Würfelwörter und Rätselbilder im Parzivalprolog Wolframs von ...

den Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Bildstruktur im Mittelalter“. ..... Gottfried von Straßburg erfundene „Leitwort“ des Literaturstreites in vermittelter ...
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Heinrich Hüning

Würfelwörter und Rätselbilder im Parzivalprolog Wolframs von Eschenbach

Der Prolog - ein Bilderrätsel als Schlüssel zum Parzivalroman

disserta Verlag

Hüning, Heinrich: Würfelwörter und Rätselbilder im Parzivalprolog Wolframs von Eschenbach: Der Prolog - ein Bilderrätsel als Schlüssel zum Parzivalroman, Hamburg, disserta Verlag, 2015 Buch-ISBN: 978-3-95425-272-5 PDF-eBook-ISBN: 978-3-95425-273-2 Druck/Herstellung: disserta Verlag, Hamburg, 2015 Covermotiv: © Heinrich Hüning

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Den Eltern, meiner Frau Sunhild und unseren Kindern gewidmet

Inhaltsverzeichnis Vorwort zur zweiten Auflage ................................................................................................ 13 1 Die Bilder des Parzivalprologs ........................................................................................ 15 1.1 Das Problem der dichterischen Bilder ......................................................................... 15 1.2 Ein Literaturstreit im 12. Jahrhundert .......................................................................... 20 1.3 Das Verhältnis von Wort und Bild - ein Verständigungsproblem ............................... 26 1.4 Auf der „verte“ des „bickelwortes“ ............................................................................. 28 1.5 Sprachlogik und Logik der dichterischen Bilder - ihr unterschiedliches Verhältnis zum Phänomen der Zeit ............................................................................................... 30 2 Ein „bickelwort“ als Literaturkritik .............................................................................. 33 2.1 Diskussion zum Problem der dichterischen Bilder im Parzivalprolog ........................ 34 2.2 Der „bickel“, ein unbekannter Gegenstand als literarisches Bild ................................ 37 2.3 Volkskundliche Analyse der Form und Funktion des „bickels“ ................................. 38 2.4 Das dichterische Bild Gottfrieds und seine Bedeutung für Wolfram .......................... 45 2.5 „Bickelwortkritik“ im Literaturstreit - „Kinderkram“ in der Deutung ........................ 49 3 Der „zwîvel“ des Parzivalprologs in der Forschung - Literaturreferat ...................... 53 3.1 „naiv“ - „genialisch“ - „anders“ (2,16) ........................................................................ 62 3.2 Der Text als Rätsel - eine geheime Botschaft .............................................................. 63 3.3 Sind dichterische Bilder nur „anschaulich“? ............................................................... 64 4 Der Eingangsvers des Prologs - ein Rätsel ..................................................................... 67 4.1 Vorbemerkungen zur spezifisch literarischen „Naivität" ............................................ 70 4.2 Das Elsterngleichnis und der bildlogische Hintergrund von „zwîvel“ ........................ 72 4.3 Was „tuot“ die Elster der „varwe“ an? Eine existentielle Deutung des Elsterngleichnisses ....................................................................................................... 73 4.4 Die Elster ..................................................................................................................... 74 5 Das Verhältnis von „agelstern“ - „zwîvel“ - „nâchgebûr“ ........................................... 79 5.1 Der „zwîvel“ und das Bild der Elster .......................................................................... 79 5.2 Die Bilder des Eingangs und die „Selbstverteidigung“ Wolframs .............................. 79 5.3 Die rätselhafte Beziehung von „nâchgebûr" und „zwîvel".......................................... 86

6 Das dichterische Gesamtbild des Anfangs (1,1-1,14) .................................................... 89 6.1 Die Herzmitte des Eingangs ........................................................................................ 93 6.2 „gesmaehet unde gezieret ist, swâ sich parrieret unverzaget mannes muot“ .............. 99 6.3 „zwîvel“ im „herzen“ verbunden mit dem „unverzaget mannes muot“ - die Grundverfassung des Menschen ................................................................................ 100 6.4 Die Rätselbilder des Parzivalprologs - Probleme ihrer Übersetzung und Interpretation.............................................................................................................. 101 6.5 Die heilsgeschichtliche Verfassung auf der Basis einer „glücklichen Schuld“......... 107 6.6 Wer ist der „unstaete geselle“ im Elsterngleichnis? .................................................. 110 6.7 Die abstrakten Bilder des Prologs (1,1-1,14) als Eingangsrätsel des „Parzival“ ...... 114 7 Die „stiure“ der vorliegenden Interpretation .............................................................. 117 7.1 Philologische Argumente zum Literaturstreit und Anfang des Prologs .................... 118 7.2 Das sinngebende Umfeld von „zwivel“ und „nachgebur“......................................... 119 7.3 Das volkskundliche Umfeld von „agelster“ .............................................................. 120 7.4 Die Überlieferung von „agelstern“ in den Handschriften des Prologs ...................... 122 7.5 Das Wort „nachgebur“ in den Handschriften ............................................................ 123 7.6 Etymologie des Wortes „agelstern“ ........................................................................... 124 7.7 Das Verhältnis von „zwivel“ - „velle“ - „varwe“ ...................................................... 126 7.8 Grammatik und Syntax des Eingangs und Elsterngleichnisses (1,1-1,6) .................. 128 7.9 Das Subjekt von Eingang und Elsterngleichnis ......................................................... 130 7.10 Probleme bei der allegorischen Deutung des Parzivalprologs .................................. 131 7.11 Ist das Elsterngleichnis eine „Gregorius“-Parodie?................................................... 134 7.12 Nachtrag zur Bickelwortinterpretation ...................................................................... 136 8 Die Enite-Kritik, ein Bilderrätsel im Text der Frauenlehre ....................................... 142 8.1 „Inhalte“ als Rätsel im Literaturstreit ........................................................................ 142 8.2 „ich enhân daz niht vür lîhtiu dinc“ (3,15-3,18) ........................................................ 144 8.3 „Dise manger slahte underbint - iedoch niht gar von manne sint“ ............................ 147 8.4 „verligen“ und verlogen ............................................................................................. 149 9 Die Erec-Satire als Reihung von rätselhaften Bildern ................................................ 154 9.1 „Umständliches“ zum „verligen“ - Motiv und zum Verhalten Erecs ........................ 154 9.2 Die Erec-Satire im Parzivalprolog ............................................................................. 163

