Weltformel des Stoffwechsels - Spiegel

machte der deutsche Pathologe Rudolf. Virchow (1821 bis 1902) Entzündungsvor- .... kern werden lässt? Um das herauszube- kommen, stellten Steven ...
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RONALD FROMMANN / LAIF

Versorgung eines Infarkt-Patienten: Je erbitterter die entzündliche Abwehrschlacht im Herzen tobt, desto eher bricht die Plaque auf

MEDIZIN

Weltformel des Stoffwechsels Die Entzündung entpuppt sich als zentraler Vorgang im Körper. Sie dient nicht nur dazu, Bakterien zu zerstören und Wunden zu heilen. Jüngste Forschungen zeigen: Wenn der komplexe entzündliche Prozess entgleist, kann dies auch zum Herzinfarkt, zu Krebs, Diabetes oder Alzheimer führen. Rasierklinge

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as hat ein Schnitt beim Rasieren mit einem Herzinfarkt zu tun? Was eine Lungenentzündung mit der Zuckerkrankheit? Gibt es Ähnlichkeiten zwischen einem gebrochenen Bein und Krebs? Oder zwischen einer Schusswunde und Alzheimer? So absurd es im ersten Moment auch klingen mag – viele Forscher sagen inzwischen: Ja, das alles hat sehr viel miteinander zu tun. Denn je mehr sie es schaffen, diesen Erkrankungen auf den Grund zu gehen, desto klarer zeichnet sich ab: Sehr viele Krankheiten haben offenbar einen gemeinsamen Motor, ein universales Prinzip der Steuerung, das banal-alltäglich und zugleich hoch komplex, uralt und doch brandaktuell ist – die Entzündung. „Die Entzündung“, erklärt Bernhard Böhm, Diabetesforscher aus Ulm, „spielt eine so entscheidende Rolle in unserem

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Bakterien

Hautzellen

Immunzelle Blutgefäße

Verlauf einer Entzündung VERLETZUNG

ALARM

Ein Fremdkörper – etwa eine Rasierklinge – verletzt die schützende Haut. Bakterien dringen dabei in den Körper ein. d e r

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Botenstoffe

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Immunzellen entdecken die eingedrungenen Bakterien. Sie schicken Botenstoffe los, die weitere Immunzellen zu Hilfe rufen.

Wissenschaft Körper, dass man sie als eine Art metabolische Weltformel bezeichnen könnte.“ Eigentlich handelt es sich um einen Schutzmechanismus, ohne den ein Überleben unmöglich wäre: Mit einer Entzündung reagiert der Organismus, wenn Bakterien oder andere Fremdkörper in ihn eindringen. Im Normalfall führt dies nach einiger Zeit zur vollständigen Heilung – doch leider nicht immer. „Manchmal“, so Klaus Bendtzen vom Kopenhagener Zentrum für Entzündungsforschung, „läuft der Prozess der Entzündung einfach immer weiter und weiter und weiter, obwohl die Eindringlinge längst beseitigt sind.“ Dann wendet sich der eigentlich so raffinierte Schutz gegen den Körper selbst; er wird Opfer seines eigenen Erfolgs – eine chronische Krankheit entsteht: ein Diabetes zum Beispiel, ein Krebsgeschwür, Arteriosklerose oder auch eine degenerative Hirnerkrankung wie etwa Alzheimer. Viele Forscher gehen inzwischen davon aus, dass die Lebenserwartung ganz entscheidend von der Entzündungsaktivität im Körper abhängt. Das Wissen darüber ist eigentlich nicht einmal neu. Schon vor über 100 Jahren machte der deutsche Pathologe Rudolf Virchow (1821 bis 1902) Entzündungsvorgänge für Krebs und Herzinfarkt verantwortlich. Und bereits in über 120 Jahre alten medizinischen Veröffentlichungen schlagen Forscher vor, Entzündungshemmer zur Behandlung der Stoffwechselerkrankung Diabetes einzusetzen. Seit einigen Jahren wird dieses alte Wissen nun mit Macht wiederbelebt. Nicht nur Immunologen, auch Pathologen, Pharmakologen, Kardiologen, Diabetologen, Neurologen und Krebsforscher interessieren sich plötzlich für das Phänomen der Entzündung. Sie alle hoffen, die Forschung werde ihnen den Weg weisen zu wirksamen Medikamenten gegen eine Vielzahl von Krankheiten, und deshalb arbeiten sie

