Zwei Hauptbahnhöfe für Stuttgart? - der Fahrgast

und damit hat „Stuttgart 21“ ein gewal- ... angekündigt, dass Wettbewerber der Deutschen Bahn AG (DB AG) den Stuttgarter Kopf- ... reinen virtuellen Charakter.
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Lehrstück über Bahnprivatisierung:

Zwei Hauptbahnhöfe für Stuttgart? Netzwerk Privatbahnen nimmt Verteilungskampf auf Das Netzwerk Privatbahnen, ein Interessenverband privater und kommunaler Güterbahnen, hat ­öffentlich angekündigt, dass Wettbewerber der Deutschen Bahn AG (DB AG) den Stuttgarter Kopfbahnhof übernehmen wollen. Welche Interessen stehen dahinter und ist es möglich, dass der Kopfbahnhof weiter besteht, auch wenn der Tiefbahnhof tatsächlich gebaut wird?

Der juristische Hebel Bereits Ende 2010 wurde Alexander Kirfel, Geschäftsführer des Netzwerks Privatbahnen, gegenüber der Presse deutlich: „Ich kenne etwa zehn Unternehmen, die Anträge für den Weiterbetrieb der Anlagen stellen werden. Der oberirdische Bahnhof wird bleiben, die Rechtslage ist eindeutig – und damit hat „Stuttgart 21“ ein gewaltiges Problem“. Im Mai 2011 unterstrich Kirfel erneut seine Aussage und betonte, dass Unternehmen seines Verbandes den Kopfbahnhof übernehmen wollen. Bevor eine Bahnlinie stillgelegt werden kann, muss sie anderen Unternehmen zur Übernahme angeboten werden. Hier kommen die §§ 11 und 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes zur Geltung. Von dieser Möglichkeit wollen die Privatbahnen nun Gebrauch machen.

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Die Juristen der DB AG vertreten den Standpunkt, dass „Stuttgart 21“ nur ein Umbau wäre und sich dadurch die Möglichkeit der Übernahme für Wettbewerber nicht eröffne. Dies trifft unstrittig für einfache Änderungen wie z.B. Streckenbegradigungen zu, aber schon bei Überhol- und Abstellgleisen gilt dies nicht mehr ohne weiteres, denn diese stellen betriebswichtige Infrastruktur dar und müssen Wettbewerbern sehr wohl angeboten werden. Bisher haben diese von den Übernahmemöglichkeiten zwar keinen Gebrauch gemacht, was an der grundsätzlichen Möglichkeit aber nichts ändert. Ob der Stuttgarter Kopfbahnhof einschließlich des großen Abstellbahnhofs und der Zulaufstrecken so einfach beseitigt werden kann wie etwa das Gleis für die Begradigung einer Kurve, ist eine be-

rechtigte juristische Frage und die Chancen stehen gut, dass die Gerichte für die Wettbewerber der DB AG entscheiden. Aus juristischer Sicht besteht kein Zweifel daran, dass der Planfeststellungsbeschluss für den Bau des Tunnelbahnhofs nicht zwangsläufig die Genehmigung zum Abriss des Kopfbahnhofs ist. Mindestens so lange, wie Züge fahren, hat der Eigentümer eines Grundstückes auf sein Eigentum nur begrenzten Durchgriff. Das haben bereits die Gemeinden im Wiehltal bitter erfahren müssen, die die Wiehltalbahn beseitigen wollten. Sie hatten die Strecke gekauft und die Prozesse Bild oben: Abendstimmung über dem Kopfbahnhof. Werden die Lichter eines Tages abgeschaltet – oder verhindern Wettbewerber der Deutschen Bahn AG, dass sie jemals ausgehen?

derFahrgast 3/2011

derFahrgast

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durch alle Instanzen verloren: Die Bahn fährt weiter. Ähnliches blüht nun auch in Stuttgart – mit allen Folgen für den Abriss des Kopfbahnhofs und den Spekulationsgeschäften um vermeintlich freiwerdende innerstädtische Filetgrundstücke. Güterverkehr kontra Personenverkehr?

