Wiener Seele

die Wien liebt und die dieses Buch ermöglichte. Besuchen Sie ... Kann eine Stadt eine Seele haben? 7 ... Eine Stadt ist kein Mensch, sondern eine Agglomera-.
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Gerhard Loibelsberger (Hrsg.)

Wiener Seele

Gerhard Loibelsberger (Hrsg.)

Wiener Seele

Original

Spannendes und Skurriles aus der Donaumetropole

Ein großes Dankeschön an Claudia Senghaas, die Wien liebt und die dieses Buch ermöglichte.

Besuchen Sie uns im Internet: www.gmeiner-verlag.de © 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0 [email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2014 Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt Herstellung: Julia Franze Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung eines Fotos von: © Wolfgang Berger ISBN 978-3-8392-4549-1

Inhalt

Vorwort des Herausgebers Kann eine Stadt eine Seele haben? 7 Peter Henisch Pauls Peripherie 9 Zdenka Becker Wenn Muliar »böhmakelt«, ist er unser Mann 23 Franzobel Wetter riechen 35 Gerhard Loibelsberger Wiener Wurzeln 53 Hermann Bauer Zwei Damen im Herbst

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Cornelia Travnicek Vermissen Sie etwas? 89 Mo Leskin Einmal Himmel, einfach bitte 103 Ekaterina Heider Trotz allem 159 5

Martin Mucha Kabale und Triebe 181 Klemens Renoldner Jago war mein Freund 203 Emily Walton Freunderlwirtschaft 221 Sabina Naber Eigentlich

239

Andreas Pittler Der Wiener und seine Seele 259 Autorenviten 277

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Vorwort des Herausgebers

Kann eine Stadt eine Seele haben?

Diese Frage wird sich vielleicht dem einen oder der anderen beim Anblick des Titels dieser Anthologie stellen. Nun ja … Eine Stadt ist kein Mensch, sondern eine Agglomeration von menschlichen Wesen. Wenn man davon ausgeht, dass sie alle eine Seele haben, kann man argumentieren, dass die Summe all dieser Seelen die Seele der Stadt ergibt. Die Seele und Wien. Das ist eine über hundertjährige Beziehung. Der Begriff der Seele wird dank Sigmund Freud heute genau so gerne mit Wien assoziiert wie Sisi, Riesenrad, Lipizzaner, Schönbrunn oder Kaiserschmarrn. Aber das sind alles Rückblenden!

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Mich als Herausgeber hat interessiert, wie die Wiener Seele im 21. Jahrhundert aussieht. Eine Bestandsaufnahme des Hier und Jetzt. Geschichten, die den Herzschlag der Stadt wiedergeben. Deshalb habe ich 12 Autorinnen und Autoren eingeladen, sich Gedanken über Wien zu machen und diese zu Papier zu bringen. Bei der Auswahl mischte ich bewusst Urwiener mit Zugereisten, Durchreisenden und Solchen, die wieder fortgegangen sind. Wichtig war mir auch, drei Generationen von Schreibenden in diesem Projekt zu vereinigen. Nun, da ich die Texte gesetzt und druckfertig vor mir liegen habe, bin ich überrascht und begeistert. Kein Beitrag gleicht einem anderen. Im Gegenteil: Es ist eine Symphonie von unterschiedlichsten Tönen, Klängen, Stimmen und Stimmungen entstanden, die in Summe das wiedergeben, was wir alle lieben: Wien als bunte, vielfältige und lebenswerte Stadt. Oder wie Ekaterina Heider, die jüngste von uns, es in ihrem Beitrag auf den Punkt gebracht hat: Wien ist das Ende der Reise und der Anfang, immer wieder, so wie es immer war. Ich liebe Wien. Ich liebe Wien trotzdem. Ich liebe Wien. Trotz allem.

Gerhard Loibelsberger, Wien im März 2014

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Peter Henisch

Pauls Peripherie Auf der Suche nach einer verlorenen Gegend

Das ist die Gegend / nach der ich Sehnsucht hab / im Ausland. So beginnt ein Lied, das er einmal geschrieben hat, aber das ist lang her. Ja, tatsächlich, das war einmal eine Gegend. Die Gegend, von der er sich angezogen gefühlt hat wie von keiner anderen in Wien. Ich nenne ihn Paul. Ich hab ihn ganz gut gekannt. Er hat Gedichte geschrieben und Lieder gesungen. Gedichte auf Hochdeutsch und im Wiener Dialekt, Lieder zur Gitarre und zur Mundharmonika. Er war eine Zeit lang, so in den Siebzigerjahren des nunmehr schon ziemlich vergangenen Jahrhunderts, recht gegenwärtig, jedenfalls in Wien und Umgebung, aber dann, das wird Mitte der Achtzigerjahre gewesen sein, ist er verschwunden. Wie seine Gegend. Damals die südliche Wiener Peripherie. Seine Peripherie. Er war ihr Barde. Nicht das 9

