zur Akzeptanz von Großprojekten - Bibliothek der Friedrich-Ebert ...

Untersuchungen hilfreich, um überprüfen zu können, ob die Industrie in der deutschen Bevöl- kerung unter einem grundsätzlichen Akzeptanz- defizit leidet oder ...
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Juni 2013

Analysen und Konzepte zur Wirtschafts- und Sozialpolitik

direkt

Industriefeindlichkeit in Deutschland: Zur Akzeptanz von Großprojekten Anna-Lena Schönauer1

Auf einen Blick

Die Bedeutung der deutschen Industrie für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist seit der Finanz-

Politik, Wirtschaft und Medien beklagen in den

marktkrise wieder in den öffentlichen Fokus gerückt.

letzten Jahren vermehrt die fehlende Akzeptanz

Insbesondere in der Politik scheint sich eine Rückbe-

in der deutschen Bevölkerung gegenüber der

sinnung auf die Wirtschafts- und Innovationskraft

Industrie im Allgemeinen und industriellen

des sekundären Sektors zu vollziehen. Bei einem der

Großprojekten im Besonderen. Die zunehmenden

derzeit größten politischen Projekte kommt der

Proteste beim Bau und Ausbau von Großprojek-

Industrie zusätzlich eine Schlüsselrolle zu: Die Ener-

ten werden als eine Gefahr für den Wirtschafts-

giewende ist ohne das Zutun der Industrie nicht

standort Deutschland gesehen und auch die von

realisierbar. Ihre Umsetzung läuft jedoch, wie auch

der Bundesregierung ausgerufene Energiewende

andere industrielle Großprojekte, Gefahr, durch Bür-

verzögert sich auf Grund der Proteste gegen den

gerinitiativen und -proteste zu scheitern. Vertre-

Stromnetzausbau zusehends. Dabei stellt sich

terinnen und Vertreter aus Politik und Wirtschaft

die Frage, ob von einer grundsätzlichen Indus-

beklagen daher in den letzten Jahren eine zuneh-

triefeindlichkeit in Deutschland ausgegangen

mende Industriefeindlichkeit und fehlende Akzep-

werden kann, oder ob nicht vielmehr einzelne

tanz der Industrie in der deutschen Bevölkerung,

Branchen unter einem Akzeptanzdefizit leiden?

welche eine Gefahr für den Standort Deutschland

Darüber hinaus ist auch in Bezug auf die Proteste

darstelle.2

gegen industrielle Großprojekte die Rolle der Industrie ungeklärt. Vielmehr scheint es andere

Spätestens mit dem Beschluss zur Energiewende und

Faktoren als eine zunehmende Industriefeind-

dem damit verbundenen Ausbau des Stromnetzes

lichkeit zu geben, welche Auslöser der Proteste

steht dieses Thema auf der politischen Agenda. Im-

sind. Die Aufdeckung der Ursachen dieser

mer häufiger drohen Projekte unter dem Druck der

Proteste ist die Voraussetzung, um geeignete

sogenannten „Wutbürgerinnen und -bürger“ zu

Verfahren zur Akzeptanzgewinnung zu ent-

scheitern.3 Dabei trifft der „bürgerliche“ Protest so-

wickeln und somit Deutschland als Industrie-

wohl klassische Anlagen wie bspw. das Steinkohle-

standort nachhaltig zu stärken.

kraftwerk von E.ON in Datteln als auch neue Pro-

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jekte, die im Zuge der Energiewende umgesetzt

der Industrie für die Wirtschaft in einem Land. In

werden wie der Netzausbau oder die Errichtung

westlichen Industrieländern, in welchen post-

von Windparks. Die wissenschaftliche Betrach-

materialistische Werte eine zunehmend wichti-

tung liefert bisher vornehmlich Ergebnisse zu

gere Rolle spielen, scheint es, dass sich mit einer

den Erscheinungsformen der Proteste und den

wachsenden Tertiarisierung eine zunehmende

damit verbundenen Bürgerbeteiligungsverfah-

Entfremdung der einzelnen Individuen zur In-

ren. Untersuchungen zur Akzeptanz und zu Ein-

dustrie vollzogen hat.5

stellungen in der Bevölkerung von und zur Industrie liegen derzeit noch nicht vor.