über alle Disziplingrenzen hinweg eng zusammen. „Ich stehe zum Beispiel in engem Kontakt zu Rheumatologen und MorbusCrohn-Forschern“, erzählt der Krebsforscher Thomas Blankenstein vom MaxDelbrück-Centrum für Molekulare Medizin, „und selbstverständlich interessieren mich auch die Ergebnisse aus der Diabetesund Herzinfarktforschung.“ Dass die Entzündung an der Entstehung so vieler Erkrankungen beteiligt ist, liegt gerade daran, dass sie eigentlich dem Schutz des Körpers dient. „Denn um wirksam schützen zu können“, erklärt der Entzündungsforscher John Savill vom Centre for Inflammation Research der University of Edinburgh, „muss eine Entzündung schon durch winzige Auslöser in Gang gesetzt und aufrechterhalten werden.“ Unweigerlich berge dies die Gefahr, dass der Prozess entgleist. Chronische Krankheiten bezeichnet Savill deshalb als „den Preis des Überlebens“. „Eigentlich“, sagt Entzündungsforscher Bendtzen, „ist es sogar überraschend, dass die Sache nicht öfter schief geht.“ Denn eine Entzündung ist auch ein äußerst komplizierter Vorgang. Mit jedem noch so kleinen Splitter dringen Unmengen von Bakterien in den Körper. Um eine Katastrophe zu verhindern, wird deshalb sofort eine ganze Kaskade von Abwehrreaktionen angestoßen (siehe Grafik). Bestimmte Immunzellen, gleichsam die Ortspolizei des Gewebes, entdecken die Eindringlinge als Erste – und schalten sofort auf höchste Alarmbereitschaft: Botenstoffe werden freigesetzt, die Verstärkung anfordern und weitere Immunzellen anlocken. Andere Substanzen wirken am Ort der Verletzung auf die Innenauskleidung der Gefäßwände ein; so bleiben die herbeigelockten Abwehrzellen dort kleben und können dann ins Gewebe wandern. Schon bald tummeln sich Scharen von Immunzellen am Ort der Verletzung. Die

Außer Kontrolle Entzündungsprozesse bei chronischen Krankheiten ALZHEIMER Bei degenerativen Hirnerkrankungen wie der Alzheimer-Demenz kommt es zu Entzündungsprozessen. Ihre genaue Bedeutung ist allerdings noch nicht erforscht.

HERZINFARKT Atheromatöse Plaques sind Entzündungsherde in der Wand von Herzkranzgefäßen. Je heftiger die Entzündung, desto leichter platzt die Plaque auf. Sofort werden massenhaft Blutplättchen angelockt, die einen Pfropf bilden – der Herzinfarkt ist da.

DIABETES Jugendlicher Diabetes (Typ 1) entsteht, wenn eine entzündliche Autoimmunreaktion nach einer Virus-Infektion die Insulin-produzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse zerstört. Beim Altersdiabetes (Typ 2) könnte Übergewicht der Schlüsselfaktor sein: Fettzellen produzieren ständig Botenstoffe der Entzündung. Diese wiederum machen die Körperzellen unempfindlicher für das Hormon Insulin.

KREBS Entzündetes Gewebe kann die Bildung von Tumoren, beispielsweise im Darm, fördern. Zudem schütten Krebszellen Botenstoffe der Entzündung aus, die das Sprießen von Blutgefäßen und das Wachstum von Stützgewebe anregen. Ohne dieses ernährende „Stroma“ würde die Geschwulst verkümmern.

