wissenschaftstheoretische aspekte des krankheitsbegriffs

Peter Hucklenbroich, Thomas Schramme und Stephan Doering beleuch- tet. ... den Texten des dritten Teils von Micha H. Werner, Martin Hoffmann und.
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Dritter Band

ISBN 978-3-89785-819-0

Hucklenbroich | Buyx (Hrsg.)

In den vergangenen vier Jahrzehnten trat in der philosophischen Grundlagendiskussion der Medizin immer deutlicher die Notwendigkeit ins Bewusstsein, die Begrifflichkeit um Krankheit und Gesundheit einer grundsätzlichen Klärung zuzuführen. Es wurden mehrere anspruchsvolle, vieldiskutierte Entwürfe einer allgemeinen Krankheits- oder Gesundheitstheorie vorgelegt. Diese unterscheiden und widersprechen sich jedoch noch in zentralen Punkten. Insbesondere fehlt ein Vergleich dieser philosophischen Krankheitstheorien mit der Begrifflichkeit und Struktur der medizinischen Krankheitslehre. Die Beiträge dieses Bandes wenden sich explizit dem Projekt einer wissenschaftstheoretischen Analyse und Rekonstruktion der medizinischen Krankheitslehre zu. Sie analysieren und diskutieren die verwendeten Begriffe von Krankheit, Krankhaftigkeit, Funktion/Dysfunktion, Behinderung und psychischer Störung anhand von Beispielen aus der gesamten Medizin und speziell aus der Pathologie, Embryologie, Neuromedizin, Psychiatrie und Psychosomatik. Anhand dieser Analysen werden die bisher vorliegenden Krankheitstheorien mit dem System der Krankheitslehre und mit der tatsächlichen medizinischen Praxis in Beziehung gesetzt und vergleichend diskutiert. Die Kontroversen um Deskriptivismus und Normativismus, medizinisches und soziales Behinderungsmodell, den psychiatrischen Krankheitsbegriff und die Therapie-Enhancement-Unterscheidung werden unter systematischen Gesichtspunkten aufgegriffen und einer neuen Behandlung zugeführt.

WISSENSCHAF TSTHEORETISCHE ASPEKTE DES KRANKHEITSBEGRIFFS

Schwarz Pantone 141C

Peter Hucklenbroich | Alena Buyx (Hrsg.)

WISSENSCHAF TSTHEORETISCHE ASPEKTE DES KRANKHEITSBEGRIFFS

Hucklenbroich · Buyx (Hrsg.) · Aspekte des Krankheitsbegriffs

Peter Hucklenbroich, Alena Buyx (Hrsg.)

Wissenschaftstheoretische Aspekte des Krankheitsbegriffs

mentis MÜNSTER

Die Einbandabbildung stammt aus dem Werk »J. B. Basedows Elementarwerk mit den Kupfertafeln Chodowieckis u.a.« (1774), Kritische Bearbeitung in drei Bänden, herausgegeben von Theodor Fritzsch. Dritter Band, Tab. XI. Der menschliche Körper. (Leipzig 1909)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier

© 2013 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-819-0

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

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I WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE GRUNDLAGEN: BEGRIFFLICHKEIT UND STRUKTUR DER KRANKHEITSLEHRE Peter Hucklenbroich Die wissenschaftstheoretische Struktur der medizinischen Krankheitslehre 13 Thomas Schramme Benötigen wir mehrere Krankheitsbegriffe? – Einheit und Vielfalt in der Medizin 85 Sabine Müller Behinderung in der medizinethischen Diskussion – Zur Kontroverse der Modelle von Behinderung unter besonderer Berücksichtigung von Gehörlosigkeit und Body Identity Integrity Disorder 105 Stefan Evers Thesen zur Relativität des Krankheitsbegriffs in der Neuromedizin 139 Gabriele Köhler Der Krankheitsbegriff aus der Sicht der Pathologie

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Inhaltsverzeichnis

II BEGRIFFLICHE KONTEXTE: FUNKTION UND DYSFUNKTION, ANPASSUNG UND STÖRUNG Peter McLaughlin Norm und Funktion

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Peter Hucklenbroich Der Funktionsbegriff in Medizin und Biologie – Übereinstimmungen und Unterschiede 181 Thomas Schramme Psychische Dysfunktion – Grundlage für den Begriff der psychischen Krankheit? 193 Stephan Doering Anpassung und psychische Krankheit