Identifikation der Einstellungen in der Bevölkerung

Differenzierte Betrachtung nach Industriebranchen In der Forschung zur Technikakzeptanz wurden das durchaus vielfältige und komplexe Ein-

Die Debatte um die Industriefeindlichkeit weist

stellungsobjekt „Technik“ nach verschiedenen

große Parallelen zur Debatte um die Technik-

Technikbereichen unterschieden und die jeweili-

akzeptanz auf, welche ihren Höhepunkt in den

ge Akzeptanz der einzelnen Bereiche untersucht.

1980er Jahren im Zuge der Anti-Atomkraft-Be-

Klassischerweise wird zwischen drei verschiede-

wegungen erlebte. Damalige Meinungsumfragen

nen Technikbereichen unterschieden: Produkt-

belegten eine zunehmende technikfeindliche

und Alltagstechnik, Arbeitstechnik und externe

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Haltung der deutschen Bevölkerung. Die Debat-

Technik. Insbesondere erstere stößt auf eine star-

te mündete in einer Vielzahl von wissenschaft-

ke Fürsprache in der Bevölkerung, ebenso ließ

lichen Studien zur Untersuchung der Technik-

sich für den Bereich der Arbeitstechnologien kein

akzeptanz bzw. -feindlichkeit in Deutschland.

Akzeptanzdefizit nachweisen. Lediglich für den

Diese Studien präzisierten die Ergebnisse der Mei-

Bereich der externen Technologien konnte ein

nungsumfragen und zeichneten ein differenzier-

solches Akzeptanzdefizit festgestellt werden.6

teres Bild der Einstellungen in der Bevölkerung.

Diese Kategorie umfasst großtechnische Anlagen

Demnach konnte eine technikfeindliche Haltung

wie z. B. (Kern-)Kraftwerke, Chemieunternehmen

in der deutschen Bevölkerung nicht nachgewie-

oder Müllverbrennungsanlagen, welche auch in

sen werden. Vielmehr zeichnete sich eine zuneh-

der Diskussion um die Industriefeindlichkeit im

mend ambivalente Einstellung zur Technik ab:

Fokus stehen.

Einerseits wurde die Technik hinsichtlich der mit ihr verbundenen Rationalisierung von Arbeits-

Analog zur Technikakzeptanzforschung ist auch

plätzen und den negativen Auswirkungen auf

das Einstellungsobjekt „Industrie“ äußerst viel-

die Umwelt kritisch betrachtet. Andererseits gab

fältig und komplex, da es zum einen eine Viel-

es durchaus ein Bewusstsein für die Bedeutung

zahl von Branchen umfasst und zum anderen

der Technik für den wirtschaftlichen Fortschritt.

nicht immer eindeutig von anderen Sektoren wie

Zusammenfassend kamen die Studien zu dem

z. B. dem Dienstleistungssektor abgrenzbar ist.

Schluss, dass in Deutschland keine grundsätzli-

Eine differenzierte Betrachtung nach verschiede-

che Technikfeindlichkeit existiert.

nen Branchen scheint daher angemessen und notwendig: So ist anzunehmen, dass bspw. die

2

Auch in der aktuellen Situation wären derartige

IT- und Telekommunikationsindustrie in der Be-

Untersuchungen hilfreich, um überprüfen zu

völkerung positiver wahrgenommen wird als

können, ob die Industrie in der deutschen Bevöl-

bspw. die Chemieindustrie, welche weitaus stär-

kerung unter einem grundsätzlichen Akzeptanz-

ker auf den Einsatz externer Techniken ange-

defizit leidet oder ob nicht auch in Bezug auf die

wiesen ist. Vor diesem Hintergrund ist es erfor-

Industrie eher ambivalente Haltungen und Mei-

derlich, in der weiteren Debatte zwischen den

nungen vorherrschend sind. Eine wichtige Rolle

verschiedenen Branchen möglichst genau zu

spielt dabei die Wahrnehmung der Bedeutung

differenzieren.