9.3 Das „verligen“ Erecs oder der „valsch geselleclîche muot“ (2,17) ........................... 167 9.4 Der „dritte biz“ (2, 22) - eine erotische Metapher ..................................................... 169 9.5 Der „dritte biz“, ein Zeichen der Bereitschaft, das „nicht galt“ ................................ 171 9.6 „vuor si mit bremen in den walt“ (2,22) - „Bremsen“ oder „Brummen“ .................. 173 10 Anmerkungen zum Konzept des Parzivalprologs ....................................................... 175 10.1 Kann eine Dichtung „unverantwortlich“ und eine Interpretation „unwissenschaftlich“ sein? ........................................................................................ 175 10.2 Wolfram von Eschenbach als „Apologet“ des Christentums .................................... 176 10.3 Zuordnung des eigenen Interpretationsversuches und Zusammenfassung ................ 177 10.3.1 Schlusswort: Die neue Deutung der Eingangsverse des Parzivalprologs ........... 179 Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 183 I. Quellen ............................................................................................................................ 183 II. Literatur ......................................................................................................................... 184 III. Nachschlagewerke........................................................................................................ 192 Sachregister........................................................................................................................... 194 Namensregister ..................................................................................................................... 199 Anhang .................................................................................................................................. 205

Vorwort zur zweiten Auflage Der Zufall führte Regie bei der Wiederentdeckung einer altertümlichen Form von Würfeln, die im Literaturstreit des 12. Jahrhunderts zwischen Gottfried von Straßburg und Wolfram von Eschenbach eine große Rolle spielten. Die Auseinandersetzung um „Würfelwörter“ („bickelworte“) so der Vorwurf Gottfrieds, ist für die vorliegende Studie über den Parzivalprolog von großer Bedeutung. Die auffällige Form und Funktion des Gegenstandes „bickel“, der mit unseren heutigen Vorstellungen von Würfeln nichts zu tun hat, motivierte ihn („Tristan“ 4636-39) zum dichterischen Bild des „bickelwortes“, mit dem „boshaft, aber nicht ganz unzutreffend“, wie Eberhard Nellmann sagt (1994, S. 458), der Stil Wolframs von Eschenbach im Prolog charakterisiert wird. Dieses Bild, das in der traditionellen Fehdeforschung eine zentrale Rolle spielte, konnte bis heute - aus dem einfachen Grunde - nicht richtig verstanden werden, weil man die zum dichterischen Bild gehörenden realen „Würfel“, nämlich die bickel Gottfrieds von Straßburg, nicht mehr identifizieren konnte. Sie werden im Rahmen der folgenden Überlegungen zum erstenmal in Bildern vorgestellt: Bickel haben nicht sechs quadratische Seitenflächen mit Punkten, wie Tessera, sondern nur vier „Seiten“, von denen zwei als Wölbung oder Höhlung polar entgegengesetzte plastische Merkmale haben, sowie zwei andere „Seiten“, auf denen die Bickelwürfel „stehen“ oder „liegen“ können und in diesen Positionen die polaren Richtungsunterschiede von senkrecht und waagerecht sinnfällig machen bzw. zum Ausdruck bringen. Das Kapitel „Volkskundliche Analyse der Form und Funktion des ‚bickels’“ (s. S.32) ist für ungeübte Leser etwas mühsam. Deshalb habe ich das „Wertungssytem“ der Bickelwürfel auf dem Hintergrund von polaren Raum- und Richtungsunterschieden kurz noch auf andere Weise beschrieben (siehe Fotos). Durch systematische Versuchsreihen mit einer größeren Anzahl dieser archaisch-orakelhaft funktionierenden „Würfel“ wurde auf empirischem Wege das Wertungs- bzw. Glücksspielsytem so weit rekonstruiert, dass der Sinn des „bickelwort“ Vorwurfs Gottfrieds von Straßburg erkennbar wurde. Unabhängig davon, ob man seiner Kritik zustimmt oder nicht, eröffnete sich damit eine neue Perspektive auf charakteristische, strukturelle Eigenschaften in der Dichtung Wolframs von Eschenbach, die der eigentliche Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind. Die im Ensemble der Forschungsliteratur, exotisch klingende Studie „Würfelwörter und Rätselbilder im Parivalprolog Wolframs von Eschenbach“, erschien zum ersten Mal im Jahre 2000. Der Ausdruck „Würfelwörter“ ist das Pendant zu den sog. „bickelworten“ Gottfrieds von Straßburg aus dem Literaturstreit des 12. Jahrhunderts (Tr. 4641). Mit dieser Metapher hatte Gottfried die Verwendung von Wörtern mit zweierlei Bedeutungen als literarische Stilmittel bei Wolfram von Eschenbach scharf kritisiert. - Wolfram hatte Äquivokationen – bickelwörter - benutzt, um dem „Eingang“ des Parzivalromans die literarische Form eines Rätsels zu geben. (siehe Hüning, 2000 S. 20 ff.). Das Beispiel schlechthin, für diese Form der Verrätselung eines literarischen Textes ist der „Eingang“ des Parzivalprologs. Er lautet im Original: „Ist zwîvel herzen nâchgebûr, daz muoz der sele werden sûr“ (1,1-2)

