Verliebt in die - NGIN Food

07.06.2017 - 27, 10179 Berlin | Geschäftsführer: Mark Hoffmann | Chefredakteur: Frank Schmiechen |. Fotografien: ..... Höfen, die nicht mehr als 90 Minuten mit dem Auto von der City ..... derplatz oder an der Friedrichstraße beispielsweise.
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Ausgabe 1/2017 12,50 Euro

Verliebt in die

Tina Beuchler macht den Riesen digital

FRITZ-KOLA

Wichtig ist, dass es knallt

GASTRO-HELDEN

Was neue Lokale erfolgreich macht

12,50 EURO

NESTLÉ

NGIN Food 01062017

ZUKUNFT DES ESSENS

v Frank Schmiechen Chefredakteur

Alex Hofmann Stellv. Chefredakteur

Hannah Scherkamp Verantwortliche Redakteurin

Anne Schade Verantwortliche Redakteurin

Mark Hoffmann Co-Founder & CEO Vertical Media

Corinna Sattler General Manager NGIN Food

„Essen? Klar kann man das digitalisieren! Wenn Sie es immer noch nicht glauben, dann lesen Sie unsere erste gedruckte Ausgabe von NGIN Food.“

Liebe Leserinnen, liebe Leser! „Essen? Kann man nicht digitalisieren!” Das war vor einigen Monaten die einhellige Meinung, wenn wir mit Managern aus der Food-Branche sprachen. Doch diese Haltung hat sich inzwischen dramatisch geändert. Denn die Millennials wollen mehr als Massenware aus dem Supermarkt – und am liebsten alle Einkäufe vom Handy aus erledigen. Weil es da nicht so viele Möglichkeiten gibt, haben sie es eben selbst gemacht und ihre eigenen Food-Startups gegründet. Ende vergangenen Jahres haben wir deshalb mit NGIN Food ein Online-Magazin auf den Markt gebracht, das sich täglich mit dem Thema Essen und mit den Veränderungen in diesem Wirtschaftsbereich beschäftigt. Wir haben uns auf den Food-Bereich spezialisiert, weil es unzählige Entwicklungen gibt, die berichtenswert sind und die die gesamte Branche umgestalten. Essen ist mittlerweile nicht mehr nur tägliche Nahrungsaufnahme, sondern für viele Menschen zu einer Art Ersatzreligion geworden. Gerade bei jüngeren Leuten aus der Generation Y. Sprechen Sie mal mit überzeugten Veganern oder mit den begeisterten Käufern von sogenanntem Superfood. Der Körper soll mit der Nahrungsaufnahme gleichzeitig „entgiftet” und „entschlackt” werden. Ob Quinoa-Samen und Co. wirklich so super sind und ob Zucker wirklich so schädlich ist, wie es derzeit propagiert wird, klären wir in diesem Magazin. Egal, ob wir in der Zukunft unsere Mahlzeiten per 3D-Drucker ausdrucken oder eine Kontaktlinse körperliche Mangelerscheinungen mit unserem Speiseplan abgleicht, dessen Zutaten dann innerhalb einer Stunde per Drohne geliefert werden – wir werden all diese Innovationen mit NGIN Food begleiten. Online und in unserem Printmagazin, dessen erste Ausgabe Sie gerade in Ihren Händen halten. Essen? Klar kann man das digitalisieren! Wenn Sie es immer noch nicht glauben, dann lesen Sie unsere erste gedruckte Ausgabe von NGIN Food. Wir wünschen viel Spaß und Erkenntnisgewinn bei der Lektüre!

IMPRESSUM: Verantwortlich für den Inhalt: Vertical Media GmbH, Wallstr. 27, 10179 Berlin | Geschäftsführer: Mark Hoffmann | Chefredakteur: Frank Schmiechen | Fotografien: Chris Marxen | Layout/Produktion: Sylvio Murer, Jana Hormann | Herstellung: Olaf Hopf | Druck: optimal media GmbH, 17207 Röbel | Redaktionsschluss: 10. Mai 2017 | Erscheinungstag: 7. Juni 2017 Wir danken allen Beteiligten des Vertical-Media-Teams.

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„Ich überprüfe jede Zutat mit meinem Smartphone. Denn Google weiß, was gesund ist.“ DER ZUTATEN-CHECKER

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NESTLÉ soll digitaler werden Tina Beuchler hat eine Mission: Sie will den Lebensmittelkonzern Nestlé ins digitale Zeitalter holen. Wir haben sie in der Hauptzentrale in Frankfurt getroffen – und sie hat uns verraten, wie diese Mission zu einem Erfolg wird.

MILLENNIALS Sechs Food-Typen im Überblick Junge Kunden verlangen mehr vom Essen. Wir haben zwischen Superfood und Tiefkühlpizza die wichtigsten Typen identifiziert.

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DIE JUNGEN GASTRO-HELDEN Was macht moderne Restaurants so erfolgreich?

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CHRIS MARXEN

Bei Ema Paulins Good Bank wächst Salat hinter der Theke – und Patrick Junge zielt mit seiner Burgerkette Peter Pane vor allem auf weibliche Kunden ab.

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CRAFT-BEER Pils alleine macht auch nicht glücklich

ANGST VOR AMAZON DigitalGehversuche

JANINA AND FOOD Auf Facebook zum Erfolg

JETZT KOMMT INGE Food-Delivery auf dem Land

Eine junge Fränkin wünschte sich mehr Vielfalt beim Bier. Und gründete in Berlin ihre eigene Brauerei.

Spätestens der absehbare Start von Amazon Fresh hat die Foodbranche wachgerüttelt. Wir fassen die wichtigsten Entwicklungen zusammen.

Wir haben Janina Uhse besucht, eine der wichtigsten Food-Bloggerinnen in Deutschland.

Von Foodora oder Lieferando hat Ingrid Jeske noch nie etwas gehört.

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TRUE FRUITS

Über Umwege kam Inga Koster in das Smoothie-Business.

MARKTHALLE 9

Der Nexus der Food-Szene in Berlin-Kreuzberg.

FRITZ-KOLA

Wie zwei Hamburger Coca-Cola Marktanteile abluchsen.

KITCHEN STORIES

Digitaler als die Berliner Rezepte-App geht Essen kaum.

ROCKET INTERNET

Die Firmenschmiede macht große Wetten im Food-Segment.

RITTER SPORT

Geschäftsführer Andreas Ronken im Interview.

SOCIAL MEDIA

Wenn Discounter versuchen, auf cool zu machen.

OFFLINE-TREND

Startups kommen an traditionellen Supermärkten nicht vorbei.

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MILLENNIALS essen ANDE RS

„Mein Kopf tut weh. Meine Heilpraktikerin hat gesagt, es könnte an der Laktose liegen.“ DER LAKTOSE-LOSER

Zwischen Superfood und Tiefkühlpizza – wir haben sechs Food-Typen identifiziert VON HANNAH SCHERKAMP | Sie sind ein Rätsel. Keiner versteht die jungen Leute von heute. Angeblich hinterfragen sie ständig alles mit „Warum?“. Deshalb haben sie den Buchstaben Y aufgedrückt bekommen. Doch ein paar Dinge stehen fest. Zumindest, wenn man den Studien glaubt: Die Generation Y ist behütet aufgewachsen, pragmatisch, gut ausgebildet, egozentrisch, digital und anspruchsvoll. Es heißt, dass sie außerdem anders konsumieren. Und das macht den Lebensmittelkonzernen und Supermarktketten Angst. Ihre Sorge: Wenn sie die jungen Kunden heute verlieren, werden sie sie morgen nur schwer zurückgewinnen.

GRAFIKEN: JANA HORMANN

Wir finden, dass die Angst der Hersteller berechtigt ist. Junge Leute achten genauer auf Inhaltsstoffe als ihre Eltern. Viele kaufen gerne Bio, auch wenn es teurer ist. Für ein noch besseres Verständnis der Generation Y haben wir sechs verschiedene Millennial-Food-Typen identifiziert.

ONLINE

ngin-food.com/millennials

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SUPERFOOD-SÜCHTIGE Ja, stimmt. Bewiesen ist nichts. Aber der Superfood-Süchtige ist trotzdem überzeugt: Äpfel, Orangen oder Brokkoli reichen schon lange nicht mehr, um gesund zu leben. Dafür sind Obst und Gemüse auch viel zu günstig. Er setzt lieber auf die heilende Wirkung von Goji-Beeren, Matcha-Pulver oder Chia-Samen. Bei Alnatura oder Bio Company 40 Euro für fünf Produkte zahlen? Geht in Ordnung! Andere kaufen von dem Geld Zigaretten oder Schnaps.

LAKTOSE-LOSER Der Laktose-Loser ist fest davon überzeugt, dass er etwas Besonderes ist. Er fragt sich ständig, wie seine Familie oder Freunde ohne ihn auskommen können. Oder der Arbeitgeber. Er hält sich für unersetzlich, ohne ihn läuft nichts. Schon bei leichten Kopfschmerzen und Magenkrämpfen rennt er deshalb zu seiner Heilpraktikerin, die immer gute Tipps auf Lager hat. Meistens sind dann Laktose oder Gluten schuld. Wie gut, dass die Hersteller viele vegane und glutenfreie Produkte im Angebot haben!

„Äpfel und Brokkoli? Das war gestern. Ich esse lieber GojiBeeren und Chia-Samen.“ DER SUPERFOOD-SÜCHTIGE

NGIN FOOD I 7

„Ich habe immer etwas vor. Zum Kochen bleibt mir wenig Zeit. Meine Gerichte müssen schnell gehen und fit machen.“ DER EFFIZIENZ-GETRIEBENE

NACHMACHER

EFFIZIENZ-GETRIEBENE Dieser Typ hat immer etwas vor: Beim Job macht er Überstunden, danach geht es zum Sport und dann trinkt er noch ein obligatorisches Bierchen mit Freunden. Kollegen, die am liebsten jeden Abend auf der Couch faulenzen und Netflix gucken, verachtet er. Bei ihm ist alles durchoptimiert. Zeit zum Einkaufen oder Essen bleibt da kaum. Der Effizienz-Getriebene setzt deshalb auf Gerichte, die schnell zubereitet und einigermaßen gesund sind: vorgeschnittener Salat, tiefgekühlter Lachs oder fertige Ravioli. Manchmal auch alles gemischt. Für die Vitaminzufuhr gibt’s einen schnellen Smoothie aus dem Kühlregal.

„Ich gehe am liebsten mit Mama im Supermarkt einkaufen. Sie weiß, was gut für mich ist.“ DER NACHMACHER

8 I MILLENNIALS

Der Nachmacher wurde von Mami und Papi stets wohl behütet. Auch beim Samstagseinkauf im Supermarkt war er jedes Mal dabei. An der Kasse durfte er immer eine kleine Süßigkeit in den Wagen legen. Manchmal ging’s auch auf den Wochenmarkt oder ins Reformhaus. Dann hat Mami ihm erklärt, was gesund ist und welche Marken unter fairen Bedingungen produzieren. Auch heute noch telefoniert der Nachmacher beinahe täglich mit seinen Eltern und fragt sie um Rat. Geht er einkaufen, besorgt er alles, was er noch aus seiner Kindheit kennt. Denn Mama weiß, was gut für ihn ist!

„Ich lade gerne zu mir nach Hause ein. Wollt ihr Dessert? Dann bringt das bitte selbst mit.“ DER GÜNSTIG-GOURMET

ZUCKER-ALARM Wir essen täglich zu viele Süßigkeiten. Steckt dahinter eine Verschwörung der Nahrungsmittel-Industrie?

GÜNSTIG-GOURMET Dieser Typ lädt gerne zu sich nach Hause ein. Er hat am liebsten Freunde und Familie um sich herum. Kochen ist auch sein Ding. Sparen will der Günstig-Gourmet dennoch. Deshalb gibt es für seine Gäste nur Drei-Euro-Wein vom Discounter und ein paar Käsestangen der Eigenmarke als Vorspeise. Der Kumpel will ein Dessert? Das soll er dann bitteschön selbst mitbringen!

„Ich überprüfe jede Zutat mit meinem Smartphone. Denn Google weiß, was gesund ist.“ DER ZUTATEN-CHECKER

10 I MILLENNIALS

Dieser Typ weiß alles. Nicht, weil er besonders clever ist. Sondern, weil er immer sein Smartphone dabei hat. Inklusive höchster Surfgeschwindigkeit natürlich. Im Supermarkt liest er dann bei Google nach: Was ist Wachsmaisstärke? Oder Kaliumsorbat? Und wieso ist eigentlich Farbstoff im Gouda? Er soll den Käse gelb oder orange färben, heißt es online. Größere Mengen davon könnten sich in der Haut, Leber oder im Körperfett ablagern. Igitt! Das Credo des Zutaten-Checkers: Er isst nur Dinge, die Google als gesund einstuft.

Im Frühjahr 2016 kam ein Video hinzu, das „Die Zucker-Verschwörung“ heißt. Darin wird behauptet, eine Lobby aus Agrarindustrie, Zuckerfabrikanten und Lebensmittelherstellern habe gemeinsam mit gekauften Wissenschaftlern jahrzehntelang verheimlicht, wie ungesund und gefährlich Zucker wirklich sei: Er verursache Diabetes, sei verantwortlich für die grassierende Fettleibigkeit und mache süchtig – „im gleichen Maße wie Kokain!“ Anders als die hanebüchenen Theorien über Illuminaten-Komplotte oder Alien-Gene könnte an der Geschichte von der Zucker-Verschwörung aber tatsächlich etwas dran sein. Das zumindest legen die Recherchen von Forschern und Journalisten nahe, die in den vergangenen Monaten publik geworden sind. Um die Verschwörung zu verstehen, muss man ein paar Jahrzehnte zurückgehen, mindestens bis 1980. In dem Jahr verabschiedete die US-Regierung zum ersten Mal in ihrer Geschichte Richtlinien für gesunde Ernährung. Es war höchste Zeit. In den drei Jahrzehnten seit Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die Zahl der Herz-Kreislauf-Erkrankungen und der dadurch verursachten Todesfälle massiv zugenommen. Schuld daran, so gaben sich quasi alle einflussreichen Wissenschaftler überzeugt, waren gesättigte Fettsäuren und Cholesterin. Weniger Fleisch, Butter, Eier: Das war dann auch die klare Empfehlung der Ernährungsrichtlinie. Und die Menschen hielten sich daran – sie tranken fettarme Milch und schmierten Margarine aufs Brot. Nur: Die Zahl der Adipösen und Diabetes-Kranken sank nicht, sie stieg sogar weiter. Den Verdacht, dass dafür Zucker – und nicht Fett – verantwortlich sein könnte, hatte ein Wissenschaftler bereits viel früher: Der britische Mediziner John Yudkin vertrat die These schon in den fünfziger und sechziger Jahren. In seinen Studien konnte er einen Zusammenhang zwischen übermäßigem Zuckerkonsum und dem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen nachweisen. Yudkin verwies darauf, dass der Mensch schon immer ein Fleischfresser war, Zucker aber erst seit etwa 300 Jahren zu unserer Ernährung gehört. 1972 wollte er mit dem Buch „Rein weiß und tödlich“ Alarm schlagen.

Doch Yudkin fand kaum Gehör. Je mehr er den Zucker ins Visier nahm, desto seltener wurde er auf Konferenzen eingeladen, er durfte nicht mehr in Fachzeitschriften veröffentlichen, seine Kollegen schnitten ihn. Warum? Yudkins Außenseiterdasein war zum einen der Dynamik des Wissenschaftsbetriebs geschuldet. Die Fett-Theorie war herrschende Meinung, wer dagegen anschrieb, wurde nicht gehört. Zum anderen aber standen einige der Forscher, die den Briten öffentlich stigmatisierten, der Zucker-Industrie nahe. Drei Ernährungswissenschaftler der Harvard-Universität erhielten etwa den heutigen Gegenwert von 50.000 Dollar vom wichtigsten Branchenverband der US-Zuckerhersteller, damit sie in ihrer Arbeit einen Zusammenhang zwischen Fett und Herz-Kreislauf-Erkrankungen herstellten. Noch bis 2014 finanzierte Coca-Cola Fachkonferenzen, auf denen die These vertreten wurde, nicht Zucker sei an der Adipositas-Epidemie schuld – sondern die mangelnde Bewegung der Dicken. Die verschwörerische Macht der Zucker-Lobby hatte da längst ihren Zenit überschritten, die Bestechungsversuche des Limonaden-Konzerns waren eher Rückzugsgefechte. Denn die Deutungsmacht in der Was-macht-uns-dick-und-krank-Debatte hatte sich wieder verschoben. Heute gilt ein Zusammenhang zwischen Zuckerkonsum und etwa dem Risiko, an Diabetes zu erkranken, als etabliert. Gesättigte Fettsäuren und Cholesterin sind nicht entlastet, aber auch nicht mehr alleine schuld. Die Weltgesundheitsorganisation nahm 2002 in ihre Leitlinien die Empfehlung auf, dass Zucker nur zehn Prozent der täglichen Kalorienaufnahme ausmachen sollte. Der Durchschnittsdeutsche aber verbraucht etwa das Dreifache. Viel zu viel, sagen Experten. Inzwischen finden sie mit ihren Warnungen wieder Gehör. Der Mediziner Robert Lustig ist einer der prominentesten Mahner, sein Vortrag „Zucker – die bittere Wahrheit“ wurde auf Youtube mehr als sieben Millionen Mal angesehen. Lustig und seine Kollegen fordern auch von der Politik, die Zucker-Gefahr einzudämmen – etwa durch eine Zucker-Steuer oder eine bessere Kennzeichnung von Inhaltsstoffen. 2010 scheiterte im EU-Parlament ein Plan, dafür eine radikal einfache Inhalte-Ampel einzuführen. Vorausgegangen war eine monatelange Lobbyschlacht zwischen Verbraucherschützern und Food-Industrie. Am Ende setzte sich „Big Sugar“ durch.

