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zuverkaufen oder zu verschenken! Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig ...
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Christian Damerow

All Eye Cats Roman

© 2012 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2012 Umschlaggestaltung: Charles Freckle Printed in Germany ISBN 978-3-8459-0039-1 AAVAA Verlag www.aavaa-verlag.com e Books sind nicht übe rtragbar! Es ve rstößt ge ge n das Urhebe rrecht, dieses We rk we ite rzuve rkaufe n ode r zu versche nke n! Alle Pe rsone n und Name n inne rhalb dieses Romans sind fre i e rfunde n. Ähnlichke ite n mit le be nde n Persone n sind zufällig und nicht beabsichtigt. Die ser Roman wurde be wusst so be lassen, wie ihn de r Autor geschaffen hat, und spie ge lt desse n originale Ausdruckskraft und Fantasie .

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„Die Alten hatten Götter und auch einen darunter, den sie Traum nannten...“ Bonaventura, Nachtwachen

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I. Nacht Seit einer Stunde liegt Sibylle bewusstlos auf dem Bett. Klebriger Schweiß überzieht ihre Haut, ihr Atem geht flach. Sie ist wieder abgestürzt. Vielleicht war es Absinth, vielleicht Whiskey oder Rum. Wahrscheinlich alles. „Wah“, murmelt sie, als ich ihr mit einem nassen Lappen das Gesicht abwische. Ihre Schminke ist verschmiert, sie sieht aus, wie eine Frau, die in einen Fluss gesprungen ist. Ich beuge mich dicht an ihr Ohr. „Schlaf, Sibby”, sage ich. “Schlaf.“ Aber Sibylle öffnet die Augen und sieht mich an. „Wa-he“, murmelt sie. Ich streiche ihr über die klebrige Wange. „Ich bleibe wach”, flüstere ich. “Ich bleibe die ganze Nacht hier.“ „Nah...wa-he..“

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Sibylles Augen fallen zu. Ich würde am liebsten einen Arzt rufen, doch ein Arzt ist das Letzte, was sie will. „...haiß“, murmelt sie und wird wieder bewusstlos. Es ist das dritte Mal, dass ich an ihrem Bett sitze. Diesmal sind wir noch glimpflich davon gekommen. Sibylle hat weder auf einem Tisch getanzt, noch hat sie sich die Kleider vom Leib gerissen. Sie hat keine Lieder von The Velvet Underground gesungen und, abgesehen von sich selbst, niemanden verletzt. Allerdings macht es das auch nicht leichter. Sie liegt trotzdem vor mir, mit Resten von Erbrochenem auf ihrem Gesicht und ihren Kleidern und einer verschorften Schramme an der Stirn und ich habe nicht die geringste Ahnung, was in ihrem Kopf vor sich geht. Sibylle arbeitet in einem Verlag für Telefonbücher. Der Verlag tut nichts anderes als Telefonbücher herzustellen, Tag und Nacht. Vor einem Monat wurde sie in den Betriebsrat gewählt, einstimmig. Jeder in der Firma mag sie. Ehrlich gesagt fällt es schwer sie nicht zu mögen. 5

Sie hat eines dieser Gesichter, bei denen man sofort zutraulich wird. Sie sagt „Hallo“ und schon zehn Minuten später weint man sich bei ihr aus. Sie erklärt dir nicht, was du falsch machst oder wie du deine Probleme lösen kannst. Wenn man sich jedoch eine Stunde lang mit Sibylle unterhält, bekommt man zumindest das Gefühl, dass man sich tatsächlich ändern kann, dass man kein hoffnungsloser Fall ist. Das ist der Eindruck, den jeder von Sibylle hat. Sehr umgänglich, sehr freundlich, sehr erwachsen. Jedoch sollte man ihre Bekanntschaft nur am Tag machen, im Sonnenlicht, andernfalls könnte das Bild, das man von ihr bekommt, etwas seltsam sein. Zum ersten Mal traf ich sie auf einer Semesterparty. Ich war erst seit kurzem in Berlin. Zwei Wochen zuvor hatte ich mein Studium begonnen. Ein paar Freundinnen brachten Sibylle mit. Sie setzte sich zu mir, als sie sah, dass ich am Rand der Gruppe herum hing und mit meinem Glas spielte. Sie lächelte und fragte mich nach meinem Namen. 6

