Willensschwäche

Auszug aus dem Protagoras. 29. Aristoteles. Auszug aus Buch VII der Nikomachischen Ethik. 36. Richard M. Hare. Das Problem der Willensschwäche. 52.
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Thomas Spitzley (Hrsg.)

Thomas Spitzley (Hrsg.)

Willensschwäche Willensschwäche

Dass Willensschwäche ein Problem sein kann, weiß wohl jeder; aber warum und inwiefern ist Willensschwäche ein philosophisches Problem und was ist Willensschwäche eigentlich genau? Traditionellerweise ist Willensschwäche in der Moralphilosophie und in der Handlungstheorie diskutiert worden: Wie kann es sein, dass ich einem Moralurteil aufrichtig zustimme und doch nicht entsprechend handle, und wie kann es sein, dass ich nicht diejenige Handlungsalternative wähle, für die ich die besseren Gründe habe, sondern eine andere? Klassische Antworten auf diese Fragen stammen in der Antike von Platon und Aristoteles und in jüngerer Zeit von R. M. Hare und D. Davidson. Neben diesen vier klassischen Texten enthält der Band sechs weitere Texte aus den vergangenen 25 Jahren. Darin werden nicht nur alternative Erklärungen vorgeschlagen, sondern das Phänomen der Willensschwäche wird auch in einem größeren, über Fragen der Handlungstheorie und Moralphilosophie hinausgehenden Kontext erörtert und von anderen, verwandten Phänomenen abgegrenzt. Den Abschluss des Bandes bilden zwei Texte, in denen (nicht ganz ernst gemeinte, aber durchaus erhellende) Therapievorschläge gemacht werden.

Spitzley (Hrsg.) · Willensschwäche

Herausgegeben von Thomas Spitzley und Ralf Stoecker

In der Reihe map – mentis anthologien philosophie erscheinen in regelmäßigen Abständen Studienbücher zu systematischen philosophischen Themen. Getreu der mit dem Reihentitel map verknüpften Landkartenassoziation enthält jeder Band eine für das jeweilige Thema repräsentative Auswahl von (gegebenenfalls übersetzten) Texten. Um die Benutzung von Sekundärliteratur zu erleichtern, sind alle Übersetzungen um die Originalpaginierungen ergänzt. Außerdem umfasst jeder Band eine ausführliche Einleitung sowohl in das Thema als auch in die ausgewählten Texte, eine Auswahlbibliographie, sowie ein Sach- und ein Personenregister. Aufgrund ihres Aufbaus, Umfangs und Preises können die Bände gut als Textgrundlage für Anfänger- oder Fortgeschrittenenseminare dienen oder auch zur eigenständigen Einarbeitung in das Thema verwendet werden.

Zuletzt erschienen: Ralf Stoecker (Hrsg.): Handlungen und Handlungsgründe ISBN 978-3-89785-401-7 Mark Textor (Hrsg.): Neue Theorien der Referenz ISBN 978-3-89785-402-4 Weyma Lübbe (Hrsg.): Tödliche Entscheidung. Allokation von Leben und Tod in Zwangslagen ISBN 978-3-89785-405-5 Michael Hampe (Hrsg.): Naturgesetze ISBN 978-3-89785-410-9 Sven Walter (Hrsg.): Vagheit ISBN 978-3-89785-411-6 Markus Stepanians (Hrsg.): Individuelle Rechte ISBN 978-3-89785-406-2 Albert Newen, Joachim Horvath (Hrsg.): Apriorität und Analytizität ISBN 978-3-89785-412-3

Thomas Spitzley (Hrsg.)

Willensschwäche

Übersetzungen von Joachim Schulte

Zweite, erweiterte und korrigierte Auflage

M Ü N S T E R

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ∞ ISO 9706

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Inhalt

Einleitung

7

Platon Auszug aus dem Protagoras

29

Aristoteles Auszug aus Buch VII der Nikomachischen Ethik

36

Richard M. Hare Das Problem der Willensschwäche

52

Donald Davidson Wie ist Willensschwäche möglich?

67

Donald Davidson Paradoxien der Irrationalität

89

Gary Watson Skepsis bezüglich Willensschwäche

107

Ursula Wolf Zum Problem der Willensschwäche

128

George Ainslie Die Delle in unserer Zukunftsbewertung

139

Thomas E. Hill Willensschwäche und Charakter

168

Amélie Rorty Die gesellschaftlichen Quellen des akratischen Konflikts

191

Roy Sorensen Ein Heilmittel gegen Inkontinenz!