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CHRIS MARXEN

ZUTATEN-CHECKER

VON NIKLAS WIRMINGHAUS | War der 11. September ein Versicherungsbetrug? Stammen wir von Aliens ab? Beherrschen die Illuminaten die Musikindustrie? Der Youtube-Kanal von „StrengGeheim“ (mehr als eine halbe Million Abonnenten) versammelt in seinen Videos einige der wildesten Verschwörungstheorien.

DICKER SAFT

Die Frau hinter True Fruits

CHRIS MARXEN

Inga Koster hat ein Unternehmen aufgebaut, das Smoothies verkauft – obwohl sie sie selbst gar nicht mag

Über Umwege zum Smoothie INGA KOSTER In einem Laden im schottischen Aberdeen hat Inga Koster, 38, vor vielen Jahren erstmals Smoothies entdeckt. 2006 gründete sie True Fruits und verkauft die Säfte seitdem selbst. Heute macht das Bonner Unternehmen mit 23 Mitarbeitern eigenen Angaben zufolge einen Umsatz von 40 Millionen Euro.

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VON KIM RICHTERS | Was andere denken, schert Inga Koster wenig. Sie ist Mitgründerin des Bonner Smoothie-Herstellers True Fruits, der unter anderem mit Wörtern wie „Samenstau“, „Oralverzehr“ oder „Eier aus Stahl“ für sein Produkt wirbt. Koster hat an diesen provokanten Kampagnen mitgearbeitet, die ihrem Unternehmen viel Aufmerksamkeit einbrachten. Das unkonventionelle Auftreten von True Fruits gehört zum Geschäftsmodell. Doch selber im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, das gefällt ihr nicht so sehr. Denn Koster kümmert sich lieber im Hintergrund um True Fruits, das sie gemeinsam mit Marketing-Chef Nicolas Lecloux und CEO Marco Knauf aufgebaut hat. Mit Erfolg: Seit der Gründung 2006 haben die drei mit dickflüssigen Säften in Glasflaschen ein profitables Unternehmen geschaffen, das 2016 nach eigenen Angaben einen Umsatz in Höhe von 40 Millionen Euro machte. Ein Smoothie kostet bis zu 2,50 Euro. Dass das mal so kommen würde, hätte Koster, 38, nicht gedacht. Denn früher, erzählt sie, sei sie eine „Hängerin“ gewesen. Sie habe viel gefeiert, habe auch mal die Schule geschwänzt. „Die Lehrer haben mich gehasst“, erinnert sich die Unter-

nehmerin lachend, als sie im bunten Meetingraum in Bonn-Beuel sitzt. Der Tisch hat die Form einer dieser True-FruitsFlaschen, die „eine Mischung aus Nuk-Kinderflasche und Kölsch-Glas“ sein sollen. Obwohl sie in der Schule nur das Nötigste gemacht habe, habe es meistens für eine gute Note gereicht, sagt Koster, die sich nach dem Schulabschluss zur Bankkauffrau ausbilden ließ. In der Bank ist Koster gut in ihrem Job, sie kann hier ihren Hang zum analytischen Denken das erste Mal ausleben. Aber Leidenschaft? Fehlanzeige. Sie betreut hauptsächlich Finanzchefs von Industrieunternehmen. „Die waren so stolz auf den Trecker oder das Auto, das sie herstellten“, erinnert sie sich. „Sie wussten, wofür sie arbeiteten – nämlich für das Produkt. Das gab es bei uns bei der Bank nicht, da musstest du dich für etwas wie den Zinssatz begeistern können.“ Sie beschließt, den Job zu schmeißen und wieder zu studieren. „Das kann es nicht sein“, dachte sie. Während des BWL-Studiums lernt sie Nicolas Lecloux kennen, später Marco Knauf. Mit Knauf ist die Gründerin seit mehr als zehn Jahren auch privat liiert. 2005 beschließt das Paar für ein Semester ins schottische Aberdeen zu gehen. Im dortigen Uni-Shop stoßen sie das erste Mal auf pürierte Säfte aus Obst

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und Gemüse. Sechs Monate später steht Koster wieder in Bonn. Knauf und sie wollen sich selbstständig machen. Doch womit? Sie überlegen, billige Fernbusreisen anzubieten – oder eine Website für Amateurpornos aufzubauen. Weder das eine, noch das andere ist zu dem Zeitpunkt in Deutschland bekannt, erinnert sich Koster. Youporn? Flixbus? Gibt es noch nicht. Doch am Ende verfolgen sie diese Ideen nicht, sie wenden sich den Smoothies zu – und Koster findet endlich ihre Passion. 2006 gründen die drei True Fruits in Bonn. „Wenn ich für irgendetwas Leidenschaft habe, stehe ich voll und ganz dahinter“, sagt Koster, Leidenschaft hat die Gründerin für Smoothies, auch wenn sie sie privat nicht trinkt. An das Produkt glaubt sie trotzdem. „Ich bin jemand, der sich ungern sagen lässt, was er machen soll.“ Ihr Blick wandert zu den drei großen farbenfrohen Porträtbildern von ihr und ihren Mitgründern, die an der Wand des Meetingraums hängen. Auf jedem sind die Stärken der Gründer aufgeschrieben. Bei Koster steht: Intuition, Kontrolle, Strategie und Power. Die ersten Jahre im jungen Unternehmen sind anstrengend. Es ist eine Herausforderung, Rezepte zu entwickeln, Produzenten zu finden und Ratschläge einzuholen. Von Branchenprofis habe es Tipps wie „Zieht nach Hamburg“ oder „Glasflaschen gehen gar nicht“ gegeben. Koster und ihre Mitgründer hören darauf nicht. Doch sie gibt zu: „Man muss sich wirklich sicher sein, was man will, und man darf sich nicht verunsichern lassen. Das ist schwierig, wenn du Anfang 20 bist und vom Leben – und der Branche – noch nicht so viel Ahnung hast.“

Mit Smoothies wie diesem machte True Fruits im vergangenen Jahr 40 Millionen Euro Umsatz.

14 I TRUE FRUITS

In den ersten Jahren „nötigt“ die Bonnerin ihre beiden Mitgründer, an Businesswettbewerben teilzunehmen. Zum einen, um einen ordentlichen Geschäftsplan aufstellen zu müssen. Zum anderen für die Reputation, die ein Preis bei so einem Wettbewerb mit sich bringt. Sie glaubt, eine Teilnahme oder gar Auszeichnung würde dabei helfen, Geld von Investoren zu bekommen. „Ob du bei den Einkäufern bei Rewe oder den Lieferanten sitzt, das sind alles Menschen. Wenn sie

mitbekommen, dass das Produkt schon mal von jemandem als gut empfunden wurde, sind sie überzeugt.“ Es wirkt: Finanzielle Unterstützung gibt es von zwei Business Angels, die noch immer an True Fruits beteiligt sind. Kosters analytische Art, die ihr hilft, im Bankjob gut zu sein, kommt ihr auch beim Startup zugute. Sie sorgt für Ordnung, löst Probleme. Sie sei die „Erdung“ im Team, lässt sich ein Investor einmal zitieren. „Manchmal denkt man bei anderen Unternehmen, dass die alles super hinkriegen“, sagt Koster so auch ganz pragmatisch über das Gründerdasein. „Aber dann guckt man da mal genauer hin und sieht, dass sie noch chaotischer sind als man selber. Ein Unternehmen zu führen, ist nicht einfach, aber man muss auch kein Übermensch dafür sein.“ Die erste Zeit kümmert sich Koster auch um das Marketing. Doch das gefällt ihr nicht. „Man arbeitet da acht Stunden an etwas – und dann hat man einen Flyer“, moniert sie. „Da bin ich eher jemand, der das Unternehmen steuert und guckt, dass alles läuft. Das befriedigt mich mehr.“

in der Regel morgens, der CEO abends. Denn dann sitzt Koster gerne noch auf der Couch und beantwortet E-Mails, sagt sie. Zwischen 18 und 21 Uhr setzt sie ihre Arbeit fort, da manche Nachmittage den Kindern gehören. Dass es für sie manchmal schwer ist, die Arbeit liegen zu lassen, wenn etwa ein Schwimmkurs ansteht, merkt man. „Ich muss mir jedes Mal sagen: Das hier ist zwar wichtig, aber der Schwimmkurs ist genauso wichtig“, gibt sie zu. „Würde ich anfangen, das Training ausfallen zu lassen, würde mein Sohn da nie hinkommen. Es ist immer irgendetwas wichtig in so einer Firma.“ Dass Koster nicht nur im Privatleben durchgreift, wird auch deutlich, als sie über Frauen und Sexismus redet. Sie verstehe nicht, warum das in Gesprächen mit ihr immer wieder zum Thema wird. „Was mich nervt, ist, dass ich immer wie-

der auf Frauenthemen wie die Frauenquote angesprochen werde“, sagt sie. „Ja, ich bin eine Frau – aber keine Expertin.“ Von den drei Gründern verhandle sie am härtesten, betont sie. „Das bekommen die Geschäftspartner irgendwann mit.“ In den Vordergrund drängt sie sich nicht. Während ihre zwei Mitgründer öfter Aufmerksamkeit bekommen, nimmt sie freiwillig eine Hintergrundposition ein. „Natürlich kennt Nic viel mehr Leute, er hält Vorträge oder ist im TV. Das ist aber auch ein Job, den ich gar nicht ausfüllen möchte.“ Sie halte zwar auch mal Vorträge, wenn jemand sie dazu zwinge, sagt sie lachend. Für sie sei das jedoch eigentlich verschwendete Zeit, in der sie besser andere Dinge hätte erledigen können. Lieber kümmert sie sich um True Fruits: „Ich bin einfach nicht die extrovertierte Rampensau.“

„Ich bin jemand, der sich ungern sagen lässt, was er machen soll.“

ONLINE

ngin-food.com/superfood

Ihr Mitgründer Lecloux übernimmt die Unit, Koster konzentriert sich auf das Administrative. Auch bei Suckit, ihrem zweiten Unternehmen, das sie gemeinsam mit Knauf und einem Kölner Gründer führt. Das Produkt: Wassereis mit Alkohol. Koster und Knauf sind noch immer ein Paar, nun auch Eltern zweier Söhne, die zwei und fünf Jahre alt sind. Bei der Unternehmerin vermischen sich das Privatund Berufsleben – und so fliegen auch mal im Büro „die Fetzen“. Man könne nun einmal nicht immer derselben Meinung sein, sagt sie sachlich. „Wir kennen uns seit 15 Jahren. Da weiß man, welche Macken der andere hat“, fügt sie hinzu. Auch als Mutter packt Koster an und löst Probleme: undramatisch, effizient, durchdacht. So auch, als ihr jüngster Sohn krank wird und nicht in die Kita kann. Kurzerhand nimmt sie ihn mit auf die Arbeit, in ihrem Büro steht ein Bett für ihn. Wie bei True Fruits haben Knauf und sie auch im Alltag Aufgaben aufgeteilt. So übernimmt die 38-Jährige die Kinder

GESCHAFFEN FÜR JEDEN BAUCH

RIT TER SPORT. IN 28 PRALL GEFÜLLTEN SORTEN.

LANDLIEBE

CHRIS MARXEN

Alles, was man über Schokolade wissen muss:

Jeden Dienstagabend treffen sich in Schöneberg in einem Hauseingang Anbieter aus der Region mit ihren Kunden. Ausgesucht und bezahlt wurde vorher im Netz.

für anspruchsvolle Städter Die Marktschwärmer bringen frische Lebensmittel aus regionaler Produktion ins Internet. Abgeholt wird die Ware in den Fluren Berlins VON FRANK SCHMIECHEN | Es ist so schön in der Stadt. Da ist immer etwas los. Man läuft ein paar Schritte bis zum nächsten angesagten Café oder abends um die Ecke in Clubs und Konzerte. Aber das reicht natürlich nicht. Es geht ja immer noch besser. Man will die Vorteile des Landes gefälligst auch in der City genießen. Zum Beispiel Frühstückseier, die frisch vom Bauernhof kommen und Kartoffeln, an denen noch Muttererde klebt. Wenn man sich bei einer sogenannten Marktschwärmerei anmeldet, ist das kein Problem. Frisches Obst, Gemüse und sogar Fleisch und andere Lebensmittel vom Land werden taufrisch an die Kunden in nahe gelegene Städte geliefert. Die Anbieter kommen einmal in der Woche für zwei Stunden in die Stadt, bauen bei einem Gastgeber in der Nachbarschaft ihre Stände auf. Man holt sich dort die frische Ware ab und lernt so seine Lebensmittelproduzenten auch noch persönlich kennen.

www.ritter-sport.de

Auf dem Nachhauseweg von der Arbeit machen die Kunden im Kiez rund um die Goltz- und Akazienstraße einen kleinen Umweg und versorgen sich in ihrer Schwärmerei mit zuvor bestellten Waren. Hier gibt es keine Schlangen, weil die meisten Produkte fertig portioniert auf den Kunden warten und nicht langwierig nach Bargeld gekramt werden muss. Man kommt ins Gespräch, lernt Menschen kennen, die es auch mögen, wenn sie wissen, woher ihr Essen stammt. In Frankreich fing alles an, hier existieren bereits mehr als 700 Schwärmereien. Nicht nur in Großstädten. Auch im ländlichen Raum. Jede Schwärmerei wird von einem Gastgeber organisiert. 2014 startete das Projekt europaweit: In Deutschland, Belgien, Großbritannien, Spanien und Italien arbeiten lokale Teams an Aufbau und Betreuung ihrer Netzwerke. 2016 sind Dänemark, die Niederlande und die Schweiz dazugekommen.

Auf der Website der Marktschwärmer kann man sich informieren, aus welchen Betrieben die Kartoffeln, Zwiebeln und das Fleisch stammen. In Berlin kommen die meisten Produkte von Höfen, die nicht mehr als 90 Minuten mit dem Auto von der City entfernt sind.

Die erste Schwärmerei in Deutschland wurde im Juli 2014 in Berlin eröffnet. Anfang 2017 gab es bereits 30 aktive Schwärmereien in acht Bundesländern, die von mehr als 300 Erzeugern beliefert werden. 60 weitere Schwärmereien sind im Aufbau. Das Netzwerk entwickelt sich jeden Tag weiter, sagen die Macher.

Auch in Berlin-Schöneberg gibt es eine solche Schwärmerei. Einmal in der Woche erhalten die angemeldeten Mitglieder eine Mail, mit der sie an den Einkauf erinnert werden. Sie können dann auf der Website aus mehr als 200 Produkten von 17 Erzeugern aussuchen. Die angebotenen Produkte unterscheiden sich von Woche zu Woche und natürlich zu den Jahreszeiten. In dieser Woche sind auf den Braunsberger Höfen Sattelschweine geschlachtet worden. Deshalb sind Speck, Braten und sogar das Herz von dieser eher seltenen Rasse erhältlich.

Die Idee der Gründer war es, „bewussteres Konsumverhalten“ zu unterstützen. So könne sich jeder Einzelne am Erhalt der biologischen Vielfalt, regionaler und gesunder Esskultur beteiligen, heißt es auf der Website. Am Dienstagabend stehen die Anbieter wieder mit ihren Waren in einem Hauseingang in der Barbarossastraße in Schöneberg. Leute aus der Nachbarschaft holen sich die bestellten Waren ab, bleiben noch eine Weile, kommen ins Gespräch und holen sich ihr ganz persönliches Stück vom Land. Mitten in der Stadt.

