Zärtlich strich Gräfin Aurora über das seidige Haar ...

Gesucht wird ein böser Mensch, aber ich .... Tätigkeit als Unternehmensberater, die sein Talent zum Witze ... einer Unternehmensberatung. Karriere gemacht.
780KB Größe 8 Downloads 197 Ansichten
Gewalt und Leidenschaft: Mord auf Schloß Sturmeck

Ein Roman von Carlota von Löwenberg 3., korr. Auflage

Zärtlich strich Gräfin Aurora über das seidige Haar ihres Sohnes Jonathan, während Tränen über ihre Wangen liefen. Ihr Blick ging aus den Fenstern von Schloss Sturmeck über das weite Land. Graue Wolken wurden vom Wind über die Höhen des Erzgebirges getrieben, und der Regen schlug gegen die Scheiben. Einen Monat zuvor, als ihr geliebter Ehemann Eckhard unter großer Anteilnahme auf dem Schlossfriedhof zu Grabe getragen worden war, herrschte ein ähnliches graues Herbstwetter. Jonathan blickte mit seinen kindlichen blauen Augen zu ihr auf und schaute seine Mutter fragend an, als ob er nicht erfassen könne, warum seine Mutter so traurig war. „Du kannst noch nicht verstehen, mein lieber Sohn, was mich so bewegt. Später, wenn du ein junger Mann

sein wirst, wirst du den Verlust deines Vaters erst erkennen“ sagte die Gräfin, während sie ihre Tränen von den Wangen wischte. Obwohl die traurigen Ereignisse schon einige Wochen her waren, hatte die Gräfin sie noch nicht einmal im Ansatz überwunden. Sie erinnerte sich an den herrlichen Tag, an dem Eckhard mit ihr und den Freunden auf der Rennstrecke zusammengekommen war, um das alljährliche Autorennen seiner Unternehmerfreunde auszutragen. Der Tag, der so unbeschwert begonnen hatte, nahm einen tragischen Ausgang, als ihr geliebter Ehemann tödlich verunglückte. Bis heute war die Ursache des tragischen Unfalls nicht geklärt. In einem anonymen Anruf hatte man ihr mitgeteilt, dass ihr Mann ermordet

1

worden war; sie hatte dies als üblen Scherz abgetan. Das Geräusch der Tür ließ die Gräfin aus den düsteren Gedanken in die Gegenwart kommen. Ihr Schwiegervater, Graf Wolfhard von Sturmeck-Esterhazy, war eingetreten. Graf Wolfhard war trotz seiner 82 Jahre ein fast jugendlich wirkender und attraktiver Mann, fast 1 m 90 groß, schlank und mit einem gepflegten silbernen Haarschnitt konnte er immer noch die Herzen mancher Frauen erobern. Das hatte er auch rege getan, nachdem seine junge Frau, Gräfin Antoinette, schon kurz nach der Geburt ihres jüngeren Sohnes Ansgar an einem Krebsleiden verschieden war. Wolfhard hatte sie erst im reiferen Alter geheiratet, nach einer ausgiebig genossenen Junggesellenzeit. Lange Zeit war die Yacht Wolfhards in den Häfen des Mittelmeers die attraktivste Adresse für junge Damen in Partylaune. Er hatte jedoch seine stürmischen Abenteuer immer so diskret abgewickelt, dass nach außen hin sein makelloser Ruf erhalten blieb. Unter dem Personal des Schlosses munkelte man, dass manche Dame durch die Rechtsanwälte des Hauses mit diskret überreichten Briefumschlägen davon abgehalten worden war, öffentlich Unterhaltsansprüche zu machen. Zu Wolfhards blendendem Aussehen kame sein außerordentlicher Charme, der sich auch auf seine Söhne Eckhard und Ansgar übertragen hatte, hinzu. Auch in seiner Kleidung pflegte Wolfhard seinen Stil auszudrücken. Der Graf trug einen 2

eleganten dunklen Anzug, dessen Krawatte mit dem Einstecktuch perfekt harmonierte. Das aristokratische Auftreten des alten Grafen wurde durch die große Tradition des Hauses SturmeckEsterhazy unterstrichen. Die Familie derer von Sturmeck residierte seit fast tausend Jahren im Erzgebirge. Im 16. Jahrhundert war sie zeitweise eine der mächtigsten Adelsfamilien Europas gewesen. Durch die Heirat mit der Tochter des ungarischen Königs war der Stamm der Esterhazy mit dem der Sturmeck verbunden worden. Bei fast allen wichtigen Anlässen des europäischen Adels war die Familie eingeladen. Durch die jahrhundertelange Disziplin der Sturmeck-Esterhazys war die Familie stets frei von Skandalen geblieben. Sogar die Zeitläufe der jüngeren Geschichte hatten ihr nichts anhaben können. Graf Wolfhard strahlte mit jeder Faser den Stolz dieser alten Familie aus. Zärtlich strich der Graf seiner Schwiegertochter über die Schulter. „Aurora, was bewegt dich so sehr? Musst du immer noch an den Tod von Eckhard denken? Denke an anderes, das Leben geht weiter!“ Er schüttelte mitfühlend den Kopf. „Nein, ach nein, ich kann deinen Sohn nicht vergessen“, sagte Aurora. „Er hat mein Leben so tief geprägt, wie mich niemals ein anderer Mensch prägen wird. Sicherlich hast du Recht, dass ich an andere Dinge denken soll, aber dazu werde ich noch viel Zeit brauchen.“

Während sie dies besprachen, schauten der Graf und Aurora über das weite Land. Noch waren die Erbfragen nach dem Tod Eckhards nicht geklärt, und die Auseinandersetzungen zwischen dem Grafen und seinem zweiten Sohn Ansgar waren nicht beendet. Graf Wolfhard wollte Ansgar nur einen kleineren Teil des Erbes geben, da sonst das Schloss, die umliegenden Ländereien und die SturmeckBrauerei nicht zusammen geblieben wären. Ansgar hatte sich gegen dieses Ansinnen immer gewehrt, weil er gegenüber seinem Bruder Eckhard nicht zurückstehen wollte. Das hatte dazu geführt, dass sich die beiden Brüder in den vergangenen Jahren oft gestritten hatten und dass Graf Wolfhard in seinem Beschluss, Ansgar beim Erbe zu übergehen, umso fester geworden war. Diese bitteren Auseinandersetzungen hatten einen Schatten über das Haus Sturmeck-Esterhazy geworfen, zumal auch die Boulevardpresse davon Wind bekommen hatte. In diesem Moment trat die Zofe der Gräfin, Birgit, in das Zimmer. Birgit Steiner war eine hübsche junge Frau von 20 Jahren mit einem etwas verschmitzt wirkenden Gesicht, das von langen blonden Haaren umrahmt wurde. Sie trug ein schwarzes Kleid mit einer weißen Schürze, das ihr sehr gut stand und ihre weiblichen Formen zur Geltung kommen ließ. Birgit sagte „Frau Gräfin, sie müssen sich jetzt für das festliche Abendessen heute Abend ankleiden, sonst wird es zu spät.“

Aurora schaute sie etwas verärgert an. „Birgit, sehen Sie doch, dass sich im Moment nicht in der Stimmung für ein festliches Abendessen bin!“ Die Zofe antwortete: „Aber Frau Gräfin, dieses Abendessen mit den Honoratioren der Stadt ist doch seit vielen Wochen vereinbart! Man erwartet Sie!“ Graf Wolfhard wandte sich zu seiner Schwiegertochter und sagte: „Aurora, deine Zofe hat recht; auch wenn es für dich sehr schwer ist, so musst du doch deinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen!“ Graf Wolfhard war immer ein Mann gewesen, der das Motto „Adel verpflichtet“ hoch hielt und an sich und an die Familie höchste Maßstäbe anlegte – zumindest wenn es um das öffentliche Ansehen ging. Obwohl er die bürgerlichen Lokalpolitiker verachtete, die zu diesem Abendessen geladen waren, legte er doch großen Wert darauf, dass die gesellschaftliche Etikette gewahrt blieb. Während die drei so zusammen standen, trat Graf Ansgar ein. Er war völlig verschwitzt, und sein langes blondes Haar fiel ihm wild in die Stirn. „Das war ein tolles Tennismatch“, rief er stürmisch und schien gar nicht zu bemerken, dass die Stimmung auf Sturmeck gedrückt war. Scharf wies ihn Graf Wolfhard zurecht: „Siehst du nicht, dass wir in einem ernsten Gespräch sind? Musst du immer nur an deine Vergnügungen denken? Ist dir der Tod deines Bruders ganz egal?“ 3

Ansgar warf sich auf das Sofa und stöhnte auf: „Kannst du mit diesem dummen Geschichten nicht aufhören? Bin ich schuld daran, dass er tot ist? Wir müssen wieder zurück in das Leben!“ Dann stand auf und ging auf seine Schwägerin zu, um sie in den Arm zu nehmen. Aurora wies ihn ab. Birgit beobachtete diese Szene mit einem skeptischen Blick. Einerseits war der junge Graf Ansgar ein bezaubernd gut aussehender Mann, muskulös und mit einem herausfordernden Lächeln seiner stahlblauen Augen konnte man ihm kaum einen Wunsch ausschlagen. In seiner Sporthose und seinem weißen Tennishemd, das mit seiner braun gebrannten Haut kontrastierte, konnte sie kaum den Blick von ihm wenden. Ansgar schien das zu spüren. Er warf der Zofe einen tiefen Blick zu, bevor er sich wieder seiner Schwägerin und seinem Vater zuwandte. Dieser schüttelte immer noch den Kopf über seinen Sohn. Er hatte gehofft, dass die Streitereien über die Erbschaft nach dem Tode von Eckhard zu Ende sein würden. Diese Hoffnung hatte sich nicht erfüllt, was den alten Mann mit Bitterkeit erfüllte. Umso härter traf es ihn, als Ansgar unvermittelt mit dem alten Streit wieder anfing: „Wolfhard, hast du inzwischen die Erbschaftssache geklärt? Wann wird mir die Bude überschrieben? Wir müssen in der Brauerei etwas investieren, sonst schluckt uns bald ein größeres Unternehmen. Man kann doch 4

heutzutage nicht mehr so wirtschaften. Wir müssen neue Wege gehen, in Osteuropa investieren, dort sind die Wachstumsmärkte!“ Das Gesicht von Graf Wolfhard rötete sich. „Was glaubst du eigentlich? Ich werde einen Teufel tun und jetzt etwas an dich übergeben! Solange du nicht deinem verstorbenen Bruder gedenkst, werde ich für dich nichts tun.“ Er schien über den flapsigen Ton seines Sohns tief verärgert zu sein. Außerdem hatte er konservativere Einstellungen zum Geschäftlichen, die aber dazu geführt hatten, dass in letzter Zeit die Einnahmen aus den Unternehmungen zurückgegangen waren. Eckhard, der seinem Vater immer stark verpflichtet war, hatte noch nicht gewagt, hier neue Wege einzuschlagen. Wütend warf Graf Ansgar einen Tennisball aus seiner Hosentasche gegen die Wand. Dieser prallte zurück gegen eine kostbare chinesische Vase, die auf dem Boden zersprang. Graf Wolfhard hatte die alte Sammlung wertvoller Vasen konsequent ausgebaut. Er schrie: „Was denkt ihr immer über mich? Habt Ihr etwas gegen meine Lebensfreude? Ihr habt mich doch nie akzeptiert, immer habt ihr Eckhard bevorzugt! Ich war eben immer der kleine Bruder, der Springinsfeld, der Playboy!“ In diesem Moment wurde an der Tür geklingelt. Die Zofe Birgit ging eilig zur Haustür. Nach kurzer Zeit kehrte sie zurück und sagte: Es ist Besuch da, ein Herr für Gräfin Aurora.

Jede Woche neu im Manfred Müll Verlag:

Fürstenkrone Die schönsten Adelsgeschichten um Liebe und Leid

Geschichten voll Liebe und Leidenschaft – aus der schillernden Welt des Hochadels. Genießen Sie die spannenden Romane aus der Feder unserer Erfolgsautoren! Für nur €1,50 an ihrem Kiosk um die Ecke Aurora fragte: Wer will mich denn jetzt sprechen? Das ist doch sehr ungünstig. Kann der Mann nicht ein anderes Mal kommen?“ Birgit sagte: „Es ist der Kriminalkommissar, der den Tod ihres Mannes untersucht. Er hat gesagt, es sei sehr dringend.“ Aurora forderte Birgit auf, den Mann einzulassen. Birgit erschien mit dem Kriminalkommissar an der Türe. Er war ein mittelgroßer Mann mit einer etwas veralteten Hornbrille, deren eckige Form zu seinem runden und gemütlichen Gesicht nicht sehr gut passte. Sein schon etwas schütteres Haar bedeckte die hohe Stirn kaum. Sein schlecht sitzendes dunkelgrün kariertes Sakko und seine braune Krawatte harmonierten nur wenig. „Peek und Cloppenburg“, dachte Ansgar, „so sind die Bullen eben – kein Geschmack, kein Stil.“

„Bitte entschuldigen Sie, wenn ich sie in dieser Abendstunde störe. Buttenkloh ist mein Name, Albrecht Buttenkloh von der Mordkommission.“ „Bitte, kommen Sie doch herein“, sagte Graf Wolfhard überrascht. „Wir möchten doch sehr gerne wissen, warum sich nun die Mordkommission mit diesem tragischen Unfall befasst.“ Buttenkloh wiegte den Kopf. „Nun“, setzte er bedächtig an, bisher gingen wir ja immer von einem Unfall durch einen Bremsdefekt aus.“ Während er diese Worte langsam sprach, begann er, auf dem Teppich vor dem offenen Kamin auf- und abzugehen. „Wir haben nun aber neue Erkenntnisse. Ein Sachverständiger von der Universität Kretnitz hat mit eingehenden Untersuchungen begonnen. Es liegen schon erste Ergebnisse vor. Wir 5

können nicht mehr vollständig ausschließen, dass an den Bremsleitungen des Wagens, wie soll ich sagen, Veränderungen vorgenommen wurden, die zum Versagen der Bremsen geführt haben“

Geschehen um Eckhards Tod am Tag vorher gewesen sei. Besinnungslos glitt Sie aus den Armen von Wolfhard auf den Orientteppich. Ihr Haupt landete auf dem seidigen Blumenmuster des herrlichen Nain.

Aurora sah ihn entsetzt an: „Genau das, ja“ sagte sie mit bebender Stimme, „genau das hat der anonyme Anrufer auch behauptet““

***

„Welcher anonyme Anrufer?“, fragte Buttenkloh. „Der anonyme Anrufer, der vor zwei Wochen nachts anrief. Ich hielt es für einen schlechten Scherz. Aber er sagte genau das, was Sie gerade eben bestätigt haben“. „Ach, das ist doch Unsinn!“, sagte Ansgar. „Wer hätte das schon tun sollen? Eckhard hatte doch keine Feinde“. Graf Wolfhard blickte nachdenklich seinen Sohn an, wie er, immer noch im Tennisdress, den Eindruck hinterließ, als ob das alles nur ein Spiel sei und der Tod von Eckhard ein Ereignis, das im Alltag mal eben vorkam. Aurora begann bitter zu schluchzen: „Ermordet haben Sie ihn, ermordet“. Wolfhard musste seine Schwiegertochter stützen. „Unsinn“, sagte Graf Wolfhard, „Du hast doch gehört, dass nichts geklärt ist.“ Ansgar meinte: „Wer soll den Eckhard schon ermordet haben? Er hatte doch keine Feinde. Keine Tat ohne Motiv!“ Bittere Erinnerungen überwältigten Aurora. Fast schien es ihr, als ob das 6

Das Aufheulen der Motoren klang in wie Musik in den Ohren von Aurora. Sie liebte die Gerüche nach Benzin und Gummi, die mit dem Hobby ihres geliebten Mannes Eckhard verbunden waren. Schon als sie ihn kennen gelernt hatte, hatte sie seine Leidenschaft für den Motorsport bewundert. Ein strahlender blauer Frühherbsthimmel spannte sich über den Sachsenring. Noch standen die Rennwagen an den Boxen, aber bald würde der Rennleiter Eckhard und seine Freunde zum Start des Unternehmercups, dem gesellschaftlichen Höhepunkt des Jahres für das Haus Sturmeck, aufrufen. Aurora lag auf einem Liegestuhl in der Boxengasse und genoss den Trubel um sie herum. Jonathan kreischte in seinem Kinderwagen vor Begeisterung, wenn die Rennwagen vorbeirasten. „Er wird wie sein Vater, ein furchtloser Rennfahrer“, dachte Aurora. In Eckhards Box standen der Mechaniker Horst Schulze und Graf Eckhard zusammen. Eckhard gestikulierte und schüttelte immer wieder den Kopf. Ihm war die Anspannung anzusehen. „Horst, wir müssen das hinbekommen, ich kann doch nicht

als Gastgeber aussetzen“, stieß Eckhard erregt hervor. „Es geht nicht, Herr Graf, es geht nicht, der Motor ist so schnell nicht hin zu bekommen“, entgegnete Horst. Er war ein schlanker, mittelgroßer Mann, mit einer etwas geheimnisvollen Aura, die durch seinen Vollbart und seine getönte Brille noch unterstrichen wurde. Er gehört auf Schloss Sturmeck sozusagen mit zur Familie, denn er war mit der Zofe Birgit befreundet. Am Morgen hatte er bereits den Rennwagen Ansgars fertig gewartet und sich dann dem nagelneuen Porsche-Tourenwagen Eckhards zugewandt. „Sie müssen das hinbekommen, Horst“ sagte der Graf fast flehentlich und beugte sich nochmals über die Motorhaube. Horst griff zum Schraubenschlüssel und löste die Schrauben des Turboladers. Der Rotor sah schlimm aus, mehrere Flügel waren verbogen. Horst schüttelte den Kopf: „Nichts zu machen, Chef, das kriegen wir mit Bordmitteln nicht hin“, sagte er und warf den Schraubenschlüssel in den Werkzeugkasten. Birgit, die im Hintergrund in einer Zeitschrift geblättert hatte, kam neugierig hinzu. „Was ist, mein Schatz? Bekommst Du das Auto des Herrn Grafen nicht hin?“ „Ich kann viel, aber nicht zaubern“, brummte Horst in seinen Bart. Dieser Turbolader wird nie mehr laden!“

In diesem Moment schlenderte Ansgar in die Box herein. Wie immer, sah er in seinem Rennanzug, mit Käppi, unter dem die blonden Haare hervorquollen, und Sonnenbrille blendend aus. „Dicke Luft hier, was“ rief er. Zu Horst gewandt, ergänzte er: „Was schraubst Du denn so lange an der Kiste von Eckhard herum, der wird doch nur Letzter!“. Eckhard schien das nicht sehr lustig zu finden und schaute seinen Bruder an, der sich inzwischen Birgit zugewandt hatte. „Na, du Perle, hilfst du deinem Horsti beim Schrauben“, scherzte er und schob seine Sonnenbrille auf die Nase, um die weiblichen Formen Birgits genauer in Augenschein nehmen zu können. Horst starrte ihn wütend an und errötete. „Ansgar, benimm dich“, sagte Eckhard und wies auf den Eingang, wo gerade Eckhards Team-Kollegen Uwe Schumeister, Harold Eckes und Sascha Meerfahrt herein schlenderten. „Die drei von der Tankstelle“, wie Eckhard sie nannte, sahen in ihren Rennanzügen zünftig aus. Es war Ihnen kaum anzusehen, dass Sie sonst in dunkle Anzüge gekleidet bei der Endlich AG Manager waren. Schumeister strahlte die Aura des erfolgreichen Machers aus, obwohl er wegen der ständigen hohen Verluste der Endlich AG gerade nach China abgeschoben worden war. Meerfahrt erläuterte Eckes gerade mit wütender Stimme „Das war total Scheiße, dass 7

mich der gerade in der Aufwärmrunde überholt hat. Ich finde es einfach' Scheiße, wenn mich einer überholt“.

nimmst meinen Wagen. Du musst einfach dabei sein. Mir macht das nichts aus, ich bin dann nächstes Jahr wieder dabei.“

Im letzten Jahr waren sie noch zu viert gewesen, aber Anton von Silizitz, der vierte Rennfahrer im Bunde, saß in Untersuchungshaft. Er hatte sein teures Hobby von der Firma finanzieren lassen. Eckhard hatte überlegt, ob er das Rennen in diesem Jahr überhaupt noch ausrichten solle, aber sich dann doch dazu entschlossen. Wenn jemand wegen seiner Rennleidenschaft einen Fehler machte, so musste man dafür Verständnis haben.