217

Luc Bovens Die beiden Gesichter der Anonymen Akratiker

218

Quellenangaben

225

Auswahlbibliographie

227

Personenregister

233

Sachregister

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Einleitung „My own view […] is that akrasia in rational beings is as common as wine in France.“ 1

Als Kai die Geburtstagsfeier seines Freundes verlassen möchte, um mit dem Auto nach Hause zu fahren, wird er gedrängt, zum Abschied noch ein letztes Bier zu trinken. Er kennt sich gut genug, um zu wissen, dass ein weiteres Bier seine Fahrtüchtigkeit erheblich beeinträchtigen wird. Er weiß daher ganz genau, dass er eigentlich nichts mehr trinken darf, wird aber schwach und tut es schließlich doch. – In der einen oder anderen Form ist das, was Kai macht, sicher jedem vertraut: Kai ist willensschwach, als er sein letztes Bier trinkt. Willensschwäche ist etwas zutiefst Menschliches, wenngleich normalerweise nichts, worauf man stolz sein könnte. Schon deshalb stellt Willensschwäche ein Problem dar. Die entscheidende Frage, die sich die meisten Menschen mit Bezug auf Willensschwäche stellen, lautet: „Wie kann man seine Willensschwäche überwinden?“. Dies ist eine Frage, auf die insbesondere psychologische Ratgeber Antworten zu geben versuchen, und daher ist sie kein zentrales Thema dieses Buches. 2 Inwiefern es sich bei Willensschwäche auch um ein philosophisches Problem handelt, ist hingegen nicht unmittelbar erkenntlich. Daher überrascht es nicht, dass in der langen Geschichte der Philosophie das Phänomen der Willensschwäche nur selten um seiner selbst willen untersucht wurde. Nicht jeder, der etwas tun will, es dann aber nicht tut, ist willensschwach. Es könnte z.B. sein, dass er von jemandem daran gehindert wird, zu tun, was er tun möchte. Deshalb liegt folgender erster Versuch zur Charakterisierung der Willensschwäche nahe: Willensschwach ist jemand, der weiß (oder zu wissen glaubt), was zu tun gut und richtig ist, es aber nicht tut, obwohl er es tun könnte. Darüber hinaus klingt in dem Wort „Willensschwäche“ an, dass es eine bestimmte Erklärung dafür gibt, dass der Handelnde nicht tut, was er tun will: sein Wille ist zu schwach dazu. Diese Charakterisierung macht deutlich, dass das Phänomen Willensschwäche zumindest in drei philosophischen Teildisziplinen größerer Aufmerksamkeit bedarf, nämlich in der Erkenntnistheorie, in der Ethik und in der Handlungstheorie. Der Erkenntnistheoretiker muss erklären, ob und, wenn ja, wie, es mit dem Status und der Rolle von Wissen vereinbar ist, dass jemand weiß, was gut und richtig ist, und dennoch nicht dementsprechend handelt. Für den Ethiker stellt sich die Frage, ob und, wenn ja, wie jemand 1 J. Searle, Rationality in Action, MIT Press, Cambridge, Mass., 2001, S. 10. 2 Vgl. aber unten die Beiträge von Sorensen (S. 217) und Bovens (S. 218–224).

