Zu lange gemolken

Ebermann sowie die Musiker. Frank Spilker, Knarf Rellöm und. Manuel Schwiers mit ihrer Erich-. Mühsam-Konzertlesung unter- wegs. Die Interventionalistische.
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SONNABEND/SONNTAG, 3./4. NOVEMBER 2012

berlinfolgen Foto: Andreas Graf



GESELLSCHAFT KULTUR MEDIEN w w w . t a z . d e | t a z 2 med i en @t a z . d e

Die Wohnungssuchende Daniela Goller ist das Casting allmählich leid. Menschen aus Berlin erzählen ihre Geschichte. Jeden Samstag neu auf taz.de/berlinfolgen. Eine Koproduktion von taz und 2470media.

Zu lange gemolken

Viele Füße wippten mit

VERZOCKT Teure

wurde mit Blick auf Internetleser in Lateinamerika „die globale Zeitung auf Spanisch“, aus elpais.es wurde elpais.com. Durch die vielen Investitionen stand Prisa schließlich mit fünf Milliarden Euro in den roten Zahlen. Ein externer Investor, der Liberty-Fonds aus den USA, wurde 2010 an Bord geholt. Die Geld-

Zukäufe der Eigentümer haben „El País“ in die Krise gestürzt. Bezahlen müssen dafür die Angestellten, jeder dritte muss gehen. Nun wird gestreikt

„‚El País‘-Chef Cebrián wollte ein Hai an der Wallstreet sein, aber er war nur eine Sardine“

AUS MADRID REINER WANDLER

„EL PAÍS“-KOLUMNISTIN TORRES

Die Szene wiederholt sich täglich: Mitten in der aktuellen Produktion verlassen die Redakteure der größten spanischen Tageszeitung El País ihre Schreibtische. Sie versammeln sich vor der großen Fensterscheibe, hinter der die Redaktionsleitung sitzt. Schweigend und anklagend heben sie ein aktuelles Exemplar ihres Blattes in die Höhe. Der Grund: 149 der 460 Beschäftigten sollen entlassen, dem Rest das Gehalt um 15 Prozent gekürzt werden. Kommende Woche (Dienstag bis Donnerstag) ruft der Betriebsrat zum Streik. 92,6 Prozent stimmten bei einer Urabstimmung für den Ausstand. „Mit diesen harten Kürzungen wird die Qualität des Blattes nur schwerlich aufrechtzuerhalten sein“, heißt es in einem „Brief an die Leser“, den Redakteure an Kiosken in Madrid verteilten. Geschäftsführung und Chefredaktion zeigen sich unbeeindruckt. Die Entlassungen seien „schmerzhaft“, aber „notwendig“, um Kosten zu senken und die Zukunft des Blattes zu sichern. „Wir können nicht weiterhin so gut leben“, erklärte der Chef der El País und der Medienholding Prisa, zu der das Blatt gehört, Juan Luis Cebrián, als er seine Pläne vorstell-

Sí, sí, sí, sí: 92,6 Prozent der „El País“-Belegschaft stimmten für den Streik kommende Woche Foto: Reiner Wandler

te. Cebrián, der jährlich 13 Millionen Euro verdient, sprach von den Werbeeinnahmen, die in den letzten fünf Jahren um mehr als die Hälfte gesunken seien, vom Rückgang der Zeitungsauflagen in Spanien um 18 Prozent im gleichen Zeitraum, von der Krise in der Branche, die bereits 8.000 Journalistenstellen im Land gekostet hat.

Dabei macht El País nach wie vor Gewinn. Im vergangenen Jahr waren es zwölf Millionen Euro, in den ersten sechs Monaten 2012 noch 1,8 Millionen. Ohne Reform werde die Zeitung schon bald in die roten Zahlen rutschen, warnt Cebrián dennoch. Es brauche ein neues Projekt. Redakteure über 50 seien für die Zukunft nicht vorbereitet, fügte der Vorstandsvorsitzende hinzu, der wenige Tage später seinen 68. Geburtstag feierte. „Bei den Verhandlungen gibt es keinerlei Fortschritt“, beklagt der Betriebsratsvorsitzende Manuel González. Die Entlassungen bei El País sollen nach dem neuen Arbeitsrecht vorgenommen werden, das im Laufe der Krise von der konservativen Regierung unter Mariano Rajoy erlassenen wurde und gegen die das Blatt mit spitzer Feder anschrieb. Demnach sind Massenentlassungen nicht erst bei anhalten-