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FOOD-FREAKS

Leidenschaft, Lust und gute Laune: Die Marktverkäufer von heute lieben ihre Produkte

Simone vom Schaufenster Uckermark FRISCH AUS DER REGION Ursprünglich hat Simone 25 Jahre in Süddeutschland im Gesundheitswesen gearbeitet, unter anderem in der klinischen Forschung. Doch seit fünf Jahren verkauft sie lieber mit ihrem Team Produkte von kleinen Herstellern aus der Uckermark und anderen Teilen Brandenburgs – von Apfelwein bis Ziegencamembert. Die Stimmung unter den Händlern der Markthalle sei kameradschaftlich, findet sie: „Zum Arbeiten brauche ich eine gute Atmosphäre, und die gibt es hier.“

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Gé von Endorphina AUS DER BACKSTUBE Gé kommt aus Holland, doch er lebt lieber in Spanien oder in Berlin, wo er in der Markthalle Brote verkauft. Zwei Dinge fallen an ihm sofort auf: Zum einen lacht er viel, wenn er von den „wunderschönen Broten“ erzählt, die in der Vitrine liegen. Brote aus Vollkorn und Natursauerteig, so lecker, dass sie Gé viel besser schmecken als das spanische Weißbrot. Zum anderen fällt sein Bart auf. Ruckzuck sei der jeden Tag nach oben gezwirbelt, sagt Gé.

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Torsten von Kumpel und Keule ZARTES UND SAFTIGES Torsten verkauft an seinem Stand das nach seinen Worten beste Fleisch Berlins – von Tieren, die besonders lange auf der Weide standen. Fragt man ihn, was an der Markthalle so besonders ist, antwortet er: det Feeling und det Ambiente. Schön rustikal sei es hier. Zuvor habe er mehr als 20 Jahre im Luxus-Kaufhaus KaDeWe gearbeitet, dort viel Krawatte getragen. Jetzt könne er mehr er selbst sein.

20 I MARKTHALLE 9

Franzi von den Tofu Tussis NICHT NUR WAS FÜR VEGETARIER Curry-Mango, Algen-Räucher und Erdnuss heißen drei der Tofu-Sorten, die Franzi an ihrem Stand anbietet. Den Tofu stellt sie mit ihrer Kollegin Elena in einer kleinen Küche im Keller der Markthalle frisch aus Bio-Sojabohnen her. Die Bohnen stammen aus Süddeutschland, und als Gerinnungsmittel dient natürliches Nigari – ein aus Meersalz gewonnenes Bittersalz. Das Ganze sei ähnlich dem Käsemachen, erzählt Franzi. Besonders gut schmecke ihr derzeit der Algen-Räucher-Tofu.

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Was unterscheidet eine Markthalle von heute von einer im 19. Jahrhundert? BERND MAIER: So unterschiedlich ist das Konzept nicht. Diese Markthalle wurde 1895 gegründet. Damals gab es hier bis zu 400 Stände, darunter alleine 20 Metzger. An diese Zahlen werden wir niemals wieder herankommen. Wir haben heute rund 50 Stände und achten darauf, dass sich die Produkte nicht zu sehr doppeln.

Bernd Maier, Geschäftsführer der Markthalle 9

Wie seid ihr an die Halle gekommen? Das Land Berlin hat sie 2011 verkauft, dabei ging es aber nicht um den höchsten Preis, sondern um das beste Konzept. Ich habe mich mit meinen Partnern Florian Niedermeier und Nikolaus Driessen darum beworben. Eigentlich sollte in die Halle ein weiterer Supermarkt reinkommen, aber das wollte auch eine Anwohnerinitiative nicht. Mit ihrer Hilfe haben wir den Zuschlag bekommen und 1,15 Millionen Euro mit einem Darlehen gezahlt, das wir nun abstottern. Wie viel kostet ein Stand bei euch? Startups können hier unterschwellig starten. Sie können hier Freitag und Samstag ihre Sachen verkaufen, das kostet sie bei der kleinsten Standgröße 50 Euro am Tag. Unsere Preise kann man dabei durchaus mit denen von manchen Straßenmärkten vergleichen. Und bei uns haben Händler zusätzlich ein Dach über dem Kopf, Strom und Wasser. Wie wählt ihr die Händler aus? Vor allem setzen wir auf hochwertige, regionale Ware und Handarbeit. In Berlin gab es lange Zeit keine richtige Lebensmittelkultur – schon gar nicht auf Sterneküchenebene. Das hat sich jetzt gewandelt durch die vielen Gerichte aus anderen Teilen Deutschlands, Europas und sogar der Welt. Die wollen wir bei uns auch abbilden. Was wir nicht werden wollen,

ist eine Fressmeile, so wie der Naschmarkt in Wien. Der war vorher ein echter Markt, jetzt stehen da aber nur noch Essensbuden und Touristen. Was hast du gegen Touristen? Nichts, ich freue mich über sie. Sie sind meistens gut gelaunt – verständlicherweise, wenn man gerade im Urlaub ist. Für uns sind sie wichtig. Wir müssen ein Zielmarkt sein, zu dem Leute bewusst fahren. Denn von drei Straßen im Umkreis können wir nicht leben. Andererseits wollen wir auch ein Markt für Kreuzberg sein. In der Halle ist ein Aldi – wie passt der zu eurem Konzept? Für den Aldi können wir nichts, er ist hier schon seit den 70er Jahren. Anfangs hat er mich gestört, aber so kommt auch Laufkundschaft vorbei. Und es gibt viele Leute, die uns Gentrifizierung vorwerfen würden, wenn der Aldi gehen müsste. Sogar linke Politiker sind darunter. Sie glauben, dass ein Discounter sehr gut ist, um ärmere Menschen zu versorgen, was ich eine schwierige Position finde. Warum? Er gehört einem der reichsten Deutschen, und in dieser Filiale arbeiten nur drei Menschen. Hier auf dem Markt habe ich 30 bis 40 Startups und rund 300 Arbeitsplätze. Klar sind die Produkte der Händler teurer als die Massenware vom Discounter. Aber wenn du mit den Verkäufern sprichst, werden sie dir mit viel Leidenschaft erzählen können, woher die Produkte kommen und wie sie entstanden sind. Sie verdienen ihr Geld mit ehrlicher, harter Arbeit. Und wie gut verstehst du dich mit ihnen? Als Betreiber kriegt man immer auch etwas Druck ab, wenn ein Laden mal nicht so gut läuft. Bei den Händlern geht es da schnell um die Existenz. Ich habe hier viel Verantwortung – und viel Familie. Text: Anne Schade, Fotos: Chris Marxen

MARKTHALLE Die Berliner Markthalle 9 ist das Lebensmittel-Mekka in Berlin. Doch wie funktioniert das Geschäft mit den Leckereien aus aller Welt? NGIN Food hat mit dem Betreiber gesprochen

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Scharf auf Gewürze

Die letzte Revolution im Gewürzregal ist schon Jahrzehnte her. Doch jetzt kommen Startups, die verstanden haben, wie man jungen Kunden Curry & Co. schmackhaft macht

VON FRANK SCHMIECHEN | Man kann es sich ja gar nicht mehr vorstellen. Aber Gewürze wurden noch in den späten sechziger Jahren per Hand vom Kolonialwarenhändler abgewogen, in Papptütchen gefüllt und verkauft. Bis der Unternehmer Dieter Fuchs eine echte Innovation auf den Markt brachte. Eine bunt gestaltete, handliche Aufbewahrungungsbox aus Plastik für die heimische Küche mit einem praktischen Dosierungsmechanismus. Das sind die kleinen Löcher in der Dose. Um diese Döschen an den Kunden zu bringen, erfand Fuchs noch ein Gewürzregal für den Lebensmittelhandel, in dem das gesamte Sortiment präsentiert werden konnte. Dort steht es seitdem in ähnlicher Form noch immer. Und dort finden wir immer noch Gewürze aus dem Hause Fuchs. Zum Beispiel von der Untermarke Ostmann. Viel passiert ist in all den Jahren auf dem Gewürzmarkt also nicht. Obwohl die Deutschen immer mehr Gewürze verbrauchen. Zuletzt waren das laut Statista um die 66.000 Tonnen im Jahr. Doch jetzt kommt wieder frischer Wind in den Markt. Dafür sorgen einige Startups, die sich intensiv mit Gewürzen beschäftigen. Die jungen Unternehmer haben verstanden, dass es beim Kochen nicht mehr um „unkompliziert“ und „schnell“ gehen muss. Mit diesen Attributen wirbt die Firma Ostmann immer noch auf ihrer Website. Die neue Generation beschäftigt sich ausführlicher mit dem Thema Essen. Das darf auch gerne etwas mehr Zeit in Anspruch nehmen und kompliziert sein. Denn Kunden von heute wollen verstehen, woher die Produkte kommen und wie sie hergestellt wurden. Man ist bereit, mehr Geld und Zeit zu investieren, wenn es sich um handverlesene Qualität handelt. Startups wie Ankerkraut oder Just Spices dokumentieren auf ihren Websites die Arbeit in den Anbaugebieten der Gewürze. Bei Ankerkraut heißt es zum Beispiel: „Deshalb sind wir um die Welt gereist, haben Menschen gesucht, die für uns kochen, und die Gewürze dieser unglaublich leckeren Gerichte waren der Startschuss für unsere bunten Dosen.“ Alles sei „mit Liebe“ gemacht und ausgesucht. „Biologisch, nachhaltig und handgemacht“. Eben viel „besser als Supermarktware“.

Was ist eigentlich Curry? WISSEN Curry ist nicht das Produkt einer einzigen Pflanze, sondern eine Mischung aus bis zu 40 verschiedenen Gewürzen. Es geht zurück auf die Kolonialzeit der Engländer in Indien. Sie ließen sich Currypulver zusammenstellen. Wichtigster Bestandteil ist Kurkuma, das als sehr gesund gilt. Dazu kommen Kardamom, Pfeffer, Koriander, Ingwer, Fenchel, Bockshornklee, Kreuzkümmel, Muskatblüte und Paprika.

Konservierungsstoffe und Geschmacksverstärker sucht man vergeblich in den Gewürzen. Auf der Website von Ostmann erfährt man dagegen gar nichts über die Zusammensetzung oder Herkunft der Produkte. Bleibt nur noch die Frage, ob man tatsächlich Unterschiede schmeckt. Oder handelt es sich einfach um eine modernere Vermarktung, stilvollere Verpackung und schlauere Präsentation?

24 I GEWÜRZE

CHRIS MARXEN

Was ist das? Ein Asteroid? Oder ein Stück Kohle? Nein! Unser Fotograf Chris Marxen hat sich ein besonders schönes Pfefferkorn ausgesucht – und ist ganz dicht herangegangen.

Ein völlig subjektiver Test, ohne jeden Anspruch auf Objektivität, zeigt: Auch beim Thema Gewürze isst das Auge mit. Die hübschen Tiegel von Ankerkraut machen einfach mehr Spaß als die Plastikdöschen von Ostmann. Der Inhalt scheint auch intensiver und leckerer zu riechen. Oder ist das nur Einbildung? Für 109 Gramm Fleur du Sel ruft Just Spices 5,55 Euro auf. Dann muss es ja wohl gut schmecken. Oder sogar sehr gut? Es dauert bestimmt nicht mehr lange, bis es die ersten Läden in Berlin gibt, die Gewürze wieder in Tütchen abwiegen und verkaufen. Wie vor 50 Jahren.

NGIN FOOD I 25

VON HANNAH SCHERKAMP | „Ich habe eine Fähigkeit. Ich kann einschätzen, was mal erfolgreich sein wird“, sagt Patrick Junge unbescheiden. Der 39-Jährige ist Chef der Burgerkette Peter Pane, die mittlerweile 17 Filialen im Land hat, alle in feinster Lage. Zur Mittagszeit sind die Läden hell erleuchtet. Abends wird das Licht gedimmt, die Musik aufgedreht.

Bei ihr wächst der Salat hinter der Theke: Gründerin Ema Paulin.

26 I GASTRONOMIE

Das Geheimnis der neuen

Für die Gewohnheitsesser unter den Gästen setzt der Unternehmer auf Burger, die immer gleich schmecken. „Man braucht einen Bestseller, der sich durch Top-Qualität auszeichnet“, so Junge, der nach eigenen Angaben bereits mehr als 20 Millionen Euro in seine Restaurantkette gesteckt hat. Aber warum müssen es wieder Burger sein? Gibt es nicht genügend Restaurants, die das Gericht anbieten? „Unsere Welt ist komplex geworden, alle drehen durch“, glaubt Junge. „Ein Burger hingegen ist einfach, ein Brötchen mit etwas drin. Das kennt jeder.“ Ein Besuch in einem seiner Restaurants solle Ordnung in den Alltag der Gäste bringen, findet der Gründer.

GASTROHELDEN

Ein Szene-Lokal ist Peter Pane allerdings nicht. Das ist auch Patrick Junge bewusst. Mit den „coolen Burger-Butzen in Berlin“ wolle er sich lieber nicht vergleichen, sagt er. Denn tatsächlich scheinen Restaurantbesucher in der Hauptstadt anders zu ticken. Ketten wie Vapiano, Block House, L’Osteria oder Peter Pane funktionieren hier nur an touristischen Orten, am Alexanderplatz oder an der Friedrichstraße beispielsweise. Viele Besucher suchen offenbar auch in einer fremden Stadt das ihnen Bekannte. In den etwas versteckten Ecken von Kreuzberg, Neukölln oder Mitte, die nicht unter den Top 10 jedes Reiseführers stehen, laufen hingegen vor allem individuelle Cafés, kleine Vietnamesen oder auch ungewöhnliche Pop-up-Restaurants gut. Daluma am Weinbergspark im Stadtteil Mitte ist so ein Ort. Hier gibt’s 400ml-Smoothies für 6,80 Euro und trotz der stattlichen Preise ist der Laden zu jeder Tageszeit gut besucht. Meterlange Schlangen sieht man täglich auch vor einer kleinen Fastfood-Bude namens Burgermeister, einem umgestalteten Pissoir unter einer U-Bahn-Brücke. Und wer einen Tisch im angesagten Sternerestaurant Nobelhart & Schmutzig haben will, muss Monate warten. AfD-Mitglieder sind hier übrigens offiziell verboten.

Wir wollten wissen, wie moderne Gastronomen denken und was ihre Restaurants erfolgreich macht. Zwei von ihnen haben wir getroffen

Individuell und ungewöhnlich, das scheint in Berlin zu funktionieren. Auch die im Frühjahr 2017 eröffnete Salat-Bar Good Bank will die Kunden so überzeugen: Hier wächst der Salat, der auf den Tellern landet, in rosa erleuchteten Glaskästen hinter der Theke. Vertical Farming nennt sich die Technologie, die von dem Berliner Unternehmen Infarm stammt. Das Restaurantkonzept hat Gründerin Ema Paulin gemeinsam mit Leandro Vergani entwickelt. Die 29-Jährige kommt aus Wien, nach ihrem BWL-Studium arbeitete sie mehrere Jahre als Project Manager bei Hubject, einer Plattform für E-Autos. „Das Thema war spannend, aber mir zu technisch, ich wollte Innovation zum Anfas-

CHRIS MARXEN

Mit seinen Burgerläden setzt Junge, ein Erbe der gleichnamigen Lübecker Bäckerei-Dynastie, auf Gäste, die aus Gewohnheit immer das Gleiche essen wollen. Und auf Frauen. „Die Zukunft ist weiblich“, so seine These. „Denn wenn die Frauen hier essen, dann tun die Männer es sowieso.“ Rund 70 Prozent der Gäste seiner Kette seien weiblich. Auf der Speisekarte stünden deswegen auch viele vegetarische und vegane Gerichte, ein Burger mit Süßkartoffel-Tahini-Bratling und veganem Cheddar beispielsweise. Denn Frauen würden diese gesunden Alternativen bevorzugen.

Patrick Junge mag Peter Pan. Nach ihm hat er seine Restaurantkette benannt.

„Unsere Welt ist komplex geworden. Ein Burger hingegen ist einfach.“ PATRICK JUNGE

sen machen“, sagt Paulin. Das Geld für den Aufbau ihres „Fast Casual Restaurants“, wie sie es nennt, bekam sie unter anderem vom bekannten Food-Investor Christophe Maire. Good Bank liegt in der Rosa-Luxemburg-Straße in Mitte, umringt von Startup-Büros. „Unsere wichtigste Zielgruppe sind die Young Professionals“, sagt Paulin. „Viele Besucher sind tech-affin und kennen uns von Instagram.“ An der Wand sind die Gerichte aufgelistet. Steht das Kürzel „VF“ daneben, heißt das, dass das Gericht Salat aus der Vertical Farm enthält. Unter dem Motto „Take it and run“ können Kunden die Gerichte in einer App vorbestellen und abholen, so will Paulin den Umsatz steigern, auch wenn alle Plätze belegt sind. Ende des Jahres soll ein zweites Good-Bank-Restaurant in Berlin-Charlottenburg eröffnen. „Wir wollen ständig etwas Neues erleben – auch wenn wir ins Restaurant gehen“, sagt Paulin, wenn sie über sich und die Generation Y, also die zwischen 1980 und 1999 Geborenen, spricht. In einem Punkt allerdings gibt sie Patrick Junge von Peter Pane Recht: „Es braucht ein innovatives Konzept. Aber der Kunde ist klassischer als man annimmt und will doch immer die typischen Gerichte, die er schon kennt.“

NGIN FOOD I 27

CHRIS MARXEN

Seinen Erfolg hat Brlo dem Trend hin zum Craft Beer und weg vom Einheits-Gezapften zu verdanken. In Berlin, aber auch in anderen Teilen Deutschlands und der Welt, will die junge Biertrinker-Generation mehr als nur ein Otto-Normal-Pils. „Warum immer nur eine Wein- und nicht auch mal eine Bierkarte?“, fragt Kurz. Die gleiche Frage stellen sich offenbar immer mehr Menschen, vor allem in Berlin. Und ihre Wünsche werden zunehmend bedient: 27 neue Brauereien hat der Deutsche Brauer-Bund in den letzten zehn Jahren in der Hauptstadt gezählt, mehr als in jedem anderen Bundesland. Ein reines Berliner Phänomen ist der Drang zum besonderen Gebräu allerdings nicht: Den stärksten Zuwachs im vergangenen Jahr verzeichneten der Großraum Hamburg und Schleswig-Holstein mit acht neuen Brauereien, gefolgt von Nordrhein-Westfalen mit sechs zusätzlichen Betrieben.