„Maria“, sagte ich. Zwei Stunden später hatte ich ihr alles erzählt, was es über mich zu sagen gibt. Dass ich ursprünglich aus Polen komme, dass ich in Berlin studiere, weil meine Großmutter hier wohnt, dass der Nachteil an einer Großmutter ist, dass sie Großmutter ist und einem immer das Gefühl gibt, man sei keine Frau von Zweiundzwanzig, sondern eine Zwölfjährige, der man den Schal zurecht rücken und Süßigkeiten zustecken kann. „Ich fühle mich nicht wie eine Frau von Zweiundzwanzig, um ehrlich zu sein“, erklärte ich ihr, „aber das ist egal. Man möchte nicht wie ein Kind behandelt werden. Ich werde mir irgendwann eine eigene Wohnung suchen und dann tun und lassen, was ich will. Wahrscheinlich ist das meine Lebensphilosophie. Ich möchte nur in Ruhe gelassen werden. Dann bin ich schon zufrieden. Ich bin nicht sehr gut darin auf andere Rücksicht zu nehmen.“ Ich erzählte ihr, wie ich seit meiner Kindheit von Stadt zu Stadt ziehen musste, weil meine Eltern sich scheiden ließen und meine Mutter 7

nicht zu den Menschen gehört, die lange an einem Fleck bleiben können. Sibylle sagte, dass es schwer ist kein Zuhause zu haben, dass es schwer ist, nirgendwo Wurzeln schlagen zu können, keinen Ort und keine Freunde zu haben, zu denen man zurückkehren kann und ich stellte fest, dass sie mich fast zum Weinen brachte. „Wenn du kein Zuhause hast, dann musst du dir eins machen“, sagte sie und lächelte. Sie musste es nicht in große Worte packen, nur ein paar Sätze und Blicke und ich wusste, dass sie mich verstand. Sie wusste, was in mir vorging. Dann leerte Sybille die erste Rotweinflasche und das Bild änderte sich radikal. Sie hörte auf zu reden und begann zu tanzen. Ihre Freundinnen sagten, dass ich sie besser in Ruhe lassen sollte, sie brauche das. Es sei normal. Als sie die zweite Rotweinflasche und die erste Flasche Rum geleert hatte, brach sie auf der Tanzfläche zusammen und übergab sich in die Gruppe. Ich half ihren Freundinnen sie ins Auto zu tragen. Wir brachten sie in ihre Wohnung, wir 8

wuschen ihr das Gesicht und legten sie ins Bett. Die Freundinnen fragten mich, ob ich bei ihr bleiben wolle, doch bevor ich antworten konnte, waren sie schon weg, zurück auf eine andere Party. Ich blieb allein zurück. „Wache“, murmelt sie mit geschlossenen Augen. Ich weiß nicht, was sie meint, ob sie überhaupt mit mir spricht oder nicht. Jedes Mal, wenn sie im Delirium liegt, ist das alles, was sie murmelt. Wache. Ich kann ihr nur das Gesicht waschen und den Eimer bereithalten, wenn sie sich übergeben muss. Das ist alles, was ich tun kann, denn am nächsten Morgen tut sie immer so, als wäre außer einer harten Nacht nichts gewesen. Nichts, außer einer harten Nacht. „Komm nich zurühh...“, murmelt sie. Sie wälzt sich auf die Seite und ballt die Hand zur Faust. „Ea komm nich zurühh...“ Irgendwann ist es drei Uhr und es wird in zwei Stunden hell draußen. Ich denke, fast geschafft, 9

Sibby, nur noch ein bisschen, da springt sie auf und versucht zur Toilette zu humpeln, als würde das noch einen Unterschied machen und mitten in der Wohnung, auf dem Weg vom Bett zur Toilette, kommt es ihr hoch und alles landet auf dem Boden und gleich danach bricht sie in dem ganzen Desaster zusammen. Ich kann sie nur noch in die Dusche tragen und sauber machen. Das ist alles, was ich machen kann. Sie nackt in die Dusche stellen und den Wasserhahn aufdrehen. „Jemand sollte etwas tun“, sagte eine ihrer Freundinnen, auf einer Party in der Stadt. „Das sagen alle“, erwiderte eine andere Freundin. „Ich meine, das sagt doch nun jeder. Irgendjemand sollte ihr helfen. Aber wie? Wir haben wirklich alles getan. Wir haben sie gefragt, ob sie über irgendetwas reden will oder ob wir ihr helfen können, aber sie sagt nie etwas. Probleme mit der Familie? Mit einem Freund? Wir haben alles getan, aber wenn sie nicht will, dann ist sie selbst schuld. Sie führt sich ja auch

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unmöglich auf. Dabei ist sie so ein guter Mensch.“ Und hierbei stimmen alle überein. Sie ist so ein guter Mensch. Jeder mag sie. Doch niemand weiß, was in ihr vor sich geht. „Was ist das?“, frage ich, während ich mit einer Hand den Duschkopf halte, mit der anderen Sibylle in der Dusche stütze. Das Wasser ist lauwarm (in ihrer Wohnung ist das Wasser immer nur lauwarm). Ich wasche ihr den ganzen Schmutz vom Körper, der sich in der Nacht angesammelt hat. „Hm?“, macht sie und betrachtet mich aus einer Entfernung von 3 Lichtjahren. Ich zeige auf ihre Brust. Eine sternförmige Narbe zeichnet sich wie ein glänzendes Netz an der Unterseite der Brust ab. „Wo hast du die her?“ Sie kichert nur, wodurch sie das Gleichgewicht verliert und um ein Haar zu Boden stürzt. Ich helfe ihr, sich hinzusetzen, lasse ihr das Wasser über den Kopf laufen. Sibylle schließt die Augen,