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EINLEITUNG einem Moralurteil zustimmen kann, ohne auch dementsprechend zu handeln, oder ob die Zustimmung zu einem Moralurteil ohne entsprechendes Handeln nicht nur ein bloßes Lippenbekenntnis ist. Der Handlungstheoretiker schließlich ist gefordert, die Frage zu beantworten, was jemanden dazu bringt, eine bestimmte Handlung auszuführen, und ob und, wenn ja, wie es möglich ist, anders zu handeln als man glaubt, dass es gut und richtig ist. Eines der frühesten Zeugnisse eines motivationalen Konfliktes, das in der europäischen Kulturgeschichte zu finden ist, lautet: „[…] ich erkenne das Grauenvolle, das ich zu tun gedenke. Doch mein Zorn ist stärker als meine vernünftigen Gedanken“ 3 So lässt Euripides 431 v. Chr. Medea in dem gleichnamigen Stück sprechen, kurz bevor sie aus Rache an ihrem Mann Jason die gemeinsamen Kinder umbringt. Medea braucht nicht mehr zu überlegen, was sie tun sollte: das weiß sie bereits. Sie befindet sich auch nicht im Zweifel darüber, wie ihre geplante Handlung moralisch zu bewerten sei; – sie selbst hält sie für grauenvoll. Doch sie glaubt nicht, dass ihre Vernunft bzw. ihr Wissen um die beste Handlung motivational hinreichend seien, um auch entsprechend zu handeln. Medea behauptet, ihr Zorn sei stärker, und zwar motivational stärker, als ihre vernünftigen Gedanken. Damit vertritt sie eine radikal andere Meinung als der platonische Sokrates. Im Dialog Protagoras argumentiert Sokrates 4 für die These: Niemand tut willentlich etwas Schlechtes. Wer demnach weiß, was zu tun für ihn am besten ist, der handelt auch dementsprechend. Das ist der Beginn der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Problem der Willensschwäche. Rückblickend lässt sich sagen, dass die von Platon angestoßene und von Aristoteles weiter geführte Diskussion nie ganz zum Erliegen gekommen ist, doch erst in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts wurde sie von Richard M. Hare und insbesondere von Donald Davidson nachhaltig erneut angeregt.

Antike Klassiker Ausgangspunkt der philosophischen Beschäftigung mit dem Problem der Willensschwäche ist Platons Dialog Protagoras, in dem es um die Frage nach dem Wesen und der Lehrbarkeit der Tugend geht. In diesem Dialog lässt Platon Sokrates dafür argumentieren, dass Tugend Wissen ist und schlechtes Handeln auf Unwissenheit zurückgeführt werden kann. Mit diesen Thesen ist jedoch die folgende, von vielen Menschen vertretene Auffassung unvereinbar: (A) Manchmal tut jemand auch dann nicht das, was zu tun gut und richtig ist (X), wenn er tatsächlich weiß, was er tun sollte, und er es auch tun könnte. Stattdessen tut er etwas anderes, schlechteres (Y), und zwar deshalb, weil er von etwas Angenehmem überwältigt wird. 3 Euripides, Medea, Deutsch von J. J. C. Donner, Reclam, Stuttgart 1985, V. 1078f. 4 Möglicherweise als Reaktion auf die euripideischen Dramen Medea und Hippolytos; vgl. B. Snell, „Das

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früheste Zeugnis über Sokrates“, S. 129, in: Philologus 97 , 1948, S. 125–134.