den Verlusten möglich, sondern wenn die Einnahmen drei Quartale in Folge sinken. Dass ausgerechnet Cebrián die Schere ansetzt, schmerzt ganz besonders. Er war Mitbegründer der El País und der erste Chefredakteur der Zeitung, die 1976 nur wenige Monate nach dem Tod von Diktator Franco zum Markenzeichen und Vordenker des neuen, demokratischen Spaniens wurde. „Wir sind das Opfer einer Reihe von Fehlentscheidungen Cebriáns“, beschwert sich González. Die Geschichte von Prisa sei die Geschichte einer Investitionsblase. Auf Pump wurden Fernsehsender gegründet, Medien im Inund Ausland aufgekauft. Die letzte Errungenschaft ist eine Website der US-Onlinezeitung „The Huffington Post“ auf Spanisch. Aus El País, einem Blatt mit gut recherchierten Regionalausgaben in vielen Teilen Spaniens,

geber rund um Nicolas Berggruen halten seither die Mehrheit an Prisa, die Familie des vor fünf Jahren verstorbenen El-Paísund Prisa-Gründers Jesús Polanco wurde an den Rand gedrängt, Cebrián zum starken Mann. „El País war die Kuh, die für all diese Pläne gemolken wurde“, erklärt ein Redakteur. Die Zahlen geben ihm recht: In den Jahren von 2000 bis 2011 machte das Blatt 851,8 Millionen Euro Gewinn. Wochenende für Wochenende verkaufte El País mit den aktuellen Ausgaben CD- und DVD-Sammlungen, Lexika und selbst Kameras und Computer und verdiente damit weit mehr als mit dem eigentlichen Zeitungsgeschäft. „Das Geld saß locker. Die Leute gaben einfach mal so 10 Euro am Kiosk aus“, weiß Betriebsratschef González. Mit der Krise brach dieses Geschäft zusammen, El País kann den schweren Karren Prisa nicht mehr aus dem Dreck ziehen. „Cebrián wollte ein Hai an der Wallstreet sein, aber er war eine kleine Sardine, die alles falsch machte“, resümierte die El-País-Starkolumnistin Maruja Torres anlässlich eines Vortrags an der Universität in Barcelona.

Die Intensivierung der Intensität THEORIE Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy

sprach in Berlin über die Sinnlichkeit der Kunst Was heißt noch Kunst? Diese Frage, der Jean-Luc Nancy am Donnerstagabend in der Berliner Akademie der Künste nachsann, schien fast populistisch zu sein. Mit solchen Sprüchen wird ja gern zu Zeiten gewitzelt, in denen die Kunst Hochkonjunktur hat und für viele der schmale Grat zwischen Bedeutung und bedeutungslosem Unsinn überschritten ist. Kunst – wozu soll sie gut sein?, heißt es dann meist. Doch weder bekamen die Zuhörer im überfüllten Plenarsaal des Behnisch-Baus am Pariser Platz von dem französischen Philosophen eine einfache Antwort auf diese Frage. Noch wurden sie Zeugen ihrer Verdammnis. Vielmehr wurden sie bei dem Mann, Jahrgang 1940, der sein philosophisches Erweckungserlebnis der Begegnung mit Jacques Derrida verdankt und mit seinem 1992 erschienen Werk „Corpus“ auch in Deutschland zum Kultphilosophen avancierte, Zeugen ihrer Rettung aus dem Geist der Dekonstruktion. Hausherr Klaus Staeck, der Präsident der Akademie, wird es nicht gern gehört

haben, als der bedächtige, kleine Mann, der mit einem transplantierten Herzen lebt, auf dem Podium Vorbehalte gegen engagierte Kunst formulierte und den chinesischen Künstler Ai Weiwei einen „Seismografen der politischen Kunst“ nannte. Als er sich von einer Kunst distanzierte, die die Form auf die Struktur reduziere. Und dagegen die Idee von der Kunst als „Haltung des Fühlens“ setzte. Damit wollte Nancy, der zwar langsam, aber perfekt deutsch sprach, nicht zum Kulturkampf blasen. Sondern eigentlich nur weg von den (Begriffs-)Schubladen, in die die Kunst oft gepackt wird. Stattdessen wollte er eine Kategorie in Erinnerung rufen, die bei der derzeit dominierenden Polit- und Konzeptkunst oft vergessen wird: Sinn und Sinnlichkeit. Kunst ist bei Nancy im Grunde nur ein Anwendungsfall dieser Grundsubstanz. Mag sie in Gegnerschaft zur Macht entstehen. Oder in der zu den klassischen Formen. Selbst Ai Weiweis Post eines Nacktfotos im Internet zur

