen wollte, blockte er ab. Er hätte für solche Banalitäten nun wirklich keine Zeit, sagte er und schwieg sich aus. Selina zog sich daraufhin zurück, ging in Gedanken ihre Termine für den Tag durch, wissend, dass sie ohne seine Hilfe klarkommen musste. Diese Verspätung würde sie heute eine Stunde kosten. Dabei hatte sie sechs Hausbesuche, und um sechzehn Uhr musste sie schon in der 25 Kilometer entfernten Kleinstadt sein, wo sie Kurse in Geburtsvorbereitung erteilte. Das bedeutete, keine Zeit für eine Verschnaufpause und erst recht nicht für ein Mittagessen. Auch Wolf dachte nach. Sein neues Projekt war das Nachbarhaus. Selina und er hatten es gemeinsam gekauft, und nun sanierte er es. Heute sollten der Elektriker und der Treppenbauer kommen. Wahrscheinlich warteten sie schon vor verschlossener Tür, und das bei dem Zeitdruck, unter dem sie standen. Er selbst musste unbedingt das eine Bad zu Ende fliesen, und es war schwer genug zu arbeiten, wenn immerzu jemand etwas von ihm wollte. Brachte er jetzt auch noch Fabia weg, kam noch mehr Verspätung hinzu. Aber schließlich konnten weder die Kleine noch Selina etwas dafür. »Ich gehe kurz rüber zur Baustelle und sage Bescheid, womit die Arbeiter anfangen sollen, dann kann ich Fabia in den Kindergarten bringen.« »Ich komme schon allein zurecht.«, rief ihm Selina hinterher, noch bevor Wolf die Wohnungstür erreicht hatte. »Komm Fabia«, drehte sie sich zu ihrer Tochter um. Und erschrak.

Denn Fabia weinte. »Ich will nicht, dass ihr euch wegen mir streitet. Ich könnte doch auch allein in den Kindergarten gehen.« »Ja, das könntest du«, zog Selina ihre Tochter in die Arme und strich dabei Fabias lange hellblonde Haare aus dem Gesicht. »Aber dann würde mir etwas fehlen. Ich bringe dich nämlich sehr gern in den Kindergarten. Und noch lieber hole ich dich dort wieder ab, weil wir dann gemeinsam den Nachmittag und Abend verbringen können.« Behutsam hob sie das Kinn ihrer Tochter an, damit diese sie ansehen musste. Die Kleine war das Abbild ihres Vaters: Die gleiche gerade feine Nase, die hohen Wangenknochen, die breiten weichen Lippen. Nur die Haare hatte sie von Selina, sowie die Farbe ihrer Haut. Ein weicher samtiger Braunton, der noch nicht mal im Winter fad wurde aber auch im Sommer nie tiefbraun. Wolf dagegen war ein dunkler Typ, der ganzjährig wie ein Südländer aussah. »Unser Streit hatte nichts mit dir zu tun. Es ging nur um Papa und Mama, nicht um dich!«, beschwichtigte Selina und zog ihre Tochter an sich. Sie genoss den Moment als sich Fabia an sie schmiegte und mit beiden Armen umschlang. »Weißt du was, ich sage meinen ersten Hausbesuch ab und wir laufen zum Kindergarten.« »Gehen wir dann bei Herrn Albin vorbei? Er hat doch kleine Kätzchen.« Als Fabia den alten Herrn erwähnte, schoss Selina das Blut in die Wangen. Die Episode vom Frühjahr war ihr noch immer äußerst unangenehm. Damals hatte Fabia völlig unerwartet die dicke Katze des Nachbarn in den Fluss geschmissen. »Papa meint immer, die will mal baden, so struppig wie sie aussieht«, hatte sie zu Selina gesagt, die mit offenem Mund in den Fluss starrte und sehen konnte, das statt der Katze nur Blubberblasen auftauchten. »Mag sie Baden vielleicht doch nicht? Oder taucht sie nur gern?«,

fragte Fabia daraufhin verunsichert. »Papa hat doch gesagt sie will es.« »Papa hat sich geirrt«, presste Selina hervor. Zu Wolf, der in diesem Moment mit einer Leiter um das Haus bog, rief sie: »Komm sofort her, du musst die Katze retten.« Als er neben ihr stand, raunte sie ihm zu, »Wenn das Tier seine Babys verliert, nur weil du unserem Kind so einen Scheiß erzählst, dann…dann wirst du verdammt viel Ärger kriegen – von deinem Nachbarn und von mir.« »Nun macht mal nicht so ein Geschrei wegen einer Katze!«, sagte Wolf, kletterte über den Zaun, ließ die Leiter nach unten und stieg zu dem Tier hinab, das mittlerweile völlig verängstigt und von Schlamm bedeckt am Ufer saß »Die kratzt wie verrückt«, schrie er auf, als er die Katze nach oben nahm. Mit seinem gesträubten Fell sah das Tier nun aus wie eine dreckige Kugel. »Das ist völlig egal«, rief Selina zurück, »lass die Katze bloß nicht wieder los!« Sie warf ihrem Mann böse Blicke zu und zog Fabia an sich: »Alles wird gut. Gleich haben wir die Katze, dann duschen und föhnen wir sie. Und dann wird sie sich wieder wohl fühlen.« »Und die Babys?« »Die Babys sind in ihrem Bauch und bekommen von all dem nichts mit. Alles ist gut.« Selina war gerade dabei, die von der Dusche nicht minder geschockte Katze zu föhnen, als das Tier sich entspannte und wohlig schnurrte. »Mama, schau mal da kommt was Kleines zwischen ihren Beinen hervor«, sagte Fabia, »ist das das Bein eines Babys?« »Frau Jangura«, hörte Selina im selben Moment eine Stimme aus Richtung Wohnungstür, »Ihr Mann hat mir gesagt, mein Simba ist bei ihnen. Kann ich hoch kommen?« Selina hatte daraufhin, »Ja« gerufen, den Föhn ausgemacht und