"30 Prozent der Gesundheitsausgaben sind Verschwendung"

Ich hatte die Gelegenheit, 5.000 Mitarbeiter zu führen, um Obamas ... heitsversorgung zu erschwinglichen Kosten besser gestalten lässt. Warum ist es so schwer ...
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INTERVIEW

Er ist einer der klügsten Köpfe im US-Gesundheitswesen, Präsident Obama hört auf ihn: Donald M. Berwick gilt als profunder Kritiker des Medizinbetriebs. Seine Diagnose: Westliche Gesundheitssysteme muten den Patienten Übertherapie, Geldverschwendung und zersplitterte Versorgungsstrukturen zu. Berwicks Therapievorschlag klingt scheinbar einfach. 26

Ausgabe 6/12, 15. Jahrgang

„30 Prozent der Gesundheitsausgaben sind Verschwendung“ Herr Professor Berwick, von Juli 2010 bis Dezember 2011 waren Sie Chef der Centers for Medicare and Medicaid Services (CMS), der dem Gesundheitsministerium zugeordneten obersten Ver­ waltung der staatlichen Gesundheitsprogramme für alte und arme Menschen mit rund 100 Millionen Versicherten. Wie hat Ihnen Ihr Ausflug in die Politik gefallen? Berwick: Ich fand es toll. Ich habe lange Zeit im privaten Sektor der Zivilgesellschaft gearbeitet, eine gemeinnützige Organisa­ tion geleitet, in Harvard gelehrt. Ich habe nie erwartet, einmal für die Regierung zu arbeiten. Es war eine Zeit intensiven Ler­ nens. Ich hatte die Gelegenheit, 5.000 Mitarbeiter zu führen, um Obamas Gesundheitsreform umzusetzen.

Fotos: Stefan Boness

Sie wurden in den USA von den Republikanern für Ihr Ein­ treten für eine solidarische Krankenversicherung angefeindet. Wie trotzt man so heftigem Gegenwind über so lange Zeit? Berwick: Die Angriffe waren nicht lustig. Aber sie waren auch nicht persönlich gemeint. Amerika ist zurzeit ein gespaltenes Land. Menschen, die schon länger in der Regierung sind, sagen, dass die politische Polarisation beispiellos ist. Ich geriet in die Schusslinie, weil ich so eng mit Obamas Gesundheitsreform, die die Opposition hasst, in Verbindung gebracht wurde. „Eine Krankenversicherung, die gerecht, angemessen, zivilisiert und menschenwürdig ist, muss das Vermögen der Reicheren hin zu den Ärmeren und weniger Begünstigten umverteilen.“ Dieser Satz von Ihnen würde in Deutschland keine große Aufmerk­ samkeit erzielen. In den USA sind Sie dafür heftig kritisiert und als Sozialist beschimpft worden. Sind Sie ein Sozialist? Berwick: Ich glaube daran, dass wir füreinander sorgen müssen, und favorisiere politische Systeme, die eine gegenseitige Verant­ wortung unterstützen. Außerdem ist der zitierte Satz wissen­ schaftlich korrekt. In allen Ländern gibt es einen Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit. Armut und schlechte Gesund­ heit bedingen einander. Eine mitfühlende Gesellschaft sorgt

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dafür, dass Menschen eine ausreichende Versorgung erhalten. Das hat mit Sozialismus nichts zu tun. Ein weiteres interessantes Zitat von Ihnen lautet: „Wir Ärzte sind Gäste im Leben unserer Patienten.“ Was meinen Sie damit? Berwick: Das bedeutet, dass wir die Bedürfnisse von Menschen in Not im Blick haben müssen und ihre Prioritäten, Familien­ verhältnisse, Fähigkeiten, Möglichkeiten und ethnische Zuge­ hörigkeit beachten. Um das tun zu können, müssen wir wie ein Gast, nicht wie ein Hausherr handeln. Wir sollten unsere Patien­ ten fragen: „Was sind Ihre Ziele? Wie möchten Sie diese erreichen? Erzählen Sie mir über sich.“ Stattdessen haben wir die Gesund­ heitsversorgung um Ärzte und Kliniken herum aufgebaut und nicht um die Patienten. In vielen Ländern stellt man sich die Frage, wie sich Gesund­ heitsversorgung zu erschwinglichen Kosten besser gestalten lässt. Warum ist es so schwer, die Gesundheitsversorgung zu verbessern? Berwick: Weil sie so fragmentiert ist. Etwa zehn bis 20 Prozent einer Population sind chronisch krank. Diese Patienten benöti­ gen 80 Prozent der Versorgung. Und wir kümmern uns um sie in unterschiedlichsten Bereichen: in Krankenhäusern, Haus­ arztpraxen, Pflegeheimen, Rehabilitationseinrichtungen. All diese Bereiche neigen dazu, separat zu arbeiten. Diese Fragmen­ tierung wird leider immer wieder gestärkt, durch Ausbildung, finanzielle Strukturen und das Wertesystem. Und sie führt bei den Patienten zu erheblichen Problemen: Unterbrechungen der Versorgung, gesundheitliche Risiken, belastende Doppelunter­ suchungen, Gefühl von Ausgeliefertsein. Wir müssen das frag­ mentierte Versorgungssystem ändern. Aber das ist schwierig. Sie haben drei strategische Ziele für CMS gesetzt: bessere Ge­ sundheit, bessere Versorgung, niedrigere Kosten. Ist das nicht ein Widerspruch in sich selbst? Wir bekommen geradezu man­ tragleich erzählt: Eine bessere Gesundheitsversorgung kann nur