Bindegewebe

ABW EHRSCHL ACHT V E RSTÄ R KU N G Der Körper öffnet schmale Spalten in den Blutgefäßen. Durch diese quetschen sich die alarmierten Immunzellen, um so schnell wie möglich zum Infektionsherd zu gelangen.

Scharen von Immunzellen lassen die Wundstelle anschwellen. Sie zerstören die eingedrungenen Erreger, beseitigen sie und das beschädigte Gewebe. Botenstoffe signalisieren: Heilung einleiten! d e r

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Botenstoffe

H E I LU N G Die Botenstoffe regen die Bildung von neuen Blutgefäßen und Bindegewebe an: Das zerstörte Gewebe wird so ersetzt. 183

STEPHAN ELLERINGMANN / LAIF

Wissenschaft

Behandlung einer Krebspatientin: Der Tumor braucht eine Entzündung, um zu überleben

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Das Unheil nimmt seinen Lauf, wenn Moleküle des so genannten schlechten oder LDL-Cholesterins beginnen, sich in der innersten Schicht der Arterienwand einzulagern. Vor allem wenn diese Moleküle etwa durch Zigarettenrauch oxidiert werden – ähnlich wie Butter, die ranzig wird –, sieht das Immunsystem sie offenbar als Fremdkörper an und löst eine Abwehrreaktion aus: Es entsteht eine entzündliche Ablagerung aus Cholesterin, Immunzellen, abgestorbenem Gewebe und neu wuchernden Zellen, die vom Innenraum des Gefäßes nur noch durch eine dünne Schutzschicht getrennt ist. „Eine solche Plaque“, erklärt der Kardiologe Andreas Zeiher von der Universität Frankfurt, „fühlt sich ungefähr so an wie Zahnpasta, die man zwei Stunden lang auf der Zahnbürste hat stehen lassen: innen sehr weich und außen eine dünne, zerbrechliche Schicht.“ Bricht diese Schutzschicht auf, kann Blut in die Plaque sickern – was eine fatale Kettenreaktion in Gang setzt: Blutplättchen ballen sich zu einem undurchdringlichen Blutpfropf zusammen; binnen

SEBASTIAN LASSE / ZEITENSPIEGEL

irritierten Nervenendigungen senden derweil Schmerz-, also Warnsignale ans Gehirn, das Gewebe schwillt an, und die vermehrte Durchblutung lässt die umgebende Haut rot und heiß erscheinen. Schon vor 1800 Jahren hat der römische Arzt Galen die Symptome – „Rötung, Schwellung, Schmerz, Überwärmung und eingeschränkte Funktion“ – genau beschrieben. Doch die äußeren Zeichen spiegeln nur entfernt die erbitterte Schlacht, die im Inneren des Körpers tobt. Rücksichtslos zerstören die Immunzellen die eingedrungenen Erreger und beseitigen zugleich das beschädigte Gewebe. Zum Schluss wird dann noch einmal ein Schwall neuer Botenstoffe freigesetzt, der das Wachstum neuen, gesunden Gewebes einleitet. Diese Substanzen, die zur Heilung von Wunden führen, regeln auch andere Wachstumsvorgänge, zum Beispiel bei der Entwicklung eines Embryos; und auch die Menstruation oder die Öffnung des Muttermundes während der Geburt wird durch Botenstoffe der Entzündung gesteuert. „All das“, sagt Savill, „sind höchst präzise regulierte entzündliche Reaktionen.“ Wenn aber irgendwo im Körper der Prozess der Entzündung aus dem Gleichgewicht gerät, können Krankheiten entstehen. Fatalerweise fördert dabei gerade der westliche Lebensstil – wenig Bewegung, fettreiches Essen – eine Entgleisung. Ein typisches Beispiel ist die Entstehung von atheromatösen Plaques in den Herzkranzarterien. Längst ist die Vorstellung überholt, ein Herzinfarkt entstehe, wenn sich die Gefäße mit Kalk zusetzen wie der Schlauch einer Waschmaschine. Inzwischen steht fest: Was in der Gefäßwand des Herzens abläuft und schließlich zum Infarkt führt, ist vielmehr ein höchst komplexer und kommunikativer Prozess – eine chronische Entzündung.