Es muss nicht

IMMER PILS sein

Katharina Kurz stand in Australien vor einem Bierregal und war von der Geschmacksvielfalt beeindruckt. Nun führt sie ihre eigene Brauerei in Berlin

28 I CRAFT BEER

VON ALEX HOFMANN | Sie spiele total damit, dass man ihn nicht aussprechen kann, sagt Katharina Kurz. Und meint damit den Namen des Bieres, das sie braut. BRLO heißt es nämlich, und im Logo hat das Ł dann auch noch einen kleinen Querstrich. „Einige sagen Brillo oder versuchen, sich Vokale möglichst zu verkneifen.“ Und tatsächlich, in Berlin, wo die Marke herkommt, sprechen viele vom Bier, dessen Namen man nicht aussprechen kann. Dabei wird alles auf dem Rücketikett ganz genau erklärt: Berlo ist der altslavische Ursprungsname Berlins, das Wort bedeutet Sumpfgebiet. Eigentlich ganz einfach also. Warum gründet eine damals 31-jährige Fränkin eine eigene Brauerei in Berlin? Sie sei vor ein paar Jahren „zwischen Jobs“ gewesen, erzählt Kurz. Einen Corporate-Job wollte sie nicht, das war ihr klar. Die Idee, eine eigene Brauerei zu starten, sei ihr dann auf einer Reise nach Australien gekommen: Als sie vor einem Bierregal stand und die Qual der Wahl hatte, sei ihr die dortige Vielfalt an Biersorten aufgefallen. Ein Mitgründer war schnell gefunden. Christian Laase hatte mit ihr studiert und zuvor schon versucht, zusammen mit seinem Vater zu brauen. „Dann hat sich alles verselbstständigt“, erinnert sich Kurz: Bei der Vorbereitung lernen sie den Mecklenburger Braumeister Michael Lembke kennen, im Juni 2014 grün-

Anfang 2017 gab es laut dem Dachverband der Brauwirtschaft 1.408 Braustätten in Deutschland – rund 100 Betriebe mehr als noch vor zehn Jahren. Damit liegt die Zahl der Bier brauenden Betriebe in Deutschland erstmals seit dem Jahr 1978 wieder über der Marke von 1.400. Bei etwas mehr als der Hälfte der deutschen Brauereien handelt es sich um „Mikrobrauereien“ mit einem Jahresausstoß von nicht mehr als 1.000 Hektolitern. Zu dieser Gruppe gehören auch Kurz und ihre beiden Brlo-Mitgründer. Als sogenannte „Gipsy Brewers“ hatte sich das Trio zu Beginn bei kleineren mittelständischen Brauereien eingemietet, um deren Anlagen zu nutzen. Heute hat ihre Craft-Beer-Brauerei ihre Heimat am Berliner Gleisdreieck. Dort haben sich Kurz und ihre mittlerweile fast drei Dutzend Angestellten aus 38 alten Schiffscontainern ein Brauhaus zusammengeschustert. Samt Restaurant, wo die meisten Mitarbeiter beschäftigt sind, und einer 20 Hektoliter Brauanlage – auf die Kurz merklich stolz ist. Derzeit reist Kurz durch die USA, um sich in Sachen Craft-Beer weiterzubilden. „Seit den achtziger Jahren gibt es in den USA eine riesige Biervielfalt“, sagt sie, „da sind die Staaten weiter als wir in Deutschland.“ Nachdem jenseits des Atlantik die Gesetze für das Bierbrauen gelockert wurden, werde die neue Freiheit in sogenannten Brew-Pubs zelebriert. „Es ist interessant, dass man beim Thema Bier von Deutschland aus auf die USA schaut“, schmunzelt Kurz. Grundsätzlich sei die Qualität des deutschen Bieres natürlich sehr gut, weil hierzulande das Reinheitsgebot gelte, nach dem zur Herstellung ausschließlich Hopfen, Gerstenmalz, Hefe und Wasser

benutzt werden dürfen. Das allerdings habe interessierte Craft-Beer-Brauer lange abgeschreckt. Auch der bayerische Brauer und Bier-Sommelier Marc Gallo findet: „International wird das deutsche ,Purity Law‘ als Hemmschuh gesehen.“ In Bayern seien die Regeln dabei besonders streng, selbst Ausnahmen – etwa bei regionalen Spezialitäten – würden nicht zugelassen. Weil viele deutsche Brauer, wie auch er selbst, deshalb Biere zum Teil im Ausland herstellen, setzt sich Gallo für ein Natürlichkeitsgebot statt des 500 Jahre alten Reinheitsgebots ein. Künstliche Stoffe sollen aus Bier auch weiterhin draußen bleiben. „Wir kämpfen aber für eine Verwendung von anderen, natürlichen Zutaten als nur Wasser, Hopfen und Malz.“

Sie verlangt mehr Vielfalt beim Bier: Brlo-Gründerin Katharina Kurz.

BRLO

den die drei Brlo. Die ersten beiden Biere füllen sie noch im November des gleichen Jahres ab: ein Helles als Einsteigerbier und ein Pale Ale, doppelt gehopft mit Cascade, Centennial, Citra, Saphir und Willamette – für die, die sich auskennen. „Die Brlo-Biere haben wir dann bei einigen Restaurants und Spätis in der Stadt vorgestellt“, erzählt die Gründerin.

Das ist auch im Sinne von Brlo-Gründerin Katharina Kurz. „Craft-Beer ist eine Philosophie, es geht um die maximale Bandbreite, sowohl beim Geschmack als auch bei den Inhaltsstoffen“, sagt sie und sieht dabei auch über Markengrenzen hinweg. Deswegen bietet Brlo im eigenen Restaurant Brwhouse auch andere Craft-Biere an. Ein Craft-Beer im Regal funktioniere nicht. Wenn es zehn sind, aber schon. Auch innerhalb der Berliner Brauer-Community – mehr als 30 Brauprojekte kenne sie in der Hauptstadt – spiele Zusammenarbeit eine große Rolle. „Wer was braucht, etwa bei der Logistik, dem helfen die anderen.“ Drei bis fünf Jahre werde es noch dauern, bis sich Craft-Biere durchgesetzt haben, glaubt Kurz. Viele Bars und Restaurants müssten erst noch nachziehen. Auch auf den Preis kommt es an, ab zweieinhalb Euro ist eine Flasche Brlo im Handel zu haben. „Wir können natürlich nicht zu den Kosten produzieren, zu denen das die großen Brauereien schaffen.“ Von der Massenware der Großkonzerne soll sich ihr Handwerks-Bier bereits beim Etikett absetzen, edel soll es wirken und gezielt Biergenießer ansprechen. „Mit den ersten Designerideen waren wir nicht zufrieden“, verrät sie. Nun kommt jede Brlo-Flasche mit einem geprägten Etikett daher. Gestaltet hat es Lutz Herrmann, ein bekannter Parfümetiketten-Designer, den Kurz auf einer Party kennengelernt hat. Eine Studie in den USA habe gezeigt, dass 80 Prozent der Bierkäufer nach dem Etikett entscheiden, sagt sie. Auch beim eigenen Brauerei-Restaurant wollen Kurz und ihre Mitstreiter nicht das übliche Schnitzel mit Bratkartoffeln servieren. Sie hätten hätten den Fokus bewusst auf Gemüse gelegt, sagt sie. „Fleisch gibt es bei uns auch, aber eher als Beilage.“ Damit bleibt sie beim Zeitgeist der jüngeren Konsumenten, die auf eine moderne und vor allem vielfältige und phantasievolle Küche Wert legen. Dass Craft Beer mehr als nur ein Trend ist, da ist sich die Brlo-Gründerin aber sicher. Ihre Brauerei ist für sie kein Hobby, sondern echtes Business, das sie zur bekanntesten Craft-BeerMarke Deutschlands machen will. „Natürlich gibt es Grenzen beim Craft-Beer“, weiß sie. Aber Bierkenner würden in zehn Jahren ja wohl kaum sagen, dass sie künftig wieder nur noch Pils trinken wollen.

„Craft-Beer ist eine Philosophie, es geht um die maximale Bandbreite, sowohl beim Geschmack als auch bei den Inhaltsstoffen.“ BRLO-GRÜNDERIN KATHARINA KURZ

NGIN FOOD I 29

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Was haben die Gastronomie- und die Onlinewelt gemeinsam? Mehr als gedacht, wie der Gründer eines Restaurants beweist

Die Eiscrème de la Crème auf der Mövenpick Trend Tour Jeder kennt es, jeder liebt es: Eis. Dass Eis aber nicht gleich Eis ist und die Gastronomie noch viel mehr aus den bunten, kalten Kugeln herausholen kann, zeigte die Mövenpick Trend Tour The Colour of Ice Cream. Unter dem Motto „Klassiker mal anders“ erlebten die Besucher jede Menge fantasievoller Eiskreationen – mal drapiert auf Tellern, mal geräuchert in Gläsern und mal umhüllt von Gemüse. Ganz genau, Rauch und Gemüse: Denn die süße Abkühlung schmeckt tatsächlich – oder gerade – auch in unkonventioneller Zubereitung. Welche Eiskreationen sollte die Food-Industrie 2017 also im Auge behalten?

für das nächste Level

Einfach mal so nebenbei ein Restaurant eröffnen? Das passt zu Kersting, der auch sonst kein „Durchschnittsgründer“ ist. Er trägt keinen Anzug, redet keinen Business-Bullshit, hat keinen Abschluss an einer Elite-Uni – und schaffte auch seinen normalen Uni-Abschluss erst im dritten Anlauf. Während seiner Studienzeit habe er eigentlich nur gezockt oder gefeiert, erzählt er. Geschafft hat er es trotzdem, heute ganz oben mitzuspielen. Mit Gameforge und Flaregames startete er gleich zwei Spieleunternehmen. Daneben ist er bei mehreren Startups als Investor aktiv. Unter anderem beteiligte er sich früh an Supercell, das heute eines der wichtigsten Gaming-Unternehmen der Welt ist und Millionen umsetzt – pro Tag. Und jetzt ein Steakhouse? Das klingt erstmal verrückt – und das ist es auch. Denn von Gastronomie habe er vorher keine Ahnung gehabt, gibt Kersting zu. „Das Thema Gastronomie habe ich unterschätzt.“ Aber da Karlsruhe für gute Steaks eine weiße Landkarte gewesen

30 I STEAK

sei, habe er vor etwa zwei Jahren kurzentschlossen den Plan gefasst, selbst ein Restaurant zu starten und es im Dezember eröffnet. Heute sei das Brick + Bone nach anfänglichen Schwierigkeiten bei Qualität und Service da, wo er es haben wolle. Auch wenn die Online- und Gastronomiewelt auf den ersten Blick kaum etwas gemein zu haben scheinen, so sieht Kersting doch einige Parallelen. Zum einen sei er überrascht gewesen, wie viele Faktoren es allein bei der Standortwahl zu beachten gebe. Nur ein Beispiel: Es gibt zwei Stufen bis zum Eingang? Lieber nicht, denn das bedeutet eine Verschlechterung der Walk-In-Conversion um 12,8 Punkte pro Stufe, verrät ihm sein

GEORG RÄTH

VON GEORG RÄTH | „Ich wollte ein gutes Steak essen. Also habe ich es einfach gemacht“, sagt Klaas Kersting. Er ist der Gründer des Brick + Bone in Karlsruhe, ein hochpreisiges Restaurant, bei dem teure Steaks und mehr als 300 Weine auf der Speisekarte stehen.

Klaas Kersting baut normalerweise Spielefirmen – und jetzt ein Steakhaus.

Standort-Scout. In der Onlinewelt nennt man das einen „Funnel“. Und auch die Auslastung pro Tisch, die Marge pro Gast oder die durchschnittliche Warenkorbgröße – all diese Kennzahlen lassen sich auf die Onlinewelt übertragen. Selbst das Aussehen der Speisekarte sei mit dem Design eines Onlineshops vergleichbar, meint Kersting. Für ein A/B-Testing stelle man einfach verschiedene Speisekarten auf unterschiedliche Tische. Daneben gebe es natürlich auch Unterschiede. „Weiche Faktoren“ nennt Kersting das. „Ein Computerspiel lächelt nicht“, scherzt der Gründer. Das Personal in einem Restaurant müsse das aber tun. Zudem gehe es um Lebensmittel – also um verderbliche Waren, die eine Kühlkette brauchen, in der Onlinewelt ist das nicht notwendig. Ob er mit dem Brick + Bone einen Erfolg erzielt? Das werde sich erst in den nächsten zwei Jahren zeigen, sagt Kersting. Bis dahin müsse sich das Geschäft noch einpegeln. Um das Wachstum anzukurbeln, will er jetzt unter anderem mit Hotels und Clubs zusammenarbeiten. Auch ein Franchise-System kann er sich vorstellen – aber das sei zum jetzigen Zeitpunkt noch eine Spinnerei, sagt er. Viel wichtiger als Erfolg ist dem Gründer aber: in seinem eigenen Restaurant zwei Mal in der Woche ein sehr gutes Steak zu essen.

60 Eiskreationen in 60 Minuten „Mein Highlight war die Eis-Show. Selbst als kreative Bloggerin habe ich hier einiges an Inspiration mitnehmen können“, erzählt Graziella. „Auf jeden Fall – gerade das Eis im Glas fand ich optisch super inszeniert“, fügt Tuba hinzu. Ganze 60 Eiskreationen verließen während der einstündigen Show die Bühne. Im Anschluss warteten unzählige Eisinszenierungen auf die probierfreudigen Besucher. Das Motto „Klassiker mal anders“ ließ das gute alte Kugeleis dabei in vielen neuen Variationen erstrahlen.

Eis mit Stil: Diese Kugeln setzen Trends

GRAZIELLA MACRI; MÖVENPICK

STEAKS

Coole Kugeln von Szenekennern getestet Die Lebensmittelbranche lebt von ausgefallenen Innovationen und erfrischender Andersartigkeit – ungewöhnliche Kreationen können sich schnell zu echten Kassenschlagern entwickeln. Doch woher weiß man, was gerade im Kommen ist? Neben Herstellern und Gastronomen gestalten auch Food-Blogger die kulinarischen Trends mit. Sie haben den direkten Draht zur Community, sprich den Verbrauchern, und bekommen deren Wünsche unmittelbar mit. Und damit auch eventuelle Marktlücken. Mövenpick lud zwei dieser Trendspotter zum Tasting ein. Tuba ist in der Blogosphäre als Fräulein Zuckerbäckerin unterwegs und entführt ihre Leserschaft in die Welt des Backens. Graziella begeistert ihre Leser online auf Graziella’s Food Blog mit mediterranen Rezepten.

Momentan sei es sehr hip, Altes neu zu interpretieren.