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III PRAKTISCHE KONTEXTE: DESKRIPTION UND NORM, THERAPIE UND ENHANCEMENT Micha H. Werner Der Krankheitsbegriff zwischen Naturalismus und Normativismus 225 Martin Hoffmann Kritik einiger Standardargumente für den Normativismus in der Krankheitstheorie 253 Alena M. Buyx Enhancement und Krankheitsbegriff – Gerechtigkeitstheoretische Aspekte 283 Autorinnen und Autoren

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EINLEITUNG

In ihrer 1980 erschienenen Übersicht »Die inneren Verbindungen zwischen Philosophie und Medizin im 20. Jahrhundert« schreiben Dietrich von Engelhardt und Heinrich Schipperges über das Verhältnis von Medizin und Wissenschaftstheorie: Im Allgemeinen ist das Interesse für theoretisch-philosophische Fragen unter den Medizinern nicht sehr groß; Philosophie wird nicht selten als unnütz und schädlich bezeichnet. Die sich im 19. Jahrhundert vertiefende Trennung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften hat ihre erkennbaren Folgen; philosophische Analysen werden zunehmend weniger beachtet und eigenständig weiterentwickelt; die eigenen philosophisch-theoretischen Entwürfe stehen keineswegs immer auf der Höhe philosophischer Reflexionen der Zeit. Andererseits werden genuine Überlegungen in der Medizin vorgetragen, die in der Philosophie keine Aufnahme finden. Wissenschaftstheorie ist ein höchst heterogener Begriff; ganz unangemessen wird nicht selten unter Wissenschaftstheorie Physiktheorie verstanden. In der Forschung, Praxis und im Unterricht hat Medizintheorie in der Gegenwart kein großes Gewicht. Wie sehr die neuen Initiativen, sich mit Philosophie und Theorie der Medizin zu beschäftigen, zu einem Wandel führen werden, läßt sich noch nicht überblicken. (v. Engelhardt /Schipperges, 1980, S. 91f.).

Diese Diagnose lässt sich cum grano salis auch nach über 30 Jahren immer noch aufrechterhalten. Im Unterschied zu solchen Fächern wie Medizingeschichte oder Medizinethik, Biometrie oder Medizinischer Informatik, allgemeiner (philosophischer) Wissenschaftstheorie oder Naturphilosophie verfügt die Theorie und Methodologie der Medizin – die man wahlweise auch als Medizintheorie oder Wissenschaftstheorie der Medizin bezeichnen kann – im deutschen Sprachraum über keinen einzigen dedizierten Lehrstuhl, geschweige denn ein eigenes Institut. Nur in einem einzigen Punkt hat sich eine Verbesserung ergeben: Mit der Neufassung der Approbationsordnung von 2002 wird die Vermittlung der geistigen Grundlagen ärztlichen Verhaltens auf der Basis des aktuellen Forschungsstandes (neben den historischen und ethischen Grundlagen) schon im § 1 zum expliziten Ausbildungs-