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„Wir haben die Versorgung um Ärzte und Kliniken herum aufgebaut und nicht um die Patienten.“

erreicht werden, wenn mehr Geld ins System fließt. Und das klingt doch auf den ersten Blick ziemlich überzeugend, oder? Berwick: Vielleicht, aber nicht für mich. Industrialisierte Länder haben eine Menge Geld – auf jeden Fall die USA. Wir geben 17 Prozent unseres Bruttosozialprodukts für die Gesundheits­ versorgung aus. Unsere Gesundheit verdanken wir aber nicht allein dieser Versorgung. Sie hat auch andere Ursachen wie Le­ bensstil, Essverhalten, Zigaretten- und Alkoholkonsum und so weiter. Wenn man es mit einer gesunden Nation ernst meint, muss man an weiteren Stellschrauben drehen und darf nicht nur bei der Gesundheitsversorgung ansetzen. Einen großen Teil unserer Staatsschulden und unseres Defizits machen die Ausga­ ben für das Gesundheitswesen aus. Und vieles, was dort hinfließt, ist Verschwendung. Mein favorisiertes Ziel lautet: weniger Kosten durch eine verbesserte Gesundheitsversorgung. Was sind die treibenden Kräfte für steigende Gesundheits­ kosten? Berwick: Nun, wir haben es mit einer alternden Gesellschaft und mit neuen Technologien zu tun. Darüber hinaus gibt es aber auch viel Verschwendung: unkoordinierte Versorgung, schwer­ fälliges Dazulernen. Wir wissen, wie Druckgeschwüre oder infizierte intravenöse Katheder zu verhindern sind. Aber wir setzen dieses Wissen nicht zuverlässig in die Praxis um. Häufig herrscht Überversorgung durch anbieterorientiertes Handeln. Wenn man einen neuen Magnetresonanztomografen kauft, wird er auch genutzt, egal, ob es dem Patienten nutzt oder nicht. Bürokratische Komplexität ist eine weitere Quelle für Verschwen­ dung. In den USA ist dafür eine sehr komplexe Versicherungs­ industrie ursächlich und einige Regulierungen, die sich längst überlebt haben. Weitere Ursachen sind Missbrauch und Betrug sowie die ausbleibenden Preisabsenkungen. In anderen Wirt­ schaftsbereichen werden Produkte meist preiswerter, wenn sie zum Standard geworden sind. Nicht so im Gesundheitswesen. Dort bleiben die Preise hoch. All diese Faktoren addieren sich in den USA auf 21 bis 34 Prozent unserer Gesundheitsausgaben, die wir verschwenden. Das könnten wir einsparen – und zwar ohne den geringsten Schaden für die Patienten.

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Manche Experten sagen, dass sich gute Qualität in der Versor­ gung erreichen lässt, wenn nur die richtigen finanziellen Anreize gesetzt würden. Welche finanziellen Anreize wirken in diese Richtung? Berwick: Alle Finanzierungssysteme, die ich kenne, haben einen Makel. Drei Systeme sind üblich. Eines ist die Einzelleistungs­ vergütung. Das fördert Überversorgung. Am anderen Ende gibt es die risikogeteilten Modelle, bei denen einer Gruppe von Ärzten ein Budget bezahlt wird. Dafür müssen sie eine bestimm­ te Population versorgen. Wenn sie zur Versorgung dieser Grup­ pe mehr ausgeben, ist es ihr Problem. Wenn Geld übrig bleibt, können sie es behalten und unter sich aufteilen. Das Risiko hier ist die mögliche Unterversorgung. In beiden Fällen kann man das Risiko entschärfen, indem die Qualität geprüft wird. Das dritte Modell, bei dem Ärzte ein Gehalt beziehen, setzt Anreize weder in die eine noch in die andere Richtung. Dieses System kenne ich sehr gut, weil ich 20 Jahre lang als angestellter Arzt für eine Health Maintenance Organisation gearbeitet habe. Ich konnte mich einfach um die Patienten kümmern. Hier kann es aber Probleme mit der Produktivität geben: Wenn ich regel­mäßig mein Gehalt bekomme, könnte ich es mir mit meiner Arbeit auch ein bisschen gemütlicher machen. Kein Finanzierungssys­ tem ist also perfekt. Rationierung ist in Deutschland ein Reizwort. Andere Länder lassen die Diskussion darüber zu, allerdings mit unterschiedlichem Erfolg. Wie denken Sie über dieses Thema? Berwick: Ich hasse es. Ich bin Kinderarzt. Die Vorstellung, einem Kind systematisch etwas vorzuenthalten, was es medizinisch dringend benötigt, ist abscheulich. Ich würde für jede einzelne Leistung, die mein Patient braucht, kämpfen. Diese professio­ nelle Wertestruktur sollte nicht aufgeweicht werden. Möglicher­ weise werden wir irgendwann einmal nicht mehr alles bekom­ men, was benötigt wird. Aber davon sind wir noch sehr weit entfernt – zumindest in westlichen Demokratien. Wir müssen alles herausfinden, was keinen Nutzen bringt. Wir müssen Verschwendung eliminieren, damit wir genügend Geld für das haben, was wirklich nutzt.