Jean-Luc Nancy am Donnerstag in der Akademie der Künste Foto: D. Schilke

„Feier der freien Kommunikation“ – immer bleibe Kunst ein „Appell an unsere Sinnlichkeit“. Das Positive der sinnlichen Erfahrung sei ihre Offenheit und Unabschließbarkeit. Dass sie immer nach vorne strebe. Einen „Gang zwischen außen und innen“ öffne. Kurzum, eine Bewegung ohne Ziel ermögliche. Und gerade nicht endgültiges Verstehen. All das stimmt natürlich. Trotzdem fiel Nancy damit in eine alte Dichotomie zwischen Denken und Fühlen zurück. Als ob Reflektieren keine Leistung

„Die Revolution ist nicht künstlerisch, aber die Kunst kann revolutionär sein“ JEAN-LUC NANCY

der Sinne wäre. Doch dass ein Wert der Kunst in der „Intensivierung der Intensität der Sinne“ liegt, ist unbestritten. Nur der sensitiv Begabte geht kreativ mit der Welt um. Adornos Klage über die „Entkunstung“ der Kunst erfüllt sich für Nancy folgerichtig nicht damit, dass sie massenhaft wird, sondern erst mit dem Verlust des Sensuellen: „Nur wenn es keine Sinnlichkeit mehr gäbe, gäbe es keine Kunst mehr“, dekretierte der sonst gern unentschiedene Denker ungewohnt entschieden. Zwar hatte es mitunter etwas Beklemmendes, diesem Großmeister der Nuancierungen zu lauschen, der sich gern die Bedeutung der Wörter auf der Zunge zergehen lässt. Während vor dem Glaspalast der Akademie der Hungerstreik der Flüchtlinge gegen die deutsche Asylpolitik Züge lautstarker Sinnlichkeit annahm, spürte Nancy den etymologischen Wurzeln des Wortes „exquisit“ nach. Doch es hat durchaus etwas Progressives, wenn er Ai Weiweis Satz, auch politischer Widerstand sei Kunst, zum Schluss korrigierte: „Die Revolution ist nicht künstlerisch, aber die Kunst kann revolutionär sein.“ INGO AREND

ANARCHIST Erich Mühsam

wurde mit Lesung und Konzert in Köln geehrt Am Eingang der Alten Feuerwache in Köln wurde der Besucher, wie nicht anders zu erwarten war, vom rauchenden Harry Rowohlt begrüßt. Seit vier Jahren sind Harry Rowohlt, Thomas Ebermann sowie die Musiker Frank Spilker, Knarf Rellöm und Manuel Schwiers mit ihrer ErichMühsam-Konzertlesung unterwegs. Die Interventionalistische Linke und die Antifaschistische Koordination Köln luden ein, um an den anarchistischen Literaten zu erinnern. Der Andrang der jungen Gäste und Mühsam-Enkel war so groß, dass zunächst viele zusätzliche Stühle aufgestellt werden mussten. Per Beamerprojektion schaute der „Edelanarchist“, wie Rellöm Mühsam betitelte, auf die neugierigen Zuschauer. Zum Einstieg gab Ebermann mit seiner rauchig-heiseren Stimme einen Überblick: Rowohlt liest die Mühsam-Zitate, Ebermann „das, was die anderen sagten – also nicht so viel“. Bevor es losging,

Erich Mühsam Foto: Bundesarchiv, Bild 146-1981-003-08/ CC-BY-SA

brachten die Musiker mit ihrer Interpretation von Mühsams Texten viele Füße zum Wippen. Tanzbar ist er, der Mühsam-Rave. Der Abend wurde in zwei Hälften unterteilt: Die erste erzählte vom jüdischen Intellektuellen bis 1914, größtenteils in seiner Rolle als Spötter, vom Café des Westens in Berlin, den Wanderjahren in Italien und von seinen Briefen. Sie gaben Grund zur Diskussion. Etwas frotzelnd erwähnte Rowohlt, dass Mühsam „sich gerne selbst zitiert“. Spilker antwortete: „Das ist Zeilenschinderei, aber ich empfinde Solidarität.“ Rowohlt entgegnete: „Es gibt auch kritische Solidarität.“ Nach der Pause wechselte man von den humorvollen zu den ernsteren Texten. Es ging um Krieg, Novemberrevolution und eigene politische Positionierung. Ebermann trug vor, wie Mühsam aus einer anarchistischen Vereinigung ausgeschlossen wurde, der entsprechende Text war in astreinem Beamtendeutsch gehalten. „Ich stelle mir das als Einschreiben vor“, sagte Rowohlt. Als die beiden Musiker Erinnerungen von Zeitzeugen an die Ermordung Mühsams im KZ durch die Nazis vortrugen, herrschte im Raum beklemmende Stille. In der Zugabe erfuhren die Gäste, wie Mühsam nach durchzechten Nächten einen ersten Verleger fand. Und dass das ein Gutes ist, haben die Gastgeber spöttisch, liebevoll und ehrend an diesem Abend bewiesen. DU PHAM