„Wenn Zweifel nah beim Herzen wohnt, das muß der Seele sauer werden.“ (1,1-2)

Die Übersetzung stammt von K. Lachmann (K. L., Wolfram von Eschenbach, 1926, 6. Aufl. S. 3). Auf Vergleiche mit neuen Deutungen bzw. Übersetzungen möchte ich verzichten, weil sie sich überwiegend an den Interpretationen Lachmanns orientieren. Auf dem Hintergrund seiner ersten Übersetzung habe ich die Möglichkeit wahrgenommen, eine realistischere Deu-

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tung dieses mittelhochdeutschen poetischen Textes zu erproben. In der ersten Auflage meiner Studie aus dem Jahre 2000 lautete sie folgendermaßen: „Zwei-Fell’ das Herz umschließend wie ein Käfig; Das ist für die Seele ein Bedrohung“ (P. 1,1-2)

Die „Eingangsverse“ des Parzivalprologs werden damit – gegen die Tradition – völlig anders gedeutet. Mir selbst hatte ich seinerzeit nicht gestattet, diese Übersetzung ihrer verblüffenden „Einfachheit“ wegen zu akzeptieren bzw. zu veröffentlichen, sondern sie expressis verbis in Frage gestellt, damit aber auch einige mir bekannte Leser dieser Studie verunsichert (siehe: Hüning, 2000 S. 112). Die Vorarbeiten zu der oben angegebenen ersten Interpretation des Parzivaleingangs liegen nun mehr als vierzehn Jahren zurück. Inzwischen sind meine Untersuchungen zu „zwivel“ - dem „Stichwort zum Verständnis der ganzen Dichtung“ (J. Bumke 2004, S. 41), - so weit fortgeschritten, dass sie nicht nur den o.a. ersten Annäherungsversuch im Ansatz bestätigen, sondern – mit einer kleinen, aber wesentlichen Veränderung - das literarische Konzept des Prologeingangs als Rätsel in einem völlig veränderten Licht erscheinen lassen. Meine revidierte – im Vorwort zur zweiten Auflage dieser Studie – hiermit zum erstenmal – offiziell vorgelegte Übersetzung der Eingangsverse des Prologs, die von zwei „Schlüsselwörtern“ – „zwi-vel“ und „gebur“- bestimmt wird, lautet: „Zweierlei Fell’“, nämlich Harnisch und Haut, das Herz umschließend, wie ein Gefängnis („gebur“ = Käfig für Greifvögel): Das muß die Seele zur Verzweiflung bringen“ (P.1, 1-2).

Meinem ersten Übersetzungsvorschlag gegenüber war ich skeptisch, weil er – seinerzeit - noch nicht aus dem Text begründet werden konnte. Das soll in der hiermit vorgelegten zweiten Auflage im Nachwort nachgeholt werden.

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Die Bilder des Parzivalprologs