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Nicht erst seit dem Auftritt von Kirfel als Experte in der Schlichtung zu „Stuttgart 21“ ist bekannt, dass das Netzwerk Privatbahnen gegen den Tunnelbahnhof und die derzeit geplante Trassierung der Neubaustrecke Wendlingen – Ulm eintritt. Schon vorher hatte das Netzwerk die mangelhafte Wirtschaftlichkeit des Projekts aufs Korn genommen und die mangelnde Tauglichkeit des Projekts für den Güterverkehr geltend gemacht. Das Netzwerk Privatbahnen ist den Interessen von kommunalen und privaten Güterbahnen, die im Wettbewerb zur DB AG stehen, verpflichtet. Diesen geht es um die Investitionsmittel für den Güterverkehr auf der Schiene. Seit Beginn des Baus der ersten Bahnlinie für den Hochgeschwindigkeitsverkehr von Hannover nach Würzburg bis heute werden Neubauprojekte auch mit der Nutzbarkeit für den Güterverkehr begründet und finanziell berechnet. Allerdings stehen die Neubaustrecken für den Güterverkehr bis heute nicht zur Verfügung:

Die Schnellfahrstrecke von Hannover nach Würzburg ist für die Bedürfnisse von schweren Güterzügen trassiert, fahren dürfen diese schweren Güterzüge aber dort nicht, weil tagsüber die Begegnung von Güter- und ICE-Zügen in den zwei­ gleisigen Tunneln aus Sicherheitsgründen unzulässig ist. Nachts steht die Strecke über weite Zeiträume nicht fahrplansicher zur Verfügung, da in dieser Zeit Wartungsarbeiten durchgeführt werden. Für die Neu- und Ausbaustrecke Erfurt – Nürnberg, die durch den Thüringer Wald führt, gilt das gleiche Begegnungsverbot wie zwischen Hannover und Würzburg, denn auch dort werden die Tunnel zweigleisig ausgeführt. Die Wirtschaftlichkeit dieser Neubaustrecke wurde aber auch hier damit schön gerechnet, dass hier ­Güterzüge angeblich fahren könnten. Auch in der Wirtschaftlichkeitsberechnung für die Neubaustrecke Wendlingen – Ulm über die Schwäbische Alb tauchen erneut Güterzüge auf, die es bislang auf deutschen Schienen nicht gibt und auch auf absehbare Zeit nicht geben wird. ­Diese Züge werden ganz offiziell „Kaufmannszüge“ genannt, weil sie eilige Kaufmannsgüter befördern sollen. In Frankreich sind tatsächlich einige TGV-Züge für die Postbeförderung ausgestattet und im Einsatz. In Deutschland gibt es zwar seit Mitte der 90er Jahre schnelle Frachtzüge, die zunächst als Post-Inter-­ city und heute als Parcel-Intercity unterwegs sind. Sie bestehen aber aus herkömmlichen Container-Tragwagen, die für 140 km/h zugelassen sind. Diese Züge könnten die steigungsreiche Neubaustrecke von Wendlingen nach Ulm nur mit einer geringen Zahl von angehängten Wagen befahren. Kirfel bezifferte in der Schlichtung die zulässige Last auf sieben Containerwagen. Daher nennen Spötter diese Züge mit einem ganz anderen Zungenschlag „Kaufmannszüge“: weil diese Züge reinen virtuellen Charakter in den äußerst optimistischen Kalkulationen der mit der Neubaustrecke betrauten Kaufleute haben.