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Einleitung

ziel erhoben, und dementsprechend findet sich das Fach Theorie der Medizin zusammen mit Geschichte und Ethik in der Trias »GTE« als Pflichtfach in der Ausbildungsordnung wieder. Diese Entwicklung ist zweifellos auf die schon 1980 diagnostizierten »neuen Initiativen« in der medizintheoretischen Forschung zurückzuführen, aber auch darauf, dass das in seiner öffentlichen Bedeutung und Wahrnehmung ungleich einflussreichere Fach Medizinethik (und Bioethik) immer deutlicher und dringlicher auf die Notwendigkeit medizintheoretischer Grundlagenklärung stößt: Ob es um Fragen des (medizinisch-anthropologischen) Menschenbildes, um die Berücksichtigung der Leib-Seele-Beziehung und der psychosomatischen Dimension in allen Teilbereichen der klinischen Medizin, um die logischen Grundlagen von Diagnostik, Indikation und Entscheidungsfindung oder um die zentralen Konzepte von Krankheit und Gesundheit geht: Oft führen die zunächst ethisch oder biopolitisch motivierten Kontroversen auf prinzipielle begriffliche und theoretische Fragen, die die Kompetenz der Ethik als praktischer Philosophie überschreiten, da sie den genuinen Gegenstand einer Wissenschaftstheorie als theoretischer Philosophie der Medizin bilden. Speziell die Frage nach der Bedeutung und konzeptuellen Fassung der Begriffe von Krankheit und Gesundheit sowie von Funktion, Dysfunktion und Behinderung tritt in gewissen Abständen immer wieder in den Vordergrund der medizintheoretischen Diskussionen. Darin spiegelt sich die zentrale Stellung dieser Begriffe als Unterscheidungen, die sowohl für die theoretische als auch für die praktische Medizin gleichermaßen konstitutiv sind. Größere Veränderungen oder Innovationen in diesen Bereichen werfen daher immer wieder die Frage auf, was an der Vorstellung von Krankheit eigentlich den wesentlichen, historisch konstanten Bedeutungskern ausmacht und was zeitgebundene, mit dem Erkenntnisfortschritt veränderliche – oder gar soziokulturell relative – Komponenten sind. Gibt es überhaupt einen – für die moderne Medizin – konstanten Bedeutungskern? Ist die Verwendung eines allgemeinen Krankheitsbegriffs, d. h. einer in allgemeinen Termini definierbaren Unterscheidung zwischen gesund und krank / krankhaft, vielleicht selbst ein zeitgebundenes, inzwischen obsolet gewordenes Phänomen oder gar eine von Vorurteilen oder Interessen geleitete Ideologie? In den vergangenen vier Jahrzehnten trat immer deutlicher die Notwendigkeit ins Bewusstsein, die Begrifflichkeit um Krankheit und Gesundheit generell einer Klärung zuzuführen. Es wurden mehrere anspruchsvolle, vieldiskutierte Entwürfe einer allgemeinen Krankheits- und/oder Gesundheitstheorie vorgelegt, die sich jedoch noch in wesentlichen Punkten unterscheiden oder direkt widersprechen, so dass bislang noch keine ausreichende Klärung und Einigung in Grundpositionen erzielt werden konnte. (Eine Übersicht über die umfangreiche, weit verstreute Literatur ist derzeit nur schwie-

Einleitung

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rig zu erhalten; entsprechende Übersichtsarbeiten sind Desiderat. Zu den bekanntesten Einzelentwürfen gehören die Positionen von Reznek, Engelhardt jr., Boorse, Gert /Culver /Clouser und Nordenfelt.) Ein Nachteil der bisherigen Diskussion liegt v. a. auch darin, dass die theoretische und methodologische Struktur des gegenwärtigen medizinischen Wissens, insbesondere die medizinische Organismus- und Krankheitslehre, in den vorliegenden Entwürfen nicht immer umfassend rekonstruiert und daher nicht immer angemessen berücksichtigt worden ist. Die Auseinandersetzungen orientieren sich überwiegend an einigen immer wieder bemühten »Standardbeispielen« für Krankheit, deren Auswahl nicht durchgehend systematisch begründet wird, und an bestimmten eher exotischen Phänomenen, die zwar interessante Spezial- und Grenzfälle der Krankheitslehre darstellen mögen, die aber kaum den Ausgangspunkt für eine systematische Klärung bilden können. In dieser Diskussionslage ist der Versuch sinnvoll, die Diskussion um den Krankheitsbegriff und die verwandte Begrifflichkeit durch eine explizit wissenschaftstheoretische Untersuchung der medizinischen Krankheitslehre auf eine systematische Basis zu stellen. Es geht darum, die vielfältigen mittlerweile vorliegenden analytischen Einzelbefunde ebenso wie die von verschiedenen Ausgangspositionen her formulierten generellen Thesen auf das System der medizinischen Krankheitslehre zu beziehen und dadurch eine wechselseitige kritische Perspektivik zu gewinnen. Ein wichtiges Zwischenziel besteht darin, die grundlegenden begrifflichen und theoretischen Voraussetzungen sowohl der etablierten, praktizierten Medizin als auch der bisher vorgelegten »philosophischen« Krankheitstheorien deutlicher herauszuarbeiten und miteinander in Vergleich zu bringen; zugleich aber auch den Blick auf die Anwendung zu richten, um so einerseits den Dialog zwischen Klinikern und Theoretikern, andererseits jenen zwischen Medizintheorie und Medizinethik zu erleichtern. Zu diesem Zweck fanden in den Jahren 2006 und 2007 am Münsteraner Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Wissenschaftstheorie Münster zwei Workshops zur Medizintheorie statt, die zum Ziel hatten, charakteristische Grundprobleme und Auffassungsunterschiede des Feldes zu artikulieren und zugleich praktische Anwendungskontexte in den Blick zu nehmen. Aus den Beiträgen zu diesen Workshops ist der hier vorliegende Band hervorgegangen. Er gliedert sich in drei Abschnitte. 1) Zunächst widmen sich Peter Hucklenbroich, Thomas Schramme, Sabine Müller, Stefan Evers und Gabriele Köhler in ihren Beiträgen den entsprechenden wissenschaftstheoretischen Grundlagen, also der Begrifflichkeit und Struktur der Krankheitslehre. Während Hucklenbroich sich der gesamten Krankheitslehre und ihrer Struktur zuwendet und Schramme die – potentielle – Vielheit des medizi-