1.1 Das Problem der dichterischen Bilder Bildlichkeit der Sprache ist das auffallendste Merkmal in Wolframs von Eschenbach Parzivalroman, nicht nur ihrer Fülle, sondern vor allem ihrer Qualität wegen. Diese besondere Eigenschaft hat nicht immer Zustimmung gefunden. Joachim Bumke spricht deshalb von der „Ausgefallenheit seiner sprachlichen Bilder“, die als „befremdlich oder dunkel, manchmal auch bedrohlich [...] beschrieben“ werden. Dabei haben „nach der Lehre der Poetik [..] sprachliche Bilder die Funktion, Lebendigkeit und Anschaulichkeit zu erzeugen“ (1997, S. 135f). Diese „Ausgefallenheit“, welche in der Forschung eher für Verwirrung als für Erkenntnisgewinn gesorgt hat, soll in der vorliegenden Studie unter dem Stichwort „Abstraktheit der dichterischen Bilder“ ausdrücklich thematisiert werden. Das Verhältnis von Wort und Bild in einem dichterischen Text stellt sich nicht nur als ein Problem für die Interpretation mittelalterlicher Dichtung dar, es betrifft auch aktuelle Bemühungen zu diesem Thema. So konnte man bis vor wenigen Jahren den Terminus „dichterische Bilder“ in der Literaturdiskussion noch verwenden, weil damit die selbstverständliche Vorstellung verbunden war, es gehe in künstlerischen Texten, mit denen es die Germanistik ja in erster Linie zu tun hat, um ein Verhältnis gegenseitiger Ergänzung von Text und Bild, also um Einheit. Einen allgemeinen Konsens darüber, denn nur von ihm ist hier die Rede, scheint es nicht mehr zu geben. So wurde im Jahre 1988 unter der Schirmherrschaft der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Kongress veranstaltet mit dem programmatischen Titel „Text und Bild - Bild und Text“. Im Referat „Zur Eröffnung des Symposions“ erklärte Wolfgang Harms u.a.: [...] „mit ‘Text’ lassen sich alle sprachlichen, mit Bild alle bildlichen (bildnerischen) Medien der menschlichen Kulturarbeit abkürzend bezeichnen.“ Damit wegen der literarischen Form des Kongresstitels keine Missverständnisse aufkommen konnten, wurde folgendermaßen kommentiert: [..] „mit der Formulierung ‘Text und Bild, Bild und Text’ wollten wir die Suggestion einer prinzipiellen Priorität des einen vor dem anderen ausschließen“. Dem ist zuzustimmen, aber dem folgenden nicht mehr: „Vielleicht greife ich nicht zu weit vor, wenn ich sage, dass in diesen Zwillingsformeln mit ‘Text’ das tatsächlich verbal Artikulierte, nicht ein diffus ungeformt vorgestellter Inhalt gemeint ist, entsprechend mit ‘Bild’ das anschaulich Dargebotene, nicht das nur potentiell Vorstellbare“ (Harms, 1990, S. 5). Das ist eine völlig unverständliche Parzellierung und Stückelung der künstlerischen Einheit von Wort und Bild, die vorgenommen wurde, um mit Hilfe der Operationalisierung, einem wissenschaftlichen Verfahren der Arbeitsteiligkeit (Taylorisierung) aus der Industrieproduktion, sich dem Gegenstand des Kongresses zu nähern. Die Problemlösung nach der Methode der wissenschaftlich kleinsten Schritte ist auf das Verhältnis und Verständnis der Einheit von Bild und Text nicht anzuwenden. Der ungewohnt technologische Umgang mit der Einheit von „Text und Bild“, wie er sich ausgerechnet auf einer Germanistentagung zeigte, ist erstaunlich. Dem Kongressbericht zufolge hat man es bei „Text und Bild, Bild und Text“ durchgehend mit zwei Künsten und zwei verschiedenen Medien zu tun, von denen sozusagen „arbeitsteilig“ das „Bild“ den Geisteswissenschaften (Kunstgeschichte und Volkskunde), das „Wort“ bzw. der „Text“ der Germanistik zugeordnet wurde. Eine solche Spaltung des Zusammenhangs ist zugleich eine Art „Abtretungserklärung“ der Germanistik für den gesamten Bereich „sprachlicher Bilder“ an die Disziplinen Volkskunde und Kunsthistorie. Sie ist durch nichts gerechtfertigt. Was die 15