„Danke, Ansgar, das ist wirklich nobel von dir“ sagte Eckhard, „ich kann das aber...“

Eckes nahm einen letzten tiefen Zug aus seiner Zigarette, trat sie auf dem blitzblank gewienerten Boden der Box aus und nestelte die nächste aus seinem Overall. Horst hob den zertretenen Zigarettenstummel auf und warf ihn in den Abfalleimer. „Wie fährt der eigentlich“, dachte er sich in seinen Bart, „klemmt er sich die Kippe beim Schalten zwischen die Knie?“ „Hallo ihr drei“, sagte Eckhard im Mollton, „heute scheint es nichts mit unserem Rennen zu werden, Horst bekommt meinen Wagen nicht mehr hin“. Bestürzt schauten ihn die Freunde an. Die große Enttäuschung darüber war Ihren Gesichtern anzumerken. „Eckhard, ohne Dich macht das Ganze keinen Spaß“, sagte Meerfahrt. Da sagte Ansgar plötzlich in des Schweigen hinein: „Eckhard, du 8

Überraschend fiel ihm Horst ins Wort „Nein, auf keinen Fall, Herr Graf, nein, das Angebot dürfen Sie nicht annehmen“, sagte er erregt. Eckhard schaute ihn fragend an. Ansgar rief „Und warum nicht, Du Klugscheißer? Ich werde doch wohl noch mein Auto verleihen dürfen!“ Eckhard wies ihn zurecht „Lass ihn, er ist eben meine treue Seele. Er will, dass ich mit meinem eigenen Wagen gewinne, ist ja sein Baby.“ Harold Eckes schaute Horst nachdenklich an. Was hatte das wieder zu bedeuten? Am Morgen war er an Ansgars Box vorbeigekommen und hatte Horst unter dem Wagen schrauben sehen. Als er ihn freundschaftlich grüßte, war es ihm fast vorgekommen, als Horst sich ertappt fühlte. In diesem Moment ertönte die Fanfare, die zum Start aufrief. Die Fahren traten aus ihren Boxen und stiegen in ihre Wagen. Ansgar rief Eckhard zu „Fahr' aber meine Kiste nicht zu Schrott, du alter Gauner!“. Aurora sah ihren Schwager missbilligend an. „Irgendwie ein netter Kerl“, dachte Sie, aber die Erziehung war ihrem Schwiegervater Wolfhard anscheinend nicht ganz gelungen.

Als die Ampel auf grün ging, schossen die Wagen los. Eckhard erwischte den besten Start und führte das Feld in die erste Runde. Als er in Führung liegend wieder bei Start und Ziel vorbei kam, schien es Aurora, als ob er ihr zugewinkt hätte. Bald entwickelte sich ein harter Zweikampf zwischen Schumeister und Eckhard, mal führte der Eine, mal der Andere. Jonathan jubelte jedes Mal begeistert, wenn das Duo wieder vorbei raste. Neben Ihr stieß Ansgar begeisterte Rufe aus: Eckhard, pack' ihn! Du gewinnst das Rennen!“ „Was für ein feiner Kerl er doch ist“, dachte Aurora, „er hatte sich so auf das Rennen gefreut, und dann gibt er seinem Bruder das Auto ab.“ Sie warf ihrem Schwager einen liebevollen Blick zu. In diesem Moment stieg in der Ferne eine Staubwolke auf. Das musste an der berüchtigten Haarnadelkurve sein, die schon vielen Fahrern zum Verhängnis geworden war. Wenig später rasten die Sanitätswagen in diese Richtung. Ein Unfall musste sich ereignet haben. Ansgar rief „Ich muss da hin“ und sprang in ein Auto. Ein paar Schritte weiter stand Horst mit leichenblassem Gesicht und rauchte nervös. Als Ansgar an die Unfallstelle kam, sah er sein völlig zertrümmertes Auto. Eckhard war offensichtlich fast ungebremst in den Reifenstapel gerast. Die Feuerwehr war gerade damit beschäftigt, ihn aus dem Wrack herauszuschneiden. Aus dem Helm

Eckhards lief unten ein dünner Blutfaden heraus. Kaum war Eckhard befreit worden, versuchte der Notarzt eine Wiederbelebung. Es zeigte sich jedoch schnell, dass seine Kopfverletzungen so schwer waren, dass die ärztliche Kunst vergebens war. Der Arzt zog eine Decke über den Kopf Eckhards und stand mit gefalteten Händen vor ihm. Nach wenigen Minuten fuhr Ansgar zu Aurora zurück. Als er aus dem Auto stieg, erschrak Aurora zutiefst. Ansgars Lächeln war erloschen, und ein bitterer Zug war um seinen Mund erkennbar. Er griff Aurora am Arm und sagte „Komm' in die Box“. Dort angekommen, stieß er hervor: „Es ist etwas Furchtbares passiert. Die Bremsen müssen versagt haben. Eckhard,...Eckhard ist tot“. Aurora erschienen diese Worte unwirklich, und sie brauchte einen Moment, ehe sie sie erfassen konnte. „Eckhard... was... Eckhard ... das kann doch nicht sein“ schrie sie auf, während der Nebel der Bewusstlosigkeit Sie umfing. Ansgar konnte sie gerade noch auffangen und trug sie auf seinen Armen zu einem bereitstehenden Rettungswagen. Jonathan schrie erbärmlich, als er sah, wie seine Mutter davon getragen wurde. Birgit nahm in auf den Arm und versuchte ihn zu trösten. ***

9

Als Gräfin Aurora wieder erwachte, strich Birgit vorsichtig über ihre Stirn. „Frau Gräfin, sie müssen sich schonen. Die Erinnerung an den schrecklichen Unfall ist nicht gut für Sie“. Aurora lächelte und griff die Hand von Birgit „Sie haben Recht, Birgit, ich sollte weniger daran denken. Aber die Erinnerung an meinen geliebten Mann ist manchmal eben doch stärker. Ich werde ihn nie vergessen!“ Die Zofe ging zum Fenster und schloss die Vorhänge. „Sie sollten noch ein wenig ruhen, bevor wir zu Abend essen!“ Ansgar stand aus dem Sessel auf und sagte „Recht hat sie, Aurora. Mach' noch ein Nickerchen, dann sieht die Welt schon wieder anders aus!“ Er klopfte Birgit auf die Schulter und sagte „Komm, Mädchen, wir lassen sie jetzt in Ruhe und machen einen kleinen Spaziergang im Garten!“ Birgit folgte dem jungen Grafen etwas widerwillig. Einerseits bewunderte sie heimlich den lockeren Ton, den er anschlug, andererseits spürte sie auch, dass Ansgar mit ihr mehr vor hatte als nur spazieren zu gehen. Sie war in ihren Gefühlen zwischen Horst und Ansgar hin- und her gerissen. Ansgar und Birgit traten über die Terrasse in den Garten hinunter. Der im Stil eines englischen Landschaftsgartens angelegte Schlosspark wies einen herrlichen alten Baumbestand aus. Durch 10

gepflegte Rhododendrenbüsche gab es auch viele lauschige Ecken, die Graf Wolfhard in seinen jüngeren Tagen einst weidlich ausgenutzt hatte – so lautete jedenfalls das Geflüster unter dem Personal. Im Garten angekommen, fragte Ansgar Birgit: „Was meinen Sie, wird sich meine Schwägerin bald wieder erholen?“ Birgit sah ihn mit traurigen Augen an: „Ich bin mir da nicht sicher, Frau Gräfin leidet sehr unter dem Tod ihres geliebten Gatten. Aber sie ist eine willensstarke Frau, und vielleicht findet sich bald wieder ein Mann, der sie wieder fröhlich stimmen kann.“ „Ja, das hoffe ich auch. Sie wird wieder so fröhlich werden wie früher, wenn Sie wieder den richtigen Mann findet. Birgit, haben Sie denn den richtigen Mann“, lachte Ansgar und legte seinen Arm um ihre Schulter. „Herr Graf, bitte, lassen Sie mich los“ rief Birgit verärgert. Sie riss sich los und schaute Ansgar wütend an „Sie wissen doch, das ich mit Horst Schulze befreundet bin. Wir wollen bald heiraten, und Horst will sein eigenes Autohaus aufmachen. Er will sein eigener Herr sein! Ich glaube, er ist ein so begabter Mechaniker, er wird Erfolg haben.“ Ansgar lachte „Soso, sein eigenes Autohaus will er aufmachen. Da bin ich mir ja nicht so sicher, ob daraus was wird. Manchmal ist er ja wirklich ein komischer Typ, ob das bei den Kunden so gut ankommt, wird sich weisen.“

Sie waren auf ihrem Spaziergang an der Grenze des Schlossgrundstücks angekommen. Das kleine Flüsschen schlängelte sich vor Ihnen durch die Ausläufer des Erzgebirges. Die Idylle wurde gestört durch ein riesiges Baustellenschild mit der Aufschrift „Hier baut die Stadt Kretnitz die neue Zubringerbrücke zur Autobahn“. Ansgar wurde wütend ob dieser Verschandelung der Natur, aber trotz eines langwierigen Rechtsstreits war es nicht gelungen, den ehemaligen Bürgermeister von Kretnitz, Hariolf Roßzwerg, von diesem Monsterbau abzubringen. Unterstützt wurden Roßzwerg und seine nicht minder banausenhafte Nachfolgerin Helga Ohrrotz dabei von Baubürgermeister Jan Fliege, dem widerlichsten politischen Wendehals, dem Ansgar je begegnet war, und dem Landtagsabgeordneten Arnold Vurz, den ein mit Ansgar befreundeter Politiker als „politischen Quartalsirren“ bezeichnet hatte. Er hoffte, dass in der nächsten Runde im Rechtsstreit die Brücke noch zu stoppen war. Leider hatten sich auch viele Bürger von Kretnitz als Banausen erwiesen und die Schönheit der Natur dem goldenen Kalb Auto geopfert. Graf Wolfhard hatte in kleinem Kreise übel auf den Plebs geschimpft. Ansgar wandte sich von diesem hässlichen Bild ab und lenkte seine Schritte zurück zum Schloss. „Neulich, Birgit, traf ich Ihren Horst, als ich mit Freunden in eine Kneipe ging. Er saß da stumm vor seinem Bier und wollte mich nicht erkennen. Sah' nicht gerade so aus, als ob er

sich auf sein neues Autohaus sehr freut.“ In Ansgars Zügen war ein leichter Spott nicht zu übersehen. „Ja, Herr Graf, da haben Sie Recht“ erwiderte Birgit, „in letzter Zeit verhält er sich oft etwas merkwürdig. Er mag es auch nicht, wenn ich erzähle, dass ich Sie im Schloss getroffen habe.“ „Na klar, dann ist er also eifersüchtig, der alte Schwerenöter“, rief Ansgar lachend aus und versuchte, Birgit einen Klaps auf den Allerwertesten zu geben. Sie wich ihm geschickt aus und sagte „Herr Graf, ich sagte es doch, lassen Sie das!“ Sie wandte sich von ihm ab und blickte in die Ferne. „Mag sein, dass er eifersüchtig ist. Er hat ja nun wirklich keinen Grund dazu. Ich mache mir nur sorgen, weil er in letzter Zeit oft so gegrübelt hat.“ „Ach, das würde ich nicht so ernst nehmen“, meinte Ansgar, „er ist eben ein depressiver Typ. Sie sollten sich eher mit lustigeren Männern abgeben!“. „Ja schon, aber Horst hat vor einigen Wochen sehr merkwürdige Dinge gesagt. Er kam betrunken nach Hause, und als ich ihn zur Rede stellte, sagte er, er müsse trinken, um seine Schuld ertragen zu können. Ich bestürmte ihn, mir sein Herz aus zu schütten, aber er blieb verschlossen“. In den Augen Birgits waren feine Tränen zu erkennen, während Sie dies sagte. „Ach, ich würde das nicht zu ernst nehmen, was dieser Grübler da sagt“, 11

meinte Ansgar, während sie wieder in das Schloss traten. „Der regt sich doch schon auf, wenn er einen Ölwechsel vergessen hat. Eben ein typischer Pedant.“

alten Ohrensessel niederließ, begutachtete Millbad die Einrichtung des Raums ausführlich. Besonders schien ihm eine alte japanische Vase zu gefallen. Offensichtlich hatte er so etwas noch nie gesehen.

***

Als Millbad sie anfassen wollte, rief Buttenkloh „Nein, lass' sie stehen, Georg“. Er kannte Millbads legendäre Tapsigkeit, die bei seiner Herkunft als westfälischer Bauernsohn nicht überraschte. Ein Kollege hatte ihm mal einen „hervorragenden Aktenabhefter, aber miserablen Kriminalkommissar“ genannt. In den letzten Jahren hatte er im Dienst kaum einen Fettnapf ausgelassen. Im Amt nannten ihn alle nur den „Ritter von der traurigen Gestalt“.

Kaum waren Birgit und Ansgar durch die Gartentür ins Schloss herein getreten, als es am Hauptportal klingelte. Birgit eilte zur Tür und öffnete. Vor ihr stand Kommissar Buttenkloh in seinem üblichen Aufzug. Neben ihm stand Georg Millbad, der Assistent von Buttenkloh. Er trug einen viel zu weiten Anzug und dazu Sandalen, die ein großes Loch in einem Socken hervorlugen ließen. Seinen runden Kopf mit dem kurzen Haar und listigen kleinen Äuglein wiegte er bedächtig hin und her, als ob er mit sich selbst spreche. Buttenkloh sagte „Entschuldigen sie bitte unseren wiederholten Besuch, aber wir wünschen gerne den Herrn Grafen Wolfhard dringend zu sprechen“

In diesem Moment trat Ansgar in das Zimmer. Misstrauisch schaute er Buttenkloh und Millbad an. „Was, Sie schon wieder, meine Herren?“ Können Sie von diesem tragischen Unfall nicht genug bekommen? Wie sehr sollen sich denn mein Vater und meine Schwägerin noch aufregen?“

Birgit sagte „Herr Graf pflegt um diese Zeit des Tages noch zu ruhen. Wenn sie bitte hier im Herrenzimmer einen Moment Platz nehmen möchten.“

Buttenkloh erhob seine Arme und machte eine abwiegelnde Geste „Herr Graf, Sie wissen, es ist unsere Pflicht, hier zu ermitteln, bis der Fall vollständig aufgeklärt ist. Im Moment kann man davon wirklich noch nicht sprechen!“

„Danke, junge Frau“ sagte Buttenkloh und trat in das Zimmer. Hinter ihm trottete Millbad her. Er lächelte leise vor sich hin, offensichtlich verarbeitete er noch einen Witz, den er gehört hatte. Während Buttenkloh sich in einem

Ansgar winkte ab „Ach, was soll dabei schon herauskommen. In dieser Kurve sind schon viele gestorben, und vom Hinterherschnüffeln ist noch keiner wieder lebendig geworden! Wenden sie sich lieber den wirklich wichtigen Fällen zu!“

12

Er schüttelte den Kopf und wandte sich zum Gehen. „Tun Sie, was sie nicht lassen können“, stieß er aus und verließ den Raum. Buttenkloh schaute ihm prüfend nach. Als Ansgar den Raum verlassen hatte, warf Buttenkloh Millbad einen viel sagenden Blick zu. Wenig später erschien Birgit und sagte, dass der Graf nun bereit sei, die Besucher zu empfangen. Sie führte die beiden in das große Zimmer zum Park hin. Obwohl Buttenkloh und Millbad den Raum schon kannten, waren Sie doch jedes Mal von seiner Schönheit und dem überwältigenden Ausblick aus den Fenstern beeindruckt. Sie spürten, dass dies eine andere Welt war als ihre Alltagswelt. Buttenklohs Frau, die gerne Hochglanzmagazine aus der Adelswelt las, würde sicher auf seinen Bericht aus Schloss Sturmeck gespannt sein. Graf Wolfhard stand in einer Ecke und blickte zum Fenster hinaus. Er schien die Besucher nicht zu bemerken. Buttenkloh räusperte sich vernehmlich „Herr Graf, bitte entschuldigen Sie...“ Graf Wolfhard drehte sich um. Sein Gesicht war vom Schmerz über den Verlust seines geliebten Sohnes gezeichnet. Der Zusammenbruch von Aurora am Vortag hatte beim ihm die Erinnerung an den Tod Eckhards ebenfalls wachgerufen. Neben dem Schmerz über den Tod des geliebten Sohns hatte ihn auch der Ansehensverlust des Adelshauses tief getroffen.

„Meine Herren, was führt Sie zu mir?“ fragte er mit tonloser Stimme. Buttenkloh sagte „Herr Graf, wir haben nun den technischen Untersuchungsbericht erhalten. Leider hat sich unser schlimmster Verdacht bestätigt. An den Bremsleitungen des Wagens ihres Sohnes war manipuliert worden, und zwar in einer fachkundigen, nicht laienhaften Art. Der oder die Täter wussten genau, was sie tun, und hatten die Leitungen so verändert, dass nach kurzer Rennzeit ein Bremsversagen eintreten musste – Wir müssen also...wir... „ Er zögerte unvermittelt, als ob er Angst vor dem nächsten Satz habe. „Mord, Herr Graf“ stieß Millbad hervor, wobei über sein Gesicht ein fast irres Lächeln zog. Das Gesicht des Grafen war leichenblass geworden. Er schwankte leicht, so dass Buttenkloh ihn an der Schulter fasste und stützte. Fassungslos schüttelte der Graf immer wieder den Kopf. „Nein, das kann doch nicht sein, nur deswegen... Nein“. Buttenkloh fragte ihn „Was meinen Sie damit, Herr Graf?“ Graf Wolfhard schien nicht auf ihn zu hören und sinnierte weiter. Er ging langsam auf und ab und schüttelte immer wieder den Kopf, als er ob die Nachricht nicht fassen könne. Buttenkloh sagte „Wir haben leider keinerlei Erkenntnisse zu Tatverdächtigen. Es wurden keine Spuren hinterlassen. Für uns ist der Fall ein Rätsel. Hatte ihr Sohn Feinde?“ 13

Graf Wolfhard hielt inne, als ob er nachdenken müsse. „Wer braucht schon Feinde, wenn er Freunde hat – wenn er Brüder hat?“ meinte er, während er mit leerem Blick an Buttenkloh und Millbad vorbei schaute. Buttenkloh starrte ihn ungläubig an: „Was meinen Sie? Brüder?“ Wolfhard stieß ein verzweifeltes Lachen aus: „Ja, mein Sohn Eckhard hatte Feinde – zumindest einen – seinen Bruder Ansgar. Es gab eine bittere Auseinandersetzung zwischen den Brüdern, da ich, um das Erbe zusammen zu halten, das Schloss und das Unternehmen für Eckhard vorgesehen hatte. Ansgar wollte das nicht akzeptieren. Es gab ein tiefes Zerwürfnis unter uns dreien“. Das Gesicht des Grafen spiegelte den Schmerz über diesen Streit in der adeligen Familie wieder. Millbad starrte ihn ungläubig an: „Und damit, wollen Sie sagen, ist der Fall geklärt: Ansgar bietet seinem Bruder ein Auto mit manipulierten Bremsen an, dieser stirbt, und damit ist Ansgar mit dem Erbe dran! Is' ja doll“ Millbad strahlte mit seinem westfälischen Bauernkopf über alle Ohren. „Nein, meine Herren“, sagte Graf Wolfhard, „ein Sturmeck-Esterhazy macht so etwas nicht. Das kann nicht die Erklärung sein. Sie müssen hier nach anderen Tätern suchen!“ In diesem Moment ging die Türe auf, und Aurora trat ein. Sie trug Jonathan auf dem Arm, gekleidet in ein bezauberndes Matrosenkleidchen. 14

Der Kleine jauchzte, als er seinen Großvater sah. Wolfhard sagte: „Ach meine liebe Aurora, dein Sonnenstrahl Jonathan tröstet uns alle in dieser schweren Zeit. Er ist ein Zeichen für das Leben, das die Finsternis überwindet.“ Während er seinem Enkel über die Haare strich, rollten Tränen über seine Wangen. Aurora fragte „Was ist, Wolfhard? Gibt es etwas Neues?“ „Nein, meine Liebe“, sagte Wolfhard, „nein. Gesucht wird ein böser Mensch, aber ich bin sicher, wir haben ihn noch nicht gefunden. Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen, meine Liebe!“ Zu Buttenkloh und Millbad gewandt, meinte er „Meine Herren, gehen Sie ihrer Arbeit nach, aber nicht hier in meinem Hause, und vernehmen sie, wen sie glauben vernehmen zu müssen.“ Auf sein Klingelzeichen hin erschien Birgit und führte die Herren zur Tür. *** Am nächsten Tag klingelte bei Aurora das Telefon. Es war Ansgar, der aus seiner Stadtwohnung anrief. Er meinte in seinem gewohnt flapsigen Ton: „Meine liebe Schwägerin, du bläst zu sehr Trübsal. Du solltest mal ein bisschen aus diesen traurigen Verhältnissen herauskommen. Ich habe hier ein neues Feinschmeckerlokal

ausgemacht, in dem wirklich ausgezeichnet gekocht wird. Darf ich meine liebe Frau Schwägerin mal dorthin ausführen?“ Aurora wollte zunächst ablehnen, da sie von den Ereignissen der vergangenen Tage doch sehr mitgenommen war. Dennoch fragte Sie Birgit, ob diese am Abend für Jonathan als Babysitter da sein könne. Birgit bejahrt und antwortete: „Darf ich Frau Gräfin fragen, was sie heute Abend vorhaben?“ „Ach, nichts“, meinte Aurora, um nach einer Pause dann doch hinzu zu fügen „Ansgar möchte mich mit einem schönen Abendessen von meinen schlechten Gedanken abbringen.“ Birgit schaute erstaunt „Ansgar? Seit wann kümmert er sich um andere Menschen?“ Aurora schaute amüsiert „Ach, ja, er ist ein schlechter Mensch... und ist es doch nicht.“ Sie lächelte sybillinisch, als ob Sie bewusst offen lassen wollte, wie sie dies gemeint hatte. Birgit dachte an ihren Spaziergang mit Ansgar im Garten. Obwohl sie sich gegenüber Aurora kritisch geäußert hatte, dachte Sie in ihrem Inneren ähnlich: Hinter seiner oberflächlichen Art steckte doch ein empfindsamer und liebenswürdiger Mensch. Sie spürte, dass sie ihre Gefühle widersprüchlich waren, doch sie konnte sie mit dem Verstand nicht kontrollieren.