Erdbeerbecher 2.0 – warum die Gastronomie mehr wagen sollte Die Food-Blogerinnen bekommen durch ihre Online-Community täglich mit, wie sich das Essverhalten der Leute ändert. „Gastronomen und Verbraucher werden mutiger und bekommen zunehmend Lust auf Neues. Wer diese ExperimentierfreuWelche kalten Innovationen de ausblendet, wird von der Konkurrenz werden in dieser Saison die Eisdielen abgehängt“, meint Graziella. Dass die Tradition trifft Innovation und Restaurants erobern – und warum außergewöhnlichen Eiskombinationen – die besten Geschmacksernicht viel kosten müssen und in kurzer Zeit lebnisse sollte die Food-Branche diese Trends umgesetzt sind, davon ist Tuba überzeugt. Geräuchertes Eis schien die nicht verpassen? „Man kann hier schnell etwas zaubern und Aufmerksamkeit der Gäste ganz mit einfachen Mitteln kreativ werden: Ein besonders auf sich zu ziehen. „Hier Glas Limo mit einer Kugel Schokoeis und wurde Rauch in ein Glas geblasen, Brownie-Stückchen spricht die Sinne an – und wird von Gästen das dann über das Eis gestülpt und wieder entfernt wurde. dankbar angenommen.“ Ein absoluter Eyecatcher, das kannte ich so auch noch nicht“, berichtet Graziella. Auch das gerollte Eis hatte es ihr angetan: Dazu portionierten Breaking the Ice: Über Mövenpick die Eiskünstler eine Kugel Eiscrème und rollten sie in ausgeMit der Eis-Tournee möchte Mövenpick Gastronomen kreative Inspiration bieten. „Viele trauen sich vielleicht noch nicht, neue fallenen Toppings – von karamellisiertem Knäckebrot über Wasabi-Nüssen bis hin zu Paprikawürfeln. Diese gerollte Eiskugel Kreationen auszuprobieren, da sie auf den ersten Blick kompliziert wurde dann den Besuchern serviert. „Ich fand auch die Kombi erscheinen. Veranstaltungen dieser Art helfen, zu beweisen, dass Energydrink-Wodkagelee im Glas mit einer Kugel Vanilleeis on dem nicht so ist“, meint Graziella. „Und Verbraucher sind immer beeindruckt, wenn Unternehmen in eine andere Richtung denken.“ top ziemlich abgefahren“, erzählt Tuba. Beide sind sich einig:

„Das Zeug soll

KNALLEN

„Kult, Szene, Trend, hip. Das sind alles schreckliche Begriffe.“ MIRCO WIEGERT



Mirco Wiegert gründete vor 14 Jahren die Marke FritzKola. Am Anfang lachten alle über seine Idee, Coca Cola anzugreifen. Heute tut das niemand mehr

für Kinder und Schwangere. „Das Zeug soll knallen“, sagt Wiegert.

VON HANNAH SCHERKAMP | Es gibt diese Gründer, die wollen, dass man ihnen den Erfolg sofort ansieht. Sie tragen Rolex am Handgelenk oder maßgeschneiderte Hemden inklusive eingestickter Initialen. Dazu ein besonders aufrechter Gang und ein auffallend fester Händedruck. Mirco Wiegert, Erfinder und Gründer von Fritz-Kola, gehört nicht zu diesem Typus. Zum Interview erscheint er mit ausgeleierter Jeans, grauem Kapuzenpulli, einem grünen Rucksack und Turnschuhen ohne Label.

Wozu ein Anzug? Gründer Mirco Wiegert mag es lässig. Gerne mit Fritz-KolaWerbespruch.

„Ich hasse Statussymbole, ich kann mit dicken Autos oder teuren Uhren absolut nichts anfangen“, stellt Wiegert klar. „Deswegen veranstalte ich den ganzen Zirkus hier ja. Um Freiheiten zu haben. Wenn ich mit dem Trainingsanzug zur Arbeit fahren will, dann mache ich das eben.“

32 I FRITZ-KOLA

Wiegert muss schmunzeln, wenn er über die Anfangsjahre erzählt. Er ist heute 41 Jahre alt, ein selbstbewusster Typ mit viel Humor. Am liebsten lacht er über sich selbst. Die Zeitung „taz” habe ihn mal als „stino“ bezeichnet, also stinknormal, erzählt er und nimmt es gelassen: „Ich habe mit stinknormal kein Problem.“ Der Fritz-Kola-Gründer ist ein Macher, aber nicht so effizient, dass es unangenehm ist. Ein Schanze-Typ eben, der früher viel in Kneipen auf dem Hamburger Schulterblatt oder der Reeperbahn herumlungerte. So erzählt er selbst es jedenfalls. Etwa vier Jahre lang arbeiten Mirco Wiegert und Lorenz Hampl zu zweit an Fritz-Kola. Erst 2007 konnten sie sich den ersten Mitarbeiter leisten. „Damals gab es noch keine Startups, Gründen war nicht cool“, erzählt Wiegert. Die Arbeit in einem großen Konzern wie Beiersdorf sei viel angesehener gewesen. Er widerstand der Verlockung. „Geld und Sicherheit waren mir schon damals komplett egal. Es erschien mir ohnehin sicherer, mein eigener Herr zu sein.“

FRITZ -KOLA

Wiegert und sein Pfadfinder-Kumpel Lorenz Hampl starteten 2003 ihr Unternehmen Fritz-Kola. Mit 7.000 Euro. Beide studierten zu dieser Zeit an der Hamburger Universität, waren gerade Mitte zwanzig. Wiegert hatte zuvor eine Ausbildung zum Speditionskaufmann gemacht, die er jedoch langweilig fand. Die Selbstständigkeit schien ihm der einzige Ausweg zu sein. Sie hätten auch eine Putzkolonne gründen können, sagt Wiegert, aber am Ende sei eben ein Getränk namens Fritz-Kola dabei herausgekommen. Die ersten 170 Kisten ließen sich die Gründer in einer kleinen Brauerei abfüllen. Das Prinzip: Weniger Zucker, mehr Koffein, abgefüllt in Glasflaschen. Verboten

Bei einer Party im Keller des Studentenwohnheims testeten ihre Freunde zwei verschiedene Sorten, eine mit weißen Kronkorken, die andere mit grünen. Grün gewann. „Wir wurden schon ein bisschen belächelt damals“, gibt Wiegert zu. „Es war ja auch eine völlig verrückte Idee, ausgerechnet gegen diesen riesigen Coca-Cola-Konzern anzutreten.“

Doch wie erfolgreich ist Fritz-Kola heute, 14 Jahre nach dem Start? Wie groß ist das Team? „Ihr könnt von 30 Mitarbeitern schreiben, aber das stimmt eh nicht“, sagt Wiegert und schmunzelt. Diese Antwort hat er schon in anderen Interviews gegeben. „Wir kommunizieren keine Zahlen und zünden lieber viele Nebelkerzen, denn der Markt ist beinhart.“ Auch den Umsatz verrät der Gründer nicht. Im Jahr 2015

machte Fritz-Kola laut Bundesanzeiger 2,57 Millionen Euro Gewinn. 2016 soll das große Erfolgsjahr gewesen sein, heißt es in vielen Medienberichten. Stimmt das? Wiegert grinst nur. „Ja, ja. Kann sein.“ Auch über sein Privatleben will der Firmenchef nicht sprechen. „Ich würde nie so eine Homestory machen oder so einen Quatsch“, sagt der 41-Jährige. Er habe viele Kritiker, die ihren Unmut am liebsten über die sozialen Medien wie Facebook äußerten. Sie richten sich gegen den Gründer persönlich oder die Strategie von Fritz-Kola. Wiegert nimmt das gelassen, ignoriert die Hater aber nicht. Im Gegenteil: „Kritik gehe ich nach. Dafür telefoniere ich sogar Leuten aus der Schweiz hinterher. Ich stehe auf offene Kommunikation.“ Für die Zahlen und Fakten zu seinem Unternehmen gilt das allerdings nicht. Seit einigen Monaten ist Wiegert alleiniger Chef von Fritz-Kola, Mitgründer Hampl ist Ende 2016 ausgestiegen. Seine Anteile hat Wiegert ihm abgekauft. „Mit Anfang 40 feiert man Bergfest und überlegt, was noch so kommt im Leben“, erklärt Wiegert. Hampl sei nach seinem Aus erst mal in den Urlaub gefahren. Im August wird ein neuer zweiter Geschäftsführer bei Fritz-Kola anfangen, der Name ist bisher nicht bekannt. Einige Anteile hat Wiegelt kürzlich an Florian Rehm, Miteigentümer von Jägermeister, und Dirk Lütvogt, Geschäftsführer der Auburg Quelle, verkauft. Die Mehrheit hält weiterhin der Gründer. 13 verschiedene Getränke gibt es mittlerweile von Fritz-Kola. Neu im Sortiment ist Anjola, eine Ananas-Brause, die in den 1950er Jahren schon beliebt war und dann vom Markt genommen wurde. Will Wiegert einen Kult wiederbeleben? „Kult, Szene, Trend, hip. Das sind alles schreckliche Begriffe“, sagt er. „Das Ziel ist es einfach, die beste Kola und die besten Limonaden zu machen.“ Das ist ausnahmsweise mal keine Nebelkerze.

NGIN FOOD I 33

NESTLÉ DIGITAL

Sie macht

CHRIS MARXEN

Tina Beuchler soll den Lebensmittelkonzern in Deutschland modernisieren. Wie kann das gelingen? Ein Gespräch in der Hauptzentrale in Frankfurt

34 I NESTLÉ

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Das Interview führten wir im Competence Center in der Hauptzentrale in Frankfurt. Hier empfängt Nestlé auch Gruppen von Besuchern. Ihnen wird gezeigt, woran das Unternehmen gerade arbeitet. Das soll Transparenz demonstrieren.

Digital Natives sind gern gesehene Mitarbeiter

CHRIS MARXEN

Frau Beuchler, Sie sind die erste Digitalchefin bei Nestlé Deutschland – einem Food-Konzern. Was hat ein Lebensmittelkonzern eigentlich mit der Digitalisierung zu tun? TINA BEUCHLER: Schon vor zwanzig Jahren haben verschiedene Gesellschaften von Nestlé Deutschland Websites entwickelt, das war der Anfang der Digitalisierung bei uns. Ein größeres Programm mit cross-funktionalen Teams haben wir 2013 aufgesetzt. Als schließlich unsere CEO Béatrice Guillaume-Grabisch vor eineinhalb Jahren ins Unternehmen kam, wurde der Bereich noch weiter ausgebaut. Sie ist eine starke Unterstützerin der digitalen Transformation in Deutschland. Seitdem sehen wir es als Aufgabe, das gesamte Unternehmen zu transformieren und nicht nur einzelne Bereiche wie E-Commerce und Marketing.

Nestlé ist die Meinung der Besucher wichtig. Wir haben mal einen der Knöpfe auf der linken Seite gedrückt.

36 I NESTLÉ

Welche Bereiche werden jetzt digitalisiert? Im Prinzip alle parallel – aktuell beispielsweise der HR-Bereich, die Finance-Abteilung, die Produktion, die Lieferkette und die einzelnen Tochtergesellschaften mit ihren Produktmarken. Was ist das Ziel? Die übergeordnete Vision ist, zur Stei-

gerung der Lebensqualität und zu einer gesünderen Zukunft beizutragen. Insgesamt haben wir vier Felder definiert, in denen wir uns als Nestlé weiterentwickeln wollen. Das sind „Content“, „Personalisierung“, „E-Commerce“ und „neue Geschäftsmodelle“. Es wurden Teams mit Mitarbeitern verschiedener Abteilungen gebildet, die diese Felder weiterentwickeln. Zudem gibt es eine Zentraleinheit mit 40 Personen, die ich leite. Wird die Digitalisierung bei Nestlé als Chance oder Bedrohung gesehen? Mein Eindruck ist, dass die Digitalisierung im gesamten Konzern vorwiegend positiv gesehen wird. In unserem Fall wird die digitale Disruption zunächst nicht das Produkt betreffen. Eine Banane oder unser Wasser wird auch in vielen Jahren noch als analoges Produkt hergestellt und konsumiert. Unternehmen, die sich digital aufstellen, werden künftig besser mit dem Verbraucher verbunden sein und sich so Wettbewerbsvorteile verschaffen. Haben nicht einige Mitarbeiter auch Angst? Natürlich sehen wir die Hürde, dass manche Kollegen bei uns auch Ängste vor den Technologien haben und denken, dass sie nicht mehr mitkommen.

Deswegen bieten wir Programme an, mit denen wir allen Mitarbeitern Chancen und Wege aufzeigen. Wie genau sehen solche Programme aus? Ein Programm ist die Digital Challenge. Mitarbeiter können eine digitale Idee einreichen, diese pitchen und ein Budget für die Umsetzung gewinnen. Wenn Mitarbeiter merken, dass sie mitmachen und etwas bewirken können, dann motiviert sie das. Außerdem bieten wir ein sogenanntes Reverse Mentoring an, bei dem sich junge und ältere Kollegen bei Fragen zur Digitalisierung austauschen und voneinander lernen. Haben Sie bei diesem MentoringProgramm auch schon mitgemacht? Bisher habe ich es den Digital Natives überlassen. Aber ich möchte gerne partizipieren – allerdings habe ich mich noch nicht entschieden, ob als Mentorin oder Mentee (lacht). Woher haben Sie dann Ihr Wissen über die Digitalisierung? Meine Quelle für digitales Wissen und Inspiration sind definitiv jüngere Kollegen. Ich habe beispielsweise bis vor kurzem eng mit einem jungen Kollegen direkt zusammengearbeitet, der unter

30 Jahre alt ist. Er hat mir zum Beispiel Snapchat erklärt, als es Trend wurde. Außerdem versuche ich, extern mit Menschen, Agenturen oder Startups über das Thema zu sprechen. Beispielsweise habe ich kürzlich das Digital Lab der Deutschen Bank und auch Samsung besucht. Es ist Teil meiner Arbeit, außerhalb von Nestlé unterwegs zu sein und Impulse aufzunehmen.

Tina Beuchler fördert junge Nestlé-Mitarbeiter, die sich für die Themen der Zukunft interessieren. Einer ihrer Schützlinge ist Lisa Stiewe (rechts), die im Digital-Team von Maggi arbeitet und dort unter anderem den Pinterest-Kanal betreut.

Es gibt viele Trends in der Lebensmittelindustrie. Woher wissen Sie, welche davon für Nestlé relevant werden? Wir versuchen, die wesentlichen Veränderungen für die nächsten 12 bis 36 Monate in einer Roadmap zu definieren. Ich glaube, wir können sehr gut umreißen, was in den kommenden zwölf Monaten passiert. Sollte aber einer unserer Partner im Handel nun übermorgen mit einem großen E-Commerce-Angebot in den Markt stoßen, dann würden wir neu priorisieren und ein anderes Projekt zurückfahren, weil das für uns wichtig wäre. Was würde konkret bei Nestlé passieren, wenn dieses Szenario beispielsweise bei Edeka einträte? Wir würden unsere Produkte gerne in einer führenden Position unter den Online-Angeboten bei Edeka – oder

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Nestlés Digital-Strategie Reverse Mentoring Programm

Digital Community

Digital Challenge

Bei Nestlé coachen junge Mitarbeiter Führungskräfte im Umgang mit Social Media und mobiler Kommunikation, beispielsweise Snapchat oder Instagram. Dieses Programm führe einen Bewusstseinswandel im Unternehmen herbei und beschleunige die digitale Transformation, heißt es.

Die Digital Community vereint Mitarbeiter aus verschiedenen Abteilungen. Aktuell sind 120 Personen Teil der Gruppe. Laut Nestlé tauschen sie sich häufig untereinander aus, sind aber gleichzeitig Ansprechpartner für alle anderen Kollegen. Sie sind zuständig für digitale Programme wie das Reverse Mentoring oder die Digital Challenge.

Bei dem Wettbewerb, den Nestlé Deutschland zweimal pro Jahr intern durchführt, können Gruppen von Mitarbeitern ihre Ideen für digitale Projekte einreichen. Sie bekommen hundert Tage für die Umsetzung. Der Gewinner erhält 100.000 Euro für den Ausbau.

jedem anderen Wettbewerber – platzieren. Außerdem wäre es wichtig, dass unsere Produkte in dem Online-Shop gut beschrieben und leicht auffindbar sind. Gibt es Video-Content? Dann würden wir Video-Content einstellen. Wir würden zudem Partnerschaften anstreben für die Entwicklung attraktiver Angebote, die Vermarktung und das gemeinsame Lernen aus dem ShopperVerhalten.

„Meine Quelle für digitales Wissen und Inspiration sind definitiv jüngere Kollegen.“ TINA BEUCHLER

ONLINE

ngin-food.com/nestle

38 I NESTLÉ

Der Markteintritt von Amazons Lebensmittel-Lieferdienst Amazon Fresh wurde lange erwartet. Werden aktuell Gespräche mit Amazon Fresh geführt? Wir sind natürlich im Gespräch mit Amazon. Was wird in den kommenden 36 Monaten laut Ihrer Roadmap kommen? Die Menschen werden immer mehr Zeit mit ihrem Smartphone verbringen und es in den täglichen Prozess des Einkaufs, der Angebotsauswahl, der Bestellung und auch der Inspiration integrieren. Besonders bei der Generation über 60 wird noch viel passieren. Auch das Thema Internet of Things, also die Verbindung beispielsweise eines Smartphones mit dem Kühlschrank, wird zunehmen. Außerdem wird automatisiertes Einkaufen üblicher. Ich kann mir gut vorstellen, dass gerade die Produkte des täglichen Bedarfs, beispielsweise Toilettenpapier oder Hundenahrung, im stressigen Alltag automatisch bestellt werden.