Deutung von Kunst und künstlerischen Texten betrifft, so hat eine Universalhermeneutik nicht den geringsten Vorsprung gegenüber der Literaturwissenschaft und ihren Methoden. Jede künstlerische Einheit von Bild und Text ist, wie das Sphinxrätsel, sui generis immer schon ein Problem, bei dessen Lösung man etwas riskieren muss. Es gibt keinen „arbeitsteiligen“, wissenschaftlichen Trick oder eine universelle Hermeneutik, mit der man das Risiko, die Frage nach dem Zusammenhang von Bild und Text falsch verstanden oder beantwortet zu haben, umgehen kann. Jeder Germanist kann sich jedoch mit Fug und Recht auf die „wahrheitsverbürgende“ Struktur seiner subjektiven „Alltagshermeneutik“ bei der Deutung dichterischer Sprache verlassen; ebenso, wie sich vergleichsweise die „Kritische Theorie“ immer wieder auf die „wahrheitsverbürgende“ Struktur der Umgangssprache als ihrer ureigenen Basis für Wahrheitsfindung berief. Es geht in diesen wenigen Sätzen nicht um eine destruktive Kritik des Kongresses 1988, sondern darum, einem Missverständnis über die „Einheit“ von Bild und Wort, wie sie hier angedeutet wurde, gleich am Anfang vorzubeugen. Im Rahmen der eigenen Überlegungen zum Thema „dichterisches Bild“ spielt weder das „tatsächlich verbal Artikulierte“, noch das „anschaulich Dargebotene“ im o.a. Sinne eine Rolle. Das „dichterische Bild“ ist im Gegensatz zur Auffassung auf dem o.a. Kongress eher das „fiktive“, d.h. in der Vorstellung und Phantasie „gemachte“ Bild, nicht nur das „diffus vorgestellte“, weil es erst im „Kontext“ von Wort und Bild seine akustisch-optische Prägnanz erhält und dadurch als Einheit von Bild und Wort in der Phantasie des Hörers existieren kann. Auf demselben Kongress gab es auch bemerkenswerte Gegenstimmen, z.B. die von Christel Meier (1990, S. 37 ff.) in ihrem Referat „Malerei des Unsichtbaren“ mit dem Untertitel „Über den Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Bildstruktur im Mittelalter“. Sie verweist auf Hugo von St. Victor und seine Formel „vom Unsichtbaren im Sichtbaren“ (S. 37f), auf die „verschiedenen Leistungen des äußeren und des inneren Sehorgans“ und darauf, dass nach seiner Meinung für eine „Schau nicht das Auge des Körpers, sondern des Herzens vorbereitet werden muß“. Das gilt insbesondere für die abstrakten dichterischen Bilder des Parzivalprologs. Sie fallen wirklich aus dem Rahmen des üblichen Verstehens, so dass man sich ihren Sinn nur auf künstlerischem Wege erschließen kann. Es gibt zwei Arten von dichterischen Bildern, solche, die etwas veranschaulichen im Sinne der alten Lehre der Poetik, und „abstrakte“, die gleichzeitig etwas verhüllen, mithin auf eine andere Art etwas „veranschaulichen“: Wenn sich dem Romanhelden Parzival beim Gesang der Vögel „die Brust weitet“ (118,16-17), kann man an diesem körperlichen Vorgang ablesen, dass sich im Gemüt des Helden ein entsprechendes seelisches Geschehen auch innerlich „ausbreitet“, z.B. als Gefühl für Schönheit dieser Naturerscheinung. Wenn derselbe Held, von seinem Jagdinstinkt getrieben, einen Vogel tötet und ihm anschließend die Tränen kommen, weiß man, dass er ein mitleidiges Herz hat. Der Zuhörer identifiziert sich mit dem Romanhelden, indem er synchron dieselben körperlichen und seelischen Bewegungen mitvollzieht und ohne lange Erklärungen versteht, was den Romanhelden bewegt. Solche einladenden Metaphern, die wie Miniaturen den ganzen Text durchziehen, bestimmen durch ihre Fülle den ersten Eindruck des Parzivalromanes. Daneben gibt es völlig andere dichterische Bilder, die man zwar sieht, wie Parzival; die Dinge aber, um die es wirklich geht, scheinen unbegreiflich zu sein. Der Prototyp hierfür ist ein besonderes „dinc daz hiez der Gral“ (235,23). Er ist sozusagen die paradoxe, „abstrakte Veranschaulichung“ des rätselhaften Gralproblems: der Form nach zugleich Verhüllung und Enthüllung der Botschaft des Romans. - Der Gral ist das zentrale abstrakte Bild des Romans, so

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wie es der zwivel für den Prolog ist. Im Text sind beiden Bildern weitere dichterische „Abstraktionen“ zugeordnet, die in ihrem Zusammenspiel das Romangeschehen entscheidend prägen. Diese verschließen sich nicht zuletzt deshalb dem o.a. „selbstverständlichen“ Zugriff, weil sie mit dem größten Rätsel des Romans, seinem trinitarischen Menschenbild, etwas zu tun haben. Von diesem Bild sagt Wolfram: „des nemet künstecliche war“: „man unde wîp diu sint al ein; als diu sonne diu hiute schein, und ouch der name der heizet tac. Der enwederz sich gescheiden mac: si blüent ûz eime kerne gar. Des nemet künsteclîche war.“ (173, 6).

Auf die „künstlerische“ Wahrnehmung und nicht auf kunst-wissenschaftliche Erklärung kommt es an. Das gilt für alle abstrakten und nicht nur religiösen dichterischen Bilder. Sie drängen sich nicht auf, sondern fordern heraus, vor allem dann, wenn es sich um Rätselbilder handelt, die man als solche zuerst einmal identifizieren muss, bevor man versuchen kann, behutsam ihr Geheimnis zu lüften. Die künstlerische Wahrnehmung, von der Wolfram spricht, ist als grundlegende Vorbedingung von der zuerst genannten selbstverständlichen Anschaulichkeit der Bilder zu unterscheiden. Der folgende Vergleich kann vorab den Unterschied verdeutlichen: Das bereits zitierte Beispiel vom Gesang der Vögel, der Parzival die „Brust weitet“, stammt aus dem Erzähl- und Lebenszusammenhang des III. Buches. Nun ist auf der relativ abstrakten Ebene des Prologs von einem Herzen in derselben Brust des Romanhelden im Zwiespalt der Gefühle die Rede. Wenn man hört „ist zwîvel herzen nâchgebûr“, wird man sicherlich noch keine Vorstellung von einem „Brustkorb“ haben, in dem das Herz des Helden schlägt. Dieser Text scheint, oberflächlich gesehen, eher eine abstrakte begriffliche Aussage als ein dichterisches Bild zu sein. Im Hintergrund des Eingangsverses handelt es sich jedoch, wie die folgende Analyse zeigt, eindeutig um ein solches: Der „sich weitende Brustkorb Parzivals“ wird in diesem Bild formal zu einem Vogelkäfig („gebûr“, Vogelbauer), in dem das Herz wie in einem Gefängnis eingesperrt ist. Im Vergleich zur sinnfälligen Körperhaftigkeit des seelischen Ausdrucks beim bloß anschaulichen Bild im ersten Beispiel, wird die „Sinnfälligkeit“ seelischen Geschehens auf einer noch tiefer liegenden Ebene menschlicher Existenz angesiedelt, d.h. abstrahiert: Das Herz ist eingesperrt wie ein Vogel in einem „Brustkorb“; der wird aber, wie im ersten Beispiel, gar nicht mehr erwähnt, sondern gleich durch das Bild des „Vogelbauers“ („gebûr“) ersetzt. Das tertium comparationis heißt hier jedoch „Gerippe“ (Rippen des Vogelbauers und des Brustkorbes) und signalisiert „tödliche Bedrohung“. Es handelt sich bei dieser „Abstraktion“ um nichts anderes als eine auf die Spitze getriebene Versinnlichung, zu der man nicht immer bereit ist, weil sie u.U. ein Hinabsteigen in die „Niederungen“ menschlicher Existenz bedeutet. In diesem Sinne ist die Interpretation der folgenden als „abstrakt“ bezeichneten dichterischen Bilder Wolframs ein Versuch, ein „Unsichtbares sichtbar (zu) machen durch die Realität“ des künstlerischen Textes (Max Beckmann, 1965, S. 20). Entscheidend ist, mit welchen Mitteln ein Dichter diese Wirkungen erzielt. Wegen der Interpretation selbst sei auf das entsprechende Kapitel verwiesen, in dem die o.a. Interpretationsvariante des Eingangsverses begründet wird. Es geht primär um den Bildhintergrund, auf dem der Eingang des Prologs erscheint. In der folgenden Gegenüberstellung soll aus methodischen Gründen an zwei motivgleichen Beispielen der Unterschied zwischen einem anschaulichen und einem abstrakten dichterischen Bild erläutert werden: Die erste Gruppe der anschaulichen dichterischen Bilder hat eher einen „Status“ von 17