kaisergelbe Wien wollte er besingen, sondern das ziegelrote. Aber das ist lang her, wie gesagt, und von seinem Wien ist nicht viel übrig geblieben. Die Schrebergärten / die Lagerplätze / das ganze alte Graffelwerk. Ja, sehen Sie, mit den Schrebergärten fängt es schon an. Diese Schrebergärten sind fast verschwunden. Jedenfalls die Schrebergärten, die Paul gemeint hat. Die paar Quadratmeter Grün für die kleinen Leute. Hinter dem Drahtmaschengitter haben sie ihr Gemüse angebaut. Gemüse, das manchen über die letzten Monate des Kriegs hinweghalf. Und das auch in den ersten Jahren danach noch geschätzt wurde. Erdäpfel, Weiß- und Rotkraut, Kohlrabi, grüner Salat. Und schlichte Gewürzkräuter: Petersilie, Thymian, Majoran. Und Obstbäume: Äpfel und Birnen, Zwetschken, Ringlotten. Wer Kirschbäume hatte, die manchmal erstaunlich viel trugen, lud im Juni die Verwandtschaft zum Pflücken ein. Klar: Zwei, drei Blumenbeete gehörten auch dazu. Begonien, Fuchsien, Stiefmütterchen, hier und da – je nach Jahreszeit – Lilien oder Dahlien. Da und dort auch Rosen, auf die man stolz war. Und dazwischen diese Stöckchen mit den oben darauf gesetzten bunt schimmernden Glaskugeln, in denen sich der Himmel spiegelte. Und ein kleines, oft selbst zusammengezimmertes Holzhaus. Ein Haus, vor dem man an einem rohen Tisch auf der rührenden Veranda oder der Wiese sitzen und Karten spielen konnte. Eine Runde ebenso einfacher 10

wie gutartiger Menschen, die am Feierabend oder am Wochenende bei saurem Wein beisammensaßen. Und nicht nur Karten spielten und tranken, sondern auch über offenem Feuer gebratene Burenwürste aßen. Ach ja, das klingt fast nach Idylle und war es wohl für manche. Obwohl Paul, das sei angemerkt, an dieser Idylle kaum teilhatte. Ganz selten, dass er jemand in so einer Kleingartenanlage besuchte. Und wenn, dann verirrte er sich womöglich – jedenfalls hat er auch ein Lied geschrieben, in dem sich ein Besucher, der ihm ziemlich ähnlich sieht, im Schrebergartenlabyrinth, so heißt das Lied, verirrt, und den Garten, in den er von einem Freund eingeladen ist, Parzellennummer soundso, nicht findet, ja nicht nur das, er hat auch Schwierigkeiten, wieder aus diesem Schrebergartenlabyrinth herauszufinden. Es war nicht ganz seins, das Glück im Schrebergarten. Aber er ging ganz gern durch zwischen diesen Gärten. Inzwischen sieht es hier etwas anders aus. Häuschen wie aus dem Legobaukasten, verglaste Veranden, von ferngesteuerten oder programmierten Rasenmähern und Rasensprenggeräten gepflegtes Grün, wenn nicht gleich verflieste Flächen, auf denen Tischlein und Sesselchen stehen, die aus den aufgelassenen Filialen einer in Konkurs gegangenen Konditoreikette stammen könnten. Sonnenschirmchen mit dummen Werbesprüchen. Aufgeblasene Schwimm- oder Planschbecken. So viel zu den Schrebergärten. Doch nun zu den Lagerplätzen. Immer wieder fand es Paul spannend, durch die Ritzen oder Lücken in den Bretterzäunen zu spä11