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während ich ihr mit einem Lappen die Reste von Blut und Schminke aus dem Gesicht reibe. „Du siehst schlecht aus, Sibby.“ Sie grinst, schafft es aber nicht die Augen zu öffnen. Ich glaube, sie wusste selbst nicht, was sie Nacht für Nacht zu zerstören versuchte. Oder sie wusste es und hatte lediglich das Bedürfnis, es selbst zu zerstören, bevor jemand anders es tat. Irgendwann in ihrer Jugend musste sie in den Spiegel geschaut und dort auf einen Schlag ihre Schönheit erkannt haben. Und sofort hatte sie begonnen sie zu hassen. Ich reibe Sibylle schließlich mit einem Handtuch trocken, werfe ihr einen Bademantel um den zitternden Körper und führe sie zurück zum Bett. „Soll ich einen Arzt rufen, Sibby?“, frage ich. Sie schüttelt den Kopf, murmelt vor sich hin. Dann schläft sie ein, ohne erkennbaren Übergang, den Mund und die Augen halb offen. „Je mehr du trinkst, desto weniger träumst du. Es ist, als würdest du Wasser in deinen Kopf 12

schütten, wenn da oben alles brennt. Es ist kein Feuerwasser. Es ist Löschwasser und je mehr ich rein kippe, desto länger bleibt das Feuer aus.“ Sibylle ist für einen kurzen Moment nüchtern. Liegt mit glasigem Blick auf dem Bett und starrt vor sich hin. Ich weiß nicht, ob das normal ist, aber das ist schon mehrmals vorgekommen. Sie wacht für eine Viertelstunde auf und wir reden, ganz normal, als hätte sie nur ein Glas Wasser und nicht drei Flaschen Rotwein getrunken. Eine Stunde später lallt sie wieder oder schnarcht oder liegt reglos da, mit so flachem Atem, dass ich Angst bekomme. „Träume sind das Schlimmste“, murmelt sie. „Die absolute Hilflosigkeit. Das beweist doch, dass wir schizophren sind. Wenn irgendetwas in unserem Kopf dafür sorgen kann, dass wir träumen, ohne dass wir selbst etwas tun. Und uns auch nicht für einen Traum entscheiden können. Du könntest von Monstern träumen und dich nicht dagegen wehren, bis du aufwachst. Träume sind das Schlimmste. Ich hasse sie.“ Ich frage mich, was ein Psychoanalytiker dazu sagen würde. Meine Mutter war bei einem 13

Analytiker, für zwei Monate, dann hatte der Analytiker genug von ihr und kündigte. Wenn ich daran denke, was sie mir erzählte, dann würde alles, was Sibylle sagt, auf ein Geheimnis hinauslaufen. Ein Geheimnis, das sie versteckt. Oder ihre Kindheit. Am Ende ist es immer die Kindheit. Eines Nachts saß ich zusammen mit Sibylle in meiner Wohnung. Ich hatte Geburtstag und wir schauten einen Film, aßen Krabbenchips und Eis und tranken Pfirsichschnaps dazu. Sie hatte mir einen kleinen, silbernen Anhänger in Form eines Delfins geschenkt, obwohl ich Delfine überhaupt nicht mag. Meine Großmutter schaute ab und zu herein und fragte, ob wir etwas brauchten und es war ein seltsames Gefühl. Da saß sie neben mir im Bett, aß Schoko-Vanille Eis und starrte wie ein kleines Mädchen gespannt auf den Bildschirm. Dieselbe Sibylle, die sich in anderen Nächten in einen Satyr verwandelte und alles tat, um das Bewusstsein zu verlieren. Es war, als gäbe es sie zweimal, im Licht und im Schatten. 14

Es war ungefähr in der Mitte des Films, als Sibylle in Tränen ausbrach. Irgendjemand im Film hatte irgendetwas gesagt und plötzlich brachen alle Dämme und für die nächste Stunde konnte sie nicht aufhören zu weinen. Dann schlossen sich die Dämme wieder, Sibylle wischte sich das Gesicht und alles war vorbei. Was ging in ihr vor? Hinter diesen blutunterlaufenen Augen? Wie der Eingang zu einem langen, dunklen Tunnel. Ist sie in dieses Loch gesprungen? Wurde sie gestoßen? „Ich fühle mich wie ein Kristall, der langsam auseinander bricht“, flüstere ich. „Splitter für Splitter.“ Sibylle schläft, die Lider wie Muscheln über ihren Augen, doch so ist es mir lieber. Sie soll mir jetzt nicht zuhören. „Jeden Tag wird ein Stück von mir wie mit einem Hammer abgeschlagen, bricht einfach ab und fehlt. Ist dir schon aufgefallen, wie die Menschen, die uns umgeben, regelrechte Projektionen von uns sind? Wenn du in eine neue Stadt kommst, wenn du irgendwo eine Ausbildung oder ein Studium anfängst. 15