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Die Industrie als „Nachbar“

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Dabei läuft die Betrachtung von Protesten gegen industrielle Großprojekte schnell Gefahr, das

Doch auch wenn sich im Rahmen wissenschaft-

eigentliche Problem verengt darzustellen. Denn

licher Analysen lediglich eine ambivalente Ein-

auch gegen Großprojekte nicht-industrieller Art

stellung gegenüber der Industrie feststellen ließe

formiert sich gemäß dem NIMBY-Effekt lokaler

und nur einzelne Branchen von der breiten

Widerstand. So sind bspw. auch Infrastruktur-

Öffentlichkeit kritisch wahrgenommen werden

projekte Gegenstand von Widerständen in der

sollten, bleibt der Umstand, dass sich in Deutsch-

Bevölkerung. Prominente Beispiele sind der Um-

land zunehmend Proteste gegen Großprojekte

bau des Stuttgarter Hauptbahnhofes oder des

formieren, bestehen. In der öffentlichen Debatte

Münchener Flughafens. Und auch staatliche und

wird gerade diese Entwicklung mit einer fehlen-

soziale Einrichtungen können Gegenstand loka-

den Akzeptanz gleichgesetzt, unabhängig davon,

ler Proteste werden, wie z. B. Asylbewerberheime

wie differenziert diese letztlich ausgestaltet ist.

oder Justizvollzugsanstalten. Insgesamt sollte be-

Die Proteste und die aus ihnen heraus entstehen-

achtet werden, dass lokaler Protest und fehlende

den Bürgerinitiativen verzögern oder verhindern

Akzeptanz kein spezifisches Problem industrieller

nicht selten den Bau oder die Inbetriebnahme in-

Großprojekte darstellen und somit auch nicht

dustrieller Großanlagen. Dabei weisen die Proteste

zwingend Ausdruck industriefeindlicher oder

eine andere Struktur und Qualität auf als die Anti-

-kritischer Ansichten sein müssen.

Atomkraft- oder die in den letzten Jahren entstandene Occupy-Bewegung.

Vielmehr scheinen die Proteste Ausdruck eines voranschreitenden Individualisierungsprozesses

Während bei diesen häufig eine grundsätzliche

in einer Gesellschaft zu sein, in welcher Werte

Systemkritik und die Verteidigung von Überzeu-

wie Freiheit, Gesundheit und der Schutz der Um-

gungen im Fokus der Protestierenden steht, sind

welt eine bedeutendere Rolle spielen. Der fremd-

die Proteste gegen Großprojekte zumeist nicht

bestimmte Eingriff in die eigene Lebensumwelt

ideologisch motiviert, sondern durch individu-

durch den Bau von Anlagen oder Einrichtungen

elle Interessen geleitet. Zudem unterscheiden

wird daher als eine Bedrohung der eigenen Werte

sich die Bewegungen und Proteste hinsichtlich

und der Autonomie der Bürgerinnen und Bürger

ihrer Reichweite. Während sich bei den Anti-

wahrgenommen. Um einen gesellschaftlichen

Atomkraft- oder der Occupy-Bewegung Men-

Ausgleich zwischen den Interessen zu finden,

schen aus dem ganzen Land zusammenfinden

müssten Politik und Wirtschaft in einem ersten

(und sich auch internationale Bewegungen ent-

Schritt daher zunächst ein Verständnis für die

wickelten), rekrutieren sich die Protestler gegen

Interessen und Ängste der Bürgerinnen und Bür-

Großprojekte zumeist aus dem unmittelbaren

ger entwickeln und lernen, diese abseits von vor-

lokalen Umfeld. Es handelt sich dabei um Perso-

gefertigten Schablonen wie „Die Deutschen sind

nen, welche nach subjektiver Wahrnehmung

industrie-, technik- oder innovationsfeindlich“

vom Bau oder Ausbau von Großanlagen negativ

zu interpretieren. In einem zweiten Schritt kann

betroffen sind. Hier spricht man auch vom so-

dieses Verständnis in Instrumente umgesetzt

genannten Not-In-My-Back-Yard-Effekt (NIMBY).

werden, welche zur Lösung der Widerstände und

Dabei weisen die Protestierenden nicht in allen

Proteste beitragen.

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Fällen eine grundsätzliche Ablehnung gegen die Industrie oder industrielle Großprojekte auf. Dies zeigt das Beispiel der Windenergie, welche von der Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger in Deutsch-

Verfahren der Akzeptanzbeschaffung: Bürgerbeteiligung und die Suche nach neuen Wegen

land äußerst positiv bewertet wird, da sie als besonders emissionsarm gilt. Doch trotz der positi-

Ein bekanntes Verfahren zur Akzeptanzbeschaf-

ven Bewertung regt sich beim Bau der Wind-

fung ist das der Bürgerbeteiligung. In der Praxis

krafträder zum Teil heftiger lokaler Widerstand.

findet dieses Verfahren mittlerweile regelmäßi3

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gen Einsatz – allerdings nicht immer mit Erfolg.