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EINLEITUNG Derartiges Verhalten ist eine Form von Willensschwäche. Die mutmaßliche Existenz von Willensschwäche bereitet Sokrates also Schwierigkeiten, wenn er seine Thesen aufrechterhalten möchte. Dabei geht er von den folgenden drei Voraussetzungen aus: (1) Etwas ist genau dann gut, wenn es für den Handelnden selbst angenehm ist. (2) Alle Menschen streben von Natur aus nach dem, was sie für das Angenehmste halten. (3) Es besteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen Wissen und Handeln. These (1) skizziert den ethischen egoistischen Hedonismus, und These (2) charakterisiert den psychologischen Hedonismus. These (3) ist allerdings noch erläuterungsbedürftig: 5 Wenn jemand über die Definition einer bestimmten Tugend verfügt, wenn er also weiß, was eine bestimmte Tugend ist, dann verfügt er damit in demselben Sinne über ein praktisches Wissen und eine Fertigkeit wie ein guter Handwerker, der ein Bewusstsein vom Ziel seiner Tätigkeit und von dessen Beschaffenheit besitzt. Wissen allein ist allerdings keine hinreichende Bedingung für ein entsprechendes tugendhaftes Handeln; was fehlt, ist ein entsprechender Wille des Handelnden. Hier wird unmittelbar die Relevanz der Thesen (1) und (2) ersichtlich: Wenn man nur nach dem strebt, was man für das Angenehmste hält, und alles, was für einen selbst angenehm ist, auch gut ist, dann strebt man nur nach etwas Gutem, und es bedarf bloß noch des entsprechenden Wissens, damit man tugendhaft handelt. 6 Umgekehrt ergibt sich, dass nicht-tugendhaftes Handeln auf fehlendes Wissen zurückgeführt werden kann. Es kann also nicht sein, dass jemand sehenden Auges etwas Schlechtes tut. Wie reagiert Sokrates nun aber auf die oben angeführte Auffassung (A)? Er lehnt die Beschreibung des Phänomens als Handeln wider besseres Wissen ab und versucht, die angebotene Erklärung (von etwas Angenehmem überwältigt werden) als absurd zu entlarven. Sein Ausgangspunkt ist dabei die Analyse dessen, was es heißt, dass jemand eine gute Handlungsalternative X nicht ausführt, sondern eine schlechtere Handlungsalternative Y, weil er von etwas Angenehmem überwältigt wird. Sokrates versteht darunter, dass jemand auf Kosten von zu viel Schlechtem etwas (zu wenig) Gutes bekommt. Das heißt, das mit der ausgeführten Handlung verbundene Gute oder Angenehme ist das Schlechte oder Unangenehme nicht wert, das man aufgrund der Handlung erleidet. Der in (A) beschriebene Willensschwache führt laut Sokrates eine Handlungsalternative X nicht aus, die alles in allem gesehen angenehm oder gut wäre, und zieht stattdessen eine Handlung Y vor, die nur in einer gewissen Hinsicht angenehm oder gut ist. Nach These (2) strebt ein Handelnder aber stets nach dem insgesamt Besten; er kann folglich Y nur deshalb ausführen, weil er sich hinsichtlich des mit dieser Handlung verbundenen Angenehmem und Guten täuscht. Er hat einen Fehler gemacht, als er beurteilte, wie angenehm X und Y sind. Er verfügt, wie Sokrates es ausdrückt, nicht über die richtige 5 Vgl. hierzu J. Hintikka, Plato on Knowing How, Knowing That, and Knowing What, in: ders., Knowledge and

the Known, Reidel, Dordrecht 1974, S. 31–49, hier insb. S. 37–39. 6 Dass die betreffende Person auch fähig ist, die fragliche Handlung auszuführen, wird stillschweigend

vorausgesetzt.

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EINLEITUNG Messkunst. Über diese Messkunst zu verfügen bedeutet, eine bestimmte Fertigkeit und damit zugleich ein Wissen zu besitzen. Demjenigen, der, wie im zweiten Teil von (A) behauptet, Y tut, weil er von etwas Angenehmem überwältigt wird, fehlt also ein Wissen, nämlich das, welches mit der erforderlichen Messkunst verbunden ist und welches Voraussetzung für die zutreffende Beurteilung der Handlungsalternativen X und Y ist. 7 Dieses Ergebnis steht in klarem Widerspruch zum ersten Teil dessen, was in (A) behauptet wird, denn dort heißt es, der Handelnde wisse, was zu tun gut und richtig ist, d.h., er verfügt über die erforderliche Messkunst und das damit verbundene Wissen. So zeigt sich, dass Sokrates nicht nur die in (A) enthaltene Erklärung, sondern selbst die Beschreibung ablehnen muss: Handeln wider besseres Wissen gibt es nicht. Aristoteles setzt sich mit dem Problem der Willensschwäche im VII. Buch seiner Nikomachischen Ethik auseinander. Dafür hat er im Wesentlichen zwei Gründe: (i) Zum einen ist er an allen Formen menschlichen Verhaltens interessiert, die zu einem glücklichen Leben beitragen oder es verhindern, und versucht daher, eine möglichst erschöpfende Charakterisierung der verschiedenen Arten tugendhaften und lasterhaften Verhaltens zu geben. (ii) Zum anderen vertritt er die Auffassung, es bestehe eine enge Beziehung zwischen sittlicher Einsicht (Phronesis) und tugendhaftem Verhalten; doch das Handeln des Willensschwachen ist nicht tugendhaft, obwohl er, wenn man seine Äußerungen berücksichtigt, über sittliche Einsicht zu verfügen scheint. Aristoteles spricht allerdings nicht von Willensschwäche, sondern etwas allgemeiner davon, dass jemand nicht stark genug zur Selbstkontrolle ist, d.h., dass er nicht stark genug ist, um sich zu beherrschen. Für dieses Phänomen verwendet er den Begriff Akrasia, der vor allem im englischsprachigen Raum auch heute noch in der philosophischen Diskussion weit verbreitet ist. 8 Dem erstgenannten Motiv (i) verdanken wir eine umfangreiche Erörterung der Frage, wie das Phänomen der Akrasia zu beschreiben und von verwandten Phänomenen zu unterscheiden ist. Aristoteles grenzt Akrasia insbesondere von Beherrschtheit (Enkrateia) und Zuchtlosigkeit (Akolasia) ab. Der Akratiker hat übermäßige Begierden und zu viel Vergnügen an körperlichen Annehmlichkeiten, er handelt falsch und glaubt auch nicht, richtig zu handeln. Während sich der Zuchtlose vom Akratiker nur dadurch unterscheidet, dass er auch richtig zu handeln glaubt, ist der Unterschied zum Beherrschten insofern größer, als dieser sowohl richtig zu handeln glaubt, als auch tatsächlich richtig handelt. Die aristotelische Beschreibung des Phänomens der Akrasia macht deutlich, dass es sich bei Akrasia und Willensschwäche im oben explizierten Sinn nicht um ein und dasselbe Phänomen handelt. Erstens bezieht sich Akrasia laut Aristoteles streng genommen allein auf Essen, Trinken und Sexualität, während es auch ein Fall von Willensschwäche sein kann, wenn jemand ins Kino geht, statt für eine Klausur zu lernen, und zweitens zählt 7 Zu dieser Messkunst gehört unter anderem die Fähigkeit, kurz bevor stehende Annehmlichkeiten nicht