Anschaulichkeit. Es sind „Stehbilder“, die im Text in der Form von Wörtern „expressis verbis“ fixiert sind. Man findet sie leicht wieder, wenn man sich ihrer erinnern möchte. Die abstrakten dichterischen Bilder dagegen sind gekennzeichnet durch eine dynamische Struktur. Diese entfalten sich erst im „Vorübergang“; d.h. sie „existieren“ nur in „statu nascendi“ und verflüchtigen sich zwangsläufig sehr schnell wieder, weil man sie nicht an einzelnen Wörtern festmachen kann. Sie sind im Text „expressis verbis“ als Bildbeschreibungen gar nicht vorhanden, sondern „existieren“ erst durch die „ergänzende“ Mitwirkung der „Zuschauer“ und Zuhörer als Mitspieler in einem vom Dichter geplanten Darstellungs- und Erkenntnisprozess. Im Vergleich der beiden o.a. „Brustbilder“ aus dem Parzivalroman, der im zweiten Fall, im übertragenen Sinne, „unter die Haut geht“, wird der Unterschied der Wahrnehmung deutlich: Indem man den Text „künsteclich wahr - nimmt“, bedient man sich seiner verborgenen Zeichen, um in der eigenen Phantasie „selbst ein Bild zu machen“. Dabei setzt man sich dem Wagnis von Versuch und Irrtum aus, bis sich Zeichen (oder Zeichenfragmente) wie bei einem Puzzle zum Ganzen eines abstrakten dichterischen Bildes fügen. Ein solches fiktives dichterisches Bild existiert als Spiegelbild sinnfälliger Zeichen im Text in der Phantasie und ist nicht unmittelbar anschaulich. Neben dem „zwîvel“ im Kontext des Prologeingangs gehören u.a. die drei Namen Parzivals zu den abstrakten Bildern des Romans, die dem Bemühen des Dichters um ein trinitarisches Menschenbild, als dem größten Geheimnis der menschlichen Existenz, eine gleichnishafte Struktur verleihen. Diese rätselhafte trinitarische Struktur ist m.E. maßgebend für das Grundkonzept der Dichtung insgesamt. Selbst das zentrale Bild des Parzivalromans, der Gral und die ihn umgebenden Motive scheinen sich in ihrer abstrakten Perspektive, nicht zuletzt auch „im Durchgang durch ein orientalisches Medium“ (Konrad Burdach, 1938, Neuaufl. 1974 Hrsg. Johannes Rathofer, S. XIX), derart zu verwandeln, dass dem Leser möglicherweise Zweifel aufkommen, ob der Gral nach seiner Metamorphose in diesem Medium überhaupt noch mit dem „Parzival“, wie er überliefert wurde, etwas zu tun hat. Derart zweifelhafte Gefühle sind jedoch nicht neu. Die geistliche Vorübung für die Wahrnehmung von sich verwandelnden Wörtern und Bildern im Parzivalroman ist der Parzivalprolog. Meine Überlegungen zum „Eingang“ des Parzivalprologs sind der Versuch, den ersten programmatischen Doppelvers als ein abstraktes dichterisches Bild zu verstehen, das durch das ebenfalls abstrakte Elsterngleichnis gestützt wird. In ihrer Zusammengehörigkeit als „vliegendes bîspel“ nimmt dieses dichterische Bild des Eingangs, als Einheit von Text und Bild, programmatisch das Romangeschehen als Ganzes vorweg. Hauptproblem der Interpretation ist, dass der Eingangstext des Prologs (1,1-2) einerseits das wichtigste dichterische Bild enthält, es andererseits aber wie eine Hülle umschließt, damit man - wenn überhaupt - es nicht auf den ersten Blick erkennt. Als Text- und Bildzusammenhang wird der Eingangsvers der Form nach dadurch zu einem Rätsel, das es zu lösen gilt, um den Zugang zum Ganzen zu gewinnen. So gesehen handelt es sich um ein „Erlösungsrätsel“, das den Anfang des Parzivalromanes als eine Orakelfrage bestimmt. Ob man ein solches löste oder nicht löste, hatte immer schon weitreichende Folgen. Eine gewisse „Ratlosigkeit“ dem Parzivalprolog gegenüber mag ursächlich damit zusammenhängen, dass man zeitgenössische Begriffe, wie z.B. den zwîvel-Begriff aus dem „Gregorius“ Hartmanns von Aue, als Maßstab anlegte (Heinz Rupp, 1961, S. 32 mit Verweis auf Hermann Schneider, Parzival-Studien, S. 11-31). Ein anderer Grund mag der unglückliche Umstand sein, dass die nachempfundene Urfassung durch eine ungenaue Transkription der Eingangsverse aus den Handschriften entstellt wurde und unnötige Schwierigkeiten verursachte. Das kann man am Beispiel des Wortes „nâchgebûr“, das in dieser Form in der Mehrzahl der Textzeugen aus dem 13. und 14. Jahrhundert als ein Wort „nâchgebûr“ nicht vorkommt, nach18