Symptomatisch für das deutsche Schienennetz: Seit 9 Jahren ist der Tunnel Sandberg im thüringischen Traßdorf vollendet, doch der ICE fährt auf der Schnellfahrstrecke Nürnberg – Erfurt noch lange nicht. Güterzüge wird man hier niemals sehen. Die BAB 71, welche das Bauwerk überquert, wurde zeitgleich mit dem Bau der NBS begonnen und bereits im Jahre 2005 war die Strecke Erfurt – Schweinfurt fertig gestellt.

derFahrgast 3/2011

Kein Geld für Güterbahnen auf Jahre hinaus Doch während Milliarden im Thüringer Wald vergraben werden, wurde ganz in der Nähe um die Elektrifizierung der für den Güterverkehr zukünftig extrem wichtigen Bahnlinie von Reichenbach nach Hof hart verhandelt, die etwas mehr als 100 Millionen Euro kosten soll. Für die Elektrifizierung der Anschlussstrecke nach Regensburg gibt es bislang keine Finanzierungszusagen; hier wird ­eine halbe Milliarde Euro veranschlagt. Im Rheintal sieht es auch nicht besser aus: für den Tunnel durch Rastatt, der ­einen Engpass beseitigen würde, stehen die benötigten 600 Millionen Euro bislang nicht zur Verfügung. Der Ausbau der Rheintalstrecke von Offenburg nach Basel schleppt sich hin. Während sich die Bürger dort immer stärker in Bürgerinitiativen ­organisieren, muss die DB AG um Kosteneinsparungen feilschen. Weiter rheinabwärts, am rechten Niederrhein, ist die Zukunft der Betuwe-Linie ungewiss. Zwischen Oberhausen und Emmerich fahren heute immer mehr Güterzüge in der Nacht und rauben den Anwohnern den Schlaf. Diesen gravierenden Problemen zum Trotz sind die sieben Milliarden Euro für „Stuttgart 21“ und die Neubaustrecke nach Ulm fest eingeplant. Das ist mehr als das Vierfache des Betrages, den der Bund zurzeit für Schienenverkehrsinvestitionen jährlich zur Verfügung stellt. Eine Provokation, welche die Güterverkehrslobby auf die Barrikaden bringen muss. Und genau auf diesen befindet sie sich nun. Im Grunde vertritt das Netzwerk Privatbahnen insoweit auch die Interessen von DB Schenker Rail, dem größten Güterverkehrsunternehmen Deutschlands. Aber die Konzernräson verbietet es der Frachtabteilung der Staatsbahn bisher, laut über die Folgen der Stuttgart 21-Finanzierung nachzudenken – obwohl die Meinung der Führungskräfte im Vertrauen eindeutig ausfällt. Auf den ersten Blick sieht es nun so aus, als ob das Netzwerk Privatbahnen Güterverkehr gegen Personenverkehr ausspielen wolle. Doch tatsächlich ist es nur die Reaktion auf eine seit Jahrzehnten unehrliche Verkehrspolitik der Bundesregierungen, die auf Leuchttürme setzt, statt in Nachhaltigkeit zu investieren. Der öffentliche Auftritt des Netzwerks Privatbahnen ist somit voller Protest gegen die Unterfinanzierung des Schienenverkehrs in der Fläche und folglich eine hochpolitische Aktion.

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Anhaltende Massenproteste: Die Mehrheit in der Stuttgarter Bevölkerung ist gegen den geplanten Tiefbahnhof.

Die spannende Frage: Würde das Netzwerk Privatbahnen diese Position auf­ geben, sobald die Bundesregierung mehr Geld für den Ausbau der Güterbahnen in Aussicht stellt? Die Folgen?