Diabetesforscher Böhm

„Auf Sparflamme umschalten“ d e r

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weniger Augenblicke kann dieser die Herzkranzarterie komplett verschließen – Herzinfarkt. Je erbitterter dabei die Abwehrschlacht im Inneren der Plaque tobt, desto leichter bricht die Schutzschicht auf. Vor allem das oxidierte LDL-Cholesterin, so Savill, verhindere wahrscheinlich, dass die Entzündung wieder abklingen kann. Dass Entzündungsprozesse bei der Entstehung eines Herzinfarkts eine fatale Rolle spielen, erklärt auch eine Reihe von Phänomenen, die zuvor Rätsel aufgaben: • Mehr als zwei Drittel aller Infarkte entstehen an Stellen der Herzkranzgefäße, die nicht oder nur geringfügig verengt sind; andererseits können hochgradige Verengungen über Jahre bestehen, ohne dass es zum Herzinfarkt kommt. • Ein erhöhter Eisenspiegel, von dem bekannt ist, dass er entzündungsfördernd wirkt, steigert das Infarktrisiko. • Als ein guter Marker, um einen drohenden Herzinfarkt vorauszusagen, gilt inzwischen die Konzentration des so genannten C-reaktiven Proteins (CRP) im Blut, ein Molekül, das bei Entzündungen ausgeschüttet wird. Als weiterer wichtiger Risikofaktor für die Entstehung eines Herzinfarkts gilt die Zuckerkrankheit Diabetes. Warum das so ist, lässt sich möglicherweise ebenfalls mit dem Phänomen der Entzündung erklären. Eine Schlüsselrolle könnte dabei einer Gruppe erst kürzlich entdeckter Moleküle zukommen, die ständig im Blut zirkulieren; eines davon ist das so genannte Carboxymethyllysin, kurz CML. „Dieses Molekül“, erklärt Diabetesforscher Böhm, „heizt den Entzündungsprozess regelrecht an.“ Und weil CML Zucker enthält, wird es bei den erhöhten Blutzuckerspiegeln von Diabetikern vermehrt gebildet: je höher der Blutzucker, desto mehr CML, desto mehr Entzündung, desto mehr Herzinfarkte. So lautet die einfache Formel – zumindest bei jedem einzelnen Menschen für sich genommen. „Das wirklich Interessante jedoch“, erklärt Böhm, „ist, dass die Geschwindigkeit und damit das Ausmaß, in dem CML gebildet wird, bei jedem Menschen anders ist.“ Das würde erstmals erklären, warum es Diabetiker gibt, deren Blutzucker gut eingestellt ist, die aber trotzdem schon früh einen Herzinfarkt bekommen; und warum anderen, die ihre Blutzuckereinstellung schleifen lassen, trotzdem vergleichsweise wenig passiert. Doch nicht nur bei den Folgen – auch bei der Entstehung eines Diabetes scheinen Entzündungsvorgänge eine wichtige Rolle zu spielen. Beim jugendlichen, dem so genannten Diabetes Typ 1, ist dies schon länger bekannt. Eine fehlgelaufene Infektion, vermutlich mit einem Virus, führt dort zu einer entzündlichen Autoimmunreaktion, die die Insulin bildenden Zellen der Bauchspeicheldrüse zerstört. Bei einem Alters-