hen und zu sehen, was dahinter war. Hohe Stapel von Schienensegmenten zum Beispiel oder große Haufen von Leitungsrohren. Oder Kabelrollen, die aussahen wie riesige Zwirnspulen. Graffelwerk eben. Möglicherweise kennen Sie dieses Wort nicht. Pardon, wenn Sie nicht aus Wien sind, sind Sie diesbezüglich entschuldigt. Doch ist zu befürchten, dass auch viele von den heutigen Hiesigen schöne, alte Wörter wie dieses nicht mehr verstehen. Es ist ja nicht nur die Gegend, die eingeebnet wird, sondern auch die Sprache. Graffelwerk also. Hier Pauls Versuch einer Definition: Aus ihrem langweiligen Funktionszusammenhang geratene Gebrauchsgegenstände, die eben nicht mehr gebraucht, sondern irgendwohin verräumt werden. Auch Teile von Gebrauchsgegenständen oder altem Spielzeug (abgebrochene Sesselbeine, ausgerissene Puppenarme). Dinge, die dann ein eigenartiges Traumleben führen, an dem man vielleicht ein wenig teilhat, wenn man die Räume, in die sie verräumt worden sind (etwa einen Keller oder einen Dachboden) unversehens betritt. Oder eben, wenn man durch eine Ritze oder eine Lücke in einem Bretterzaun auf einen dieser Lagerplätze schaut, die es heute kaum mehr gibt. Paul erzählte von einem Karussell oder eher dem Skelett eines Karussells, das wahrscheinlich abgebrannt war, denn es sei kohlschwarz gewesen, und dann habe man es halt dort deponiert. Und von einem aus wer weiß welchen Frühzeiten der industriellen Entwicklung stammenden Bag12

ger oder Kran. Ein Bagger oder Kran mit langem Hals und gestellhaften Gliedmaßen, der ausgesehen habe wie eine ungeheure Gottesanbeterin. Schrebergärten, Lagerplätze, Graffelwerk – das ist aber erst der Anfang vom Lied. Der Beginn des Liedes, von dem ich ausgegangen bin, um Ihnen Pauls Peripherie vorzustellen, vorstellbar zu machen. Die Gegend, nach der er, so singt er, Sehnsucht hat im Ausland, wo immer das sein mag. Der Monte Wien / der Monte Laa / der Wiener- und der Laaerberg. Gegens Ziegelwerk zu / bricht die Stadt einfach ab / und wird zur Wildostfilmlandschaft. Genau. Das gefiel ihm. Die Geschmäcker sind eben verschieden. Sein Geschmack und der Geschmack der Stadtverplaner. Sie haben mir die Landschaft, in der meine Seele sich daheim gefühlt hat, unter dem Arsch weggebaggert. Das sagt er in einem seiner letzten Interviews. Unter dem Arsch weggebaggert, sagt er wohl um des Kraftausdrucks willen. In seinem Lied äußert er sich poetischer, die Bagger fressen ein Stück meiner Kindheit, heißt es da. Und an einer anderen Stelle: Die Bagger fressen mir mein Gedicht. Tatsächlich hat man ihm diese Gegend weniger unter dem Arsch weggebaggert als unter den Füßen. Denn er ist mehr in ihr herumgegangen als herumgesessen. Man hört das, finde ich, wenn man seine Lieder hört. Das sind Texte, die im Gehen entstanden sind, und das Tempo, in dem er sie singt, ist meistens andante. Aber kommen Sie, folgen wir ihm ein Stückchen. 13

Gehen wir seine Wege von damals nach. Soweit es sie heute noch gibt, diese Wege. Wenn Sie so etwas wie die Seele von Wien suchen, wer weiß, vielleicht können wir sie auf diesen Wegen wenigstens noch in Spurenelementen finden. Also hinunter in die Wienerberggründe. Wo die Stadt gegens Ziegelwerk zu einfach abbrach, stand Paul an einer Meeresküste. Zwar hatte ihm ehemals, als er noch zur Schule ging, der Klassenvorstand auszureden versucht, dass die diluviale oder prädiluviale Küste unmittelbar hier verlaufen sei (das war anlässlich eines sogenannten Lehrausgangs). Aber Paul glaubte ihm nicht – im Wind, der da blies, wurde ihm genauso heim- und fernweh zumute wie später, als er, etwas weiter im Süden, das erste Mal an den Klippen eines wirklichen Meers stand und ins Elementare blickte. ERHOLUNGSGEBIET WIENERBERG. Früher, zu Pauls Zeit, war dieser Abstieg ein Abenteuer, jetzt ist er ein Spaziergang. Damals waren da Abgründe. Pauls dark and bloody grounds. Die Firma Wienerberger mit ihrer langen, bis in die Zeit der Ausbeutung der sogenannten Ziegelböhmen gegen Ende der Monarchie zurückreichenden Geschichte gibt es noch immer, aber Pauls Wildostfilmgegend, in der man früher das Material für die Ziegel gewonnen hat, ein Areal, das man, wäre es nach ihm gegangen, unter Denkmalschutz gestellt hätte, samt den Ziegelwerksgebäuden im Hintergrund, ist inzwischen kaum mehr zu erkennen. 14