überzubewerten und zukünftige Annehmlichkeiten nicht zu unterschätzen. 8 Daneben werden vor allem die Ausdrücke „incontinence“ und „weakness of will“ verwendet. Der Ausdruck

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„incontinence“ geht auf das lateinische Wort „incontinentia“ zurück, das beispielsweise von Thomas von Aquin als Übersetzung von „akrasia“ gebraucht wird.

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EINLEITUNG für Aristoteles auch die Impulsivität als eine Form von Akrasia, während jemand, der sich bei einer Handlung nur von seinen Emotionen leiten lässt und sich keine Zeit zum Überlegen nimmt, nicht als willensschwach gilt. Der Anwendungsbereich des Begriffs der Akrasia ist also in einer Hinsicht eingeschränkter und in einer anderen Hinsicht weiter als der des Begriffs der Willensschwäche. 9 Aristoteles’ zweites Motiv (ii) für seine Beschäftigung mit dem Problem der Akrasia geht, wie schon bemerkt, auf die seiner Meinung nach enge Beziehung zwischen sittlicher Einsicht (Phronesis) und tugendhaftem Verhalten zurück. Die Ähnlichkeit mit dem Problem, welches Sokrates im Protagoras beschäftigt, ist unübersehbar, und Aristoteles reagiert in seinen Ausführungen in der Nikomachischen Ethik auch explizit auf die von Sokrates vertretene Position. Während man Platon bzw. Sokrates aber so verstehen kann, als gebe es gar keine Akrasia oder der Willensschwäche, ist Aristoteles darum bemüht, dem Phänomen gerecht zu werden, dass üblicherweise so bezeichnet wird. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass sein Ansatz erstmals den Konflikt deutlich werden lässt, in dem sich der Akratiker befindet. Gemäß Aristoteles sind im Akratiker zwei Argumentationsstränge identifizierbar, nämlich der Syllogismus der Vernunft und der Syllogismus der Begierde. Der Syllogismus der Vernunft könnte beispielsweise lauten: Kein Mensch soll etwas Süßes kosten; dies ist süß; also soll ich dies nicht kosten. Und als Syllogismus der Begierde käme in Frage: Alles Süße ist Genuss verheißend; dies ist süß; also ist dies Genuss verheißend. Während sich die Obersätze der beiden Syllogismen („Kein Mensch soll etwas Süßes kosten“ und „Alles Süße ist Genuss verheißend“) unterscheiden, ist der Untersatz („Dies ist süß“) jeweils gleich. Von besonderer Bedeutung ist jedoch, dass nur die Konklusion des Syllogismus der Vernunft handlungsempfehlend ist. Diese Diagnose führt Aristoteles zu der folgenden Erläuterung von Akrasia: 10 Der Konflikt, in dem sich der Akratiker befindet, ist an den konkurrierenden Obersätzen der beiden Syllogismen der Vernunft und der Begierde zu erkennen. Die Äußerungen des Akratikers machen deutlich, dass er in einer bestimmten Hinsicht durchaus weiß, was er tun sollte. Diese Äußerungen darf man jedoch nicht ernst nehmen, und zwar genauso wenig und aus denselben Gründen nicht wie beispielsweise viele Äußerungen eines Betrunkenen. In einer anderen Hinsicht ist der Akratiker allerdings tatsächlich wie Sokrates behauptet unwissend, und auch in dieser Hinsicht ist er mit einem Betrunkenen vergleichbar: Dem Akratiker fehlt zwar nicht völlig das Wissen von der handlungsempfehlenden Konklusion des Syllogismus der Vernunft, doch er verfügt in Bezug auf diese Konklusion nicht über diejenige Art von Wissen, welche auf seine Handlung Einfluss nehmen könnte und würde. Dies macht deutlich, dass Aristoteles ebenso wie Sokrates der Meinung ist, niemand könne sehenden Auges wider besseres Wissen (im starken 9 Im Folgenden wird nur von Akrasia aufgrund von Schwäche und nicht von Akrasia aufgrund von Impulsivität