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Die USA ist unter den Industriestaaten das Land mit den meis­ ten Bürgern ohne Krankenversicherung. Etwa 36 Millionen US-Amerikaner sind betroffen. Zugleich gibt die USA 17 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Gesundheit aus, mehr als jedes andere industrialisierte Land. Das möchte Präsident Obama mit dem neuen Gesetz ändern. 26 Bundesstaaten haben dagegen Klage eingereicht. Hat das Gesetz nach den Anhörungen beim Obersten Gerichtshof Anfang April noch eine Chance? Berwick: Ich wünschte, ich hätte eine Kristallkugel. Ich weiß es nicht. Schauen wir, was bisher passiert ist. Das neue Gesetz wird 30 Millionen der 47 bis 50 Millionen Amerikaner ohne ausrei­ chenden Krankenversicherungsschutz absichern. Viele von ihnen sind arm oder haben Vorerkrankungen. In den USA können Versicherungen Menschen mit Vorerkrankungen wie zum Beispiel Diabetes, Asthma oder einem Herzinfarkt den Versi­ cherungsschutz vorenthalten. Und die Versicherer finden häufig Wege, um den Versicherten im Krankheitsfall den Schutz wegzunehmen. Das neue Gesetz verbietet das. Der Oberste Gerichtshof der USA muss sich mit komplexen Anklagepunkten auseinandersetzen. Eine Frage ist: Lässt es unsere Verfassung zu, dass der Gesetzgeber zum Kauf eines Krankenversicherungs­ schutzes zwingen darf? Wenn er dies verneint, ist dann das ge­ samte Gesetz automatisch hinfällig? Andere Fragen sind mehr technischer Natur. Hierbei geht es unter anderem um die Er­ weiterung von Medicaid. Im Moment bestimmt jeder einzelne unserer 50 Bundesstaaten, wann jemand anspruchsberechtigt ist. Das neue Gesetz setzt einen einheitlichen Standard. Der Oberste Gerichtshof kann diesen Teil der Reform als unbefugte bundesstaatliche Einflussnahme verwerfen.

„Wir müssen die Verschwendung eliminieren, damit wir Geld für das haben, was wirklich nutzt.“

Wie wird der Oberste Gerichtshof entscheiden? Berwick: Ich weiß es nicht. Wenn er das gesamte Gesetz kippt, sitzen wir in der Tinte. Wir würden rückwärts gehen Richtung unerschwingliches, unreguliertes Versicherungssystem nach Wild-West-Manier. Millionen von US-Amerikanern würden ihren Schutz sofort verlieren, weil durch das neue Gesetz Kinder bis 26 Jahre bei ihren Eltern bereits mitversichert sind. Es gibt neue Leistungen für Ältere bei Arzneimitteln. Die wären wieder weg. Auch wäre eine Reihe neuer Regeln für die Versicherungs­ wirtschaft wieder vom Tisch. Wenn Sie das ideale Gesundheitssystem entwerfen könnten, an welchen Hebeln würden Sie ansetzen? Berwick: Das ideale Gesundheitswesen ist ein integriertes System. Der Patient steht im Mittelpunkt. Es ist ein System, das in Ko­ operationen investiert, um wiederholte unnötige Einweisungen ins Krankenhaus zu verhindern. Ihre Medikation ist abgestimmt. Ein Team kümmert sich um einen Patienten. Zusätzlich müssen wir unnütze Leistungen reduzieren, weil sie Verschwendung sind. Bei einer klügeren Finanzierung und Evaluation wird nicht danach gefragt, wie viel hast Du gemacht, sondern, wie gut hast Du es gemacht, wie gut geht es dem Patienten? Und schließlich müssen wir mehr in den öffentlichen Gesundheitssektor und in Prävention investieren. √ Interview und Übersetzung: Bettina Nellen, Ressortleiterin Wissenschaft und Medizin beim KomPart-Verlag

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Zur Person Professor Donald M. Berwick, geboren 1946 in New York City, ist ehemaliger Präsident und Vorsitzender des Institutes for Healthcare Improvement, das er mehr als 20 Jahre leitete. Im Juli 2010 ernannte ihn US-Präsident Barack Obama ohne Zustimmung des Kongresses zum obersten Behördenchef der Centers for Medicare and Medicaid Services, der staatlich finanzierten Gesundheitsversicherung für Arme und Alte mit rund 100 Millionen Versicherten. Diese Position hielt Berwick bis Dezember 2011. Der Kinderarzt unterrichtete unter anderem an der Harvard Medical School und am Massachusetts General Hospital in Boston. Berwick ist verheiratet, hat vier Kinder und zwei Enkelkinder.

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