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nischen Krankheitsbegriffs erörtert, nehmen die weiteren Beiträge jeweils bestimmte Elemente oder Fachbereiche in den Blick: Müller schlägt die Brücke zur Medizinethik mit ihren Ausführungen zum Konzept der Behinderung, während Evers (Neurologie) und Köhler (Pathologie) jeweils grundlegende Überlegungen zu Struktur und Funktion des Krankheitsbegriffs in ihren Fachdisziplinen anstellen. 2) Im zweiten Teil werden verschiedene relevante begriffliche Kontexte der Medizintheorie von Peter McLaughlin, Peter Hucklenbroich, Thomas Schramme und Stephan Doering beleuchtet. McLaughlin und Hucklenbroich fokussieren direkt auf den Funktionsbegriff und die Rolle, die er in der Medizintheorie und Krankheitslehre spielt und spielen kann. Thomas Schramme untersucht ähnliche Fragen im Kontext psychischer Dysfunktion, Stephan Doering, anhand des Anpassungs- und Störungsbegriffes, im Bereich der Psychosomatik. 3) In den Texten des dritten Teils von Micha H. Werner, Martin Hoffmann und Alena Buyx schließlich treten neben die theoretischen Überlegungen auch dezidiert praxis-orientierte Fragestellungen. Werner behandelt diese anhand eines anschaulich vorgestellten Streitgespräches, Hoffmann analysiert eine Reihe von Beispielen vor dem Hintergrund des Disputs zwischen Deskriptivisten und Normativisten, und Buyx bedient sich verschiedener Ansätze der Gerechtigkeitstheorie, um Bezüge zwischen Krankheitstheorie auf der einen und praktisch-ethischen Fragen zum Umgang mit Enhancement auf der anderen Seite aufzuweisen. Die Herausgeber möchten zuallererst allen Autoren nicht nur für ihre Beiträge und die angenehme und fruchtbare Zusammenarbeit danken, sondern vor allem auch für die Geduld und die sich anschließende Bereitschaft, Texte erneut durchzusehen und zu aktualisieren, nachdem aufgrund schwerer Krankheit eine deutliche Verzögerung in der Publikation dieses Bandes notwendig wurde. Dem Zentrum für Wissenschaftstheorie gebührt unser Dank sowohl für organisatorische Unterstützung, als auch für einen großzügigen Beitrag zur Publikation. Margret Titze und Conny Pfanz haben unentbehrliche Arbeit bei der Redaktion des Bandes geleistet. Ihnen gilt unser Dank ebenso wie Dr. Michael Kienecker, der das Projekt durch die verschiedenen Phasen hindurch beständig freundlich, kompetent und hilfreich betreut hat. Alena Buyx und Peter Hucklenbroich, Münster 2012

I WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE GRUNDLAGEN: BEGRIFFLICHKEIT UND STRUKTUR DER KRANKHEITSLEHRE

Peter Hucklenbroich DIE WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE STRUKTUR DER MEDIZINISCHEN KRANKHEITSLEHRE

Gliederung 1. 1.1. 2. 2.1. 2.2. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 4. 4.1. 4.1.1 4.2. 4.3. 4.4. 5. 5.1. 5.2. 5.2.1. 5.3. 5.4. 5.4.1. 5.4.2. 5.4.3. 6.