weisen. So wurden z.B. die Wörter „nach“ und „gebur“ in einer Transkriptionsliste, die Uta Ulzen (1974 S. 38) der Herausgabe der Parzivalhandschriften (als Faksimiles) beifügte, im Gegensatz zu ihrer Schreibweise in den Handschriften beide stets zu einem Wort vereinigt. Wenn Karl Lachmann (1891) „nachgebur“ als ein Wort transkribiert und mit „Nachbar“ übersetzt, macht das zwar einen besseren Sinn als jede mögliche andere Umschreibung oder Verkürzung. Dennoch lassen sich die getrennt geschriebenen Wörter „nach“ und „gebur“ nicht ein für allemal in diesem Sinn semantisch fixieren. - Erst nachdem sich bei der vorliegenden Deutung „gebur“ als zweideutige Äquivokation zu erkennen gab, erschloss sich die vermutete Einheit von „Sinn und Unsinn“ im Bild des Eingangsverses, den Gottfried von Straßburg möglicherweise zum bevorzugten Gegenstand seiner dichterischen „Kritik“ im kreativen Bild des „bickelwort-Vorwurfs“ machte. Was dieser Vorwurf bedeutete, wird für die folgende Studie auf teilweise empirischem Wege ermittelt und den eigentlichen Überlegungen im Kontext einer kurzgefassten Literaturrecherche vorangestellt. - Wem das Leitbild des „zwîvels“ in einem bewusst reduzierten, freiwillig „erniedrigten“ Verständnis allzu „fleischlich“ erscheint, der mag sich an den Wortteil „vel“ als die Abbreviatur von „velum“ oder „velatum“ (lat. Schleier bzw. Hülle) halten. Damit nähert er sich einer etwas „anspruchsvolleren“ Verständigungsebene: Der Schleier als Verhüllung ist ein Bild, das in der Kunst generell als Synonym für Form gebraucht wird. Auch biblische Autoren haben sich ebenso wie ihre Interpreten (z.B. Paulus und Augustinus, später auch Mohammed) vorzugsweise des Bildes als einer „Hülle“ bzw. Form bedient, unter der sich das „schlechthin andere“ (wie etwa ein Glaubensinhalt) zugleich verbergen und „enthüllen“ lässt. Im Gegensatz zu einer abstrakten Deutung im Anschluss an ein außerhalb der Dichtung liegendes Motiv, wie das der Gregoriuslegende, wonach der Zweifel in die Verdammnis führt, lässt der Eingangsvers des Prologs aus sich selbst heraus eine naheliegendere textinterne Deutung zu: Er spricht von einem Herzen, das von „Hüllen“ eng umschlossen wird. Dieses Gefangensein - auch im übertragenen Sinne -, das den Menschen daran hindert, sich selbst, die Welt und Gott zu erkennen, beherrscht im Grunde den ganzen Prolog und große Teile des Romans. Es handelt sich bei dieser Studie um den Versuch, anhand zentraler dichterischer Bilder die mögliche Hintergrundstruktur des Parzivalromanes zu identifizieren. Damit kann man den „irritierenden Perspektivenwechsel für [...] die von Wolfram gewünschten Zuhörer, die sich nicht gutgläubig der Erzählung anvertrauten“ (Bumke, 1991, S. 236f.) als die „andere Hälfte“ der Romanwirklichkeit einordnen und verstehen. Das ist wichtig, damit einem als Zuhörer am Ende nicht der Boden unter den Füßen weggerissen wird, dann nämlich, wenn „zuletzt fast alles in Frage gestellt (ist), was vorher als gesicherte Grundlage für das Verständnis der Handlung gegolten hatte“ (Bumke, 1991, S. 237). Nur dann lässt sich z.B. das Beziehungsgeflecht zwischen den Bildern des Prologs und den verschiedenen Romanebenen, wie sie durch die drei „Namen“ Parzivals signalisiert werden, darstellen. Die Hintergrundstrukturen sprachlicher Bilder, vor allem auch die Relationen von Vordergrund und Hintergrund des gesprochenen Wortes, sind abstrakt. Wenn man Begrifflichkeit und Bildlichkeit eines Textes miteinander vergleichen will, um etwas über ihre Beziehungen zu erfahren, entsteht das methodische Problem, Abstraktes und Sinnliches miteinander vergleichen zu müssen. Im Bereich der Kunst lässt sich zwar prinzipiell kein rationaler und in der Wissenschaft ebensowenig ein künstlerischer Maßstab anlegen. Man könnte jedoch versuchen, beide Bereiche auf mittlerer Ebene zwischen sprachlogischen und bildlogischen Strukturen vermittelnd, d.h. anhand eines anderen Beispieles, „vorübergehend“ und schematisch