Als Aurora mit Ihrem offenen Sportwagen durch das

Schlosstor rollte, stand Birgit mit Jonathan auf dem Arm im Garten. Der Bub jauchzte, als das Auto vorbeirollte. Birgit dachte „Er hat Benzin im Blut, wie sein Vater“ Aurora genoss es, seit langem mal wieder abends alleine unterwegs zu sein. Sie fühlte, wie der warme Wind des Herbstabends um ihr Kopftuch strich. Die elegant gekleidete Frau im Sportwagen war ein Anblick, der Klasse und Stil ausdrückte. Aurora parkte in Kretnitz ihren Wagen vor dem Restaurant. Von außen sah es recht bescheiden aus, aber sie erinnerte sich an die hervorragenden Kritiken, die der Koch erhalten hatte. Als Aurora in das Restaurant trat, sah sie Ansgar schon an einem Tisch warten. Er sprang auf und begrüßte sie formvollendet, indem er ihr leichte Küsse auf die Wangen hauchte. Zwei Frauen am Nebentisch folgten jede seiner mit Bewegungen mit neugierigen Augen. Als Aurora sich zu Ansgar setzte, fiel ihr sofort auf, dass ihr Schwager trotz der enthusiastischen Begrüßung etwas sorgenvoll blickte. „Ansgar, was belastet Dich so? Ich hatte gedacht, du freust dich auf unser Abendessen?“ Ansgar schüttelte den Kopf: „Ich hatte heute Nachmittag sehr unangenehmen Besuch, das hat 15

mir die Stimmung verdorben. Dieser Buttenkloh und sein komischer Assistent waren bei mir. Sie ermitteln ja immer noch wegen des Unfalls von Eckhard. Sie teilten mir mit, dass ich nun offiziell Verdächtiger sei. Es sei nun klar, dass an meinem Auto die Bremsleitungen manipuliert waren.“ Aurora blickte ihn entsetzte an, doch bevor Sie antworten konnte, trat ein Kellner an ihren Tisch: „Der Champagner für die Herrschaften. Wollen Sie Herrschaften wie vereinbart unser Degustationsmenu ausprobieren?“ Mit einer fahrigen Bewegung bejahte Ansgar die Frage und wandte sich wieder Aurora zu: „Buttenkloh hat von meinem Vater über die Erbstreitigkeit gehört, jetzt glaubt er, dass ich Eckhard umbringen wollte. Absurd! Ich war vielleicht manchmal in meinem Leben ein Hallodri, aber ich bin kein Mörder!“ Das Wort „Mörder“ hatte er so laut ausgerufen, dass ein alleine sitzender Gast am Nebentisch, der bisher vollständig mit seinem Essen beschäftigt war, neugierig zu Aurora und Ansgar hinüberblickte. Er wandte seinen Blick erst ab, als der Kellner ihm den leeren Teller weg nahm und fragte: „War der Herr zufrieden?“ 16

Der Gast antwortete: „Nein, das war ich nicht. So wahr ich Jürgen Dollhase heiße und ein erfahrener Restaurantkritiker bin, das war minderwertig, ohne Struktur und Esprit!“ Der Kellner lief rot im Gesicht an und sagte „Dann hole ich mal den Koch, wir werden dann schon sehen, ob es Ihnen geschmeckt hat!“ Kurz darauf erschien der Koch, ein beleibter und groß gewachsener Mann, stellte sich mit auf aufgestemmten Armen vor Dollhase und fragte: „So, dem Herrn hat es nicht geschmeckt?“ Der Restaurantkritiker, der ihm kaum zur Brust reichte, entgegnete stotternd:“ Ahm, ja, ... die Textur, ...keine Geschmacksexplosion“. Bevor er sich versehen hatte, hatte der Koch ihm eine Ohrfeige verpasst und schrie „Das war deine Geschmackexplosion, du Hanswurst, und jetzt raus!“ Dollhaase duckte sich und ging in schnellen Schritten zum Ausgang. Die Szene war so kurios, dass Aurora und Ansgar trotz des traurigen Themas, das sie gerade diskutiert hatten, schmunzeln mussten. Ansgar sagte: „Ach, Aurora, lass' uns zuerst mal einen Schluck Champagner trinken, dann sieht die Welt besser aus!“ Er hob

sein Glas, und sie stießen an und tranken. Als sie die Vorspeise – Hummercarpaccio auf Trüffeln – aßen, dachte Aurora nochmals über Ansgars Beteuerung nach. Obwohl sie rational gesehen ihn als möglichen Täter sehen musste, spürte sie doch emotional, dass Ansgar auf gar keinen Fall als Täter in Frage kam. Diese Widersprüche ließen ihre Gefühle schwanken. Manchmal fühlte sie sich schon etwas ertappt, wie sehr sie Gefühle der Zuneigung für ihren Schwager entwickelte. Diese Gedanken wurden jedoch jäh unterbrochen, als ein Paar das Restaurant betrat. Er war ein hochgewachsener Mann, dessen verschmitztes Gesicht von einer Designerbrille und schon etwas ergrautem Haar gerahmt wurde. In seiner Begleitung kam eine elegante Frau mit südländischer Aura, die im Hereingehen zu ihm sagte „Henning, wir sind nicht zu spät, deine Uhr geht nicht genau!“ Der Mann wandte sich etwas unwillig um und sagte „Berta, Zeit ist relativ“. Als er am Tisch von Aurora und Ansgar vorbei kam, erkannte Ansgar in ihm den Steuerinspektor Henning Reicherl. Reicherl hatte bei einer Steuerprüfung in der SturmeckBrauerei Unterlagen über die

Konten der Familie in der Schweiz gefunden. Nur durch eine hohe Steuernachzahlung konnte eine öffentliche Schande für das Haus vermieden werden. Reicherl lachte jovial und sagte im Vorbeigehen „Lassen Sie sich nicht stören, Herr Graf! Wir planen keine weiteren Steuerpüfungen bei den Esterhazys!“ Schmunzelnd ging er mit seiner Frau weiter und rief dem Wirt zu „Ein Weizen, aber schnell!“ Ansgar schmunzelte und bestellte zum Hauptgang eine Flasche Chateau Petrus. Das ausgezeichnete Essen und der wunderbare Wein führten dazu, dass Aurora zum ersten Mal seit dem Tod Eckhards wieder gelöst war und lachte. Ansgar erzählte einige Schnurren aus seiner Tätigkeit als Unternehmensberater, die sein Talent zum Witze erzählen zur vollen Geltung kommen ließen. Er hatte in seiner bisherigen Tätigkeit in der Wirtschaft, entgegen aller Vorurteile, durchaus Bemerkenswertes geleistet und bei einer Unternehmensberatung Karriere gemacht. Graf Wolfhard hatte jedoch diese Erfolge nicht sehen wollen, er war darauf fixiert, dass sein ältester Sohn die Firma übernimmt, wie das eben seit Jahrhunderten so gewesen war. 17

Als Ansgar schließlich mit einem bitteren Zug im Gesicht sagte: „Ich will mehr als Unternehmen beraten, ich will eines führen“, wurde Aurora klar, wie sehr ihr Schwiegervater Ansgar mit seiner Entscheidung zum Erbe verletzt hatte. Doch ging er gleich wieder zu heiteren Themen über, so dass der Abend nicht wieder belastet wurde. Als Sie aus dem Restaurant traten und die kühle Nachtluft sie umfing, merkte Aurora, dass sie mehr getrunken hatte, als sie gewohnt war. Sie sagte „Ansgar, ich muss ein Taxi rufen, ich kann nicht mehr fahren.“ Ansgar meinte „Ach lass', ich habe nicht so viel getrunken, ich fahre dich in deinem Auto.“ Als sie im über die Landstrasse gen Sturmeck fuhren, spiegelte sich das silbrige Mondlicht in Ansgars Haar. Er fuhr konzentriert und blickte auf die Strasse. Aurora fiel auf, dass die Silhouette seiner Gesichts in der Dunkelheit in verblüffender Weise der seines älteren Bruders Eckhard glich. Auf Schloss Sturmeck waren die Lichter schon gelöscht. Birgit schlief mit Jonathan in ihrem Dienstmädchenzimmer. Als Ansgar sich im Eingangssaal verabschieden wollte, ergriff Aurora an ihren Schwager an 18

beiden Schultern und zog ihn an sich. Während Sie den Duft seines Eau de Cologne spürte, sagte sie „Ansgar, ich habe dir immer vertraut. Du hast mit der Sache nichts zu tun. Ich weiß, wie dich dein Bruder immer geliebt hat, trotz dieser Erbstreitigkeiten... ich...“ Sie zögerte, weil ihr Worte über Gefühle entgleiten wollten, die ihr der Verstand verboten hatte. Ansgar schaute mit feuchten Augen zur Seite und entzog sich ihrem Griff: „Aurora, ich danke dir, dass du mir vertraust. Jetzt muss ich aber erst meine Unschuld beweisen. Das wir mich noch viel Kraft kosten, ich spüre, dass die Ermittler hier einen Erfolg wollen, um jeden Preis, und wenn es mein Leben ist.“ Er küsste sie flüchtig auf die Backe und ging eilig die Treppe zu seinem Junggesellenzimmer hinauf. ***

Aurora wachte durch das Klopfen an der Tür auf. Die Sonnenstrahlen des Tages fielen schon durch die Spalte der Damastvorhänge in ihr Zimmer. Birgit betrat das Zimmer mit einem Tablett, auf dem ein reichhaltiges Frühstück aufgebaut war.

„Guten Morgen, Frau Gräfin“ sagte die Zofe, während Sie das Tablett auf einem Halter auf dem Bett anbrachte. „Ich hoffe, Sie haben gut geruht“. Wie immer, hatte Birgit ihren schwarzen Rock und die weiße Schürze an, die ihr bestens standen. Sie hatte stets eine Aura der Fröhlichkeit um sich, die gerade in diesen schweren Zeiten für Aurora ein Segen war. Durch ihre Fröhlichkeit hatte auch Jonathan noch nicht gemerkt, wie traurig oft seine Mutter war. „Ja, danke, Birgit. Es ist gestern etwas später geworden, aber der Abend mit Ansgar hat mir gut getan. Er ist so ein lustiger Mensch, ich könnte Stunden über seine Scherze lachen.“ Aurora antwortete schmunzelnd: „Ich mag ihn auch sehr, aber er hat auch seine Schattenseiten. Er sollte wissen, in welchem Garten er Äpfel ernten darf und wo nicht“, während sie mit einer Mischung aus Entsetzen und Wohlgefühl an die vielen Annäherungsversuche von Ansgar erinnerte. „Ja, da haben Sie wirklich Recht“, meinte die Gräfin. „Wenn ich ihn mit meinem verstorbenen Mann vergleiche, so scheint die strenge Erziehung meines Schwiegervaters bei ihm nicht unbedingt angeschlagen zu haben. Aber es ist auch schwierig, wenn

man einen jungen Mann, der sein Freiheit will, in die strengen Gebräuche einer Adelsfamilie einführen will.“ Außerdem, so dachte Aurora, war es ein Fehler ihres Schwiegervaters gewesen, seinen Sohn auf ein Internat zu schicken. Zudem war es noch ein Internat auf einer sturmumtosten Nordseeinsel gewesen, das Ansgar so völlig aus seiner gewohnten Umwelt heraus gerissen hatte. Wie oft war Ansgar nach den Sommerferien unter Tränen wieder abgereist. Aber Graf Wolfhard gab hier nicht nach, das gehörte zu einer adeligen Familie, dass man keine Gefühle zeigte. Die Pflicht für die Familie stand über allem. Erst in den letzten Jahren, als er schon zum jungen Mann gereift war, hatte sich dies gelegt. Offensichtlich hatte Ansgar die vielfältigen amourösen Chancen, die sich auf der Insel mit den weiblichen Feriengästen boten, weidlich genutzt. Wenn er sich im Fahrradanhänger von seinen Freunden durch das beschauliche Inseldorf ziehen ließ, hatte das offensichtlich nicht wenige Frauenherzen höher schlagen lassen. „Wie geht es mit ihrem Freund Horst? Werden sie bald heiraten?“ fragte die Gräfin neugierig. 19

Birgit errötete leicht. Über ihr Gesicht legt sich ein etwas melancholischer Zug. „Ach, Frau Gräfin, sagte sie“, während sie die Kleidung für die Gräfin zurechtlegt, „es ist ja wie bei Ansgar: Horst ist im Grunde seine Herzens ein guter Mensch, aber ganz leicht habe ich es mit ihm nicht. Seine Eifersucht kann grenzenlos sein, und dann wird er unberechenbar. Ich bin in letzter Zeit ins Grübeln gekommen über ihn und unsere Beziehung. Horst war oft so unausgeglichen und machte mir Vorwürfe. Ich merke auch, dass ihn etwas sehr belastet. Kürzlich gab er mir einen verschlossenen Umschlag zur Aufbewahrung, schärfte mir aber eindrücklich ein, ihn nicht zu öffnen. Er ist so merkwürdig in letzter Zeit.“ Sie drehte sich von der Gräfin weg und schaute zum Fenster hinaus, damit diese ihre traurigen Augen nicht sehen konnte. Aurora schaute mit Mitgefühl zu Birgit. „Seien sie nicht zu kritisch und denken sie positiv“, sagte sie nach einer Pause, „wir dürfen nicht in jedem schwierigen Moment eines Menschen das Vertrauen in ihn verlieren.“ Sie neigte ihren Kopf und hielt inne: „Auch auf Ansgar 20

liegt im Moment ein Schatten, doch ich vertraue ihm voll!“ Birgit dreht sich zu ihr „Ja, Frau Gräfin, mir fielen diese Besuch dieser Kommissare auf, und das letzte Mal merkte ich die große Spannung zwischen Ansgar und Graf Wolfhard, eine Spannung, die ich hier auf dem Schloss noch nie erlebt hatte.“ Aurora zögerte einen Moment, ehe sie erwiderte: „Können Sie sich Ansgar als Mörder vorstellen?“ Birgit stieß fassungslos hervor „Mörder? Ansgar ? Unmöglich!“ An ihrem Gesichtsausdruck war zu erkennen, dass sie schon die Frage für unstatthaft hielt und Ansgar voll vertraute. „Das denke ich auch“, erwiderte Aurora, „aber unser Freund Kommissar ist da anderer Meinung. Sie berichtete von den Ermittlungen und erläuterte, wie Buttenkloh und Millbad auf Ansgar als Tatverdächtigen gekommen waren. Dabei deutete sie die Streitigkeiten um das Erbe nur an, da es sie merkte, wie emotional sie geworden war. Außerdem erinnerte sie sich an die Mahnung ihres Schwiegervaters, niemals persönliche Dinge dem Personal anzuvertrauen. Sie musste sich jedoch eingestehen, dass sie eine Art von Zuneigung zu Birgit

entwickelt hatte, bei aller Verschiedenheit. Ihr Schwiegervater Wolfhard war immer kritisch gegenüber „Umgang mit dem Personal“ eingestellt, wie er es nannte, und hatte gelegentlich schon durch kritische Blicke angedeutet, dass er es nicht schätzte, wenn Aurora mit Birgit über private Dinge sprach. Obwohl Aurora auch aus einer adeligen Familie stammte, hatten ihre Eltern in dieser Frage immer eine andere Einstellung. Nach ihrer Auffassung ergab sich der Adel eines Menschen aus seinem Tun, nicht seinen Titeln. Aurora zog dies gegenüber Wolfhards Einstellung vor. Hinzu kam, dass Wolfhard im offiziellen Gesellschaftsleben auf seinen Stand immer großen Wert gelegt hatte, aber im nichtoffiziellen Umgang gerade mit dem weiblichen Personal ganz andere Maßstäbe hatte. Im Nebenzimmer hörte man ein Juchzen „Mama! Mama!“ Das konnte nur Jonathan sein, er war aufgewacht. Birgit holte ihn herein, und er kroch zu Aurora ins Bett. Sie fütterte ihn mit einem Stückchen Banane. Zufrieden legte sich Jonathan neben die Mutter und gluckste. Wie glücklich hätte alles sein können, wenn noch ein Mann neben ihnen gelegen hätte! Manches Mal rief Jonathan „Papa

wo?", und Aurora hatte außer Tränen keine Antwort auf diese Frage ihres geliebten Sohnes. ***

Sorgfältig köpfte Kommissar Buttenkloh sein Frühstücksei und murmelte: „Ich packe ihn, jawohl“. Damit meinte er nicht den Deckel seines Eis, sondern Graf Ansgar. Seit Wochen galten alle seine Gedanken nur noch diesem Fall. Renate Buttenkloh goss ihrem Mann noch etwas Kaffee ein. Sie setzte sich zu ihm an den Frühstückstisch aus schwerem Eichenholz. Die gehäkelten Deckchen, das Bild der abendlichen Fischerboote an der Wand und die kleinen Täfelchen mit den Sinnsprüchen verrieten das gepflegte Heim, dem immer ihr ganzes Streben gegolten hatte. Wie schön wäre es, wenn sie dieses Heim bald in einem kleinen Häuschen genießen könnten, in dem ihre Kinder Udo und Natascha ihr eigenes Zimmer hätten. Buttenklohs wohnten in einer Mietwohnung in Prorbitz, einem weniger schönen Stadtteil von Kretnitz. „Was sinnierst Du schon wieder, Renate?“ meinte Buttenkloh zu seiner Frau. 21

„Ach, ich träume wieder von einem Häuschen, im dem wir wohnen, ich fühle mich hier in diesem Wohnblock nicht mehr wohl. Es wohnen so viele unordentliche Menschen hier. Außerdem träumst du ja auch den ganzen Tag, von deinen Fällen, dann werde ich doch auch meine Träume haben dürfen!“, erwiderte sie. „Ja, das stimmt“ sagte Buttenkloh und nahm einen tiefen Schluck aus der Kaffeetasse, „aber diesmal sind es besondere Dinge, über die ich sinniere. Dieser Fall wird mir die Beförderung zum Kriminalhauptkommissar bringen, da bin ich mir sicher.“ Neugierig geworden, schaute Renate Buttenkloh ihren Mann fragend an. Er war über seine Arbeit gewöhnlich sehr schweigsam und wies immer darauf hin, dass er als Beamter die Dienstgeheimnisse respektieren müsse. „Kennst Du die Familie von Sturmeck?“ Renate nickte heftig. Wie oft hatte sie in den Gesellschaftsblättern, die sie verschlang, von dieser Familie gelesen. Allererster Adel, blitzsaubere Verhältnisse. Sie erinnerte sich aber auch über die Berichte vom Tod des jungen Grafen Eckhard bei einem Autorennen, der einen dunklen 22

Schatten über das Adelshaus geworfen hatte. „Tja, mein Schatz, ich bin da an einer dicken Sache dran“, meinte Buttenkloh mit gedehnter Stimme. Könntest Du dir vorstellen, dass in dieser sauberen Familie einer den anderen umbringt?“ Renate schaute ihn fassungslos und mit offenem Mund an. „Ja, mein Täubchen“, meinte Buttenkloh, während er mit der Serviette den Mund abwischte und aufstand, „ich bin mir sicher, dass der feine Graf Ansgar seinen Bruder umgebracht hat. Erbstreitigkeit. Klarer Fall. Wenn ich diesen Fall kläre, dann gibst du mir bald den Abschiedskuss an der Tür eines netten Einfamilienhauses!“ Renate reichte ihm die Aktentasche mit der Thermoskanne und den belegten Broten und meinte „Ich kann das nicht glauben, in der „Aktuellen“ war ein langes Interview mit Graf Ansgar. Der ist doch kein Mörder, alle in meinem Kaffeekränzchen mögen ihn auch. Er ist ja auch ein so hübscher Mann!“ Dabei warf sie Buttenkloh einen Blick zu, der klar machte, dass sie damit „Besonders im Vergleich zu dir“ meinte.