fenen Bürgerinnen und Bürger vorsehen. Dieses

Ein grundsätzliches Problem dieses Verfahrens

Vorgehen folgt der Prämisse, dass Bürgerinnen

besteht zumeist in seiner verkürzten Anwendung.

und Bürger, welche an den Großprojekten An-

Es ist nach jetzigem Stand der Forschung nicht

teile erwerben und somit an etwaigen Gewinnen

ausreichend, wenn die Bürgerinnen und Bürger

der Anlagen beteiligt sind, den Projekten posi-

vor Ort lediglich informiert werden. Ein Betei-

tiver gegenüberstehen. Im Rahmen einer Akzep-

ligungsverfahren erfordert mehr als bloße Infor-

tanzstudie des Energieversorgers RWE befür-

mation, es bedeutet, dass die betroffenen Bürge-

worteten viele der befragten Expertinnen und

rinnen und Bürger aktiv mitentscheiden dürfen

Experten aus Politik, Wirtschaft und Verbänden

und ihnen somit ein explizites Mitspracherecht

eine solche Form der Einbindung. Ein weiterer

eingeräumt wird. Dabei steigert eine möglichst

Ansatz ist, dass Unternehmen Großprojekte mit

frühe Einbindung der Bürgerinnen und Bürger in

anderen Investitionen in der Region begleiten,

den Entscheidungsprozess die Erfolgschancen

bspw. den Bau von Sportplätzen oder anderen

des Verfahrens. Dennoch bietet es auch bei ent-

Freizeitangeboten. Grundsätzlich sollten Wissen-

sprechender Anwendung keine Erfolgsgarantie,

schaft, Politik und Wirtschaft die Reichweite von

daher ist eine weitere Optimierung bzw. eine

Verfahren zur Bürgerbeteiligung nicht überschät-

Erprobung neuer Verfahren erforderlich.

zen. Es ist an der Zeit, neue Lösungsansätze zu suchen und zu erproben, um Deutschland als

Besonders interessant, aber bislang wenig er-

Industrie- und Wirtschaftsstandort zu sichern

forscht sind in diesem Zusammenhang Ansätze,

und das Großprojekt Energiewende erfolgreich

welche eine finanzielle Beteiligung der betrof-

zu bewältigen.

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Anna-Lena Schönauer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie, Arbeit und Wirtschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. U.a. Deutsche Industrie- und Handelskammer: Industrie: Deutschlands Motor läuft rund – aber nicht von alleine, Berlin 2011. Ralf Wiegand: Öko? Nein danke – Ruckzuck flüchten die Deutschen aus der Atomkraft. Und jetzt? Kämpfen zig Wutbürgerinitiativen gegen die Alternative. Eine Reise durch die Realität der Energiewende, in: Süddeutsche Zeitung, 25.3.2013, S. 3. Thomas Petermann, Constanze Scherz: TA und (Technik-)Akzeptanz(-forschung), in: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 14, 3, 2005, S. 45f. Johannes Weyer: Die Rolle der Industrie in den gesellschaftlichen Utopien des dezentralen Kapitalismus, in: Birger P. Priddat, Klaus-W. West (Hrsg.): Die Modernität der Industrie, Marburg 2012, S. 91 - 110. Einteilung der Technikbereiche nach Ortwin Renn z. B. in: Technikakzeptanz. Lehren und Rückschlüsse der Akzeptanzforschung für die Bewältigung des technischen Wandels, in: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 14, 3, 2005, S. 31f. Stine Marg, Lars Geiges, Felix Butzlaff, Franz Walter (Hrsg.): Die Macht der Bürger – Was motiviert die Protestbewegungen, BP-Gesellschaftsstudie, Hamburg 2013. RWE AG: Akzeptanz für Großprojekte – Eine Standortbestimmung über Chancen und Grenzen der Bürgerbeteiligung in Deutschland, Essen 2012, http://www.rwe.com/web/cms/mediablob/de/1716208/data/1701408/4/rwe/ueber-rwe/akzeptanzstudie/Akzeptanzstudie-als-PDFherunterladen.pdf (1.5.2013).

Impressum: © Friedrich-Ebert-Stiftung Herausgeber: Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Godesberger Allee 149 53175 Bonn Fax 0228 883 9205 www.fes.de/wiso ISBN: 978 - 3 - 86498 - 571 - 3