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„gleichnamig“ zu machen. Zu diesem Zweck müsste ein künstlicher Parameter, ein „Mittelmaß“ erfunden werden; das ist eine „Passform“ bzw. Zwischenform, die der Abstraktheit der Romanstruktur einerseits und der Sinnlichkeit der Bilder andererseits, „annähernd“ gerecht werden könnte. Mit dieser „Zwischenform“ könnte man sich den unterschiedlichen Ebenen sowohl annähern, als auch unterscheiden, m.a.W.: Abstraktes und Sinnliches sowohl trennen als auch verbinden. Um es mit den Worten Wolframs zu sagen: „beidiu samnen unde brechen“ (6,26), wie in einem Spiegelbild. In der soeben beschriebenen Funktion soll das von Gottfried von Straßburg erfundene „Leitwort“ des Literaturstreites in vermittelter Form als Richtungsangabe dienlich sein.

1.2 Ein Literaturstreit im 12. Jahrhundert In der Hoffnung, über einen der größten Dichter des 12. Jahrhunderts, Wolfram von Eschenbach, mehr zu erfahren, hat sich die Forschung immer wieder mit dem Literaturstreit zwischen ihm und Gottfried von Straßburg beschäftigt. Der Streit selbst ist zu Literatur geworden. Nicht nur deshalb ist er für die heutige Literaturwissenschaft so interessant. „Polemisiert Gottfried gegen Wolfram?“, fragt Peter Ganz (1978, S. 69). Mit dem Hinweis auf zahlreiche Forscher, die sich mit diesem Thema befassten, sagt er: „Es scheint eine unnütze Frage zu sein, denn es ist wohl heute von niemandem mehr bestritten, dass die `berühmte Karikatur´ gegen Wolfram gerichtet ist." - Er plädiert mit Recht dafür, eine „eindeutige Polemik" sei Gottfried nicht vorzuwerfen, und deshalb solle das „Gericht" (Literaturkritik und Fehdeforscher?) „die Verleumdungsklage gegen Gottfried aus Mangel an Beweisen ablehnen". Dem ist auch deshalb zuzustimmen, weil unter dem Gesichtspunkt persönlicher Streitigkeiten und Fehden zwischen beiden das sachliche Interesse der Philologie an diesen beiden großen Dichtergestalten und ihrer Dichtung zu sehr in den Hintergrund gedrängt werden könnte. Nellmann (1994, S. 123) meint zum Dichterstreit: „Die immer subtiler werdende Fehdeforschung hat freilich durch mancherlei Überspitzungen erheblich an Kredit verloren. An keiner einzigen Stelle des 'Parzival' hat sich eine Reaktion Wolframs auf Gottfried zweifelsfrei nachweisen lassen." Unter Hinweis auf den Tristan-Text Vers 4638-4690, in dem das o.a. Fremdzitat als „Karikatur" bezeichnet wird, kommt Ganz (1978, S. 69) abschließend zu einer anderen etwas unverständlichen Aussage: „Wenn man annimmt, dass Gottfried sagen wollte, dass er den Parzivalprolog unverständlich fand, so geht dies aus dem vorliegenden Text nicht hervor, sondern bedeutet eine Rückwärtsprojektion der Schwierigkeiten, die moderne Philologen in dem Wolfram-Text finden" (Ganz, 1978, S. 83). Gottfrieds Schwierigkeiten als Zeitgenosse Wolframs waren sicher anderer Natur als die der modernen Forschung. Den Sinn des Parzivalromans und der darin verwendeten Bilder, auf die seine Kritik zielt, hatte er recht gut verstanden. Ob Gottfried vor Abfassung seines Literaturexkurses gegen Wolfram den Parzivalprolog bereits kannte, weiß man nicht. Nach übereinstimmender Meinung der Forschung entstand dieser erst, als der gesamte Roman schon fertig war, sodass er ihm wahrscheinlich noch unbekannt war. Wenn man die Entstehungszeit derErec-Satire (2,15-24) und Enite-Kritik (3,15-24) berücksichtigt, welche die Schwerpunkte im zweiten Teil des Prologs bilden, könnte man annehmen, dass es sich um eine derbe Replik auf die Anspielungen Gottfrieds von Straßburg im Literaturexkurs des Tristan handelt. Abgesehen davon, dass hier keine Fehdeforschung im engeren Sinne betrieben werden soll, müßte die o.a. Aussage Nellmanns vielleicht doch revidiert werden.

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