die Rede sein. 10 Welche Position Aristoteles genau vertritt, ist höchst umstritten. Ich stelle hier dar, wofür ich an anderer Stelle

ausführlich argumentiert habe (vgl. Th. Spitzley, Handeln wider besseres Wissen. Eine Diskussion klassischer Positionen, de Gruyter, Berlin & New York 1992, S. 74–103).

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EINLEITUNG Sinne des Wortes) handeln. Weil der Akratiker allerdings in (selbst zu verantwortender) Unwissenheit handelt, wenngleich weder aufgrund von Unwissenheit noch aufgrund eines Zwangs, sind seine Handlungen nicht als unwillentliche, sondern als willentliche Handlungen anzusehen.

Moderne Klassiker Ebenso wenig wie Sokrates und Aristoteles hat der Oxforder Moralphilosoph Richard M. Hare ein genuines Interesse an dem Problem der Willensschwäche. Ihn beschäftigt in seinem 1963 erschienenen Buch Freedom and Reason 11 nur eine Teilmenge der Phänomene, die unter den Begriff der Willensschwäche fallen, nämlich diejenigen Fälle, in denen jemand einem Moralurteil zustimmt bzw. zuzustimmen scheint, in seinem Handeln diesem Moralurteil aber nicht folgt. Der Grund dafür ist, dass derartige Vorkommnisse von moral weakness mit dem von Hare vertretenen Konzept einer präskriptiven Ethik prima facie unvereinbar sind. Ein Moralurteil ist Hare zufolge insofern präskriptiv, als es eine seiner Funktionen ist, Verhalten zu leiten. Wer einem Moralurteil der Form „Ich soll X tun“ zustimmt, muss auch dem von ihm selbst an sich selbst gerichteten Befehl „Tue X“ 12 zustimmen, doch diese Zustimmung ist nur dann aufrichtig, wenn die betreffende Person unter der Voraussetzung, dass sie dazu sowohl physisch als auch psychisch in der Lage ist, bei der entsprechenden Gelegenheit X tatsächlich ausführt. 13 Es ist offensichtlich, dass wir es auch hier mit einer Variante des schon von Sokrates her bekannten Problems zu tun haben: Wenn es Sokrates (und auch bei Aristoteles) um die enge Verbindung von Wissen und Handeln zu tun war, so geht es Hare um den Zusammenhang zwischen aufrichtiger Zustimmung zu einem Moralurteil und dem entsprechenden Handeln. Während Sokrates behauptet, dem Willensschwachen fehle das erforderliche Wissen, um richtig zu handeln, und Aristoteles argumentiert, der Akratiker verfüge nur über eine bestimmte Art von Wissen, nicht aber über dasjenige Wissen, das auch handlungsanleitend ist, vertritt Hare die Auffassung, der moralisch Schwache sei typischerweise psychisch unfähig, die durch das Moralurteil gebotene Handlung auszuführen. Als Begründung verweist er auf Medea und Paulus, die von einer solchen Unfähigkeit berichten (vgl. S. 60f.). 14 Was genau Hare unter psychischer Unfähigkeit versteht, bleibt jedoch unklar. Bezeichnenderweise gibt er Fälle von Zwangsneurose als klarste Beispiele dafür an, dass jemand „in einem tieferen Sinn“ nicht handeln kann, und behauptet, dass dort 11 R. M. Hare, Freedom and Reason, Oxford University Press, Oxford 1963 (dt.: Freiheit und Vernunft, Suhrkamp,