Nachdem er ihr einen flüchtigen Kuss auf die Backe gegeben hatte, rief Buttenkloh „Auch Kaffeekränzchen können sich täuschen“ und verschwand im Treppenhaus. Als er in seinem alten Golf zur Arbeit fuhr, pfiff der Kommissar ein Liedchen vor sich her. „Heute packe ich ihn“, murmelte er, als er auf den Hof des Polizeipräsidiums einbog. Er hatte noch eine halbe Stunde Zeit, bevor er Ansgar geladen hatte, um die Akten zu studieren. Zufrieden blätterte er im Entwurf seines Abschlussberichtes an die Staatsanwaltschaft. Nachdem er nochmals alle Dokumente studiert hatte, warf er einen Blick auf den Haftantrag. Alles lag bereit. Noch heute würde er Ansgar hinter Gitter bringen. Es klopfte an der Tür, und ein Polizeibeamter steckte seinen Kopf ins Zimmer: „Der Herr Graf ist da“, meinte er. Buttenkloh antwortet unwirsch „Sie meinen der Angeklagte, fangen sie mir hier nicht mit Adelstiteln an. Hier zählt nur die Wahrheit, und was sie ist, entscheide ich. Bringen Sie den Angeklagten herein!“ Nach wenigen Sekunden erschien der Polizist wieder mit Ansgar. Dieser war in einen

Sportblazer gekleidet und schien das Verhör nicht besonders zu fürchten. „Einen schönen guten Morgen, Herr Kommissar“ rief er und hängte seinen Blazer und sein Basecap auf den Kleiderständer in der Ecke von Buttenklohs kleinem Büro. „Sie haben es ja ganz schön beengt hier, da ist ja kaum Platz für die großen Fälle!“ Buttenklohs Gesicht lief rot an „Das werden wir noch sehen. Nehmen Sie Platz, Herr Sturmeck!“ „von Sturmeck, für sie“ erwiderte Ansgar, setzte sich lässig auf den Stuhl und schlug seine Beine übereinander. Buttenkloh belehrte Ansgar über seine Rechte, was diesen nicht besonders zu interessieren schien. Stattdessen betrachtete er ausführlich die Urlaubsbilder von Renate, Udo und Natascha, die Buttenkloh beim letzten Urlaub in der Türkei aufgenommen hatte. Buttenkloh war kein geschickter Fotograf, und am feinen Lächeln Ansgar konnte man erahnen, wie er die übergewichtige Frau im zu knappen Bikini und die zwei Gören neben ihr einschätzte. Dann wurde Buttenkloh konkreter: „Herr Sturmeck, ähm, pardon, von Sturmeck, wie sie ja schon wissen, starb ihr Bruder in einem Auto, dessen Bremsen manipuliert worden waren. Der 23

Eigentümer dieses Wagens waren“, er schob eine Kunstpause ein und tat so, als ob er dies noch mal in den Akten vor ihm nachlesen müsse, „ der Eigentümer des Wagens waren sie. Ganz überraschend, sagen wir es einmal so – ganz überraschend hatten Sie ja ihrem geschätzten Bruder das Fahrzeug zur Verfügung gestellt.“ „Na und, das ist doch mein gutes Recht“ brummte Ansgar und spielte mit seinem Schlüsselbund. „Sicherlich, sie sind ja ein netter Mensch. Aber“ - er schaute Ansgar lange an „wer leiht schon jemandem sein Auto, nachdem er sich am Vorabend bitter gestritten hat – so bitter, dass es bis zu Tätlichkeiten kam!“ stieß er triumphierend aus. Ansgar sprang erregt auf. „Was geht denn sie das an, das ist Privatsache der Familie von Sturmeck!“ Hier war er ganz sein Vater, er ließ keinen Angriff auf den guten Namen derer von Sturmeck-Esterhazy zu! Buttenkloh lehnt sich zufrieden zurück und sagte „Ich beschäftige mich nun einmal beruflich mit Privatsachen anderer Leute.“ Er war zufrieden, weil schon der erste Hinweis, den er von Horst Schröder bekommen hatte, so gut eingeschlagen hatte. Schröder hatte am Vorabend des Rennens die Brüder in der Box 24

belauscht, als sie die Erbschaft besprachen. Da beide schon etwas getrunken hatten, war die Auseinandersetzung sehr heftig geworden, und Ansgar hatte, bevor er wütend die Box verlassen hatte, seinem Bruder einen heftigen Stoß versetzt. „Tja, Herr Sturmeck“, Buttenkloh genoss die kleine Spitze, hier wieder das „von“ weg zu lassen, und warum haben Sie am Morgen vor dem Rennen noch unter ihrem Auto geschraubt – Sie, der zwei linke Hände hat, wie in Adelskreisen allgemein bekannt ist.“ Das Wort „Adelskreise“ sprach er dabei sehr gedehnt aus. Ansgar fauchte ihn an „Was reden Sie da für einen Unfug! Ich werde mich doch wohl noch unters Auto legen, um zu prüfen, ob meine Bremsleitungen dicht sind. Ich muss mir doch nicht so etwas unterstellen lassen, von einem Mafiajäger wie sie!“ Die Röte in Buttenklohs Gesicht wuchs beträchtlich. Ansgar hatte auf den Tiefpunkt seiner beruflichen Laufbahn angespielt, als Buttenkloh eine Schlägerei in einer Pizzeria zu einer Sache der organisierten Kriminalität hochstilisiert hatte. Als er damals in den Zeitungen als übereifriger und inkompetenter Beamter dargestellt wurde, stand seine Laufbahn vor dem Aus. Über

Jahre hinweg hatte er versucht, über diesen Tiefpunkt hinweg zu kommen. Er musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. In diesem Moment ging die Tür auf. Buttenklohs Kollege Ladislaus Billich steckte den Kopf durch die Tür und rief: „In 5 Minuten beginnt das Kickerturnier im Aktenkeller!“. Wütend rief Buttenkloh „Billich, Sie wissen doch, dass man eine Vernehmung niemals unterbrechen darf, das haben Sie doch auf ihrem Lehrgang gelernt!“ Billichs smartes Lächeln, für das er amtsbekannt war, erlosch für einen Moment. Er sagte verwundert „Welcher Lehrgang, ich weiß von nichts…“ und schloss die Türe wieder. Buttenkloh brauchte einen Moment, um die Fassung zurück zu gewinnen. „Soso, Herr Graf Sturmeck“, fuhr er fort, unter gezielter Weglassung des „von“. In aller scheinbaren Ruhe spielte er mit seinem Kugelschreiber. KlickMine raus, Klick- Mine wieder rein. Hin und wieder warf er einen fragenden Blick auf Ansgar, der wie ein Raubtier vor dem Sprung auf seinem Stuhl hin- und her rutschte. „Warum aber in aller Welt haben Sie dann den Mechaniker von Harold Eckes gefragt, wie lange es dauert, bis eine lecke Bremsleitung

ausgelaufen ist?“ Buttenkloh sprang auf und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch „Warum haben Sie ihn nicht gleich gefragt „Wie lange dauert es, bis mein Bruder tot ist?“ Ansgar geriet ob dieser Frage völlig außer sich, sprang auf, packte Buttenkloh am Kragen und schüttelte ihn „Dich mach' ich fertig, du respektloses Schwein“, schrie er wütend. Buttenkloh stieß einen Hilfeschrei aus und taumelte zu Seite. Die Thermoskanne fiel um und ergoss ihren Inhalt auf den Aktenberg auf Buttenklohs Schreibtisch. Getroffen wurde auch die danebenliegende Bildzeitung. Die blassen Brüste des Montagsmädchens färbten sich kaffeebraun. In diesem Moment ging die Türe auf, und Millbad und ein Polizist rannten herein. Der Polizist drehte Ansgar die Arme auf den Rücken und ließ die Handschellen klicken. Millbad baute sich vor Ansgar auf ein lächelte ihn mit blödem Blick an: „Herr Graf von Ansgar, sie sind verhaftet“. Ansgar hatte die Fassung wieder gefunden und sagte „Auch wenn Sie zu blöde sind, meinen Namen richtig auszusprechen, will ich mich der Staatsgewalt beugen!“ 25

Buttenkloh richtete seinen Kragen und versuchte, betont ruhig auszusehen. Er sagte „Da kommt wohl zu Mord noch Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt hinzu“ und gab dem Polizisten ein Zeichen, Ansgar abzuführen. ***

„Herein“, rief Graf Wolfhard, als es an der Zimmertür klopfte. Birgit trat ein und hatte das Telefon bei sich. „Herr Graf, Ansgar möchte sie sprechen, es ist eilig“. Wolfhard griff nach dem Hörer und meldete sich. Er hörte einen Moment dem Anrufer zu und erblasste dann. Er konnte noch „Ja, machen wir“ in den Hörer stammeln, dann musste er sich setzen und beugte den Kopf nach vorne. Schlagartig schien er um Jahre gealtert. Aurora setzte Jonathan zurück in sein Ställchen und lief zu ihrem Schwiegervater. „Wolfhard, was ist mit Ansgar?“ „Sie haben ihn verhaftet. Wegen Mordverdacht. Buttenkloh hat Belastendes gegen ihn gefunden und schon die Anklageschrift fertig gestellt.“ Seine Stimme versagte und machte einem Schluchzen Platz „Mein 26

Sohn, mein Sohn. Welch' eine Schande, welch' eine Schande für das Haus Sturmeck-Esterhazy!“ Er schüttelte unentwegt den Kopf. Aurora benötige selbst einen Moment, um die Fassung wieder zu gewinnen. Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, begann sie jedoch kühl und klar zu denken. Es kam jetzt darauf an, Ruhe zu bewahren. Zunächst musste der beste Anwalt für diesen Fall gefunden werden. Recht haben war eine Sache, jetzt galt es, Recht zu bekommen, und dafür durfte das Beste gerade genug sein. Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer von Peter von Bergen, des besten Freundes von Ansgar. Aurora kannte ihn von seinen häufigen Besuchen auf Schloss Sturmeck. Er war Jurist in Hamburg und konnte hier sicherlich einen Tipp geben. „Hallo Peter, hier spricht Aurora von Sturmeck. Ja, leider geht es uns nicht so gut. Du wirst es nicht glauben können: Ansgar sitzt unter Mordverdacht im Gefängnis. Wir brauchen dringend den besten Rechtsanwalt, den wir bekommen können.“ Am anderen Ende der Leitung war zuerst einmal nichts zu hören. Erst als Aurora Peter bestätigt hatte, dass er richtig gehört hatte, konnte dieser die Nachricht glauben. Er schlug ohne

lange nachzudenken Dr. Volker Lepre vor, einen noch jungen Strafverteidiger aus Kretnitz. Aurora hatte gelegentlich von ihm gehört.

die automobile Oberklasse. Dem Auto entstieg ein groß gewachsener, kräftiger Mann. In seine Stirn fiel ein schon etwas schütteres blondes Haar.

Sofort wählte sie die HandyNummer von Lepre. Nach einigen Klingeltönen meldete sich eine ruhige und sonore Stimme: „Hier Lepre, was kann ich für sie tun?“ Aurora schilderte ihm die Situation. Lepre versprach, sofort zu kommen.

Wenig später führte Birgit den Besucher ins Zimmer. Höflich verneigte sich Lepre vor Graf Wolfhard und küsste Aurora formvollendet die Hand. „Aha, ein Mann aus gutem Hause“, dachte Aurora. Mit seinen etwas ungeordnet fallenden blonden Haaren und seinem eleganten Pullover über Jeans machte Lepre eher den Eindruck eines etwas schussligen Wissenschaftlers als den eines messerscharfen Strafverteidigers.

Während Sie auf Lepre warteten, besprachen Aurora und Wolfhard noch einmal das Vorgefallene. Wolfhard weihte Sie in Details der Auseinandersetzungen zwischen Eckhard und Ansgar ein, die er ihr aufgrund ihrer Schwangerschaft und Geburt bisher verschwiegen hatte. Ansgar spürte, dass damit natürlich die Lage für Aurora schwieriger wurde, gerade wenn Buttenkloh mehr davon erfahren hatte. Als Aurora in der Einfahrt das Geräusch der Reifen im Kies hörte, warf sie einen Blick zum Fenster hinaus. Ein kleines Auto in einer etwas merkwürdigen gelbbraunen Farbe und zwei Scheinwerfern, die wie Glubschaugen aussahen, war auf den Hof gefahren. Sie hatte einen solchen Typ noch nie gesehen, denn auf Schloss Sturmeck regierte

Graf Wolfhard hob an „Herr Dr. Lepre, die Haft meines Sohnes ist der Tiefpunkt in der über tausendjährigen Geschichte des Adelsgeschlechtes derer von Sturmeck-Esterhazy. Niemals ist einem unserer Familienmitglieder eine größere Pflichtverletzung vorgeworfen worden als meinem Sohn! Wir müssen diesem Vorwurf entschieden entgegen treten!“ Er atmete schwer, während er diese Sätze ausstieß. Aurora unterbrach ihn: „Wolfhard, wir dürfen jetzt nicht daran denken, ob dies eine Schande ist, wir müssen Herrn Lepre erklären, was die 27

Hintergründe sind und wie wir Ansgar helfen können!“

emotionalen Bande zu Ansgar in letzter Zeit gewachsen waren.

Sie wandte sich zu Lepre und begann, ihm zu erklären, worauf sich der Verdacht gegen Ansgar begründete. Lepre hörte aufmerksam zu und stellte Fragen, die erkennen ließen, dass sein scharfer Verstand bereits an einer Strategie für den Prozess arbeitete.

Lepre ging weiter, seine Kopf langsam schüttelnd, auf und ab. Er sagte: „Klar ist, wir müssen die Taktik der Anklage unterlaufen. Buttenkloh wird wie üblich eine Vielzahl von mehr oder weniger schwachen Zeugen auffahren und eine emotionale Komponente einbringen.“

Als Aurora die Ermittlungen durch Buttenkloh erwähnte, strich ein Lächeln über Lepres Gesicht: „Mein Freund, der Mafia-Ermittler Buttenkloh! Das trifft sich ausgezeichnet. Er hat meistens bei den Ermittlungen eine vorgefasste Meinung, die dann im Prozess so zusammenschnurrt wie ein löchriger Luftballon. Der Mann ist so inkompetent, der könnte höchstens in der Politik noch was werden.“

Im Folgenden ließ sich Lepre von Aurora berichten, was Ansgar ihr am Morgen telefonisch mitgeteilt hatte. Lepre hörte aufmerksam zu, machte sich ab und zu eine Notiz, und schien in zunehmend bessere Stimmung zu kommen. Schließlich meinte er „Das kriegen wir schon hin, Frau Gräfin“.

Er ging lächelnd einige Male auf und ab und ab, während er nachdachte. Plötzlich wendete er sich um und fragte Aurora unvermittelt: „Hat ihr Schwager denn eigentlich ihren Mann getötet?“

Lepre drehte sich zu einem Sekretär, den das Haus einst nach der französischen Revolution von einem befreundeten Adelshaus aus Frankreich erhalten hatte. Es war ein wunderbares Stück aus Kirschbaum, an dem Graf Wolfhard seine Korrespondenz zu erledigen pflegte.

Aurora schrie auf: „Nein, niemals!“ Sie barg ihre Hände vor ihrem Gesicht und begann zu schluchzen. Tief in ihrem Innern spürte sie, dass sie dieses Bekenntnis so vehement ausgestoßen hatte, weil ihre

Lepre sagte „Da haben Sie ja ein schönes Stück, zwischen 1580 und 1590, von der Loire. Das ist mindestens...“ Er zögerte, weil erspürte, dass es nicht der richtige Moment war, um über materielle Dinge zu reden. „Sie

28

entschuldigen, ich bin ein großer Freund alter Möbel.“ Lepre ging noch sinnierend einige Zeit auf und ab und stellte dann einige Fragen dazu, wie sich Graf Ansgar in einem Prozess verhalten würde. Wolfhard sagte „Leider ist mein Sohn manches Mal ein emotionaler Mensch. Sie müssen verhindern, dass er zu heftig reagiert!“ Lepre nickte, meinte mit ruhiger Stimme „Das werden wir schon kontrollieren können“ und verabschiedete sich. Aurora bewunderte es, mit welcher Sicherheit und Souveränität dieser junge Anwalt auftrat. Er stand unzweifelhaft vor einer großen Karriere. Während Birgit Lepre zur Tür brachte, fragte Wolfhard Aurora „Glaubst du denn wirklich einhundertprozentig, dass es Ansgar nicht war? Du, dessen Mann das Opfer war? Ich zweifle manches Mal doch daran. Vielleicht hat dieser widerliche Buttenkloh recht.“ Aurora schwieg lange, bevor sie antwortete: „Doch, Wolfhard, doch, ich vertraue Ansgar.“ Dabei sprach sie den Namen ihres Schwagers mit einem zärtlichen Klang in der Stimme aus. Wolfhard blickte sie lange an und

wandte sich schließlich mit einer nickenden Kopfbewegung ab. ***

Ansgar wirkte, obwohl er keine Gefängniskluft tragen musste, abgemagert und blass, während er in den Gerichtssaal geführt wurde. Ihm folgten Lepre und dann Aurora und Wolfhard. Die Fotografen der Boulevardpresse flatterten, Aasgeiern gleich, hinter Ansgar her und setzten ihn einem Blitzlichtgewitter aus. Ein besonders übereifriger Reporter, der durch seine ungepflegten fettigen Haare auffiel, die über seine speckige Lederjacke fielen, hielt Ansgar ein Mikrofon vor das Gesicht und fragte in einem fort: „Sind sie der Mörder? Sind sie es? So sagen sie es doch!“ Ansgar fuhr ihn wütend an: „Wasch' dir doch erst mal die Haare, du Ratte von der Presse!“ Richter Günter Ölfinger, ein klein gewachsener, schwäbelnder Mann im mittleren Alter eröffnet die Verhandlung und schickte zunächst die Fotografen und Kameraleute aus dem Raum. Zunächst wurde die Anklageschrift verlesen. Staatsanwalt Dr. Hans-Leonhard Günther, ein unmotiviert 29

wirkender Mann Ende fünfzig, trug sie mit monotoner Stimme vor. Sie stützte sich im Wesentlichen auf die von Buttenkloh aufgenommenen Zeugenaussagen. Dieser saß zufrieden lächelnd in der ersten Reihe und schien während des langen Verlesens der Anklage von einem Frühstück mit Renate auf der Terrasse des neuen Häuschens zu träumen. Ab und zu murmelte er halblaut ein „Jawohl“, wenn Günther eine These vorgetragen hatte, die auf Buttenklohs Ermittlungen beruhte. Aurora folgte konzentriert der Verhandlung. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid und war kaum geschminkt. Die weiße Perlenkette und ihre Haut bildeten kaum einen Kontrast. Ein Reporter der Bildzeitung notierte auf seinem Block: „Die schwarze Witwe verfolgte den Prozess ohne Regung.“ Als erster Zeuge wurde an diesem Verhandlungstag ein Kraftfahrzeugsachverständiger gerufen, Prof. Karl-Hans Löwenhardt, der Ingenieur an der Technischen Universität Kretnitz war. Er war ein fast zwei Meter großer und etwas gebeugter Mann, auf dessen ausgeprägter Nase eine modische blaue Brille saß. Seine zerzausten, schon teilweise ergrauten Haare und sein 30

nachdenklicher Blick verrieten jedoch die typischen Merkmale seiner Berufsgattung, die durch seinen etwas zerfahrenen Vortrag noch unterstrichen wurden. Zur Verhandlung war er mit einem abgetragenen Rucksack erschien, in dem er seinen Fahrradhelm verschwinden ließ und aus dem er ein zerknittertes Sakko zog. Als er sich bückte, hatte Aurora beim Hereingehen gesehen, dass die Hose des Gutachters vom Fahrrad fahren schon sehr dünn geworden war. Der Gutachter setzt zu einem langatmigen Vortrag an. Selbst die einfachsten Dinge klangen hoch wissenschaftlich, wobei der Redner durch gewählte Kunstpausen diesen Eindruck noch zu verstärken wusste. Er sprach Hochdeutsch, doch ein ihm gelegentlich durch rutschendes „ned“ ließen ihn als Alemannen erkennen. „Der Mann liebt seinen Beruf“, dachte Graf Wolfhard, als er seinen Ausführungen zuhörte. Der Gutachter war gerade am offensichtlichen Höhepunkt seiner Ausführungen angekommen „Und so, meine Damen und Herren, war es sozusagen ein physikalisches Gesetz, dass aufgrund dieser Manipulation unser geschützter, ähm, ich meine

geschätzter Graf Eckhard sein junges Leben lassen musste“. Lepre fiel ihm ins Wort: „Bleiben Sie wissenschaftlich, für die Emotionen sorgen hier andere!“ Richter Ölfinger blickte ihn wütend an “Wer hier was macht, bestimme ich, Herr Verteidiger!“ Das Wort „Verteidiger“ dehnte er genüsslich, um seine Verachtung auszudrücken. Lepre blickte ihn herablassend an und setzte sich wieder. Nach den Ausführungen des Sachverständigen und einigen Fragen schloss der Vorsitzende die Verhandlung für diesen Tag. Aurora und Wolfhard verabschiedeten sich von Ansgar und kehrten nach Sturmeck zurück. Graf Wolfhard war so erschöpft, dass er sich zuerst einmal zur Ruhe legen musste. Da Birgit den Kaffeetisch schon für zwei Personen gedeckt hatte, lud Aurora sie ein, mit ihr Kaffee zu trinken. Aurora erzählte vom ersten Verhandlungstag. Sie erwähnte, dass Buttenkloh am nächsten Tag Horst Schröder in den Zeugenstand holen wolle. Birgit hatte mit Horst darüber gesprochen. „Ja, es fällt

meinem Horst nicht leicht, vor Gericht aufzutreten, er schätzt den Grafen Ansgar ja sehr. Er ist in die Berge gefahren und will dort über das Wochenende bleiben, er will das wunderschöne Spätherbstwetter ausnutzen. Außerdem will er sich vor der Aussage nächste Woche noch mal entspannen. Aurora meinte: „Ich bin mir da sehr sicher, liebe Birgit, dass ihr Verlobter meinen Schwager nicht belasten wird. Er hätte kein Motiv dafür, oder?“ Birgit tat so, als ob Sie eine Falte auf dem Tischtuch entfernen müsse, um der Gräfin nicht in die Augen schauen zu müssen, und sagte „Aber ja, warum denn auch.“ Tief in ihrem Innern spürte sie, dass sie gerade nicht die Wahrheit gesprochen hatte. ***

Langsam rann ein Schweißtropfen über die Brust. Horst Schröder lief in stetigen Schritten den Saumpfad zur Blümlisalphütte hinauf. Er hielt einen Moment inne und sagte zu Michael und Thomas, seinen Bergkameraden: „Was für eine Hitze heute, und das in dieser Jahreszeit!“ 31

Über Ihnen wölbte sich ein tiefblauer Himmel. Es lag noch sehr wenig Schnee, da es in diesem Herbst kaum geschneit hatte. „Ja, du alter Mann schwitzt ja ganz schön“, erwiderte Michael lachend. Horst schaute ihn etwas verstimmt an: „Mach' du dich nicht auch noch lustig über mich!“. Er nahm ein Stück eines getrockneten Kuhfladens, der am Wegesrand lag, und warf ihn auf Michael, der aber geschickt auswich. Thomas lachte schallend. „Jetzt war ja fast die Sch... am Dampfen!“ Nach mehreren Stunden Aufstieg erreichten Sie die Hütte. Es war ein schmuckes kleines Berggasthaus, das sich mit den Granitwänden, dem Schieferdach und den roten Fensterläden harmonisch in die großartige Bergwelt einfügte. An einem Mast vor der Hütte wehte das Schweizerkreuz. Daneben erinnerte ein Gedenkstein an die Bergtoten. Vor der Hütte stand der Schweizer Hüttenwirt, Vinzenz Basler. Er freute sich sichtlich, dass so spät im Jahr noch ein paar Gäste kamen. In breitem Schwyzerdütsch begrüßte er die Gäste: „S'isch en herrrliche Tag, huett. Kommet rei in mei guete Stub.“. Er war ein kleiner Mann, der dies aber durch seinen aufrechten 32