Wissenschaft diabetes, also Diabetes Typ 2, hingegen produziert die Bauchspeicheldrüse – zumindest am Anfang – noch reichlich Insulin; doch die Leber-, Muskel- und Fettzellen, auf die das Insulin wirken soll, reagieren nicht mehr auf dieses Signal – sie sind insulinresistent geworden. Und wieder stehen Entzündungsvorgänge unter Verdacht; vor allem könnten sie ein entscheidendes Bindeglied sein zwischen dem wichtigsten Risikofaktor für den Altersdiabetes – Übergewicht– und der eigentlichen Zuckerkrankheit. Schon seit einiger Zeit nämlich ist bekannt, dass nicht nur Immunzellen, sondern in geringerem Umfang auch Fettzellen Botenstoffe der Entzündung bilden. Im Körper von Dicken köchelt deshalb ständig eine chronische Entzündung vor sich hin; in ihrem Blut sind verschiedene Marker, wie etwa CRP oder die Anzahl der weißen Blutkörperchen, erhöht. Könnte es diese chronische Entzündung sein, die Übergewichtige zu Altersdiabetikern werden lässt? Um das herauszubekommen, stellten Steven Shoelson und seine Mitarbeiter vom Joslin Diabetes Center in Boston gentechnisch veränderte Mäuse her. Und tatsächlich: Diejenigen Tiere, deren Gene so verändert waren, dass bei ihnen die Produktion von Botenstoffen der Entzündung ständig gehemmt war, wurden nicht zu

Diabetikern – selbst wenn sie extrem übergewichtig waren. Jene Tiere hingegen, die so manipuliert waren, dass sie zu einer Überproduktion von Entzündungs-Botenstoffen neigten, entwickelten fast immer einen Altersdiabetes – trotz normalen Gewichts. Nicht die Zahl der Fettzellen an sich, sondern vor allem deren entzündliche Aktivität scheint also für die Entstehung eines Diabetes Typ 2 entscheidend zu sein. Für die Kranken könnte diese Erkenntnis von großer Bedeutung sein: Shoelson erinnerte sich an alte Berichte darüber, dass sich ein Diabetes mit dem Entzündungshemmer Aspirin oder verwandten Stoffen, den so genannten Salizylaten, lindern lasse. Erste Behandlungsversuche, die Shoelson an einzelnen Patienten unternahm, scheinen das zu bestätigen. Diabetesforscher Böhm glaubt, vom Standpunkt der Evolution her betrachtet könne es einst sogar nützlich gewesen sein, dass der Körper bei einer Entzündung den Zuckerstoffwechsel herunterfährt. „Stellen Sie sich zum Beispiel vor“, erklärt er, „ein steinzeitlicher Jäger würde von einem Raubtier verwundet.“ In seinem Körper tobe dann die Entzündungs-Abwehrschlacht, zugleich könne der Mann sich möglicherweise nicht mehr rühren, jedenfalls nicht mehr jagen. „Da ist es doch sinnvoll, dass sein Körper während dieser Zeit auf Sparflamme umschaltet.“ Erst der moderne Lebensstil mit Überernährung und Bewegungsmangel habe diesen Zusammenhang zum Nachteil werden lassen. Schon seit 20 Jahren befasst sich Böhm mit derlei Überlegungen. Doch erst kürzlich merkte er, dass sich seine Frau, eine Gynäkologin, mit ganz ähnlichen Fragen beschäftigt. „Sie hat viel mit Brustkrebs zu tun“, erzählt Böhm. „Und auch da geht es oft um Entzündungsvorgänge.“ Tatsächlich scheint es, als bestätige sich Virchows alte Hypothese, dass eine chronische Entzündung ein idealer Nährboden für Krebs sein kann. Dem Blasenkrebs etwa geht häufig eine chronische Blasenentzündung voraus; die Bildung von Spei-

PETER MEISSNER / ACTION PRESS

Walking-Gruppe: Die einzigen Mittel, die helfen, sind denkbar schlicht

seröhrenkrebs wird befördert durch die Entzündungen, die mit schwerem Sodbrennen einhergehen; und Darmkrebs wuchert gern dort, wo eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung wie etwa die Colitis ulcerosa den Boden bereitet hat. Inzwischen haben Studien auch gezeigt, dass einige entzündungshemmende Medikamente die Entstehung von Vorstufen des Darmkrebses verhindern können. Zurzeit gehen die Forscher zwar davon aus, dass eine chronische Entzündung allein meist nicht ausreicht, um eine gesunde zur Krebszelle zu machen. Ohne Zweifel jedoch wirkt ein entzündliches Milieu fördernd auf diesen Prozess, vermutlich weil Immunzellen zur Abwehr von Keimen so genannte freie Sauerstoffradikale und andere hochaggressive Moleküle bilden, die jeden Eindringling zerstören – allerdings auch das Erbmaterial schädigen. So kann es zu gefährlichen Mutationen kommen, auf deren Basis dann der Krebs entsteht. Wichtiger noch als bei der Entstehung sind Entzündungsprozesse jedoch beim Wachstum eines Krebsgeschwürs. „Der Tumor führt eine Entzündung herbei, weil er