Mama, uns schmeckt‘s nicht! VON CHRISTINA KYRIASOGLOU | Die beiden größten deutschen Food-Startups haben sich ihre mächtigen Positionen teuer erkauft: Der Kochboxen-Versender HelloFresh und die Lieferdienst-Plattform Delivery Hero kämpfen seit Jahren mit hohen Marketingbudgets um Märkte, die die Massen anziehen sollen. Für neue, weniger finanzstarke Unternehmen, die von dem Liefertrend in der Lebensmittelbranche profitieren wollen, bleiben da nur Nischen übrig.

Wie wichtig ist bei diesen Themen die Zusammenarbeit mit Startups? Wir arbeiten an verschiedenen Stellen mit Startups zusammen, beispielsweise im Forschungs- und Entwicklungsbereich. Auch im Content-Bereich gibt es erste Zusammenarbeiten, unter anderem mit Kitchen Stories (Porträt auf Seite 42) aus Berlin. In unserem Bereich „Kultur, Mitarbeiter, Prozesse“ suchen wir die Nähe zu Startups, um von ihrer Agilität und ihrem Performance-orientierten Arbeiten zu lernen. Nestlé bündelt viele bekannte Food-Marken. Wie viel Einfluss nimmt die Digitalisierung auf die Produktentwicklung? Die Digitalisierung hat einen immer größeren Effekt auf unsere Produkte. Spannend ist beispielsweise unsere Marke Purina für Hunde- und Katzenfutter. Dieser Bereich wächst im E-Commerce am stärksten. Online gibt es dort den Trend zu größeren Gebinden und Snacking-Boxen mit verschiedenen Snacks für Tiere. Wir haben auf diese Trends reagiert und beide Produkte ausschließlich für den Online-Handel produziert. Zusätzlich entwickeln wir die Verpackungen weiter, damit sie problemlos verschickt werden können. Das gilt vermutlich für alle unsere Produkte: Jede Verpackung wird künftig angepasst für den E-Commerce-Handel, damit das Produkt optimal in der Versandkette verarbeitet werden kann und in bester Qualität beim Käufer ankommt. Interview: Hannah Scherkamp

Ein Bereich, der sich in Deutschland als besonders schwierig erwiesen hat: d ie Lieferung fertiger Gerichte, die zu Hause nur noch aufgewärmt werden müssen. Gleich mehrere Berliner Startups versuchen da ihr Glück, zum Beispiel EatFirst, welches die Firmenschmiede Rocket Internet gegründet hat, das Diät-Unternehmen Kukimi oder Eating with the Chefs, das von dem deutschstämmigen US-Milliardär und Trump-Unterstützer Peter Thiel mitfinanziert wurde.

Die nischige Idee konnte bisher nicht genügend Kunden überzeugen. Wenig verwunderlich, schließlich sind die Deutschen generell beim Online-Einkauf von Lebensmitteln skeptisch. Selbst einfachen Online-Supermärkten ist der große Durchbruch noch nicht gelungen – und ob der Deutschlandstart von Amazons Supermarkt Amazon Fresh das ändern kann, ist offen. So nahm Rocket Internet das Angebot von EatFirst schon bald wieder vom deutschen Markt und operiert damit heute nur noch in London. Kukimi meldete vor kurzem Insolvenz an und bemüht sich derzeit um einen Neustart. Und auch um Eating with the Chefs steht es nicht gut: Seit Monaten können Kunden bei dem Unternehmen nicht mehr bestellen. Trotzdem sind neue Macher bereits am Werk. Das luxemburgische Fittaste versucht zum Beispiel, seine Produkte an Sportler zu verkaufen und wirbt mit fertigen Fitness- und Lifestyle-Gerichten. Die Hoffnung: endlich die richtige Zielgruppe finden.

Substantiv [der]

Foodie. Trendspotter. Gastro-Kenner. Sternekoch. Gourmet. Filetstück.

ngin-food.com/jobs

WER MIT DER ZEIT GEHT,

VON HANNAH SCHERKAMP | Es war lange Zeit ein großes Geheimnis. Wann startet Amazon Fresh in Deutschland? Wo? Zu welchem Preis? Seit einigen Wochen ist nun klar: Der US-Gigant meint es ernst, Anfang Mai ist der Lebensmittel-Lieferdienst in Berlin und Potsdam gestartet. Für Rewe, Edeka, Real, Lidl und Aldi ist die gemütliche Zeit damit vorbei. Denn für Amazon Fresh interessieren sich vor allem die Young Professionals, die gutes Geld verdienen, wenig Zeit haben und offen für Innovationen sind. Eine attraktive Zielgruppe. Allerdings hat Amazon Fresh einige Schwachstellen. Neben dem eingeschränkten Liefergebiet kostet der Service aktuell verhältnismäßig viel. Wer ihn nutzen will, muss nicht nur zahlender Nutzer des Amazon-Dienstes Prime sein, sondern zusätzlich noch mal monatlich drauflegen. Wie weit ist die Konkurrenz? Bleibt die dran? Unser Zeitstrahl gibt einen Überblick.

läuft hinterher

Der Lebensmittelhandel ändert sich bisher nur langsam. Amazon Fresh macht nun Druck September 2011 Rewe stellt seinen Lieferdienst vor Bereits 2011 bringt Rewe seinen ersten Bringservice an den Start. Heute ist der Dienst in Dutzenden Städten Deutschlands verfügbar. Damit ist das Angebot von Rewe am stärksten ausgebaut und hat somit die besten Chancen gegen Amazon Fresh.

2008

2011

2012

November 2012 Die Deutsche Post übernimmt AllyouneedFresh.com November 2008 Lidl geht online Lidl bot zwar früh einen eigenen Online-Shop an, bis heute werden dort allerdings keine frischen Lebensmittel verkauft. Dafür gibt es Nudeln, Süßigkeiten, Technik, Blumen oder Reisen.

40 I AMAZON FRESH

Oktober 2016 Kaufland startet seinen Lieferdienst Spät, aber immerhin noch vor Amazon Fresh stellt Kaufland im Herbst 2016 seinen Lieferdienst vor. Allerdings nur in Berlin. Im Januar 2017 folgte dort dann die erste Abholstation für alle Kunden, die für mindestens 20 Euro einkaufen.

Mit seinem Lieferdienst Bringmeister sieht sich Kaiser’s Tengelmann als Vorreiter. Tatsächlich startete der Dienst sehr früh: 1997 in Berlin, 1998 dann in München. In diesen zwei Städten gibt es Bringmeister immer noch. Seit Ende 2016 gehört er zu Edeka.

1997

Seit einigen Monaten testet die Supermarktkette Real ihren neuen Lebensmittelshop. Kunden können online frische und auch tiefgekühlte Lebensmittel vorbestellen und in einem ausgewählten Markt abholen.

Vor sechs Jahren stieg die Deutsche Post bei dem Berliner Lebensmittel-Startup ein. Ein Jahr später, 2012, übernahm sie zusätzlich die Anteile von Gründer Christian Heitmeyer. Dank AllyouneedFresh sammelte die Post-Tocher DHL schon früh Erfahrung mit der Lebensmittel-Lieferung.

2016

2017 – Penny und Aldi planen den Start eines Online-Shops Noch in diesem Jahr wollen die Discounter Penny und Aldi einen Teil ihrer Ware auch online verkaufen. Allerdings sollen erst einmal nur Non-Food-Produkte und Wein angeboten werden.

2017

März 2017 Edeka errichtet Abholstation mit der Deutschen Bahn Im März dieses Jahres eröffnete die Deutsche Bahn in Kooperation mit Edeka die erste sogenannte Bahnhofsbox. Kunden können hier online oder via App bestellte Lebensmittel abholen. Das Angebot soll vor allem Pendler ansprechen.

Mai 2017 Amazon Fresh funktioniert in Berlin und Potsdam Monatelang wurde über den Start spekuliert, im Mai ging es schließlich los mit Amazon Fresh. Ausgeliefert wird die Ware von DHL.

NGIN FOOD I 41

FOTOS: UNTERNEHMEN

1997 – Kaiser’s Tengelmann startet Bringmeister

April 2017 Real testet Click & Collect

Apple-Chef Tim Cook ist ihr Fan: die Kitchen-Stories-Gründerinnen Mengting Gao (l.) und Verena Hubertz.

WISSEN

Sie , was du morgen kochst Das Berliner Startup Kitchen Stories produziert knallbunte Videos mit Rezepten. Firmen zahlen viel Geld, damit ihre Produkte darin auftauchen VON HANNAH SCHERKAMP | Was vor einigen Jahren noch die Katzen-Videos waren, sind heute die kurzen Filme, in denen gekocht wird. Gut gemacht, garantieren sie Tausende Likes auf Facebook und Instagram. US-amerikanische Seiten wie Tasty, Buzzfeed oder Insider streuen Videos, die zeigen, was passiert, wenn man Blätterteig mit Schokoriegeln füllt und backt. Oder wie ein Boeuf Bourguignon mit nur vier Zutaten gelingt. Sie sind aufwendig produziert, untertitelt und oft nur wenige Sekunden lang – optimiert für den mobilen Nutzer, dessen Aufmerksamkeitsspanne kurz ist.

CHRIS MARXEN

Auch deutsche Medien und Konzerne haben den Trend erkannt. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ veröffentlicht in der Serie „Mahlzeit“ Videos mit Rezepten, der Lebensmittelhersteller Unilever macht das in seiner App „Einfach lecker“. Und ein kleines Startup aus Berlin hat das Geschäft mit den Rezepten längst professionalisiert – weltweit und erfolgreich: Kitchen Stories, das von Verena Hubertz und Mengting Gao gegründet wurde. Die beiden Freundinnen haben mit ihrem Team eine kostenlose App entwickelt, mit der Nutzer hunderte Rezept-Videos anschauen können. Ob Kaiserschmarrn, Kalbsfilet oder Käsesandwich – für jeden Koch ist etwas dabei. 13 Millionen Menschen haben die App bereits heruntergeladen. Immer wieder wird Kitchen Stories im Store von Apple empfohlen. Tim Cook, Chef des Konzerns, ist so begeistert, dass er das Team kürzlich sogar in Berlin besuchte.

Aufstieg einer Food-App ● ● ● ●

2014 2015 2016 2017

Mengting Gao (links) und Verena Hubertz starten die App Kitchen Stories Investoren stecken 1,8 Millionen Euro in das Startup Kitchen Stories zählt zu Beginn des Jahres acht Millionen Downloads Tim Cook besucht das Team, das mittlerweile aus 30 Mitarbeitern besteht

42 I KITCHEN STORIES

„Wir bringen in unserer App zusammen, was für Apple wichtig ist: gute Inhalte und aktuellste Technologie“, begründet Gründerin Mengting Gao den Erfolg. „Das unterscheidet uns von den Wettbewerbern.“ In mehr als 150 Ländern ist Kitchen Stories verfügbar, in insgesamt zwölf Sprachen, darunter Koreanisch und Russisch. In Berlin sitzt ein Team von 30 Personen, ein Drittel davon sind Entwickler. Aktuell setzen die Gründerinnen ihre Hoffnung auf China. In Peking sind zwei Mitarbeiter beschäftigt, die die App bekannt machen sollen. Geld verdient Kitchen Stories mit Kooperationen. Die Küche beispielsweise, die in jedem Video auftaucht, ist vom noblen Hersteller Bulthaup. Auf den Geräten, die die Köche nutzen, prangen die Namen von Kitchen Aid, Villeroy & Boch oder Le Creuset. Marken, die bekannt sind für luxuriöses Küchenequipment. Zudem tauchen immer wieder Produkte von Lebensmittelherstellern in den Videos auf, beispielsweise San Pellegrino, Alpro oder Kluth. Für die Unternehmen ist das Werbung der eleganten Form. Dieses Product Placement gilt als unauffälliger und diskreter als beispielsweise eine TV-Werbung oder Print-Anzeige. In Spielfilmen, Serien oder Fotostrecken ist diese Art der Werbung längst üblich. Auch James-Bond-Filme werden so teilweise finanziert. Gründerin Verena Hubertz behauptet zudem, dass Product Placement bei Kitchen Stories für die Kunden hilfreicher als gewöhnliche Werbung sei. „Mit unseren Daten können wir messen, wie Menschen kochen, was sie aktuell

NGIN FOOD I 43

Noch steckt das Startup in den roten Zahlen. Das sei bewusst so, sagen die Gründerinnen. Es sei derzeit wichtiger, das eingenommene Geld in weiteres Wachstum zu stecken als die Profitabilität zu erreichen. „Es ist kein Geheimnis, dass man mit Content nicht besonders schnell Geld verdient“, sagt Gründerin Mengting Gao. Zuvor wollte sie mit ihrer Mitgründerin Verena Hubertz, die sie im Studium an der Business School WHU kennenlernte, eine Burrito-Kette eröffnen. Ähnlich wie Chipotle aus den USA. Sie

VON MICHEL PENKE | Es ist eine der großen Erfolgsgeschichten in der deutschen Gründerszene: jahrelanges Wachstum, ein rentables Geschäftsmodell und eine starke Marke. Die Gründer von Mymuesli, Hubertus Bessau, Max Wittrock und Philipp Kraiss, gelten vielen in der Szene als Vorbild. Mittlerweile bieten sie anderen Startups, was sie für Mymuesli selbst kaum in Anspruch genommen haben: Investitionen. Die Business Angels, die zwischenzeitlich beim Müsli-Startup investiert waren, kauften sie 2013 wieder heraus. Bis Anfang 2016 gehörten den drei Gründern 100 Prozent von Mymuesli. Erst dann übernahm der Hamburger Investor Genui ein Drittel der Anteile. Heute sind die Gründer selbst bei einer „Handvoll Startups“ beteiligt, wie Max Wittrock sagt. Darunter sind das Keksstartup Knusperreich und das Nahrungsergänzungsmittel-Unternehmen Purmeo. Auch das Wurst-Startup Grillido und die New Yorker Firma Greenblender gehören zum Portfolio. „Ich selbst habe privat noch eine Leidenschaftsbeteiligung an Geile Weine aus Mainz“, sagt Wittrock und erzählt, dass er immer öfters Businesspläne von Startups auf Investorensuche geschickt bekomme. „Wir sind aber keine institutionellen Investoren“, betont Wittrock, „Wir füllen die klassische Rolle eines Business Angels aus: kleine Summen, dafür viel Knowhow, Erfahrung und Netzwerk.“ Viel Raum für die Investoren-Rolle bliebe neben der Arbeit bei Mymuesli nicht, sagt Wittrock: „Für ein bis zwei Investments werden wir in den kommenden Jahren aber noch Zeit haben.“

44 I KITCHEN STORIES

1

entschieden sich schließlich für das digitale Modell, es erschien ihnen vielversprechender. Damit ihr Produkt erfolgreich bleibt und nicht von einem Konkurrenten überholt wird, muss die App ständig aktualisiert und mit den neuesten Technologien verknüpft werden. So funktioniert Kitchen Stories auch mit Alexa, dem Sprachassistenten von Amazon. „Unsere Techies sind am Puls der Zeit“, glaubt Gao. „Die nutzen die neuesten Standards von Apple und Google.“ Das koste ihr Unternehmen natürlich viel Zeit und Geld, gibt sie zu, schließlich seien gute Entwickler teuer. „Aber für uns lohnt sich das, nur so bleiben wir vorne.“

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Langfristig können sich die beiden eine Kooperation mit Rewe oder Amazon Fresh vorstellen, damit Nutzer die Zutaten für die Rezepte gleich in der App bestellen können. Aber das kann noch dauern. „Bisher kaufen die Deutschen zu selten ihre Lebensmittel online“, sagt Verena Hubertz. „Wenn der Markt größer wird, wollen wir die Ersten sein, die da mitwirken.”

4

KITCHEN STORIES

gerne essen und auch, was sie als nächstes zubereiten werden.“ Ein Beispiel dafür sei das Kochen mit einem Dampfgarer: „Wenn wir sehen, dass das in Deutschland oder China gerade angesagt ist, kontaktieren wir unseren Kooperationspartner Miele und schlagen vor, gemeinsam ein paar Videos mit einem Dampfgarer zu drehen.“ Jede Kooperation bringe einen fünf- bis sechsstelligen Betrag, im Jahr komme Kitchen Stories so auf einen siebenstelligen Umsatz.

Kaiserschmarrn Schritt für Schritt Kitchen Stories setzt bei seinen Rezepten auf einfache Zutaten, die jeder kennt. Für diesen Kaiserschmarrn benötigen die Nutzer der App Eier, Zucker, Vanillezucker, Milch, Mehl, Butter, Rosinen, Salz und Puderzucker. Im ersten Schritt wird das Eiweiß geschlagen und mit Zucker vermischt. Eigelb, Milch, Mehl, Vanillezucker und Salz in einer extra Schüssel verrühren. Das Eiweiß darunter heben. Den Teig in eine Pfanne geben, Rosinen darüber verteilen. Backen. Fertig. Vorgekocht wird das Rezept in dem Video übrigens mit einer Küchenmaschine vom Kooperationspartner Kitchen Aid – für diese Werbung bekommt das Startup Geld.