Gang und eine etwas gestelzte Schrittweise auszugleichen suchte. Sein freundlich-verschmitztes Gesicht wurde von einem braunen, schon etwas schütter werdenden Haarschopf gekrönt. Die kleine Nickelbrille und die Lachfältchen um den Mund unterstrichen seine lustige Art. Trotz seiner etwas altmodischen Wollhose und seines karierten Hemds sah er blendend aus und hatte etwas, das Frauen schwach werden ließ. Neben Breit tauchte die Hüttenwirtin, seine Frau Maria auf. Sie hatte dunkle Haare und ein fein gezeichnetes Gesicht, über das sich jedoch eine leichte Bitterkeit zu ziehen schien. Sie war eleganter als ihr Mann gekleidet und schien von der etwas weniger groben Art zu sein. Auch sie freute sich über die Besucher und kündigte Ihnen ein kräftigendes Abendessen an, ein Angebot, das die drei ausgehungerten Männer mit Freude hörten. Basler wies den Gästen zunächst die Matrazenlager zu: „Do könnt ihr euch hinlege, ihr Schlämpis!“ Es schien ihn zu erfreuen, die Gäste auf sein seine grob-herzliche Art anzuweisen. Etwas näher dem Hochdeutschen zugewandt sagte er dann noch „Jo, das sind die besten Lager in den ganzen Alpen, sozusagen

entsprechend“ und lachte über sein ganzes Gesicht. Als dann alle beim Abendessen zusammen saßen, ging draußen die Sonne in einem Alpenglühen unter. Ein prächtiges rot-oranges Licht breitete sich über die umliegenden Schneeberge aus. „Jo, des isch scho schön, des gibt’s bei euch zuhause nit, ihr Flachlandtiroler“ meine Basler lachend. Thomas tat, als ob er empört sei „Sie müssten erst mal unser Erzgebirge gesehen habe, das schönste unter den deutschen Gebirgen!“ Basler lachte schallend „In Dütschland gibt es doch keine Berge, das sind alles nur etwas groß geratene Hügel.“ So aßen sie das einfache, aber schmackhafte Abendessen und lachten über dieses und jenes. Michael und Thomas fiel aber auf, dass sich Horst kaum an der Unterhaltung beteiligte und vor sich hin stierte. Auch Breit und seiner Frau war das nicht entgangen. Maria fragte ihn, warum er so traurig schaue. Horst murmelte etwas von „Zu viele Probleme in letzter Zeit“ in seinen Bart und aß dann schweigend weiter. Nach dem Essen trug Basler Wein auf und holte seine Zither

heraus. Er war ein geschickter Spieler und unterhielt sie mit seinen heimatlichen Weisen. Zwischendurch trug er mit vielen Anekdoten zu der Unterhaltung bei. Thomas und Michael lachten herzlich über die Scherze des Hüttenwirts, die mit zunehmendem Abend immer gröber wurden. Nachdem sich Maria wegen Kopfschmerzen zurückgezogen hatte, taute er vollständig auf und berichtet stolz von seinen Eroberungen unter den Bergsteigerinnen. Er hatte offensichtlich so manche Besteigung gemacht, ohne die Hütte verlassen zu haben. Michael und Thomas hatten glühende Backen und beteiligten sich mit derben Scherzen an der Unterhaltung. Horst hatte die ganze Zeit still daneben gesessen und den Wein in sich hinein geschüttet. Als Basler ihn lächelnd anstieß „Dir ischt wohl heute ein Laus über die Läber gelaufen, hä“ schaute er ihn unwillig an. Mit schwerer Zunge sagte er „Ich habe heute morgen mein Testament geschrieben, und ich glaube, das war gut so“. Alle schauten ihn entsetzt an. Michael brach als erster das Schweigen: „Horst, was ist mit dir denn los? Hast Du irgendetwas, das dich belastet? Warum willst Du nicht darüber reden?“. 33

Horst schüttelte den Kopf „Ach lass, ich kann darüber nicht reden. Ich gehe jetzt ins Lager.“ Er stand auf und ging leicht schwankend zum Gastraum hinaus. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, lachte Basler und meinte „Ja, das isch ja ein Sauertopf! Der bräuchte mal eine nette Sennerin zur Auflockerung!“ Michael und Thomas lachten. Nach eine paar weiteren Gläsern schlichen Sie auch ins Bett, denn der Wecker sollte früh klingeln. Die Sterne standen am Nachthimmel, als die drei am Morgen vor der Hütte die Steigeisen anschnallten. Maria hatte ihnen noch Teewasser gerichtet. „Behüt euch Gott“ meinte Sie, als die Männer losstapften. Basler, der versprochen hatte, ihnen ein Frühstück zu servieren, war nicht aus den Federn gekommen. „Ja“, meinte seine Frau, „er ist öfters nicht dort, wo ich ihn erwarte, aber immer mitten drin“. Gemächlich brach das Trio auf. Schon nach wenigen Schritten umfing sie die Stille des nächtlichen Hochgebirges. Außer ihrem eigenen Atem und dem Knirschen der Steigeisen im gefrorenen Firn war kein Laut zu hören. Vor ihnen steilte sich der Hang zum Morgenhorn auf. Im Osten wurde es am Horizont 34

langsam hell. Michael ging voraus und sicherte an einer kurzen Steilstelle die anderen mit einer Eisschraube. Als Sie den Gipfel des Morgenhorns erreichten, trafen sie die ersten Strahlen der Morgensonne. Es war bitterkalt, aber es würde ein strahlender Tag werden. Nach einem kurzen Frühstück begannen Sie, den Grat zur Weißen Frau zu beschreiten. Thomas wollte einen Scherz machen und rief zu Horst, der vor ihm ging „Pass' auf, dass dich die weiße Frau nicht packt!“ Horst drehte sich nicht einmal um. Stunden für Stunde kletterten sie über den scharfen Schneegrat. Rechts von Ihnen konnten Sie im Dunst den Thuner See erkennen, zur Linken breitete sich die Kette der Walliser Alpen aus, mit dem Matterhorn als Markenzeichen. Außer Ihnen waren keine anderen Bergsteiger unterwegs. Michael stieß gelegentlich vor Freude einen Jauchzer aus. Als Sie auf dem Blümlisalphorn Mittagsrast machen, kam eine Dohle in einem eleganten Bogen angeflogen und setzte sich neben sie. Michael warf ihr ein Stück Brot zu und freute sich, als es der Vogel aufpickte. „Lass das“ fuhr in Horst an, „das bringt doch Unglück, wenn man schwarze Vögel füttert“.

Michael erwiderte nichts. Er merkte, dass sein Bergkamerad unter einer schweren Last litt. Was konnte das sein? Beim Aufstieg gestern hatte er angedeutet, dass die Beziehung zu seiner Freundin Birgit voller Spannungen war. Er hatte dunkle Andeutungen gemacht, dass Sie die Beziehung zu einem anderen Mann suche, der „aus einer anderen Welt sei“. Michael und Thomas hatten sich darauf keinen Reim machen können. Sie wussten, dass Birgit in einem adeligen Haushalt arbeitete, hatten jedoch kein Interesse an dieser Welt. Sie waren einfache Männer, die aber mit beiden Beinen im Leben standen und die sich mit der Scheinwelt des Adels nicht identifizieren konnten. Als es zum Abstieg vom Blümlisalphorn ging, meinte Horst „Das ist jetzt leichtes Gelände, hier brauchen wir kein Seil mehr“ und ging alleine los. Michael und Thomas waren etwas überrascht, aber konnten keine Einwände mehr anbringen, denn Horst stapfte los, als ob er es eilig hätte. Nachdem sie die Reste der Brotzeit eingepackt hatten, machten sie sich auch auf den Weg. Die Dohle stieß einen gellenden Ruf aus und flog davon. Langsam und vorsichtig machten die beiden sich an den Abstieg. Im Gegensatz zur

Behauptung von Horst erwies sich das Gelände als tückisch, und sie sicherten sich gegenseitig. Jeder Schritt erforderte äußerste Konzentration. Horst war schon seit einiger Zeit aus ihrer Sicht geraten, da sich der Grat aufsteilte. Plötzlich glaubten sie, voraus einen Schrei zu hören. Danach hörte man ein rumpelndes Geräusch, dann war wieder Stille. Michael und Thomas schauten sich in Panik an: „Hoffentlich ist Horst nichts passiert“, meine Thomas. Sie eilten weiter, so schnell es ging. Als Sie über die Kante des Grats stiegen, sahen sie vor sich eine Schleifspur in den Abgrund. An einer Felsspitze einige Meter tiefer hing Horsts Mütze. Verzweifelt schrien die beiden in den Abgrund hinunter, aber außer dem Rauschen des Windes und einem Echo vom gegenüberliegenden Berghang war nichts zu hören. Michael bedeckte schluchzend sein Gesicht mit den Händen: „Ich glaube, Horst ist abgestürzt. Hier geht es viele Hundert Meter hinunter, das kann er nicht überlebt haben“. Thomas stand schweigend neben ihm. Aus seinen Augen traten Tränen. Er packte seinen roten Regenponcho aus dem Rucksack und faltete ihn auf. Zusammen mit Michael öffnete und schloss er ihn, 35

sechs Mal in der Minute, wie es das alpine Notsignal fordert. Es schien ihnen, als ob sie an der Hütte eine Reflektion der Sonne in einem Fernglas gesehen hatten. Wenige Minuten später sahen sie tief unten im Tal den Rettungshubschrauber kommen. Der Pilot ließ seine Maschine bis zu ihnen aufsteigen. Sie deuteten an, in welche Richtung Horst abgestürzt sei. Der Hubschrauber senkte sich den Hang hinab, und der Bergführer an Bord seilte sich daraus. Wenig später konnten Sie sehen, wie der Hubschrauber mit einem leblosen Körper an einem Seil hängend wieder ins Tal flog. Michael stieß einen Fluch aus und warf einen Stein in den Abgrund. „Was für ein elender Tag heute, was für eine elender Tag. Besser hätte es diesen Tag nie gegeben!“ Er hob die Mütze Horsts auf, die am Hang liegen geblieben war, und legte sie vorsichtig in seinen Rucksack. Wortlos stapften die beiden zur Hütte zurück. ***

Leise ein Liedchen summend, trug Birgit die Kaffeetafel auf. Es war ein herrlicher Tag auf Schloss Sturmeck. Sie fühlte sich heute 36

sehr wohl, denn die Aussprache mit Horst vor seiner Abreise in die Berge hatte ihr gut getan. Schon lange hatte sie an ihren Gefühlen gezweifelt, aber erst jetzt hatte sie den Mut besessen, es Horst zu sagen. Horst hatte verbittert reagiert und ihr vorgeworfen, dass dies nicht an ihm liege, sondern dass ein anderer Mann im Spiel sein müsse. Ohne es auszusprechen, hatte er damit natürlich Ansgar gemeint. Birgit hatte dies abgestritten, obwohl die Stimme ihres Herzens anderes gesagt hatte. Die Tür des Zimmers öffnete sich, und Aurora kam herein. Auf dem Arm trug sie Jonathan, der Birgit entgegen lächelte. „Frau Gräfin können gleich mit der Kaffeetafel beginnen“, sagte Birgit, während sie sorgfältig das Tischtuch glatt strich. Wie immer, hatte sie alles perfekt gerichtet. „Sie hat mehr als diesen Horst verdient, mein gutes Herz“, dachte Aurora. Inzwischen war auch Graf Wolfhard eingetreten und hatte an der Kaffeetafel Platz genommen. Genussvoll zerteilte er die Stücke des wohlschmeckenden Marmorkuchens, den Birgit gebacken hatte. Als sie hereinkam, um Kaffee nachzuschenken, zwickte er sie an sensibler Stelle und rief „Bravo, Birgit, was sie da

wieder gebacken haben, wer möchte sich nicht von ihnen bemuttern lassen“. Birgit seufzte und stieß ein vorwurfsvolles „Herr Graf“ aus.

zu bemerken und sagte „Beruhige dich doch, Wolfhard, das Kind kann doch nichts dafür. Wir müssen jetzt alle die Haltung wahren.“

Aurora, die den Fauxpas ihres Schwiegervaters gesehen hatte, schüttelte den Kopf. „Wolfhard, es ist Herbst, warum hast Du schon wieder Frühlingsgefühle?“

Wolfhard entschuldigte sich und gestand ein, dass ihm die Nerven durchgegangen waren. Er rührte noch einige Zeit nachdenklich in seinem Kaffee, bevor er aufstand und sagte „Ich muss ein paar Schritte durch den Garten gehen, mich holen immer wieder die Gedanken über Ansgar ein. Was wir nur aus ihm werden? Was wird aus dem Hause Sturmeck-Esterhazy werden?“

Wolfhard lächelte auf seine unglaublich charmante Art und schwieg. Es war deutlich spürbar, dass ihn das Scherzen kurzzeitig von seinen schweren Gedanken abgelenkt hatte. Sein Gesicht verdüsterte sich merklich, und plötzlich schien er wieder um Jahre gealtert, und sein seidiges Haar erschien wieder stumpf. Ein bitterer Zug um seinen Mund ließ erahnen, welche Sorgen sich der Graf und seinen Sohn machte. Jonathan juchzte und stieß seine Kakaotasse um, deren Inhalt sich über die mit Meißner Porzellan gedeckte Damastdecke ergoss. „Heißa Wassa“ schrie er und schien das angerichtete Chaos zu bewundern. „Kannst Du den Jungen nicht einen Moment stillhalten?“ rief Wolfhard vorwurfsvoll. Die Geschehnisse der vergangenen Wochen hatten so an seinen Nerven gezehrt, dass er schnell wütend wurde. Aurora schien das

Nachdem der Graf den Raum verlassen hatte, kam Birgit wieder herein. Aurora bemerkte ihre gute Stimmung und fragte „Birgit, was macht sie so fröhlich?“ Birgit begann, den Tisch abzuräumen. Sie schaute Aurora nicht an, als sie langsam zu sprechen begann: „Eigentlich...eigentlich sollte ich ja traurig sein.“ Mit konzentrierten Bewegungen räumte sie das wertvolle Geschirr auf das Tablett. Sorgfältig rückte sie jeden Teller zurecht. Aurora hing gespannt an ihren Lippen, doch Birgit stellte ihre Geduld auf eine Probe. Nachdem sie das Geschirr fast zusammen geräumt hatte, 37

strich sie einige Krümel zur Seite. Plötzlich sagte sie unvermittelt: „Ich habe mich von ihm getrennt, es ging nicht mehr anders!“ Aurora schaute sie überrascht an: „Sie meinen Horst? Sie haben sich von Horst getrennt?“ In ihr Gesicht war ein ungläubiges Staunen geschrieben. Birgit nickte: „Ja, ja, das habe ich getan. Ich spürte schon lange, tief in meinem Inneren, dass wir zwei nicht miteinander harmonieren. Es war immer mehr eine unsichtbare Wand zwischen uns. Unsere Leben passten nicht mehr zueinander.“ Aurora sah das fein geschnittene Profil ihrer Zofe. Sie dachte: „Sie ist eine so feine Frau. Ich könnte ihre Freundin sein, trotz des Standesunterschieds.“ „Außerdem“ meinte Birgit nach einer Pause, „außerdem hatte Horst erfahren, dass ihr Schwager Ansgar mir den Hof macht. Das hat ihn sehr hart getroffen. Sie müssen wissen, Horst stammt aus einem sehr einfachen Hause, und er hat gegenüber gesellschaftlich höher stehenden Menschen sehr große Vorbehalte. Sobald er erfahren hatte, was hier geschehen war, war bei ihm eine brennende Eifersucht aufgekommen. Dabei war mir doch schnell klar, dass das für Ansgar höchstens eine Liebelei sein würde.“ Während sie sprach, 38

war in ihrem Gesicht ein wehmütiger Ausdruck aufgekommen. Aurora wiegte ihren Kopf. Ihre Gefühle für Ansgar ließen sie hier befangen werden. Obwohl sie spürte, dass Birgit für ihren Schwager ehrliche Gefühle hatte, spürte sie, dass sie keine Rivalin für sie war. Ansgar hatte manchmal noch die Flausen seiner Jugend durchbrechen lassen, aber in seinem Inneren war er schon längst zu einem Mann mit Prinzipien herangereift. Es war immer deutlicher zu spüren, dass er ein Sturmeck-Esterhazy war und dass er nur für eine standesgemäße Beziehung offen stand. Während ihre Gedanken zu Ansgar schweiften, sagte sie „Ja, ich glaube, da haben sie recht. Ansgar wird bald eine standesgemäße Beziehung aufnehmen, das spüre ich in meinem Innersten!“ Den letzten Satz hatte sie lauter als gewollt ausgesprochen, und Birgit drehte sich zu ihr und schaute sie verwundert an. Sie schien aber nicht ahnen, welche Gefühle Aurora zu dieser Aussage geführt hatten. Aurora spürte, dass das Gespräch eine zu große Vertrautheit hergestellt hatte. Sie sagte unvermittelt in sehr

nüchternem Ton „Tragen sie nun bitte ganz ab, ich möchte mit meinem Sohn etwas spielen!“ Als Birgit das Zimmer verlassen hatte, klingelte die Haustür. Birgit ging an die Tür und öffnete. Aurora hörte durch die offen stehende Tür, wie sie einen lauten Schrei ausstieß. Als sie eilig in den Gang trat, lag Birgit besinnungslos auf dem Boden, über sie war ein Polizist gebeugt. Aurora fragte erschrocken den Polizisten, was geschehen sei. Er sagte ihr, dass er beauftragt sei, der Verlobten von Herrn Schröder seinen Bergtod mitzuteilen. Es sei gerade eine Nachricht aus der Schweiz gekommen, er sei abgestürzt und sofort tot gewesen. Aurora kniete erschüttert nieder und strich über die Stirn von Birgit. „Was für ein tragisches Ereignis, fast unwirklich. Was hat das Schicksal für Birgit noch in Vorbereitung?“ dachte sie. ***

Kommissar Buttenkloh war übel gelaunt. Seine Finger trommelten auf dem Schreibtisch, während er bei seiner Sekretärin anrief. „Frau Müller“, bellte er in den Hörer, „warum kommt dieser elende Zeuge von Schröder nicht. Er hätte seit einer halben Stunde da

sein sollen. Ich muss' unbedingt mit ihm noch seine Aussage vor Gericht durchsprechen, damit wir den Grafen richtig fertig machen können.“ Buttenkloh war überall bekannt dafür, dass er rechtsstaatliche Pflichten nicht besonders hoch wertete. Wütend schmiss er den Hörer auf die Gabel, als er hörte, dass Schröder nicht aufgetaucht war und sich auch nicht entschuldigt hatte. Er entschloss sich, Schröder zu Hause aufzusuchen, und zog seinen abgenutzten Mantel an. Im Hof des Polizeipräsidiums stieg er in einen Streifenwagen und forderte die Polizeibeamten auf, in die Gartenstrasse 3 zu fahren. Als sie dort ankamen, fragten ihn die Beamten, was er von Schröder wolle. „Ich muss ihn noch richtig scharf machen“, knurrte Buttenkloh, „damit er mir morgen den Grafen absägt!“ In seinen Augen war eine wilde Jagdlust erkennbar. Die Polizisten schauten ihn erschrocken an. „Da kommen Sie zu spät“, meinte einer von ihnen nach einer Pause, „da ...“ Buttenkloh fiel ihm rüde ins Wort „Was wisst denn ihr schon, wie man Zeugen präpariert? Das kann nie zu spät sein!“

