Zuversichtlich ins Ungewisse

„Es war der 9. Januar 1970“, erzählt Hasibe. Auch die Uhrzeit weiß sie noch genau: Um 9 Uhr setzt sich der „Kara Tren“ in Bewegung. Seinen Namen trägt der.
203KB Größe 3 Downloads 298 Ansichten
Zuversichtlich ins Ungewisse Generation Gastarbeiter : Vor 50 Jahren brachen die ersten türkischen Arbeitskräfte nach Deutschland auf – ein Sonderzug folgt heute ihren Spuren VON CANAN TOPçU

Istanbul. Mit zwei Koffern besteigt Hasibe Altin den Zug. In einem hat sie Unterwäsche, Schuhe, warme Sachen und Socken; der andere enthält Kochgeschirr, Tee, Zucker, Reis, Bohnen und andere Lebensmittel. Damit sie nach ihrer Ankunft genug zu essen hat. Die junge Frau weiß nichts über Deutschland. Sie hat nur mitbekommen, dass das Land Arbeitskräfte sucht. Ein paar Jahre will sie dort bleiben, schnell viel Geld sparen, sich eine Wohnung kaufen. Den Weg ins Wirtschaftswunderland bahnt ihr die Gesundheitskontrolle. „Sie haben mir in den Mund geschaut, mich bis auf die Unterhose ausgezogen und untersucht“, berichtet sie. Heute wie damals empfindet sie Scham, wenn sie daran denkt. Diese Prozedur müssen alle über sich ergehen lassen im „Deutschen Verbindungsbüro“, das kurz nach dem deutschtürkischen Anwerbeabkommen vom 30.Oktober 1961 in Istanbul eröffnet wird. Hasibe hat Glück, sie bekommt innerhalb von 14 Tagen einen Arbeitsvertrag – als Näherin in einer Textilfirma bei Koblenz. Frauen haben nach der ersten Anwerbephase mehr Chancen auf einen Arbeitsplatz in Deutschland. Vor allem in der Elektro-, Bekleidungs- und Textilindustrie werden sie gebraucht. Rund ein Viertel der türkischen Gastarbeiter ist weiblich. Nicht nur als Ehefrauen und Bräute, wie es das Vorurteil will, kommen also Frauen nachDeutschland. Im Gegenteil : Für manche bietet der Anwerbevertrag die Chance zur Flucht aus einer unglücklichen Ehe. So auch für Hasibe. Ihrem Mann verschweigt sie ihren Plan. Sie gibt die zweijährige Tochter bei Verwandten in Obhut und steigt an Istanbuls europäischem Bahnhof Sirkeci in den Zug. „Es war der 9. Januar 1970“, erzählt Hasibe. Auch die Uhrzeit weiß sie noch genau: Um 9 Uhr setzt sich der „Kara Tren“ in Bewegung. Seinen Namen trägt der „Schwarze Zug“ zu Recht: Er wird mit Kohle befeuert. Kein deutsches Wort kennt die 30-Jährige damals. Nur radebrechend spricht sie die Sprache heute. Obwohl sie immer noch in Deutschland lebt. Warum eigentlich? „Ich habe so viel gearbeitet, dass keine Zeit dafür war“, sagt Hasibe. Es lohnt sich gar nicht, weil sie doch bald zurückkehren wird, denkt sie lange. Aus demselben Grund kauft sie keine Waschmaschine, zehn Jahre lang wäscht sie von Hand. Heute schüttelt sie über sich selbst den Kopf. Es ist kein schönes Leben, das hinter ihr liegt. Sie ist überfordert in Deutschland, kann so vieles nicht verstehen und deuten. Ihr Spielraum bleibt klein,