Frankfurt/M. 1983). 12 Hare drückt den Befehl durch „Let me do X“ aus (vgl. Freedom and Reason, S. 79), doch die wörtliche

Übersetzung „Lass mich X tun“ bzw. „Lasst mich X tun“ ist irreführend, da sie zu sehr wie eine Bitte klingt. 13 Vgl. R. M. Hare, Sprache der Moral, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1972, S. 40. 14 Hier und im Folgenden beziehen sich die im Haupttext angegebenen Seitenzahlen auf den jeweiligen in

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diesem Band abgedruckten Beitrag.

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EINLEITUNG die psychische Unfähigkeit der physischen ziemlich nahe komme (S. 64). Sowohl unsere Reaktion gegenüber einem Handelnden, der moralische Schwäche zeigt, als auch die Reaktionen des Handelnden selbst scheinen allerdings mit der These, der Handelnde sei psychisch unfähig, seinem Moralurteil gemäß zu handeln, nicht leicht vereinbar zu sein. Der Handelnde selbst bereut im Nachhinein häufig sein Handeln, und wir tadeln den moralisch Schwachen, machen ihm Vorwürfe und akzeptieren es in aller Regel gerade nicht, wenn er sagt, er habe die gebotene Handlung nicht ausführen können oder er hätte eine andere Handlung ausführen müssen. Hare zufolge sind Selbstvorwürfe und Tadeln allerdings durchaus mit psychischer Unfähigkeit des Handelnden vereinbar. Sie sind nämlich in Hinblick auf die künftigen Handlungen der betreffenden Person relevant, und zwar insofern, als sie ihn dabei unterstützen, in Zukunft richtig zu handeln. Moralurteile sind Hare zufolge nicht nur präskriptiv, sondern universell präskriptiv. Damit ist gemeint, dass ich mit dem Moralurteil „Ich soll X tun“ zugleich fordere, dass auch jeder andere, der sich in einer Situation befindet, welche in relevanter Hinsicht derjenigen gleicht, in der ich mich gerade befinde, X tun soll. In einem Fall von moralischer Schwäche, in dem der Handelnde Hare zufolge psychisch unfähig ist, die gebotene Handlung auszuführen, ist „sollen“ allerdings nicht universell präskriptiv, sondern nur quasi-universell präskriptiv zu verstehen. 15 In dem Moralurteil wird „sollen“ also nur in einer abgeschwächten präskriptiven Bedeutung verwendet. D.h., die Präskription trifft zwar auf alle anderen Fälle zu, die in relevanter Hinsicht ähnlich sind, nicht aber auf den eigenen Fall. Bei seiner Auseinandersetzung mit dem Problem der moralischen Schwäche gelangt Hare zu zwei Ergebnissen, die schon einzeln, erst recht aber zusammen genommen deutlich zu machen scheinen, dass das Phänomen der moralischen Schwäche kein ernsthaftes Problem für seine Theorie einer präskriptivistischen Ethik darstellt: Die aufrichtige Zustimmung zu einem Moralurteil erfordert nur dann eine entsprechende Handlung, wenn der Handelnde dazu auch fähig ist, doch der moralisch Schwache ist Hare zufolge typischerweise psychisch unfähig, die entsprechende Handlung auszuführen. Außerdem stimmt der moralisch Schwache nur einem quasi-universell präskriptiven Moralurteil zu, das für seinen eigenen Fall gar keine Handlungsvorschrift beinhaltet. Einem derartigen Urteil kann der moralisch Schwache in der Tat leicht zustimmen. Dieses Ergebnis ist gleichwohl überraschend, denn wenn es zutrifft, handelt der moralisch Schwache nicht, wie man erwartet hätte, entgegen dem von ihm vertretenen Moralurteil und befindet sich daher genau genommen auch gar nicht in einem Konflikt. Aufgrund des quasi-universellen Charakters des Moralurteils schreibt er zwar allen anderen etwas vor, die sich in einer in relevanter Hinsicht ähnlichen Situation befinden, nicht aber sich selbst. 16

15 Vgl. Hare, Freiheit und Vernunft, S. 69, und unten, S. 59. 16 Für eine Weiterentwicklung von Hares Auffassung hinsichtlich der Vereinbarkeit seiner präskriptivistischen

Ethik mit moral weakness vgl. sein Buch Moralisches Denken: seine Ebenen, seine Methode, sein Witz, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1992, insb. S. 103–112.