39

Der Polizist schüttelte langsam den Kopf: „Doch, hier ist es zu spät. Wir waren schon vor einer Stunde hier, um nach Verwandten und Bekannten zu suchen. Schröder ist tot! Er ist in den Schweizer Alpen abgestürzt. Wir fanden aber niemand in seiner Wohnung, es wurde nicht aufgemacht.“ Buttenkloh schaute ihn ungläubig an: „Was, tot?“ Sein Gesicht wurde aschfahl. Schlagartig wurde ihm klar, dass seine Pläne gefährdet waren. Jetzt hatte er nur noch die schriftlichen Vernehmungsprotokolle. Schnell fasste er sich aber wieder. „Das muss reichen“, murmelte er vor sich hin. Die Polizisten waren vor dem Haus Gartenstrasse 3 stehen geblieben und schauten Buttenkloh erwartungsvoll an. Dieser sagte „Warten sie hier, ich werde mal die Lage erkunden“. Er klingelte an allen Klingeln des Hauses. Im dritten Stock steckte ein Frau den Kopf aus dem Fenster und rief „Was ist denn?“ „Kriminalpolizei“, rief Buttenkloh, „machen Sie auf!“ Kurz darauf summte der Türöffner. Buttenkloh stieß die Türe auf und begann, die Treffen zu Schröders Wohnung hinauf zu steigen. Im dritten Stock stand an der Tür 40

gegenüber eine ältere Frau mit Lockenwicklern im Haar. Sie trug eine abgenutzte Schürze und eine Strumpfhose mit Laufmaschen. Ihre ungepflegten Fingernägel hatten schwarze Schmutzränder. Buttenkloh fragte sie in barschem Ton: „ Wer sind denn Sie, was wollen Sie hier?“ Die Frau zuckte leicht zusammen und sagte „Erna Scheidt ist mein Name, ja...“ Sie schien vor Neugier fast zu platzen: „ja was suchen sie denn hier, bei meinem lieben Nachbarn Herr Schröder..der ist zum Bergsteigen, obwohl, er hätte ja schon zurück sein müssen. Da müssen sie ja wohl seine Verlobte fragen, dieses Fräulein Birgit, die da bei den Grafen arbeitet, den feinen.“ Buttenkloh schaute sie an, als ob er ein kleines Kind belehren müsse: „Tja, ihr lieber Nachbar, der wird auch nicht mehr zurückkommen. Der hat seine Liebe zu den Bergen mit dem Leben bezahlt!“ Frau Scheidt schaute ihn ungläubig an: „O Gott, was ist ihm passiert, ist er abgestürzt?“ Ich habe mich schon gewundert, heute Morgen war schon mal die Polizei da, zwei Beamte haben an seiner Tür geklingelt. Buttenkloh nickte trocken. „Fein beobachtet. Und, was

machen wir nun? Können Sie mir noch was Interessantes über ihren Nachbarn erzählen?“ Das schien das richtige Stichwort für Frau Scheidt zu sein, deren Lebensinhalt anscheinend im Hinterherschnüffeln bei anderen Leuten bestand. „Aber ja, Herr Kommissar“, meinte sie, „da hat man ja so einiges mitbekommen. Am Freitagabend, bevor Schröder in die Berge fuhr, hat er sich mit Birgit gestritten. Sie verließ weinend das Haus, ich habe es durch meinen Türspion gesehen. Vorher hatte ich noch in meinem Badezimmer, wissen Sie, das liegt ja genau gegenüber von Schröders, wissen sie, da kann ich einiges hören....“ Buttenkloh unterbrach sie: „Gibt es hier einen Hausmeister, der mir die Wohnung öffnen kann?“ Frau Scheidt schaute sich um, als ob sie Angst vor Zeugen haben. Sie beugte sich näher zu Buttenkloh und flüsterte „Nein, einen Hausmeister gibt es hier nicht, aber, wissen Sie, Herr Inspektor, ich habe einen Schlüssel. Der Vormieter war ein alter Mann, dem ich geputzt habe, da habe ich einen Doppelschlüssel. Es ist ja immer gut, wenn man bei den Nachbarn ab und zu nachsehen kann, ob man in einem ehrenwerten Haus lebt. Außerdem

bekam der immer so Schreiben, die waren mit „Persönlich/Vertraulich“ gekennzeichnet, das war mir und meiner Freundin in der Wohnung unten dran nicht geheuer, das mussten wir nachlesen, ob das nicht Briefe von Verbrechern sind! Es waren aber nur Schreiben von einem Steuerberater, Schröder wollte sein eigenes Autohaus aufmachen und sich beraten lassen. Seine Oma war verstorben und hatte ihm etwas vererbt.“ Buttenkloh dachte: „Vom Postgeheimnis hat die Alte auch noch nichts gehört“. Er nahm den Schlüssel und öffnete die Türe. Hinter ihm wollte Frau Scheidt mit herein kommen, aber er schlug ihr die Türe vor der Nase zu. Als er durch den Türspion blickte, sah er in ein riesenhaft vergrößertes Auge von Frau Scheidt. Die Wohnung war sehr bescheiden eingerichtet und hatte die etwas kahle Ausstattung einer typischen Junggesellenwohnung. Im Wohnzimmer hingen Poster von Rennwagen an der Wand. In der Küche waren die Reste eines eiligen Frühstücks noch nicht weg geräumt. Buttenkloh betrat das kleine Schlafzimmer. Auf dem Nachttisch stand lag ein Bilderständer mit dem Bild nach unten. Buttenkloh drehte das Bild um, es war ein 41

Foto von Birgit. Die Scheibe des Bilderrahmens war zerbrochen. Im Schlafzimmer stand ein kleiner Schreibtisch, mit einem Ferrari-Modell, in das ein BleistiftSpitzer eingebaut war. Vorsichtig zog Buttenkloh die Schreibtischschublade auf. Neben einigen Rechnungen fand er einen verschlossenen Briefumschlag, der nicht beschriftet war. Neugierig riss er den Umschlag auf. „Testament“ stand auf der ersten Seite. Buttenkloh begann zu lesen. Es war eine Lebensbeichte eines unglücklichen Mannes, der zwar in seinem Beruf geschickt war und Erfolg hatte, aber als Kind einer unglücklichen Ehe nie gelernt hatte, wirklich befriedigende Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Sein Vater hatte ihn über viele Jahre misshandelt, und die Mutter war zu anderen Männern geflüchtet. Dann beschrieb Schröder, dass er Birgit kennen gelernt habe und das erste Mal in seinem Leben glücklich gewesen sein – aber nur so lange, bis ein Nebenbuhler auftrat. Es war der Sohn einer Adelsfamilie, bei der seine Freundin arbeitete. Buttenkloh gefror das Blut in den Adern, als er die nächsten Zeilen las: „Ich spürte, dass dieser Graf Ansgar mir Birgit wegnehmen wollte, das Einzige, 42

das ich in meinem freudlosen Leben hatte. So beschloss ich, ihn zu töten. Als ich beim Rennen des Adelshauses Sturmeck mit der Wartung seines Wagens betraut war, ergab sich eine günstige Gelegenheit. Ich manipulierte die Bremsen an Ansgars Wagen.“ Buttenkloh traten die Schweißperlen auf die Stirn. Er wischte sie mit seinem Taschentuch weg und las weiter: „Doch es geschah etwas Unfassbares: Ansgar lieh das Auto seinem Bruder, da dessen Wagen defekt war. So starb Eckhard statt Ansgar. Ich hatte einen Unbeteiligten getötet und ewige Schuld auf mich geladen...“ Buttenkloh musste sich schwer atmend einen Moment an den Schlafzimmerschrank lehnen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Das ganze Kartenhaus seiner Anklage war zusammen gestürzt. Ansgar würde freigesprochen werden, er würde zum Spott der Presse werden, seine Beförderung konnte er in den Wind schreiben. Buttenkloh blickte vorsichtig in den Gang der Wohnung. Er war immer noch allein. Mit leisen Schritten ging er ins Badezimmer, zerknüllte den Brief und warf ihn in die Toilette. Er spülte und sah, wie das Schreiben verschwand. Er atmete tief durch und ging zur

Wohnungstür zurück. Als er die Tür aufriss, stürzte ihm fast Frau Scheidt entgegen, die an der Tür gelauscht hatte. „Mussten Sie noch zur Toilette, Herr Kommissar? Sie hätten auch bei mir gehen können, da ist wenigstens sauber geputzt!“ „Was geht Sie das an?“, schrie Buttenkloh. „Sie behindern hier polizeiliche Ermittlungen!“ Wenn sie sich nicht auf der Stelle davon machen, lassen ich sie festnehmen!“ Frau Scheidt verschwand wie der Blitz in ihrer Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu. Buttenkloh lachte schallend, stieg die Treppe hinunter und ging zu den wartenden Polizeibeamten zurück. „Nichts besonderes“, sagte er, während er sich auf der Rückbank des Dienstwagens anschnallte. „Aber neugierige Nachbarn“. Die Polizisten lächelten. ***

Richter Günter Ölfinger eröffnete den zweiten Verhandlungstag im Verfahren gegen Ansgar. Mit seinem schmal geschnittenen Gesicht, auf dem heute ein ganz besonders

unangenehmer Ausdruck lag, erinnerte er Aurora irgendwie an ein Tier. Sie ertappte sich dabei, dass sie ihn mit einer Ratte verglich. Dabei hatte Ölfinger in letzter Zeit genug zu leiden gehabt, als die Seitensprünge seiner Ehefrau in der Kretnitzer Boulevardpresse im Detail diskutiert wurden. Die junge attraktive Frau an seiner Seite war des trockenen Amtsgerichtsrats überflüssig geworden und hatte sich einem attraktiven Manager eines lokalen Autounternehmens an den Hals geworfen. Ölfinger hatte mit einer Hamburger Werbedame aber schnell einen Ersatz gefunden. An diesem zweiten Verhandlungstag war die Aussage von Horst Schröder angesetzt worden. Richter Ölfinger verlas die Nachricht vom tödlichen Absturz und bat die Anwesenden, sich für einen Moment des Gedenkens zu erheben. Graf Wolfhard stand mit versteinerter Miene zwischen den anderen Beteiligten. Ölfinger bat daraufhin Buttenkloh, die Protokolle der Vernehmungen von Horst Schröder zu verlesen und erläutern. Mit großem Pathos und unterbrochen durch viele Kunstpausen kam dieser der Aufforderung nach. Er las in 43

großem Detail vor, wie Horst Schröder seine AutomechanikerLehre abgeschlossen hatte und wie er dazu kam, sich auf die Wartung von Rennwagen zu spezialisieren.

Landgericht Kretnitz mal wieder mal los. Richter Ölfinger wischte sich die schweißbedeckte Stirn ab und schrie „Ruhe! Ist hier endlich Ruhe!“

Plötzlich sprang Volker Lepre auf und rief „Sie langweilen uns alle mit diesem Geschwätz! Kommen sie endlich zur Sache!“ Wütend wollte Richter Ölfinger Lepre zur Ordnung rufen, doch bevor er dies konnte, brandete im Gerichtssaal Beifall auf. Offensichtlich hatte Buttenkloh nicht nur Lepre gelangweilt. Unwillig gab Ölfinger Buttenkloh ein Zeichen, fortzufahren.

Volker Lepre stand ganz gelassen auf und sagte: „Hohes Gericht, ich glaube, die Befangenheit des Zeugen ist ja nun mehr als offensichtlich. Die gesamte Anklage stützt sich letztlich auf einen Mann, dessen ganzes Arbeiten dazu gedient hat, meinem Mandanten größtmöglichen Schaden zuzufügen! Ich fordere sie auf, dies bei der Bewertung des Falls zu beachten!“ Er nahm wieder Platz. Das leichte Raunen im Gerichtssaal ließ die Bewunderung des Publikums für den geschickten Anwalt deutlich werden.

Buttenkloh rief erregt zu Lepre: „Hier zählen auch die Details!“ Daraufhin gab Lepre ihm lachend zurück: „Klar, aber lassen Sie die Details von der Mafia nicht weg!“ Der Gerichtssaal wurde vom Lachen des Publikums erschüttert. Buttenklohs letzte Fehlleistung war dem aufmerksamen Gerichtspublikum noch allzu gut bekannt. Buttenkloh sprang mit hochrotem Kopf auf und schrie: „Ich bringe so viele Details, wie ich will! Gerade weil Sie ihren feinen Mandanten lebenslang hinter Gitter bringen werden!“ Das Publikum johlte vor Freude. Endlich war im 44

Staatsanwalt Günther, der sich während Buttenklohs langwierigen Ausführung ausführlich den Nacken gekratzt hatte, schüttelte unwillig den Kopf: „Was reden Sie denn da. Wir haben hier eben einen Vollblutbeamten, der mit ganzem Herzen bei der Sache ist. Er hat ordentlich ermittelt, und die Beweislage ist doch klar, das können sie nicht .....“ Richter Ölfinger unterbrach ihn und sagte: „Herr Kollege, ihr Plädoyer kommt später. Jetzt

lassen wir mal Herrn Buttenkloh ausreden“. Dieser führte nun weiter aus, was er im Verhör von Horst Schröder erfahren hatte. Ansgar hörte ihm mit blassem Gesicht, aber wachen Augen aufmerksam zu. Als Buttenkloh die Aussage berichtete, dass Ansgar unter seinem Auto gelegen habe und Horst ihn dabei beobachtet habe, wurde es mucksmäuschenstill im Gerichtssaal. Gebannt lauschten alle Anwesenden den für Ansgar belastenden Aussagen. Buttenkloh zelebrierte die nächsten Sätze: „Und dann, meine Damen und Herren, trat Herr Schröder neben das Auto des Angeklagten und fragte: Herr Graf, was machen Sie denn da unter ihrem Auto?“ Daraufhin kroch der Graf wie ertappt unter seinem Auto hervor, die Hände voll Bremsflüssigkeit, und schrie Schulze an, er solle hier mit dem Schnüffeln aufhören. Triumphierend wollte Buttenkloh in die Runde blicken, aber Ansgar sprang auf und schrie: „Du dreckiger Lügner, das ist frei erfunden! Ich habe doch ausgesagt, dass ich die Bremsleitungen noch mal kontrollieren wollte, weil mir eine schwache Bremswirkung aufgefallen war. Kein Wort habe ich zu Horst gesagt, im Gegenteil!“

Voller Erregung sprang er auf Buttenkloh zu. Nur mit Mühe könnten ihn zwei Vollzugsbeamte an den Handschellen zurückhalten. „Natürlich habe ich es ihm gesagt“, schrie Ansgar weiter, während er sich in den Fesseln wand, „und er hat gesagt, das ist alles OK, die Bremsen sind OK! Ich bin doch kein Mörder, sie müssen mir glauben!“. Ölfinger schaute ihn ruhig an und sagte „Nun, das wird sich noch weisen. Ich denke, dass damit die Ausführungen von Herrn Buttenkloh beendet sind. Ich denke, dass wir nun zur Befragung des Angeklagten kommen können.“ Ansgar wurde nach vorne geführt. Der Richter drehte langsam an seinem Bleistift, als ob er noch nachdenke. Dann fragte er unvermittelt: „Sie hatten also ein tiefes Zerwürfnis mit ihrem Bruder. Ein Erbstreit?“ Ansgar fauchte ihn an „Sie sind ja ein ganz Oberschlauer, dass sie das auch schon wissen. Das „Bunte Blatt“ hat es ja auch in seiner letzten Ausgabe ausführlich genug berichtet. Geldstreitereien bei Adelshäusern, das geht gut beim Proletariat, das liebt die Presse!“ Ölfinger und Buttenkloh schauten sich an und lächelten. Lepre ging zu Ansgar und flüsterte ihm etwas ins Ohr. 45

Offensichtlich wies er ihn darauf hin, dass er Ruhe bewahren solle. Ansgar schüttelte unwillig den Kopf und sagte halblaut: „Die haben es verdient, dass ich denen rausgebe!“ Dann wandte er sich wieder zu Ölfinger und beschrieb die Auseinandersetzung mit seinem Bruder Eckhard. Graf Wolfhard, der in der ersten Reihe saß, war in sich zusammengesackt und hatte die Augen geschlossen. Es schien ihn zutiefst zu treffen, wie die Familiendinge derer zu SturmeckEsterhazy hier öffentlich ausgebreitet wurden. Eine solche Schande hatte in der vielhundertjährigen Geschichte des Adelshauses nie gegeben. Sein verstorbener Vater, Graf August, hätte ihm das nie verziehen. Ansgar erläuterte ehrlich und offen, dass es Streit um das Erbe gegeben habe und warum er sich zurückgesetzt gefühlt habe. Trotz des bitteren Streits sei er aber mit seinem Bruder stets ein Herz und eine Seele gewesen. An dieser Stelle gluckste Millbad laut auf. Ölfinger schaute ihn wütend an, worauf Millbad errötete und demonstrativ zum Fenster hinaus schaute. Nach einer Anhörung weiterer Zeugen vom Tag an der Rennbahn, die keine weiteren Ergebnisse erbrachte, schloss 46

Richter Ölfinger die Verhandlung. Lepre schaute sorgenvoll. Er war enttäuscht darüber, dass Ansgar seine Prozessstrategie nicht durchgehalten hatte, weil er immer wieder in Wut ausgebrochen war. Als Aurora und Lepre den Gerichtssaal verließen, mussten Sie Graf Wolfhard stützen, dessen Gesicht aschfahl war. Er schien zu ahnen, dass die Aufregungen für ihn vor dem Höhepunkt standen. ***

Birgit klingelte an der Wohnung von Madame del Phy. Die Tür war neutral, ohne Schild, aber in einem auffallenden Rotton gestrichen. Als keine Antwort kam, dachte Birgit zunächst, sie habe sich in der Adresse geirrt. Die alte Villa in einem feinen Stadtteil von Kretnitz war etwas heruntergekommen, und nichts wies darauf hin, dass hier eine berühmte Wahrsagerin tätig war. Dann öffnete sich jedoch die Tür, und ein junger Mann in dunklem Anzug öffnete. Er trug einen Vollbart und eine dunkle Hornbrille und machte einen geheimnisvollen Eindruck. „Sie wünschen, junge Dame?“ sagte er in einem etwas übertrieben höflich wirkenden Ton.

„Mein Name ist Birgit Schröder, entschuldigen Sie bitte, Birgit Steiner. Ich habe einen Termin bei Madame del Phy.“ Der junge Mann nickte und sagte: „Bitte kommen Sie herein und nehmen sie dort Platz!“ Birgit setzte sich auf einen Stuhl und betrachtete die Bilder an der Wand des Warteraums. Es waren Szenen aus den Bildern von Hieronymus Bosch, die zusammen mit der dunklen Tapete und der bläulichen Beleuchtung den Raum etwas unwirklich erschienen ließen. Mehr als eine halbe Stunde verging, ohne dass etwas passierte. Birgit hüstelte und hoffte auf eine Reaktion. Als weiter nichts geschah, ging sie zum Gang und rief „Hallo! Ist da jemand?“ Aus der Dunkelheit erschien der Portier und hielt einen Finger vor den Mund: „Pst, sie dürfen jetzt die magische Konstellation nicht stören. Erst wenn Madame del Phy an ihrem Kulminationspunkt ist, kann sie wirklich wahrsagen. Es dauert sicherlich nicht mehr lange!“ So schnell wie er gekommen war, war er auch wieder verschwunden. Birgit dachte nochmals über die Ereignisse der vergangenen Wochen nach. Die Dinge waren so

schnell auf sie hereingestürzt, dass sie sie nicht mehr verarbeiten konnte. Die Auflösung ihrer Beziehung mit Horst hätte sie alleine schwer belastet. Sie hatte immer gespürt, dass hinter der manchmal abweisenden Fassade von Horst im Grunde ein herzensguter Mensch steckte. Ihr lag daran, ihm nicht Unrecht zu tun und diese positiven Seiten bei ihm zu hervor zu arbeiten. Als dann aber Ansgar in ihr Leben getreten war, hatte die rasende Eifersucht Horsts wieder die dunklen Mächte in seiner Persönlichkeit hervortreten lassen. Wenn sie sich deswegen gestritten hatten, hatte Birgit große Angst vor Horst und fürchtete manchmal, er könne ihr Gewalt antun. Wie positiv dagegen war Ansgar immer gestimmt. Es schien, dass nichts seine fröhliche Art beeinflussen könne. Allerdings war Birgit immer unsicher gewesen, ob Ansgar sie als Frau wirklich ernst nahm oder ob sie für ihn nur ein belangloser Flirt war, wie er sie als noch vor kurzer Zeit so oft hatte. Er war aber in letzter Zeit sehr gereift und schien sich zu einem verantwortungsvollen Menschen zu entwickeln, ähnlich, wie es sein Bruder Eckhard gewesen war. Es war offensichtlich, dass jetzt eine Frau in sein Leben treten musste, die es in geordnetere Bahnen lenken konnte. 47

Aber, dachte Sie, kann ein junger Mann von Adel wirklich eine Bürgerliche lieben? Sie war sich nicht sicher. Wie oft hatte sie in den Hochglanzmagazinen gelesen, wie selbst in den erstklassigen Familien nicht standesgemäße Ehen geschlossen wurden. Sie wusste aber auch, dass das Haus Sturmeck-Esterhazy ein besonderes Haus war: Graf Wolfhard hatte stets großen Wert darauf gelegt, dass man die traditionellen Formen des Adels einhielt. Dies hatte ihn nicht daran gehindert, dass man auch in Nachbars Garten Kirschen pflückte, aber wenn es an Ernsthaftes ging, so zählte doch die Form allein. Auch hatte Birgit gemerkt, dass sich die Beziehung zwischen Aurora und ihrem Schwager Ansgar sehr verändert hatte. Als Aurora Eckhard kennen gelernt hatte, hatte sie die leichtlebige Weise des Bruders ihres Bräutigams zunächst abgestoßen. Gerade aber nachdem der Streit zwischen Eckhard und Ansgar um die Erbschaft aufgekommen war, war Aurora mehr und mehr klar geworden, dass auch Ansgar aus dem Holz der Sturmeck-Esterhazy geschnitzt war, wie sie einmal Birgit in einem vertraulichen Moment gesagt hatte. Ob Aurora für Ansgar auch mehr empfand als sie bisher gezeigt hatte? 48

Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als der Assistent der Wahrsagerin wieder eintrat: „Madame del Phy wartet auf sie“, sagte er und wies ihr den Weg. Sie gingen durch den dunklen Gang und betraten ein Zimmer, dessen Tür hinter einem Samtvorhang lag. Der Raum war in das Licht von Kerzen getaucht. Am Tisch saß eine dunkelhaarige Frau im mittleren Alter, die auffallend grün leuchtende Augen hatte. Ihre Haare waren zu seinem streng wirkenden Dutt zusammengefasst. Sie trug ein schwarzes langes Kleid und darüber eine violette Jacke. Mit einer Stimme mit deutlichem Akzent sagte sie: „Nehmen sie Platz. Was kann ich für sie tun?“ Birgit begann, die Geschehnisse der vergangenen Wochen zu schildern. Madam del Phy schien aufmerksam zuzuhören. Gelegentlich legte sie vom Kartenstapel eine Karte auf den Tisch, ohne aber etwas zu sagen. Am Ende ihrer Schilderungen sagte Birgit: „Ich bin jetzt völlig verunsichert. Es haben sich so viele Dinge in letzter Zeit ereignet, ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Manches war gar Rätselhaft. Soll ich dem Werben Ansgars nachgehen? Soll

ich Aurora von der Liebe zu Ansgar berichten?“ Die Wahrsagerin schien sie zunächst nicht zu beachten, sondern legte weiter ruhig ihre Karten. Ihre rot lackierten langen Fingernägel strichen dabei fast zärtlich über den Kartenstapel. Um ihren Mund schien ein Lächeln zu spielen. Plötzlich zog sie eine Karte heraus und sagte „Pik sieben – das deutet...“, sie machte eine längere Pause, „das weist auf etwas wichtiges Schriftliches hin, ein Schreiben hin, das sie bekommen haben. Und hier...“, sie zog eine zweite Karte, „die Herz Bube, das muss ein Schreiben eines Mannes sein, der ihnen etwas bedeutet hat, und..“, sie zog eine dritte Karte und stieß einen erschreckten Laut aus: „O, die Kreuz zehn, das bedeutet Tod – Über ihrem Leben liegt ein Schatten des Todes! Sie Arme! Gott sei mit ihnen!“ Birgit schaute sie entsetzt an und stieß aus: „Ja, das stimmt, mein ehemaliger Freund hat mir neulich einen verschlossenen Umschlag überlassen...Aber warum liegt jetzt ein Fluch über mir?“ Madame del Phy schaute sie aus ihren grünen Augen düster an: „Sie müssen diesen Brief unverzüglich öffnen und den Inhalt studieren. Über ihrem Leben liegt

der Schatten des Todes, nur wenn der Fluch dieses Schreibens sie los lässt, können sie wieder glücklich werden! Sie müssen der Wahrheit zum Sieg verhelfen!“ Birgit schaute sie entsetzt an. „Ja“ stieß sie mit schwacher Stimme hervor, „ja, ich werde ihre Anweisungen ausführen.“ Sie stand auf und verließ den dunklen Raum, um so schnell wie möglich ans Tageslicht zurückzukehren. So schnell sie konnte, eilte sie zu ihrer Wohnung zurück. Ohne sich den Mantel auszuziehen, sprang sie ins Schlafzimmer und holte den Umschlag aus dem Schrank. Mit zittrigen Fingern öffnete sie den Umschlag und las mit stockendem Atem. Es war eine Kopie des Testaments von Horst. Atemlos las sie das Schreiben. Als Birgit klar wurde, dass Horst der Mörder Eckhards war, wurde ihr schwarz vor den Augen. Alles drehte sich um sie, und sie stürzte besinnungslos zu Boden. ***

Bevor er die entscheidenden Worte ausstieß, machte Staatsanwalt Günther eine lange Kunstpause. Über eine Stunde hatte er detailliert die Punkte der Anklage zusammengefasst. Schritt 49

für Schritt war er dem Höhenpunkt seiner Rede nahe gekommen. Bei jedem Schlag, den er mit seinen Worten Ansgar versetzte, hatten Buttenkloh und Millbad genickt. Selbst die sonst meist einem Nickerchen frönenden älteren Prozessbeobachter hingen an den Lippen des Staatsanwalts. Man hätte eine Stecknadel im Saal fallen hören können, als er langsam fortfuhr: „Und damit, meine Damen und Herren, fügt sich alles zu einem klaren Bild: Der Angeklagte, Ansgar Graf von Sturmeck-Esterhazy“ - er sprach das Wort „Esterhazy“ künstlich gedehnt aus, als ob es eine besondere Bedeutung besitze - „hat heimtückisch und auf raffinierte Weise die Tat geplant, und seinen Bruder Eckhard“ - hier unterbrach er ein letztes Mal - „ermordet!“ Das Wort „ermordet“ sprach er mit einem rollenden „R“ aus. Ansgar sprang auf und schrie „Das ist ein Lüge! Sie wissen, dass sie lügen!“ Nur mit Mühe konnten ihn die beiden Vollzugsbeamten daran hindern, sich auf Günther zu stürzen. Dieser tat, als ob er die versuchte Attacke gar nicht bemerkt hatte, und fuhr fort: „Diese schreckliche Bluttat muss gesühnt werden, ohne Ansehen der Person, ohne Ansehen der Familie des Täters – und Opfers. 50

Deswegen beantrage ich die lebenslange Freiheitsstrafe für Ansgar Graf von SturmeckEsterhazy!“ Aurora und Wolfhard war das Entsetzen in das Gesicht geschrieben. Richter Ölfinger rief Anwalt Dr. Volker Lepre zu seinem Plädoyer auf. Lepre stand auf und ging zunächst schweigend auf und ab. Plötzlich blieb er vor Richter Ölfinger stehen und rief, dem Publikum zugewandt, aus: „Hier wurde ein Fehlurteil gefordert!“ Millbad gluckste und sagte zu Buttenkloh „Das hätte er so gerne, wir werden seinen Ansgar einlochen bis ans Ende seiner Tage!“ Buttenkloh lächelte etwas gequält zurück. Als er die Füße Millbads beobachtete, sah er, dass das Loch heute am linken Fuß war. Wenigstens schien er seine Socken gelegentlich auszuziehen. Lepre fuhr in ruhigen Worten fort. Er unterstrich seine sachlichen Aussagen mit ausdrucksvollen Gesten: „Wenn, hohes Gericht, wenn mein Mandant einen Mord geplant hätte, hätte er dann sein eigenes“ - im Wort „eigenes“ betonte er jede Silbe einzeln - „sein eigenes Auto manipuliert ? Zu einem Zeitpunkt, als er noch gar nicht wusste, dass Eckhards Auto defekt sein würde. Es wird sich doch niemand selbst töten wollen?“

Im Publikum waren einige Leute tief beeindruckt von diesem Argument. Allerdings, so war den aufmerksamen Prozessbeobachtern klar, lag die Box von Eckhard benachbart zu der von Ansgar, und Ansgar hätte am Morgen des Renntages auch problemlos hier etwas verändern können.

zu verschießen hatte, hatte einen sichtlichen Zug des Neids um den Mund. Immer wieder hatte man den Eindruck, dass er am liebsten den Verteidiger unterbrochen und eine überarbeitete Version seiner Anklage vorgetragen hätte.

Als er diesen Punkt herausarbeitete, war auf dem Gesicht Graf Wolfhards ein schmerzensvoller Ausdruck zu sehen. Offensichtlich litt er sehr darunter, durch diese Erbauseinandersetzung erst den Auftakt für das fürchterliche Geschehen gegeben zu haben.

Volker Lepre schloss sein Plädoyer mit einer Wiederholung des Befangenheitsvorwurfs gegen Buttenkloh. Wörtlich zitierte er aus dem Gedächtnis die einschlägigen Regelungen, die die Ermittler anwiesen, auch die Umstände, die für den Angeklagten sprechen, zu untersuchen. Als er mit einem spöttischen Lächeln darauf hinwies, dass bei den Behörden in Kretnitz keine neapolitanischen Verhältnisse herrschen dürften, wäre Buttenkloh am liebsten im Boden versunken. Richter Ölfinger herrschte ihn an „Sie wollen doch nicht die Unabhängigkeit der Justiz in diesem Lande bezweifeln? Hier wird gegen jeden fair geurteilt, das sagt ja auch die Landesregierung immer wieder!“

Es gelang Lepre, durch seine genaue Schilderung die These der zerstrittenen Brüder zu relativieren. Neben seiner präzisen Argumentation konnte Lepre mit einer beeindruckenden Rhetorik überzeugen. Staatsanwalt Günther, der außer dem Mittel der theatralischen Dehnung von Worten wenig rhetorisches Pulver

Lepre fuhr fort: „Gegen dieses Prinzip der entlastenden Ermittlungen wurde hier gröblichst verstoßen, und dies ist bei der Bewertung der Beweisaufnahme zu berücksichtigen: Zusammen mit den anderen dargestellten Sachverhalten kann es nur eine Schlussfolgerung geben: in dubio pro reo!“ Lepre schloss mit einem

Lepre fuhr fort, das Verhältnis der beiden Brüder zu beschreiben. Er zeigte an Details aus der Aussage von Ansgar auf, dass die beiden Brüder in der Tat untereinander nach wie vor ein herzliches Verhältnis zueinander hatten und dass eigentlich der Streit jeweils mit dem Vater ausgetragen wurde.

51

donnernden: „Ich fordere einen Freispruch für meinen Angeklagten, ohne wenn und aber!“ Das brillante Plädoyer des jungen Anwalts hatte wieder ein Lächeln auf dem Gesicht von Aurora aufblitzen lassen. Sie war dankbar, dass sie dieser so souveräne Mann für ihren Schwager Partei ergriff. Das Gericht zog sich zu seiner Beratung zurück. Still warteten Ansgar und seine Familie auf die Entscheidung. Als das Gericht wieder einzog, deutete das etwas gerötete Gesicht von Richter Ölfinger darauf hin, dass es mit seinen Schöffen nicht vollständige Einigkeit gegeben hatte. Ölfinger wog im Detail nochmals die Argumente für und gegen den Angeklagten ab. Dann aber sagte er „Doch trotz aller diese Dinge kann die schwer belastende Aussage des verstorbenen Horst Schröder nicht vergessen werden. Hier hat ein einfacher, aber aufrechter Mann, der keinen Grund zur Unwahrheit hatte, so klare Hinweise auf die Täterschaft des Angeklagten gegeben, dass bei einer Abwägung“ - er machte eine Pause und stieß hörbar Luft aus - „bei einer Abwägung aller Punkte letztlich nur eine Entscheidung 52

getroffen werden kann: Der Angeklagte ist zur Höchststrafe zu verurteilen!“ Ansgar schaute den Richter ungläubig an. Er wirkte um Jahrzehnte gealtert und schien den Urteilsspruch nur langsam zu erfassen. Graf Wolfhard hielt sein Hände vor das Gesicht und schwankte leicht auf dem Stuhl. Aurora schossen die Tränen aus den Augen, und ihr Kopf neigte sich gegen die Schulter ihres Schwiegervaters. Buttenkloh blickte triumphierend in die Runde und schüttelte Millbad die Hand. Aufgrund seiner Ermittlungen war einer der bekanntesten jungen Adeligen Europas lebenslänglich ins Gefängnis geschickt worden. Er war nun ein gemachter Mann, seine Beförderung war sicher. Lepre saß auf der Verteidigerbank und stützte sein Gesicht auf seine zur Faust geschlossenen Hände. Sein blasses Gesicht konnte aber nicht verbergen, dass er scharf nachdachte. Konnte dieses Urteil noch revidiert werden? Es wäre die erste große Niederlage in seiner Laufbahn. Die Emotionen aller Beteiligten schlugen so hoch, dass kaum jemand bemerkte, dass sich die Tür geöffnet hatte und Birgit eingetreten war. Sie hielt einen

Umschlag in der Hand und war völlig außer Atem. Sie stürzte zur Richterbank und rief: „Herr Vorsitzender, Herr Vorsitzender! Ölfinger schaute sie unwillig an: „Was wollen denn sie hier, stören sie das hohe Gericht nicht!“ Birgit sagte „Ich bin Birgit Steiner, die Verlobte, äh, ehemalige Verlobte von Horst Schröder. Schauen sie doch, was ich von Horst Schröder bekommen hatte: Sein Testament!“ Ölfinger riss ihr den Umschlag aus der Hand und entnahm das Schreiben. Alle Anwesenden im Saal schauten ihm gebannt zu, während er las. Mehrfach schüttelte er den ungläubig den Kopf. Dann forderte er mit einer Handbewegung alle auf, wieder Platz zu nehmen, und sagte: „Es handelt sich hier anscheinend um das Testament von Herrn Schröder. Nun, dieses Testament enthält Aussagen, die für diesen Prozess“ - er hüstelte „von Relevanz sind.“ Die Mitglieder der gräflichen Familie schauten sich an. Die Blicke von Aurora und Ansgar trafen sich. In seinem Gesicht mischte sich Entsetzen mit Neugier. Ölfinger fuhr fort: „Herr Schröder macht hier Angeben zum Tatverlauf. Nun, ich muss ihnen mitteilen, dass Herr Schröder in

diesem Testament den Mord an Graf Eckhard gesteht! Er wollte Graf Ansgar töten, weil er ihn als Nebenbuhler sah, aber ahnte nicht, dass dieser sein Auto verleihen würde!“ Diese Sätze lösten im Saal die unterschiedlichsten Emotionen aus: Ansgar sprang auf und riss jubelnd die Arme hoch. Mit einem Schlag war das jugendliche Lächeln in sein Gericht zurückgekommen. Aurora fiel ihm um den Hals. Graf Wolfhard hatte seine Augen wieder geöffnet und atmete tief durch. Die große Erleichterung, dass dieser dunkle Schatten über dem Fürstenhaus verschwunden war, war ihm deutlich anzumerken. Buttenkloh verbarg sein Gesicht hinter seinen Händen und schüttelte immer wieder seinen Kopf. Für ihn war eine Welt zusammengebrochen. Wenn nun noch heraus käme, dass er das Original des Testaments vernichtet hatte, konnte er seinen Job abschreiben. Neben ihm saß Millbad und konnte seinen Zügen nicht mehr als ein dümmliches Lächeln entlocken. Aurora flüsterte Ansgar ins Ohr: „Ich wusste immer, dass Du nicht schuldig bist! Ich wusste es!“ Ansgar drückte sie noch fester an sich: „Das habe ich immer gespürt, 53

dass du mir vertraust. Deine“ - er wollte „Liebe“ sagen, aber stieß dann nach einer kleinen Pause „Zuneigung“ aus - “hat mir geholfen, die Haft zu ertragen.“ Aurora blickte ihm in die Augen, als ob sie seine Gedanken lesen können, und sagte, während ihr Tränen des Glücks über die Wangen liefen: „Sag' es Ansgar, sag' es doch“. Ansgar zog sie noch näher an sich heran und flüsterte ihr ins Ohr „Ja, Aurora, es war deine Liebe, die ich spürte!“ Sie küssten sich, und Aurora spürte eine Wärme durch ihren Körper fluten, die all' die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit vergessen ließen. Rechtsanwalt Lepre stand hinter Birgit. Er schien zu spüren, dass der Anblick der sich umarmenden Aurora und Ansgar für sie einerseits eine Enttäuschung war, aber andererseits auch schon von ihr geahnt worden war: Birgit spürte, dass hier das Schicksal zwei Menschen zusammengebracht hatte, deren Herzen zusammen gehörten. Lepre trat neben Birgit und sagte „Frau Steiner, ich danke ihnen von Herzen. Sie haben meinen Mandanten vor einem Fehlurteil gerettet.“ Er berührte sie in einer etwas unbeholfen wirkenden Geste leicht an der Schulter. Birgit lächelte ihm zu 54

und sagte: „Ich musste das tun, denn ein wunderbarer Mensch wäre zu Unrecht für ein Leben im Gefängnis verschwunden. Außerdem..“ - Lepre schien einen leicht melancholischen Zug auf ihrem Gesicht zu bemerken „spürte ich, dass hier auch für Aurora ein Schlüssel zum Glück lag. Die Gräfin hat es mir nie gesagt, aber ich war vertraut genug mit ihr, um das zu spüren.“ Sie blickte zur Seite, aber Lepre konnte sehen, dass es in ihren Augen feucht geworden war. „Birgit“, sagte er mit weicher Stimme, sie sind ein wunderbarer Mensch“. Das streng Analytische, das er noch während seines Plädoyers gezeigt hatte, war von ihm abgefallen, und die Sensibilität eines gebildeten und warmherzigen Mannes trat hervor. Birgit lächelte ihn an, aber sagte nichts. Lepre fragte: Darf ich sie nach Hause begleiten?“ Birgit nickte und ließ sich von ihm in den Mantel helfen. Sie verließen den Gerichtssaal, während Ansgar und Aurora noch im Blitzlichtgewitter standen. ***

Die Sonne eines strahlenden Wintertags leuchtete über dem

Erzgebirge. Ansgar saß neben Aurora auf dem Sofa und strich ihr glücklich über die seidigen Haare. Die Blässe aus seinem Gesicht war verschwunden, und er hatte seine jugendliche Frische wieder gewonnen. Aurora verströmte wieder das feine Strahlen, das Ansgar schon immer verzaubert hatte. „Ansgar, ich bin so dankbar, dass dieser böse Fluch von uns gewichten ist. Ich werden deinen Bruder nie vergessen, aber mit Dir ist das Glück in mein Leben zurückgekehrt.“ Zärtlich hauchte Sie Ansgar einen Kuss auf die Backe. Ansgar erwiderte: „Aurora, ich habe in meinem Leben viel falsch gemacht. Aber durch dich bin ich auf den rechten Weg gewiesen worden. Das Wunderbare ist, dass dies genau in diesem Moment geschehen ist, in dem ich vor einem Abgrund stand. Die Liebe kann das Böse überwinden, das hat sich in aller Deutlichkeit gezeigt.“ In diesem Moment kam Jonathan herbei gerannt, in seiner Hand ein Spielzeugauto. Er rief „Papa, Papa, Auto putt brumm brumm!“ Aurora schossen die Tränen über die Wangen. Zärtlich strich sie ihrem Sohn über die Haare. „Ja, Jonathan, dein Papa wird dir dieses Auto reparieren!“

Ansgar strahlte und betrachtete den Jungen mit zärtlichem Blick. In seinem geistigen Auge sah er schon Jonathan mit einer Schar Geschwister spielen. Inzwischen hatte Birgit im Speisezimmer das Abendessen aufgetragen. Es war, wie es Graf Wolfhard schätzte, ein schlichtes Abendessen mit Aufschnitt und Brot. Ansgar langte kräftig zu, ihn hatte die Gefängniskost mager werden lassen. Wolfhard hatte zur Feier des Tages eine gute Flasche aus dem fürstlichen Weinkeller spendiert, und auch Aurora genoss den samtigen Tropfen des MedocWeins. Die Kerzen des Leuchters spiegelt sich in ihrem Kristallglas, als sie es zum Toast erhob. Wolfhard sagte: „Lassen wir die Kraft der Liebe siegen!“ Kaum hatte er das Glas geleert, gab er Birgit durch einen dezenten Klaps an nicht unbedingt standesgemäßer Stelle die Aufforderung, es wieder zu füllen. Ansgar erzählte einige Anekdoten aus seiner Jugendzeit, die Graf Wolfhard in vollen Zügen genoss. Er lachte immer wieder laut auf uns sagte „Jawoll, das hätte ich damals auch machen können! In der Liebe sitzt nicht jeder Schuss. Gerade die Jugend hat das Recht auf einen Fehlschuss!“. Er prostete dem Hirschkopf über der Tür zu: „Dich 55

hat's eben auch getroffen, du Armer, aber leider nicht in der Liebe“. Ansgar und Aurora lachten schallend und schauten sich verliebt an. Nach dem Essen begab sich Wolfhard zur Ruhe. Die Aufregung der vergangenen Tage forderte von dem hoch betagten Mann ihren Tribut. Ansgar trat mit Aurora noch einen Moment auf die Terrasse. Der feine Schnee knirschte unter ihren Schuhen, als sie zur Balustrade traten. In der Ferne funkelten die Lichter im Tal. Außer dem fernen Läuten einer Glocke war die Winternacht absolut still. Ansgar umarmte Aurora und gab ihr einen langen Kuss. Aurora gab das Zeichen zum Aufbruch und ging mit Ansgar Hand in Hand wieder ins Haus. Sie trat mit Ansgar an der Hand in das Schlafzimmer. Birgit hatte, bevor sie sich in die Zofenwohnung zurückgezogen hatte, noch die Kerzenleuchter entzündet und eine Flasche Champagner bereitgestellt. Ansgar öffnete die Flasche und goss die bernsteinfarbene Flüssigkeit in die beiden Gläser. Das Kerzenlicht spiegelte sich in den Kristallgläsern und brach sich an den aufsteigenden Perlenbläschen, die wie eine Kette Diamanten funkelten. 56

Hinter sich hörte er das leise Rascheln von Seide. Er nahm die beiden Gläser und drehte sich um. Der Hauch von Nichts aus französischer Seide, der Aurora noch bedeckte, unterstrich die Schönheit ihrer alabasterfarbenen Linien. Ansgar reichte ihr ein Glas und sagte: „Auf unsere Liebe!“ Kaum hatten Sie einen Schluck getrunken, bedeckte Ansgar ihren Körper mit Küssen. Der fruchtige Geschmack des Veuve Cliquot mischte sich mit dem Pfirsicharoma von Auroras weicher Haut. Sie zog ihn zum Bett hin. Ansgar strich zärtlich über die feine französische Seidenspitze, die ihre vollen Brüste bedeckte. Leise stöhnt Aurora auf. Sie öffnete Ansgars Hemd und küsste ihn auf die behaarte Brust. Ihn durchzog ein nie gekanntes Gefühl der Leidenschaft, das auch auf sie ausströmte. Der Seidendamast des Bettes raschelte, als sich ihre Körper umfingen. Aurora spürte ein Glücksgefühl, das sie die Ereignisse des vergangenen Jahres vergessen ließ. Sie spürte, dass das Schicksal ihr Ansgar als den wahren Gefährten des Lebens an die Seite gestellt hatte. Erst als die ersten Strahlen der Wintersonne den östlichen Himmel rot werden ließ, verlöschte die letzte Kerze im

Schlafzimmer, und die Milde eines süßen Schlafs umhüllte die Träume von Lust und Leidenschaft, die in ihren ermatteten Körpern wogten. Jonathan murmelte nebenan im Schlaf einige Worte, bevor er selig weiterschlummerte. ***

Wochen und Monate waren seit dem Prozess gegen Ansgar vergangen, und die schmerzenden Wunden waren langsam verheilt. Ansgar hatte die Geschäftsführung der Sturmeck-Esterhazyschen Unternehmungen übernommen und war von der Belegschaft herzlich willkommen worden. Seine sympathische Art, verbunden mit seinem zupackenden Wesen, hatten die Mitarbeiter für ihn eingenommen. Sie erkannten, dass er entgegen seines Rufes als etwas leichtlebiger Mensch ein ernsthafter Mann mit Prinzipien war. Wenn er noch spät abends in seinem Büro saß und Papiere wälzte, war jedem klar, dass er sich mit voller Kraft für das Unternehmen einsetzte. Als Ansgar eines Abends wieder über einem Plan zum Bau einer neuen Brauerei in Russland saß, klopfte seine Sekretärin an der Tür. „Herr Graf, es tut mir leid, dass ich sie noch störe, aber“ – sie

zögerte einen Moment – „es tut mir leid, wenn ich mich in ihre Privatangelegenheiten einmische, aber ..“ Ansgar unterbrach sie herzlich lachend und sagte: „Sie wollen sagen, ich soll jetzt mal nach Hause gegen und mich um meine zukünftige Ehefrau und meinen Sohn – äh Stiefsohn kümmern! Da haben sie absolut recht.“ Die Sekretärin nickte gütig und verließ das Zimmer. Ansgar packte eilig die Unterlagen in seine Tasche, um spät am Abend, wenn Aurora schon zu Bett gegangen war, noch daran zu arbeiten. Aurora war in letzter Zeit öfter etwas unpässlich gewesen und erschöpft früh zu Bett gegangen. Ansgar konnte sich das nicht so recht erklären, weil sie sonst zusammen sehr glücklich waren und Harmonie im Hause Sturmeck-Esterhazy herrschte. Nach den Stürmen der Vergangenheit war dies umso schöner für alle. Eilig verließ Ansgar das Verwaltungsgebäude der Brauerei. Er stieg in seinen feuerroten Ferrari. Die Leidenschaft für Autos hatte ich nicht verlassen, trotz des tragischen Tods seines Bruders. Er ließ den Ferrari aufheulen und begab sich auf den Heimweg. Er genoss es, in den letzten Strahlen 57

der Frühlingssonne die gewundene Landstraße nach Schloss Sturmeck entlang zu fahren. Er kam an der ehemaligen Baustelle für die Brücke des Autobahnzubringers vorbei. Ein kluger Gerichtsentscheid hatte das Bauwerk gestoppt, und die Schönheit der Landschaft war für immer erhalten. Als Ansgar in den Schlosshof bog, sah er oben am erleuchteten Fenster schon Aurora mit Jonathan auf ihn warten. Jonathan winkte ihm begeistert zu. Als Jonathan Aurora in die Arme schloss, bemerke er ein besonderes Glitzern in ihren Augen. Sie setzten sich an den von Birgit gedeckten Abendessenstisch. Graf Wolfhard scherzte mit Jonathan, während Aurora heute recht still war. Ansgar fiel aber immer wieder auf, dass sie einen besonderen Blick hatte. Nachdem sie Jonathan ins Bett gebracht hatten und sich Graf Wolfhard zurückgezogen hatte, saßen sie noch im gemütlichen Wohnzimmer zusammen. Im offenen Kamin brannte ein wärmendes Feuer, dessen Strahlen sich im herrlichen Spiegelschrank reflektierten.