nommen werden. Schon der Erhalt von zwei oder vier oberirdischen Gleisen würde die derzeitigen Pläne, das Bahngelände frei zu machen und Immobilienprojekten zuzuführen, ad absurdum führen. Der entscheidende Zeitpunkt, in dem sich die Zukunft des Kopfbahnhofs auf diesem Weg entscheiden könnte, kommt erst nach Abschluss der Bauarbeiten für den Tunnelbahnhof, und das wäre in zehn bis fünfzehn Jahren. Wie sieht dann die Landschaft der Unternehmen im Güterverkehr aus und wer könnte dann ein Interesse daran haben, den Kopfbahnhof zu übernehmen, um sich an einem neuralgischen Punkt des deutschen Schienennetzes einzukaufen? Wie entwickelt sich der Wettbewerb im Fernverkehr? Gibt es bis dahin ein Unternehmen, das auf einer für Stuttgart relevanten Strecke privaten Fernverkehr anbietet? „Zunächst wird ein breites Bündnis, in dem eben auch die Beteiligung der Bürgerschaft vorgesehen ist, eine Fest­ stellungsklage anstreben und somit eine ­Ausschreibung um die Abgabe der letzten Meile erzwingen“, erläutert Matthias Oomen, PRO BAHN-Bundes­ presse­­­sprecher, die gegenwärtige Lage. Doch auch wenn die ersten Schritte ­be­reits unternommen sind und die Stuttgarter Netz AG Mitte Mai 2011 ihre Gründung bekannt gab, dieses breite Bündnis gibt es noch nicht. Und eine finanzielle ­Be­teiligung von PRO BAHN an diesem Bün­dnis ist aufgrund der gemeinnützigen

Foto: Oliver Braitmaier, via Bahnprojekt Stuttgart-Ulm e.V.

Völlig unabhängig von den politischen Hintergründen muss die Möglichkeit, dass ein anderes Unternehmen den Kopfbahnhof übernehmen möchte, sehr ernst ge-

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Struktur des Fahrgastverbandes nur schwer zu vermitteln, sodass die größte Anstrengung aus Stuttgart selbst kommen muss. Wenn die Gerichte das letzte Wort sprechen, müsste die DB AG nicht nur 744 Millionen Euro an die Stadt Stuttgart für die Grundstücke zurückzahlen. Sie müsste auch noch dabei zusehen, wenn viele ­Züge im oberirdischen Bahnhof halten, weil den Unternehmen der Halt im Tiefbahnhof zu teuer ist. Für die Finanzen der DB Netz AG wäre ein Erfolg des Vorhabens ein Desaster, für den Steuerzahler erst recht. Die für Stuttgart 21 verantwortlichen Parteien CDU und FDP, in Stuttgart im Volksmund auch „Tunnelparteien“ genannt, müssten nicht nur eine krachende politische Niederlage verdauen, sondern hätten auch noch mit einem enormen Gesichtsverlust zu kämpfen. Allerdings dürfte es die Fahrgäste weniger stören, wenn die Immobilienpläne der Stadt Stuttgart nicht aufgehen. Im ­Gegenteil, ein intakter Kopfbahnhof böte für Fahrgäste durchaus auch Vorteile, bspw. unter dem Aspekt der Barrierefreiheit. Direkt schon kurios wäre es, wenn auf diese Weise ein Vorschlag Wirklichkeit werden würde, den die Befürworter des Kopfbahnhofs – einschließlich des Fahrgastverbandes PRO BAHN – schon Mitte der 90er Jahre gemacht hatten: den Bau eines Tunnelbahnhofs allein für die durchgehenden Züge und den Hochgeschwindigkeitsverkehr und den Erhalt des Kopfbahnhofs für die Züge des Regionalverkehrs. Doch dieser Sieg wäre kein Moment des Triumphs. Viel Steuergeld wäre un­ nötig vergraben, das Ansehen des Systems Bahn wäre durch die im letzten Jahr angewandten Gewaltmittel nachhaltig beschädigt, die DB AG wäre als Bauherr völlig diskreditiert. Für Stuttgart 21 ist es unter anderem auch deshalb an der Zeit, die Notbremse zu ziehen und die vielen offenen finan­ ziellen, technischen und juristischen Fragen final zu klären. Im Falle des Scheiterns stünde die von der Mehrheit der Stutt­ garter Bürgerschaft bevorzugte Alterna­ tive Kopfbahnhof 21 längst bereit. Matthias Oomen, Friedhelm Waldheim

Platzen die Träume der „Spätzle-Connection“? Den Stuttgarter Immobilienprojekten könnte das Netzwerk Privatbahnen einen Strich durch die Rechnung machen.

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Aktuelle Informationen zur Stuttgarter Netz AG findet man unter www.stuttgarter-netz.de

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