Einleitung 14 Der Ort des allgemeinen Krankheitsbegriffs in der Medizin 15 Zur Methode der Untersuchung 18 Ausgangslage und Ziel einer Theorie der Krankheit: Medizin als Wissenschaft 18 Die Methode der Rekonstruktion in der Theoretischen Pathologie 21 Der Krankheitsbegriff als strukturierendes Kriterium des Organismus- und Krankheitswissens 25 Die erste Bedeutungsdimension: Der Krankheitswert 26 Die zweite Bedeutungsdimension: Die Ätiopathogenese 29 Die dritte Bedeutungsdimension: Die Krankheitsentitäten und das nosologische System 35 Kriterien der Krankhaftigkeit 39 Primäre Krankheitskriterien 40 Die Vorläufigkeit der primären Kriterien und das Problem ihres systematischen Zusamenhangs: Von der Intuition zum System 46 Sekundäre (abgeleitete) Krankheitskriterien 51 Tertiäre Krankheitskriterien: Statistische Normalität 55 Zusammenfassende Definition von Krankhaftigkeit 57 Ausblick: Spezielle Aspekte und Probleme der Krankheitstheorie 58 Funktion und Dysfunktion: Eine alternative Rekonstruktion 58 Krankheit, Werte und Normen 60 Zur Rolle des Krankheitsbegriffs in der normativen Grundlage der Gesundheitspolitik 67 Gibt es einen psychiatrischen Krankheitsbegriff? 68 Unterschiede zu anderen Positionen in der Krankheitstheorie 70 Die biostatistische Theorie von Christopher Boorse 70 Das Konzept der malady nach Clouser, Culver und Gert 73 Die Gesundheitstheorie von Lennart Nordenfelt 75 Schlußbemerkung 76

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Peter Hucklenbroich

1. Einleitung Dass die Medizin sich mit Krankheiten beschäftigt und dass daher die Unterscheidung zwischen gesund und krank, zwischen normal und krankhaft verändert zu den elementaren Bausteinen medizinischen Wissens und den grundlegenden Voraussetzungen ärztlicher Tätigkeit gehört, gilt als so selbstverständlich, dass es kaum bestritten wird. Wie diese Unterscheidung zustande kommt, mit welchen Methoden und begrifflichen Werkzeugen sie bewerkstelligt werden kann und unter welchen Voraussetzungen sie korrekt und adäquat vorgenommen wird, ist dagegen in der medizintheoretischen Grundlagendiskussion seit längerem strittig. Ob die Unterscheidung zwischen gesund und krank in Form eines allgemeinen Begriffs zu fassen ist, ob eine bündige Definition dafür gegeben werden oder eine schlüssige Theorie formuliert werden kann, ob dazu eine beschreibende Grundlage ausreicht oder wertende Prämissen unvermeidlich sind – all diese Fragen werden kontrovers diskutiert und unterschiedlich beantwortet. In der vorliegenden Abhandlung gehe ich nicht direkt auf die Positionen und Argumente ein, die in der bisherigen Diskussion zum Krankheitsbegriff vorgetragen worden sind, sondern wähle einen anderen Weg: Ich skizziere einen Lösungsansatz, bei dem die Frage nach dem Krankheitsbegriff Teil einer wissenschaftstheoretischen (bzw. medizintheoretischen) Strategie wird, die auf die Analyse und Rekonstruktion der Struktur des medizinischen Wissens und Handelns insgesamt zielt. Der Krankheitsbegriff, bzw. die zu klärende begriffliche Unterscheidung zwischen gesund und krank, wird zunächst im Rahmen einer Analyse und Rekonstruktion der medizinischen Krankheitslehre herauspräpariert und kann dann im weiteren Rahmen einer Analyse der medizinischen Indikationsstellung und Behandlungsentscheidung auf seine Bedeutung und Funktion hin untersucht werden. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass nicht isolierte Aspekte und Argumente herausgegriffen und abstrakt gegeneinander gestellt werden, sondern dass der Gesamtrahmen berücksichtigt wird und die unterschiedlichen Kontexte und Verwendungsweisen des Krankheitsbegriffs sowohl differenziert, als auch in ihrem Zusammenspiel gesehen werden können. Auf diese Weise lassen sich viele der bisher offenen Fragen einer Lösung zuführen und so manche Kontroverse als auf Mißverständnissen beruhend oder unterschiedlichen Kontexten zugehörig erweisen, wie ich an einigen Beispielen zeigen werde. Aus der Tatsache, dass der Krankheitsbegriff bisher so ungeklärt und umstritten erscheint, wird bisweilen auch – mehr oder weniger resignativ – die Konsequenz gezogen, dass die Medizin wohl über keinen allgemeinen Krankheitsbegriff verfüge, oder gar, dass sie einen solchen Begriff auch gar