58

Ansgar kraulte Aurora zärtlich im Nacken und sagte: „Mein Schatz, mir fällt auf, du bist heute so verändert. Du hast heute ein besonderes Strahlen an dir. Willst du mir erklären, was dich bewegt?“ Aurora schaute ihm liebevoll in die Augen: „Mein Lieber, ich konnte mir selbst nicht erklären, warum ich in letzter Zeit of so müde war. Ich dachte immer, es ist die Frühjahrsmüdigkeit, oder die Erschöpfung nach all’ diesen tragischen Ereignissen. Heute Morgen kam mir jedoch blitzartig eine Einsicht. Ich fuhr nach Kretnitz, um in einer Apotheke einen Test zu kaufen“ – sie lächelte Ansgar an „und er war positiv. Du wirst Vater!“ Ansgar war so überrascht, dass er zunächst einen Moment vollkommen sprachlos war. Er saß mit offenem Mund da und schüttelte den Kopf. Dann umarmte er Aurora stürmisch und rief: „Ich werde Vater! Welch ein Glück“ und umarmte Aurora stürmisch. „Morgen früh habe ich einen Termin bei Dr. Winter. Dort werde ich mir Gewissheit verschaffen!“ sagte Aurora. „Lass’ uns aber nun zur Ruhe gehen, ich .. „ – sie lachte – „wir müssen uns schonen!“

Ansgar half ihr beim Aufstehen aus dem Sofa und ging mit ihr ins Schlafgemach. Als sie das Licht ausmachten, küsste er sie zärtlich und sagte „Schlaft gut, ihr beiden!“ Aurora schloss glücklich lächelnd die Augen. Am nächsten Morgen war sie als erste Patientin bei Dr. Winter angemeldet. Der grauhaarige Arzt sah trotz seiner 61 Jahre noch blendend aus. Er hatte schon Graf Eckhard und Graf Ansgar zur Welt gebracht und war mit der Familie Sturmeck-Esterhazy seit langem herzlich verbunden. „Frau Gräfin, sie sehen ja heute wieder blendend aus!“ begrüßte er Aurora herzlich. Was suchen Sie bei mir, sie sind ja die wandelnde Gesundheit?“ fragte er scherzhaft. Aurora lächelte verschmitzt: „Herr Dr. Winter, heute geht es nicht darum, ob ich gesund bin“ sie betonte das „ich“ besonders – „sondern heute geht es darum, ob jemand anderes gesund ist!“ Dr. Winter schaute sie einen Moment verwirrt an, dann aber hellte sich seine Miene auf: „Aha, Frau Gräfin ist heute nicht alleine gekommen! Das ist ja höchst erfreulich. Da wollen wir doch einmal mit dem Ultraschall Kontakt zu dem anderen Besucher aufnehmen.“

Er bat Aurora, auf der Liege Platz zu nehmen und ihren Bauch frei zu machen. Sorgfältig bereite der den Meßkopf des Ultraschallgeräts vor. Nun war er wieder ganz der konzentrierte Arzt, der ganz dem Wohle seiner Patienten verschrieben war. Aurora wusste, dass Dr. Winter zwei Mal verheiratet gewesen war. Beide Male waren seine Frauen jung gestorben, noch bevor sie ihn Nachwuchs schenken konnten. Der Arzt hatte trotz dieser schweren Schicksalsschläge seine fröhliche Art behalten. Manches Mal hatte er gescherzt, dass die Kinder, die er zur als Arzt entbunden hatte, wie seine eigenen seien. Gespannt beobachtete Dr. Winter den Bildschirm. Ganz klar, die Frau Gräfin war in froher Erwartung, bestimmt schon im dritten Monat. Dann aber konnte er vor Überraschung kaum seinen Augen trauen: Frau Gräfin war nicht mit einer, sondern mit zwei Personen Begleitung gekommen. Das hoch auflösende Ultraschallgerät zeigte ihm deutlich, dass hier Bruder und Schwester unterwegs waren. Er wandte sich zu Aurora und sagte: „Nun, wollen Sie wissen, was da unterwegs ist?“ Aurora lachte und sagte „Bitte, Herr Doktor, auch mein“ – 59

sie unterbrach einen kurzen Moment – „zukünftiger Mann kann es kaum erwarten, zu erfahren, was da unterwegs ist!“ Dr. Winter sagte: „Erst einmal herzlichen Glückwunsch zur bevorstehenden Vermählung! Nun, äh, wenn sie mich nach dem Geschlecht des Kinds fragen, da kann ich ihnen weder „Junge“ noch „Mädchen“ sagen!“ Aurora schaute ihn verwirrt an: „Was meinen sie damit? Kann man es noch nicht erkennen?“ Dr. Winter lächelte: „O doch, aber ich müsste sagen: Junge und Mädchen! Sie erwarten Zwillinge!“ Aurora lehnte sich zurück und schloss einen Moment die Augen. Dann sagte sie: „Welch ein Glück! Ansgar hatte sich genau das in seinen Träumen gewünscht, und es ist wahr geworden.“ Sie umarmte spontan Dr. Winter, der von dieser gräflichen Zuneigung höchst überrascht zu sein schien. Er fühlte das Glück der werdenden Mutter, die nach einem so schweren Schicksalsschlag wieder zur Lebensfreude zurück gefunden hatte. Als Aurora am Abend Ansgar begrüßte, lächelte sie verschmitzt. „Nun, mein lieber Ansgar“, sagte sie mit einem neckischen Unterton, „jetzt musst 60

Du erst mal raten, was ich bekomme: „Junge oder Mädchen?“. Ansgar tat so, als ob er über diese Frage scharf nachdenken müsse, und sagte dann: „Sagen wir mal, ein Mädchen!“ Aurora schüttelte den Kopf und sagte „Falsch, tut mir leid!“ Ansgar rief: „Also, dann ist es eben nur ein Junge! Auch schön. Jonathan wird sich auch über ein Brüderchen sehr freuen!“ Aurora schüttelte den Kopf und lachte: „Nein, nur ein Junge ist es auch nicht!“ Sie schmunzelte, denn Ansgar schaute nun sehr verwirrt. „Männer sind nicht immer klug“, dachte sie. Ansgar sagte: „Jetzt spanne mich nicht auf die Folter, meine Liebste! Was bekommen wir nun wirklich?“ Aurora schlang ihre Arme um seinen Hals, küsste ihn und flüsterte ihm ins Ohr: „Wir bekommen Zwillinge, ein Junge und ein Mädchen!“ Ansgar umarmte sie stürmisch. Tränen schossen in seine Augen, und sein Gesicht strahlte voller Glück. Aurora entwand sich vorsichtig seiner stürmischen Umarmung und sagte „Vorsicht, wir wollen den Nachwuchs ja

sorgsam behandeln!“. Ansgar goss Aurora ein Glas Orangensaft ein und sagte: „Darauf wollen wir trinken!“ Sie stießen die Gläser leicht zusammen.

von der Hochzeit auf Sturmeck was das gesellschaftliche Ereignis des Jahres. Alle wichtigen europäischen Königshäuser waren vertreten.

Ansgar fragte: „Hast Du schon einen Vorschlag für die Namen?“

Vor der Schlosskapelle gab Graf Wolfhard den Dienern die letzten Anweisungen. Er trug die österreich-ungarische Galauniform seines Großvaters, die seine eindrucksvolle Erscheinung noch unterstrich. Diese dunklen Wolken des Herbsts und Winters hatten sich verzogen, und der nun 83jährige Graf war wieder die blendende Erscheinung, als die er in Adelskreisen bekannt war.

Aurora lächelte: „Na klar, mein Schatz, ich habe schon heute die Namen unserer adeligen Verwandtschaft durch ganz Europa studiert – wir wollen ja die Tradition wahren. Ich bin bei unserer Verwandtschaft im Burgund fündig geworden – Was hältst du von „Joel“ und Gisele“?“ Ansgar schaute sie zärtlich an: „Wunderbar, meine Liebe, ganz wunderbar. Ich bin so glücklich!“ Er küsste sie zärtlich auf ihre vollen Lippen und streichelte leicht ihren Bauch, der eine erste leichte Wölbung spüren ließ. ***

Ein strahlender Frühlingstag leuchtete über Schloss Sturmeck. Vor dem Schloss parkten die Limousinen des europäischen Hochadels, und livrierte Diener wienerten die dunklen Karossen, um einen Glanz zu erzielen, der diesem leuchtenden Tag angemessen war. Die Nachricht

Zu seiner großen Freude war auch Gräfin Estella di Montalcino erschienen, mit der Wolfhard als junger Mann bei den häufigen Besuchen der italienischen Verwandtschaft so manchen Streich getrieben hatte. Sie war schon lange Witwe, da ihr Mann, Graf Roberto, bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Als sie am Vorabend eingetroffen und mit der Familie das Abendessen eingenommen hatte, war es ihr vorgekommen, als ob sie wieder fröhliche Kindheitstage im Schloss Sturmeck verbringen würde. Jonathan hatte sie sofort ins Herz geschlossen und ihr seine Sammlung von Rennwagen gezeigt. Estella, die eine 61

temperamentvolle, unkomplizierte Frau war, hatte sich mit Jonathan auf den Teppichboden gelegt und mit ihm gespielt. Wolfhard schaute ihnen selig zu. Er genoss es, trotz der adeligen Etikette auch einmal locker und natürlich zu sein – wenn es ohne Publikum war. Nun galt aber all seine Aufmerksamkeit dem reibungslosen Ablauf des Festes. Er arrangierte noch einige Blumen am Eingang der Kirche. In diesem Moment erschien das Brautpaar auf dem Balkon des Schlosses. Beifall brandete auf, und die Abordnung erzgebirgischer Bergleute warf ihren Hut. Aurora sah umwerfend aus. Ihr lachsrosa Brautkleid, ein Modell von Versace, das mit der hellen Haut ihrer freien Schultern blendend harmonierte, war aus raffiniert gewundenem Tüll geschlungen und endete in einer langen Schleppe, die vier kleine Kinder in Matrosenanzügen trugen. Das Kleid ließ auch kaum erahnen, dass Gräfin Aurora bereits deutliche Rundungen zeigte. Graf Ansgar trug einen dunklen Frack, der zusammen mit seinem gebräunten Gesicht und seinen langen blonden Haaren einen Anblick bot, der die anwesenden Fotografen rastlos ihre Kameras klicken ließ. 62

Langsam betrat das Brautpaar die Kirche. Voran schritt Jonathan, der die Uniform eines sächsischen Kavallerieleutnants trug, die ihm reizend stand. Am Altar erwartete Pfarrer Thomas Weichmann, ein Studienfreund von Aurora, das Brautpaar. Mit seinen gütigen Augen betrachtete er das Paar, dessen Glück heute vollendet werden würde. Nachdem die Brautgesellschaft Platz genommen hatte, erklangen die würdigen Töne der alten Silbermann-Orgel. Als erstes sangen alle das Lied von Paul Gerhard „Geh aus, mein Herz und suche Freud“. Graf Wolfhard liefen die Tränen des Glücks über die Wangen. Danach bat Pfarrer Weichmann das Brautpaar vor den Altar. Jonathan durfte mitkommen. Er holte aus seiner Tasche ein kleines Rennauto und fing an, die Brüstung des Altars lang zu fahren. Als Weichmann in wegziehen wollte, trat Jonathan dem Pfarrer gegen das Schienbein. Weichmann, der ein Buch über die Notwendigkeit der Aggression für Kinder geschrieben hatte, schaute einen Moment verärgert, schien aber dann zu realisieren, dass sich auch ein adeliger Bub einmal abreagieren muss und ließ Jonathan lächelnd gewähren.

Als Aurora und Ansgar sich das Jawort gaben und sich die goldenen Eheringe über die Finger streiften, läuteten die Glocken der Kirche und verbreiteten die Botschaft des Glücks über das Land. In der letzten Reihe saßen Birgit Steiner und Volker Lepre. Zärtlich tupfte Volker Birgit die Tränen von der Wange. Als das Brautpaar unter den Klängen von „Treulich geführet“ die Kirche verließ, jubelte die Menge. In einem Meer von Blumen und geworfenem Reis betrat das Brautpaar die goldene Kutsche, die Graf Wolfhard zur Feier des Tages hatte renovieren lassen. Die Kutscher gaben den acht weißen Schimmeln ein Zeichen, und die Ausfahrt des Brautpaars begann. Jonathan saß vorne auf dem Kutschbock und schwang mit Begeisterung ein kleines Peitschchen, das ihm Gräfin Estella geschenkt hatte. Pfarrer Weichmann betrachtete von der Kirchentreppe liebevoll den kleinen Buben. Die Ausfahrt des Brautpaars ging durch das frühlingshafte Land. In den Dörfern jubelten die Menschen der Hochzeitskutsche und den prominenten Adeligen im folgenden Konvoi zu. An einer Straßenecke stand hinter der Absperrung eine Familie vor einem rostigen alten Golf. Die

dicke Frau und die beiden Kinder klatschten Beifall, als die Kutsche mit Aurora und Ansgar vorbeifuhr. Sie begeisterten sich für den Anblick dieser schönen Adelsgesellschaft, auch wenn sie spürten, dass dies eine Welt war, zu der sie keinen Zugang hatten. Kommissar Buttenkloh hingegen drehte sich weg und spuckte verächtlich auf den Boden. Am Lustschlößchen Bellevue angekommen, stieg die Hochzeitsgesellschaft aus. Alle bewunderten den üppigen Blumenschmuck des großen Festsaals. Die Familie Sturmeck hatte das reizende Schlösschen, das zum alten Familienbesitz gehörte, in letzter Zeit wenig genutzt. Nachdem Ansgar freigesprochen worden war und sein Amt als Geschäftsführer der Sturmeckschen Unternehmungen angetreten hatte, hatte er als erstes das Schlösschen wieder für repräsentative Zwecke herrichten lassen. Selbst die Besucher aus den höchsten Adelsfamilien Europas bestaunten die prachtvollen Fresken, die die noch aus der Zeit Cangrande della Scalas stammten. Noch größer war das Staunen, als die in alte kursächsische Uniformen gekleideten Diener die Sektkelche herein trugen. Bald war die Stimmung im Saal ausgelassen, 63

und die Festgesellschaft freute sich auf das große Abendessen. Volker und Birgt standen am etwas am Rand der Gesellschaft und bestaunten den Trubel. Verliebt betrachtete Volker seine Freundin, die in einem cremefarbenen schlichten Kleid einen sehr eleganten Eindruck machte. Seit Birgit ihre Stelle auf Schloss Sturmeck gekündigt hatte und ein Jurastudium in Tübingen aufgenommen hatte, hatte sie noch an Statur gewonnen. Volker sagte: „Lass' uns gehen, wir müssen jetzt unseren eigenen Weg zum Glück beschreiten“. Sie gingen über den Schlosshof zur dem kleinen, whiskey-metallic farbenen MazdaSportcoupe, das Volker von seinem Anwaltshonorar für die Verteidigung Ansgars gekauft hatte. Auf dem Rücksitz des Coupes lagen schon die Reisetaschen für den Kurzurlaub in der Toskana. Volker, der fließend italienisch sprach, hatte für sie ein kleines Landhaus nahe Siena als Liebesnest gemietet. In einem kleinen Schächtelchen im Handschuhfach hatte er die Verlobungsringe versteckt. Volker startete den Motor und legte eine CD ein: Die raue Stimme von Paolo Conte erklang „Un gelato al limon…“ Als das kleine Coupe aus dem Schlosshof rollte, wussten sie, dass dies eine Fahrt ins Glück sein würde. 64

Währenddessen hatte Graf Wolfhard die Festgesellschaft, die auf Schloss Sturmeck zurückgekehrt war, in den großen Saal gebeten. Ein Streichensemble spielte Barockmusik. Die livrierten Diener trugen mit Speisen überladene Schalen auf. Aurora unterhielt sich blendend mit Ansgar und seinen Freunden, die zur Trauung gekommen waren. Estella und Wolfhard schienen so vertraut, als ob sie sich nicht Jahrzehnte nicht gesehen hatte. Nach dem Abendessen eröffnete Wolfhard mit seiner Schwiegertochter den Ball. Trotz seines hohen Alters war er noch ein glänzender Tänzer, und manch' junger Festgast staunte ob der flotten Bewegungen des Oberhaupts der Familie SturmeckEsterhazy. Bald tanzte die ganze Festgesellschaft ausgelassen im Lichte der Kerzenleuchter. Als das Fest mit einem großen Feuerwerk beendete wurde, war sich die Gesellschaft einig darin, dass der europäische Hochadel seit Jahrzehnten nicht mehr einen solchen festlichen Höhepunkt erlebt hatte. Aurora und Ansgar standen auf der Balustrade, um noch ein wenig die frische Nachtluft zu genießen. Zärtlich lehnte sich die Braut an die Schulter des ihr frisch angetrauten Ehemannes. Über

ihnen wölbte sich die Sternenhimmel einer Frühsommernacht. Aurora spürte ein Glücksgefühl, wie sie es schon lange nicht mehr empfunden hatte. In diesem Moment hörten sie Schritte im Garten. Ansgar beugte sich über das Geländer, um genauer zu sehen, wer da zu dieser späten Stunde durch den Garten schlich. Er rechnete schon damit, einen Einbrecher zu ertappen, als er im Mondlicht Graf Wolfhard erkennen konnte, der durch den Garten schlenderte. Ansgar flüsterte zu Aurora, die sich voller Angst an ihm festgehalten hatte: „Aurora, sieh, es ist nur mein Vater – er ist aber nicht allein!“ An der Seite Wolfhards wandelte Gräfin Estrella. Er hatte seinen Arm um sie gelegt. Sie schienen vertraut miteinander zu reden. Plötzlich machten sie halt, und Wolfhard nahm Estrella in seine Arme und küsste sie leidenschaftlich.

umklammerte. Ansgar strich ihm zärtlich über die Haare und küsste seine Stirn. Jonathan murmelte etwas und hatte einen Hauch der Seligkeit auf seinem kleinen Gesichtchen. Dann wandte sich Ansgar wieder Aurora zu und umarmte sie. Als sich ihre Lippen berührten, glaubte er, neben dem Klopfen ihres Herzens noch zwei weitere, kleine Herzchen zu hören. ENDE

Ansgar zog Aurora von der Balustrade weg und flüsterte ihr lächelnd ins Ohr: „Mein Schatz, wir wollen besser die Augen schließen ob dieses Glücks.“ Ansgar und Aurora gingen zurück ins Schloss. Sie betraten das Kinderzimmer, in dem Jonathan in seinem Bettchen schlief. In seiner Hand hatte er ein Spielzeugauto, das er fest 65