Vom Gründer zum

Geldgeber

800 Mitarbeiter und 50 Geschäfte

160 Mitarbeiter arbeiten für Mymuesli

Mymuesli gilt als das Vorzeige-Food-Startup in Deutschland. Nebenbei investieren die Macher in andere Firmen

2017 20 neue Müsli-Läden eröffnen

Expansion nach Österreich und in die Schweiz

2015

Mymuesli.com geht online

Max Wittrock, Hubertus Bessau und Philipp Krais wollen ein Müsli-Startup gründen

2016

2013

2008

650 Mitarbeiter in Passau und Berlin

2016

2007

Beteiligungsgesellschaft Genui übernimmt ein Drittel von Mymuesli

2005 2010 2009 Expansion in die Niederlande und erster Offline-Shop

Start der Saftmarke Oh!saft

„Wir waren überzeugt, dass wir ein cooles Produkt haben. Aber wir wussten nicht, ob wir 10 oder 10.000 Dosen verkaufen.“ PHILIPP KRAISS, MYMUESLI-GRÜNDER

NGIN FOOD I 45

ESSEN aus

dem Drucker zipan-Figuren auf einer Hochzeitstorte braucht der Drucker bis zu sieben Stunden. Wer echte, millimetergenaue Gesichtszüge haben will, zahlt dafür rund 150 Euro. Den ganzen Drucker samt Lebensmittelpaste gibt es für 2.500 Euro. 2016 hat Print2Taste 150 Stück davon verkauft. Derzeit entwickelt das Startup einen Drucker, der auch zwei verschiedene Ausgangsstoffe zugleich druckt. So könnten beispielsweise Marzipan-Figuren mit Schoko-Augen entstehen. „Wichtig ist dabei, dass das Lebensmittel flüssig genug ist, um durch die Düse zu passen und doch an der Luft schnell genug aushärtet”, sagt Melanie Senger, Sprecherin des Unternehmens. Ein Problem sei jedoch die Konsistenz des Nahrungsmittels. „Wenn beim Marzipan beispielsweise der Anteil der Mandelschalen steigt, hat das 3D-Selfie plötzlich Knubbel im Gesicht.“ Ob eines Tages die gesamte Lebensmittelindustrie auf private Essensdüsen zusammenschrumpft und auch das abendliche Steak aus der Druckerdüse kommt, ist fraglich. Geforscht wird daran derzeit unter anderem schon in Barcelona, New York und eben Freising.

PRINT2TASTE

VERTICAL FARMING: BAUERNHOF DER LÜFTE

Das sind die Food-Trends der Zukunft VON MICHEL PENKE | Unser Essen verändert sich. Digitalisierung und technische Innovationen krempeln auch die Lebensmittelbranche stetig um. Unsere Nahrungsmittel werden vertikaler angebaut, flüssiger verabreicht und realistischer gedruckt. Vier Innovationen, die bald ganz groß werden könnten.

FOOD-PRINTING: EINSTEIN ZUM ESSEN „Tea, Earl Grey, hot”, so bestellte Captain Jean-Luc Picard im legendären Raumschiff Enterprise üblicherweise sein Getränk. In wenigen Sekunden materialisierte sich der Tee dann vor ihm. Ganz so weit ist die Lebensmittelbranche heute noch nicht. Doch dank 3D-Druckern können Nahrungsmittel schon jetzt vor Ort entstehen – auch wenn es mehr als nur ein paar Sekunden dauert. Das Startup Print2Taste aus dem bayerischen Freising entwickelt beispielsweise einen 3D-Printer, der Schokolade, Marzipan, Kartoffelbrei oder Pasta als Skulpturen druckt. Firmenlogos lassen sich in wenigen Minuten herstellen. Für Mar-

46 I ESSEN DER ZUKUNFT

ABONNEMENT-MODELL

Versendet Boxen mit frischen Lebensmitteln und Rezepten zum selber Kochen Gegründet 2012, New York Funding 194 Mio. USD Umsatz 2016 750 Mio. - 1 Mrd. USD (Schätzung von Bloomberg) Investoren u.a. Bessemer Venture Partners, Fidelity Investments Letzte öffentliche Bewertung 2 Mrd. USD

Gegründet 2012, Berlin Funding 364 Mio. USD Umsatz 2016 ~ 650 Mio. USD Investoren u.a. Baillie Gifford, Rocket Internet, Vorwerk Direct Selling Ventures Letzte öffentliche Bewertung 2,3 Mrd. USD

LIEFERSERVICE

Bietet einen Essens-Lieferservice für Restaurants, die keinen eigenen unterhalten Gegründet 2013, San Francisco Funding 187 Mio. USD Umsatz 2016 N/A Investoren u.a. Sequoia Capital, Kleiner Perkins Letzte öffentliche Bewertung > 700 Mio. USD

Gegründet 2014, München unter dem Namen Volo Funding N/A, 04/2015 von Rocket Internet gekauft, 09/2015 von Delivery Hero übernommen Umsatz 2016 N/A Investoren u.a. 100-%ige Tochter von Delivery Hero Letzte öffentliche Bewertung N/A

Die US-HITS und ihre deutschen Kopien

Platz ist Mangelware, vor allem in Städten. Deswegen soll Nahrung künftig auch in Hochhäusern – sogenannten Farmscrapers – angebaut werden. Durch die Nähe zum Konsumenten würden Transportkosten und Treibhausgase gespart. Kritiker monieren, dass die aufwendigen und energiehungrigen Gebäude ökologisch nicht verträglicher seien als gewöhnliche Landwirtschaft.

LIQUID FOOD: ESSEN AUS DER FLASCHE Die Flüssignahrung-Bewegung hält Essen für ein notwendiges Übel. Um Nahrung schneller zu konsumieren, bieten Unternehmen wie Soylent, Mana und Huel in Wasser lösliche Pulver an. Sie sollen den kompletten Essensbedarf decken. Entwickelt wurde dieses sogenannte Liquid Food nach dem Vorbild von Astronautennahrung.

INSEKTEN: DAS NEUE FLEISCH Viele Proteine, Vitamine und Spurenelemente, dabei arm an Fett, Cholesterin und Kohlenhydraten: Insekten könnten der alternative Fleischlieferant der Zukunft werden, wenn immer mehr Menschen den Planeten bevölkern. Weil bei ihrer Produktion zudem viel weniger Ressourcen verbraucht werden und nicht so viele Treibhausgase entstehen, soll die Insekten-Zucht nebenbei auch noch das Klima retten. Zwei Milliarden Menschen verzehren weltweit bereits heute regelmäßig Insekten.

LIEFERDIENSTE

Bietet eine Plattform, auf der Nutzer Lieferdienste in ihrer Nähe finden können Gegründet 2004, Chicago Funding > 84 Mio. USD bis zum IPO Umsatz 2016 493 Mio. USD Investoren u.a. Lightspeed, Benchmark, T. Rowe Price Letzte öffentliche Bewertung 3,9 Mrd. USD an der New Yorker Börse (bei Redaktionsschluss)

Gegründet 2010, Berlin Funding > 1,75 Mrd. USD Umsatz 2016 ~ 320 Mio. USD Investoren u.a. Rocket Internet, Naspers, Team Europe Letzte öffentliche Bewertung > 3 Mrd. USD

FERTIGGERICHTE

Versendet portionierte Fertiggerichte, die gesund und schmackhaft sein sollen Gegründet 2011, San Francisco Funding 125 Mio. USD Umsatz 2016 N/A Investoren u.a. Menlo Ventures, Sherpa Capital, E.Ventures Letzte öffentliche Bewertung 250 – 275 Mio. USD

Gegründet 2013, Berlin Funding 1,1 Mio. USD Umsatz 2016 N/A Investoren u.a. Nach der Insolvenz im Februar 2017 hat der Investor Atlantic Labs alle Anteile übernommen Letzte öffentliche Bewertung N/A

NGIN FOOD I 47

ONLINE

„Das Internet ist immer noch der beste Markt für Wachstum und der, der die Wirtschaft am meisten beeinflusst.“

ngin-food.com/rocket-internet

ROCKET-CHEF OLIVER SAMWER

WHAT’S EATING

Rocket Internet?

Den Erfolg der Berliner Firmenschmiede muss jetzt ein Food-Startup liefern VON CHRISTINA KYRIASOGLOU | Eigentlich ist die Idee von Rocket Internet simpel: Die Berliner Firmenschmiede gründet oder investiert in Startups und verkauft sie später mit Gewinn. Doch seit dem Börsengang Ende 2014 konnte Rocket keinen nennenswerten Erfolg mit dem Verkauf oder IPO eines seiner Startups verbuchen. Das verunsichert die Anleger: Der Aktienkurs dümpelt seit Monaten vor sich hin.

JANA HORMANN

Rocket benötigt also gute Nachrichten – und sie sollen noch in diesem Jahr folgen. CEO Oliver Samwer hat versprochen, dass sich 2017 eine seiner Beteiligungen an die Börse wagen wird. Aus dem Portfolio kommen da nur die beiden umsatzstärksten Startups aus der Kategorie „Food & Groceries“ in Frage: der von Rocket Internet selbst gegründete Kochboxen-Versender HelloFresh und der Lieferdienst-Vermittler Delivery Hero, in den Rocket mehr als eine halbe Milliarde Euro investiert hat und der in Deutschland unter den Marken Lieferheld und Foodora bekannt ist.

48 I ROCKET INTERNET

Beide Unternehmen vermeldeten jüngst massive Umsatzsteigerungen für das Jahr 2016. HelloFresh, an dem Rocket noch etwa 53 Prozent gehören, setzte knapp 600 Millionen Euro um. Das ist fast doppelt so viel wie im Vorjahr. Delivery Hero steigerte seine Umsätze um etwa 80 Prozent auf knapp 300 Millionen Euro – und ist zu 40 Prozent in Rocket-Besitz.

Eine beeindruckende Entwicklung – gehen Samwers Pläne also auf? Das muss bezweifelt werden. So hat es HelloFresh zum Beispiel alles andere als eilig, an die Börse zu gehen. Nachdem ein erster Anlauf bereits 2015 scheiterte, betont Finanzchef Christian Gärtner im Gespräch mit diesem Magazin: „Im Moment gibt es keine konkreten Vorbereitungen, wir sind ganz klar völlig auf unser operatives Geschäft konzentriert. Mittelfristig ziehen wir aber einen IPO weiter in Betracht.“ Das Problem für Samwer: Sein Einfluss auf das Tochterunternehmen ist begrenzt. Obwohl Rocket Internet HelloFresh vor sechs Jahren selbst gestartet hat, distanzierte sich zuletzt sogar HelloFresh-Geschäftsführer Dominik Richter öffentlich von seinem Haupteigner: „Wir sind HelloFresh, nicht Rocket. Rocket ist einer unserer Investoren.“ Und: „Rocket Internet sitzt bei uns im Aufsichtsrat, verfügt dort aber über keine Mehrheit, sondern hat einen von sechs Sitzen.“ Gut möglich ist zudem, dass HelloFresh vor einem IPO erst die Gewinnschwelle erreichen will. Da sich das Investmentklima zuletzt abgekühlt hat, achten viele Geldgeber verstärkt auf Profitabilität. HelloFresh-CFO Christian Gärtner erklärt aber, man rechne noch nicht damit, 2017 profitabel zu werden. Das Startup schrieb im vergangenen Geschäftsjahr einen Verlust über 83 Millionen Euro, was einer negativen Ebitda-Marge von 13,8 Prozent entspricht. „Aber diese Marge wird sich weiter verbessern“, so

NGIN FOOD I 49

„Im Moment gibt es keine konkreten IPOVorbereitungen, wir sind ganz klar auf unser operatives Geschäft konzentriert.“

Ein Foodora-Fahrer betritt den Hauptsitz von Delivery Hero in Berlin.

HELLOFRESH-CFO CHRISTIAN GÄRTNER

Gärtner. Mit dem Börsengang ist bei HelloFresh demnach 2017 nicht zu rechnen. Einzig ein Erfolg des wichtigsten US-Konkurrenten Blue Apron, der dieses Jahr noch an die Börse strebt, könnte das Startup dazu bewegen, sein Tempo zu erhöhen. Die USA sind ein wichtiger Markt für HelloFresh: Dort macht das Unternehmen mittlerweile mehr als die Hälfte seines Umsatzes und kann es sich nicht leisten, im Wettbewerb zurückzufallen.

CHRIS MARXEN

Bleibt Delivery Hero. Tatsächlich wird ein IPO des Unternehmens in der deutschen Tech-Szene noch in diesem Jahr erwartet. CEO Niklas Östberg hat die Option immer wieder erwähnt.

Heldenland: Delivery Hero glaubt an seine Logistiktochter DELIVERY HERO investiert viel Geld in ein recht neues Geschäft: das der Logistiktochter Foodora. Sie bietet Restaurants ohne eigenen Lieferservice an, Gerichte an Kunden auszuliefern. Die pink gekleideten Radkuriere prägen das Bild zahlreicher Innenstädte, doch das Business verbrennt eine Menge Kapital. Sind die Fahrer nicht völlig ausgelastet, wird das Geschäft schnell defizitär. In dem Modell liegt aber auch ein Vorteil: Ein Kunde bestellt im Schnitt häufiger als bei der Online-Plattform der Mutterfirma. Foodora wurde im Oktober 2014 in München gegründet, kurz darauf von Rocket Internet übernommen und dann an Delivery Hero abgegeben.

50 I ROCKET INTERNET

Doch auch die Lieferdienst-Plattform muss ihre Zahlen vorher noch trimmen. Das Unternehmen, das von seinen Investoren mit etwa drei Milliarden Euro bewertet wird, hält sich zwar stets bedeckt, wenn es um seine Verluste geht. Wie der aktuelle Rocket-Geschäftsbericht allerdings offenbart, lag das Jahresergebnis der Beteiligung 2015 bei minus 253 Millionen Euro – während der Umsatz gleichzeitig 166 Millionen Euro betrug. Angaben zum Verlust aus dem Jahr 2016 gibt es bisher nicht. Er dürfte sich aber deutlich reduziert haben, da Delivery Hero diverse unprofitable Geschäftszweige kappte. Und auch hier hat Samwer kaum Druckmittel: Bei Delivery Hero hat Haupteigner Rocket Internet nicht einmal einen Sitz im Aufsichtsrat. Das wurde in den Beteiligungsverträgen schon früh festgelegt. „Oliver Samwer kann Druck machen, wie er möchte“, sagte Niklas Östberg der Wirtschaftswoche. „Ich treffe meine Entscheidung gemeinsam mit allen Investoren.“ Wie begrenzt Samwers Einfluss ist, zeigte sich bei der Übernahme des Rocket-Ventures Foodpanda durch Delivery Hero Ende 2016. Wie kürzlich bekannt wurde, gab Rocket seinen Anteil an Foodpanda für gerade mal 192 Millionen Euro ab – ein Jahr zuvor stand er noch mit 280 Millionen in den Büchern. Offenbar saß Samwers eigene Beteiligung Delivery Hero bei den Verhandlungen am längeren Hebel. Samwers IPO-Ziel steht somit auf wackligen Beinen. Doch nicht nur darüber besteht Unsicherheit. Vollkommen ungeklärt ist die Frage, ob eines der in den vergangenen zwei Jahren neu gegründe-

ten Rocket-Startups bald die umsatzstarke Nachfolge zu HelloFresh und Delivery Hero antreten kann. Dass die aktuellen Hoffnungsträger aus dem Bereich Food kommen, ist mehr Zufall als Planung. Rocket erklärt gegenüber NGIN Food: „Wir sind in vier Fokussektoren aktiv: Food & Groceries, Fashion, Home & Living und General Merchandise. Diese vier Marktsegmente sind für uns gleichsam bedeutend.“ Das einzige Kriterium für eine Gründung sei „die Überzeugung, dass ein Unternehmen skalierbar ist und einen signifikanten Marktanteil erreichen kann“, heißt es weiter. Immerhin bei drei

Geschäftsmodellen im Lebensmittel-Sektor hält Rocket das für möglich: Die Firmenschmiede setzt künftig auf die Fertiggericht-Lieferanten Everdine und EatFirst sowie die Plattform CaterWings, über die Geschäftskunden Caterer bestellen können. Sie scheint derzeit am Weitesten zu sein. Über seine Zahlen verrät das Startup aber wenig. Nur so viel: Nach eigenen Angaben beschäftigt CaterWings 70 Mitarbeiter und ist in Deutschland und den Niederlanden sowie London und Manchester verfügbar. Und: Seit dem Markteintritt Ende 2015 verzeichne man monatlich zweistellige Wachstumsraten. Für ein Rocket-Startup eigentlich ein Muss.

Welche Social-Media-Kanäle nutzt die Firma vor allem? Zum einen die üblichen Kanäle wie Facebook, Instagram, Twitter und Pinterest. Und zum anderen unseren Unternehmensblog.