sie braucht, um zu überleben“, konstatiert der Berliner Krebsforscher Blankenstein. Tatsächlich sondern bösartige Tumorzellen in großen Mengen Botenstoffe ab, wie sie auch im Körper wirken, wenn nach einer Entzündung die Heilung beginnt. Diese Substanzen regen um die Krebszellen herum die Bildung von Blutgefäßen und Stützgewebe an, so dass das so genannte Tumor-Stroma entsteht – ein „Bett“, das die bösartigen Zellen nährt und stützt; ohne diesen Nährboden würde der Tumor verkümmern. Doch fatalerweise wird, anders als bei einer Wunde, dieser eingeleitete Heilungsprozess nie abgeschlossen: Der Tumor wächst immer weiter. „Ein Tumor“, schrieb deshalb der Krebsforscher Harold Dvorak von der Harvard Medical School, „ist eine Wunde, die niemals heilt.“ Wie gut das Stroma mit seinen Blutgefäßen gedeiht und wie rasch damit der Tumor wächst, hängt offenbar von einem komplexen Gleichgewicht ab, das zwischen den verschiedenen Botenstoffen der Entzündung im Tumor herrscht; manche von ihnen fördern, andere bremsen das Wachstum der Gefäße, und alle stehen miteinan-

der in einem komplizierten Wechselverhältnis. „Es geht um dieses immunologische Mikromilieu, diese Grundstimmung im Tumor“, sagt Blankenstein. „Wenn es uns gelingen würde, die umzupolen, dann hätten wir vielleicht eine neue Therapie gegen Krebs.“ Dieses subtile Gleichgewicht gerät möglicherweise auch bei einer anderen Gruppe von Leiden aus dem Lot: bei den degenerativen Hirnerkrankungen, zum Beispiel bei der Alzheimer-Krankheit. Als Indiz dafür werten die Wissenschaftler, dass sie in den Gehirnen von AlzheimerPatienten Immunzellen fanden, die, ähnlich wie beim Krebs, eine Fülle von Entzündungs-Botenstoffen mit höchst unterschiedlicher Wirkung produzieren. „Manche dieser Stoffe“, sagt Hartmut Wekerle vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried bei München, „regen die Neubildung von Nervenzellen an. Andere jedoch beschleunigen durch die Bildung von aggressiven Stoffen die Degeneration.“ Auch hier hoffen die Forscher darauf, das Gleichgewicht irgendwann durch geeignete Medikamente verschieben zu können – und so die Krankheit zu heilen oder zumindest den Gedächtnisverlust hinauszuschieben. Noch allerdings ist das weitgehend Theorie. Die einzigen Mittel, welche die entzündliche Aktivität im Körper wirklich dämpfen und so vermutlich helfen, einem Herzinfarkt, einem Diabetes, einem Krebs und vielleicht auch der Alzheimer-Krankheit vorzubeugen, sind denkbar schlicht: abnehmen – denn Fettzellen produzieren ständig gefährliche Entzündungs-Botenstoffe; sich regelmäßig bewegen – denn das animiert den Körper, die Entzündungsprozesse herunterzuregeln; und Obst, Gemüse und Fisch essen – denn diese enthalten Substanzen, die jene freien Radikale unschädlich machen, die von den Immunzellen gebildet werden. Vielleicht hilft es ja, sich zu alldem zu motivieren, wenn man weiß, was ein Schnitt beim Rasieren mit einem Herzinfarkt zu tun hat. Veronika Hackenbroch