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EINLEITUNG Anders als Platon, Aristoteles und Hare, die Willensschwäche letztlich als ein moralphilosophisches Problem ansehen, nimmt der amerikanische Philosoph Donald Davidson in seinem 1969 erschienenen Aufsatz „Wie ist Willensschwäche möglich?“ eine entscheidende thematische Erweiterung vor. Er weist explizit darauf hin, dass Willensschwäche nicht nur im Bereich des moralischen Handelns vorkommt, sondern dass der Anwendungsbereich dieses Begriffs wesentlich größer ist, und dass es außerdem unerheblich ist, ob der Handelnde weiß, dass eine von ihm nicht ausgeführte Handlung besser ist als die, welche er de facto ausführt – er braucht es nur zu glauben. Aus dem erkenntnistheoretischen und moralphilosophischen Problem der Willensschwäche, wie wir es bei Platon, Aristoteles und Hare kennen gelernt haben, wird bei Davidson ein ganz allgemeines handlungstheoretisches Problem. Davidson spricht allerdings in der Regel nicht von willensschwachen, sondern von inkontinenten Handlungen (incontinent actions) und adaptiert damit die auf Thomas von Aquin zurückgehende Terminologie. 17 In der allgemeinen Handlungstheorie ergibt sich das mit inkontinentem Handeln verbundene Problem aus der Spannung zwischen dem sehr plausiblen Prinzip (P) „Insofern jemand absichtlich handelt, handelt er im Hinblick auf das, was nach seiner Vorstellung (seinem Urteil) das Bessere ist.“ (S. 68) 18 und der von Davidson vorgeschlagenen Definition inkontinenten Handelns: (IH) Jemand, der eine Handlung Y ausführt, handelt genau dann inkontinent, wenn er (i) Y absichtlich tut, (ii) glaubt, es stehe ihm frei, eine andere Handlung X zu tun, und (iii) urteilt, es wäre alles in allem besser, X zu tun als Y zu tun. Der vermeintliche Widerspruch besteht darin, dass nach dieser Definition der inkontinent Handelnde zwar urteilt, es wäre alles in allem besser, X zu tun als Y zu tun, dann aber trotzdem Y tut, während der Ausgangsthese zufolge jemand nur insofern absichtlich handelt, als er sich in seiner Handlung nach seinem Urteil, was das Bessere (oder das Beste) ist, richtet. Das an sich doch so plausible handlungstheoretische Prinzip scheint also der Möglichkeit von inkontinenten Handlungen (und damit unserer Alltagserfahrung) ebenso zu widersprechen wie Sokrates’ vehemente Leugnung des Phänomens oder auch die These, man könne nicht einem aufrichtig vertretenen Moralurteil zuwider handeln. Die entscheidende Einsicht, welche der davidsonschen Lösung dieses Dilemmas zugrunde liegt, betrifft die logische Struktur evaluativer Urteile. Seit Aristoteles bestand weitgehend Konsens, dass evaluative Urteile in der Form einfacher Allaussagen auszudrücken sind. Statt z.B. „Du sollst nicht lügen“ müsste man danach eigentlich präziser sagen: „Für alle Handlungen X gilt: Wenn X eine Lüge ist, dann darf X nicht ausgeführt werden“. Es lässt sich aber leicht zeigen, dass dieses Verständnis zu expliziten Kontradiktionen führt, wenn zwei evaluative Urteile in gegensätzliche Richtungen weisen. 17 Vgl. auch oben, Anm. 8. In der auch in diesem Band abgedruckten deutschen Übersetzung von Davidsons

Aufsatz wird „incontinent action“ durch „unbeherrschte Handlung“ wiedergegeben.

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18 Hier ist „das Beste“ oder „das Bessere“ in einem ganz allgemeinen Sinne zu verstehen.

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