nicht nur mental, auch räumlich. Sie teilt sich das Zimmer mit einer türkischen Kollegin, um Miete zu sparen, geht nicht aus, vermeidet Ausgaben. Sie spart für eine Eigentumswohnung und unterstützt ihre Familie in der Türkei. Jetzt ist Hasibe 71 Jahre alt, hat kaputte Knie, Diabetes, Bluthochdruck. Nur 700 Euro hat sie zum Leben. Die Rentnerin beschwert sich aber nicht. Vielleicht hilft ihr der Glaube. Hasibe ist gottesfürchtig. Ansprüche zu stellen hat sie nie gelernt. Ihre Geschichte erzählt Hasibe während einer Bahnreise. Nach 41 Jahren sitzt sie wieder im Zug nach München. Diesmal nicht auf „Einladung“ eines deutschen Arbeitgebers, sondern des türkischen Fernsehens, das Sendungen über das Anwerbeabkommen vorbereitet. Als eine von 35 türkischen „Gastarbeitern“ aus Deutschland fährt sie mit dem „Göç treni“, dem „Zug der Migranten“. Abfahrt ist wieder am Bahnhof Sirkeci. Wieder auf Gleis 1. Aber alles ist anders. Zweimal die Woche fahren seit 1961 von hier aus Sonderzüge der Deutschen Bundesbahn nach München. Drei Tage und zwei Nächte dauert die Fahrt auf harten Bänken, es gibt kein warmes Essen, nicht genug Wasser; die Toiletten sind verdreckt und verstopft, die Abteile voll. Jung und gesund sind die Frauen und Männer, die als Gastarbeiter nach Deutschland gehen. Sie lassen in der Hoffnung auf eine finanziell sichere Zukunft Eltern, Ehepartner und Kinder zurück. Sie fahren voller Zuversicht in eine ungewisse Zukunft. Anders als damals sitzen die Reisenden des „Göç-Treni“ jetzt auf weichen Polstern, bekommen auf der dreitägigen Reise warmes Essen, heißen Tee und kalte Getränke serviert. Die Nächte verbringen sie in Fünfsternehotels. Die Fahrt ist bestens organisiert. Anstrengend ist sie aber auch diesmal. Denn inzwischen sind sie alle alt und gebrechlich. Für Hasibe und die anderen ist es eine Reise in die Vergangenheit, sie lassen ihr Leben Revue passieren. Die Erzählungen dieser „Gastarbeiter“ ähneln einander. Bisher wollte ihnen kaum jemand zuhören. Im Jubiläumsjahr werden sie von Journalisten und Kamerateams umzingelt und verstehen das nicht. Bisher haben sich weder deutsche noch türkische Politiker groß um sie gekümmert. „Uns sahen sie nur als Devisenbringer“, sagen sie, oder: „Wir haben vieles mit uns machen lassen und zu lange geschwiegen.“ Einige aus der Gruppe klagen, dass sich Parlamentspräsident Cemil Çicek, der im Zug sitzt, nur kurz bei ihnen blicken lässt. Und das in Begleitung von Kamerateams und Journalisten. So mancher Gastarbeiter-Veteran fühlt sich da als Statist einer Inszenierung, die in Sirkeci veranstaltet wurde und am Ziel noch einmal bevorsteht. In Istanbul gab es eine Abschiedsfeier mit Politikerreden und Liveübertragung im Fernsehen, in München wird es eine Begrüßung geben – diesmal mit Politprominenz aus Deutschland und der Türkei. Das sich zum 50. Mal jährende Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland wird auf diese Weise groß gefeiert. Es dringt aber kaum durch, dass die Initiative damals von der Türkei ausgegangen ist: Die Geldüberweisungen der Gastarbeiter in die Heimat, so hofft Ankara nämlich, sollen Defizite in der türkischen Handelsbilanz ausgleichen. Das deutsche Außenministerium wiederum gibt erst auf Drängen der USA nach, die die geostrategische Bedeutung des Nato-Verbündeten im Blick hat. Der Vertrag enthält eine Reihe von Sonderklauseln. So dürfen nur Ledige kommen, ein Familiennachzug wird nicht zugelassen, und die Arbeitskräfte

sollen nach zwei Jahren ausgetauscht werden. Diese Restriktionen werden nach drei Jahren aufgehoben. Auch danach ist aber nicht vorgesehen, dass die Gastarbeiter dauerhaft bleiben, die Realität der Einwanderung wird jahrzehntelang verleugnet. Um einen Rückkehranreiz zu bieten, wird noch Anfang der achtziger Jahre ein Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft verabschiedet. Konkret bedeutet das: Arbeitnehmern wird der eigene Anteil an Rentenversicherungsbeiträgen ausgezahlt. Arbeitslose erhalten zudem eine Zahlung in Höhe von 10500 Mark sowie 1500 Mark für jedes Kind. Die Rückkehrhilfe nehmen mehrere Zehntausend türkische Familien in Anspruch. Die meisten bleiben aber in Deutschland, träumen weiterhin von einer Rückkehr – und lassen sich nicht ein auf das deutsche Dasein. So auch Hasibe Altin. Die Probleme sind programmiert: Wie Hasibe sehen auch viele andere Gastarbeiter keine Notwendigkeit, Deutsch zu lernen und so Weichen für die Zukunft ihrer Kinder zu stellen. Auch die Bundesregierung geht zu lange davon aus, dass die Arbeitsmigranten wieder gehen werden. Ihre Integration vorzubereiten ist nicht Teil der Ausländerpolitik. Obwohl Wohlfahrtsverbände, Kirchen und hellsichtige Politiker darauf dringen. Erst im vergangenen Jahrzehnt vollzieht sich ein Wandel, wenn auch nicht alle Politiker das inzwischen offizielle Credo teilen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Für die Generation der Gastarbeiter ist vieles schon zu spät. Die Teilnehmer der Nostalgiefahrt haben sich mit ihrem Leben arrangiert, für sie ist Deutschland zur „zweiten Heimat“ geworden. Freimütig erzählen sie von ihren einstigen Träumen, Hoffnungen und auch Fehlern. Mal lachen sie, mal weinen sie dabei. Je länger die Fahrt dauert, desto häufiger fließen die Tränen. Vergessene Glücksmomente, verdrängte Schmerzen kommen wieder hoch. Zu gern wüsste man, ob diese Reise das Leben Hasibes und der anderen auch noch einmal verändern wird. Dieser Artikel ist in der Hannoverschen Allgemeinen vom 29. Oktober 2011 erschienen.