So einen

SHITSTORM Ritter Sport ist ein Mittelständler, der auf ein klassisches Offline-Produkt setzt: Schokolade, made in Germany. Weniger klassisch sind die Online-Kampagnen, mit denen der Konzern in den vergangenen Monaten auf sich aufmerksam machte. Mit der limitierten Sorte namens Ritter Sport Einhorn landete er im vergangenen Jahr einen Verkaufshit. 300.000 Stück wurde er innerhalb weniger Minuten los, alleine über seinen Online-Shop. Weil der Andrang so groß war, brach der Server der Website zusammen. Auf Facebook erntete das Unternehmen deshalb einen Shitstorm. Hier erzählt Geschäftsführer Andreas Ronken, wie er mit der Kritik umgegangen ist. Schmeckt Ihnen die Einhornschokolade eigentlich? ANDREAS RONKEN: Ja, natürlich, obwohl ich nicht so sehr der Typ für Fruchtschokolade bin. Einigen Kommentatoren auf Facebook war sie zu süß. Nach unserem Wissen haben die meisten Käufer die Schokolade gar nicht gegessen. Sie liegt bei ihnen noch verpackt irgendwo in der Vitrine oder am Schreibtisch. Zum Werterhalt lassen sie sie ungeöffnet. Warum glauben Sie das? Das ist dieses Willhabensyndrom. Die Schokolade ist limitiert, die Verpackung schön. Nur die wenigsten haben sie wegen des Inhalts gekauft, als vielmehr wegen der Geschichte darum herum. Die Welt ist schlecht genug, es gibt so viele negative Themen. Da muntern Fabelwesen die Leute ein bisschen auf.

52 I RITTER SPORT

muss man aushalten

Mit der Einhorn-Schokolade landete Ritter Sport einen Viralhit – und erntete viel Kritik Wie binden Sie Kunden online ein? Auf unserer Website können sie eigene Schoko-Kreationen einreichen. Viele witzige und teilweise auch sehr gute Ideen erreichen uns so. Zum einen setzen wir auf klassische Fake-Sorten – also auf Sorten, bei denen eine lustige Verpackungsidee und keine echte Schokolade entsteht. Sie heißen Rügenwalder Mett, Schokopizza oder Kohlwurst. Zum anderen realisieren wir manche Vorschläge der Kunden auch wirklich. Beispielsweise haben wir unsere Olympia-Schokolade, die wir aus dem Sortiment genommen hatten, auf vielfachen Wunsch neu produziert. Und auch die Einhornschokolade war ein Hinweis der Community, den wir aufgegriffen haben. Arbeiten Sie schon am nächsten Viralhit? Einmal im Jahr gibt es den Einhorntag, am 1. November. Es kann sein, dass da noch was kommt. Aber wir werden jetzt nicht jedes Jahr was mit Einhörnern machen, das wäre langweilig. Ein kleines Team denkt sich bei uns genau solche Themen aus. Die Geschäftsführung erfährt davon als Letztes, damit sie kein Veto mehr einlegen kann. Im Ernst:

Sie haben einen Shitstorm kassiert, als die lange angekündigte Einhorn-Schokolade innerhalb von Minuten ausverkauft war. Ach, das war nicht so wild. Im Endeffekt war klar, dass es Frustrationen gibt, wenn man etwas stark Limitiertes nicht bekommt. Das muss man aushalten können, wenn man so etwas macht. Wir haben da einen Zeitgeist getroffen. Vorher wussten viele Leute noch nicht mal, was ein Einhorn genau ist. Dann wollten alle plötzlich diese Schokolade haben. Damit konnte keiner rechnen. Wir haben in den sozialen Medien versucht, offen und ehrlich mit unseren Kunden zu kommunizieren, dass uns diese Geschichte überrollt hat. Warum produzieren Sie die Schokolade nicht einfach nach? Aus mehreren Gründen. Erstens ist alles, was limitiert ist, begehrlich. Es war nicht unser Ziel, halb Deutschland mit den Tafeln zu überschwemmen. Und zweitens haben wir für die Schokolade Rohstoffe gebraucht, spezielle Fruchtpulver, die wir nicht mehr vorrätig hatten. Die Herstellung war sehr aufwendig. Wir produzieren 50 Sorten in unserem Werk in Waldenbruch, immer nach Auftrag. Den Produktionsplan kann man nicht einfach so umstellen und schnell mal drei Millionen Einhorn-Schokoladen draufsatteln. Das geht nicht. Haben Sie durch die Aktion mehr Kunden gewonnen oder verloren? So genau lässt sich das nicht messen. 500 Millionen Kontakte haben wir in dem Zeitraum über die sozialen Medien gehabt, vor allem bei jüngeren Nutzern und im Ausland. Das hat sicher einen positiven Effekt. Aber ob die Leute morgen im Edeka unsere Schokolade kaufen, können wir nicht sagen. Welche Sorten liegen gerade im Trend? Ganz klar, limitierte Schokolade kommt gut an. Eine begrenzte Stückzahl macht einfach begehrlich, vor allem, wenn der Hersteller der Dienstleister der Community ist und das Produkt nach ihren Wünschen erschafft. Außerdem gibt es seit Jahren bei Schokoladen den Trend zur Natürlichkeit, also in Richtung pur. In unseren Schokoladen stecken nur die Zutaten, die der Konsument vermuten würde. Haben die Leute früher andere Sorten als heute gegessen? Vor sechs, sieben Jahren gab es mal eine Modewelle mit

Lavendel- und Salzschokolade, also mit exotischen Geschmäckern. Die war allerdings nur von kurzer Dauer. Die klassischen Geschmacksrichtungen wie Milch, Haselnuss und dunkle Schokolade sind geblieben. Heute beschäftigen sich die Leute mehr mit den Inhaltsstoffen als früher. Sie wollen wissen, woher die Zutaten kommen und wie sie gewonnen wurden. Sie haben 2016 die Preise für die Nuss-Schokolade hochgeschraubt. Wie kam das bei den Kunden an? Ja, das war leider nötig. Nicht jede Sorte kostet in der Herstellung gleich viel. Bei uns sind die Rohstoffe der Hauptkostentreiber. Bei Nüssen gab es 2014 eine Missernte, das merken wir noch heute an den Preisen. Wir haben an den Tafeln kaum etwas verdient. Klar, wir hätten auch einfach weniger Nüsse in die Schokolade packen oder die Tafeln verkleinern können. Aber das hätte sich nicht gut angefühlt. Es war eine betriebswirtschaftliche Notwendigkeit, für diese Tafeln die Preise anzuheben, und wir haben sie nicht bereut. Wie viel weniger Nuss-Schokolade haben Sie dadurch verkauft? Bei einer Preiserhöhung ist grundsätzlich mit einem gewissen Volumenrückgang zu rechnen – das haben wir auch gemerkt. Aber inzwischen findet sich zum Beispiel die VollNuss wieder unter den Top 5 unserer beliebtesten Sorten. Wie viel Umsatz macht die Firma derzeit? Rund 485 Millionen Euro im Jahr. Wir stellen drei Millionen Tafeln Schokolade am Tag her – und die verkaufen wir auch. Und wie viel Gewinn erzielt sie? Das verraten wir nicht. Nur so viel kann ich sagen: Nach einigen schwierigen Jahren blieb 2016 wieder etwas Ertrag hängen. Wir sind auf einem guten Weg, auch wegen der erfolgreichen Marketing-Aktionen. Wie viel Geld geben Sie für Werbung aus? Unser Marketingbudget entspricht zehn Prozent vom Umsatz. Klar: Wenn der Umsatz steigt, ist auch mehr Geld für Marketing da. Die sozialen Medien funktionieren dabei anders als das Fernsehen. Hier dreht man nicht einfach nur einen Spot, um Leute zu erreichen. Auf Facebook und Twitter braucht man Menschen, die mit anderen kommunizieren. Dafür muss Geld da sein. Interview: Anne Schade

„Im Endeffekt war klar, dass es Frustrationen gibt.“ ANDREAS RONKEN

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FOTOS: CHRIS MARXEN / RITTER SPORT

Wir müssen schon ein bisschen diesen Startup-Gedanken haben und die Kompetenz den Mitarbeitern geben. Sie sollen machen, was sie für richtig halten und nicht über Standardprozesse eines Konzerns ausgebremst werden.

„LECKAAA!“

Wenn Discounter auf cool machen VON ELISABETH NEUHAUS | „Leckaaa“, „nice“ und „voll Banane“: So klingt es, wenn der Lebensmittelhandel um junge Nutzer buhlt. Kommt das an? Wir haben den Social-Media-Check gemacht. Melissa Lee holt einen Biskuitboden aus der Verpackung und zerbröselt ihn. Manche Leute seien da ja „ein bisschen etepetete“ und hätten Probleme damit, beim Vermengen ihre Hände zu benutzen, so die YumTamTam-Bloggerin. Beherzt nimmt sie den Biskuit in einer Rührschüssel auseinander und knetet auch dann weiter, als warme Butter und Frischkäse dazukommen. „Ihr müsst es fühlen!“, erklärt sie lächelnd. Im Video bereitet Lee Cakepops zu, also runde, bunt verzierte Kuchen am Stiel, die an Lollis erinnern. Mehr als fünf Millionen Mal wurde es bereits angeklickt, und es veranschaulicht, wofür YumTamTam steht: knallige und einfache Rezepte, für die das junge Publikum nicht stundenlang am Herd stehen muss. Neben Lee stehen die TV-Köchin und Bloggerin Felicitas Then und Musiker Felix Denzer vor der YumTamTam-Kamera. Hinter dem Kanal steckt Edeka. Und deshalb kommen in den Videos fast ausschließlich Produkte von „Gut und Günstig“ vor. Das ist die günstigste der Edeka-Eigenmarken. Mehr als 220.000 Abonnenten verfolgen dreimal die Woche, wie das Trio in der Altbau-Küche zuckerfreie Süßkartoffel-Brownies oder „Star-Wars-Snacks“ zubereitet. Mit solchen Inhalten will Edeka junge Kochanfänger zwischen 15 und 30 Jahren ansprechen, wie der Kommunikations-Leiter der Hamburger Zentrale von Edeka, Rolf

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Lange, erklärt. Der zweite, offizielle YouTube-Channel Edekas richte sich an eine ältere, kocherfahrene Zielgruppe. Viele Lebensmittelhändler sind auf sozialen Medien verstärkt aktiv. Durch relevante Informationen und nahbare Kommunikation, so das Kalkül der Konzerne, werden aus Kunden Fans – und der Kontakt mit der Marke über die reguläre Einkaufszeit hinaus verlängert. Mehr als tausend Food-Blogs gibt es in Deutschland. Und auf Instagram oder Pinterest gehören Schnappschüsse von Schoko-Milchshakes und Avocado-Burgern zum Inventar. So präsentiert Edeka seinen Instagram-Abonnenten Fotos im Blogger-Stil. Aufgetischt werden Karottenkuchen und Rohkost-Schalen, meist aus der Vogelperspektive. Hin und wieder wird ein Produkt platziert – immer eine Edeka-Eigenmarke. Die für das Netzwerk typische Ästhetik ist wichtiger als die Reichweite. Das bestätigt Kommunikationschef Lange: „Die Anzahl der Fans oder Follower ist für uns keine bedeutende Kennzahl und bedient nur Eitelkeiten.“ Man sehe es „als effektiver an, sich auf Image- oder Performance-Kriterien zu konzentrieren, als Mediabudget in den Fan-Aufbau zu investieren.“ Auch der Konkurrent Rewe professionalisiert seinen Auftritt in den sozialen Medien ständig. Bereits seit 2014 findet der Kunde bunte Rezeptvorschläge mit langen Listen von Standard-Hashtags wie #instafood oder #foodstagram. Besonders kreativ ist das nicht, aber es funktioniert: Der Instagram-Kanal des Unternehmens hat die meisten Nutzer

in der Branche. Seine YouTube-Aktivitäten hat auch Rewe zweigeteilt: Auf „Rewe Dein Markt“ gibt es vor allem Werbespots, Karriere-Promotion, Produktinformationen und Unternehmenshinweise zu sehen, nur vereinzelt geht es um die Essenszubereitung. Die soll der neuere Kanal „Rewe Deine Küche“ abdecken. In seiner Kommunikation setzt Rewe auch Snapchat ein. Statt eines Markenauftritts bewirbt der Konzern hier Karriereoptionen. Rewe hat es damit auf die Hauptnutzergruppe Snapchats abgesehen: digital-affine Jugendliche der Generation Z. Dass Inhalte nicht vorproduziert werden, soll für Authentizität sorgen. So sei es dem Unternehmen gelungen, sich mit der Präsenz bei Snapchat als Arbeitgebermarke zu stärken, wie die Leiterin des Rewe-Personalmarketings schreibt. Seit Mitte 2016 ist auch Lidl auf Snap-

chat vertreten. Unterstützung bekommt der Discounter dabei von der Frankfurter Werbeagentur Leo Burnett, die europaweit die Social-Media-Aktivitäten verantwortet. Entsprechend aktiv ist Lidl auch außerhalb Deutschlands, unterhält etwa Instagram-, Facebook- und Pinterest-Kanäle für Irland, Dänemark und Zypern. Anders als Edeka, Rewe oder Discounter-Rivale Aldi setzt Lidl beim Foto-Sharing auf Instagram vor allem auf Masse. Mehr als 1.000 Bilder wurden auf dem deutschen Profil seit Anfang 2015 hochgeladen. Die Lidl-Bilder wirken beliebiger als bei der Konkurrenz. Das liegt auch daran, dass Lidl viele Non-Food-Produkte präsentiert. Unter den deutschen Lebensmitteleinzelhändlern besitzt Lidl auf Facebook die meisten Fans: 2,3 Millionen sind es derzeit. Lidl bewirbt hier Gewinnspiele, verweist auf Angebote, gibt Rezept- und Deko-Ideen und kommuniziert rege mit den Kunden. Außerdem lässt Lidl sich regelmäßig auf kleine Kabbeleien mit der Konkurrenz ein, stichelt zum Beispiel gegen deren Werbeaktionen und besticht sogar durch Selbstironie. Auch auf Twitter liegt man an der Spitze. Trotzdem: Kaum ein Nutzer hat Brotbackmischungen von Lidl oder Spaghetti von Aldi im Kopf, wenn er an Essen im Internet denkt. Dabei sind die Auftritte aufwendig gemacht, und es kann sich durchaus lohnen, ein paar Minuten der täglichen Social-Media-Zeit auf Supermärkte und Discounter zu verwenden. Zum Beispiel, um sich Inspiration fürs nächste Abendessen zu holen. Von einem Status als coole Influencer sind die Supermarktketten mit ihren Kanälen noch weit entfernt.

So klingt Lidl auf Instagram O-TON „Nein, ihr träumt nicht! Ab heute gibt's unseren Einhorn-Joghurt exklusiv bei Lidl und nur für kurze Zeit! Mehr dazu seht ihr in unserer Instagram-Story oder auf Snapchat. Und immer daran denken: Mit ein bisschen Glitzer sieht die Welt schon anders aus!“ #einhornliebe #einhorn #einhornupyourlife #unicorn #einhornjoghurt #milbona #lidl #lidlde

„Die Anzahl der Fans bedient nur Eitelkeiten.“ ROLF LANGE, EDEKA

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SCREENSHOTS: LIDL, REWE

Können Lebensmittelhändler zu Social-MediaInfluencern werden?

„Bis zur zweiten Stelle nach dem Komma wird bei der Marge gefeilscht. Und sie drohen dir immer wieder: Wenn du das nicht machst, fliegst du aus dem Sortiment.“

Die Koawach-Gründer Daniel Duarte (links) und Heiko Butz (Mitte) sprechen mit einem Kunden in einer Berliner Edeka-Filiale über ihr Kakao-Produkt.

CHRIS MARXEN

ternehmen von Mymuesli bis Fritz-Kola eine Grundregel: Am traditionellen Einzelhandel führt kein Weg vorbei.

Das REGAL ist ihr Ziel Viele Startups haben neue FoodIdeen. Aber an den traditionellen Supermärkten kommen sie nicht vorbei

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VON CASPAR SCHLENK | Als Heiko Butz in seiner WG-Küche an einer Trinkschokolade tüftelte, ahnte er nicht, dass er eines Tages mit Supermarkt-Einkäufern über Margen diskutieren müsste. „Wir hatten noch keine Ahnung von Vertriebswegen und dachten, wir könnten über Cafés und Bars Fuß fassen“, erzählt der 30-jährige Gründer von Koawach. Knapp drei Jahre später machen die Koawach-Chefs Butz und Daniel Duarte den Großteil ihres Umsatzes in den Filialen von Edeka und Rewe. Mit ihrem Kakaopulver sind sie in 2.500 Geschäften gelistet, mit einem neuen Kakao-Drink sollen es sogar 6.000 sein. Im vergangenen Jahr haben sie damit einen Millionen-Umsatz erzielt. Das Berliner Startup gehört zu den wenigen deutschen Erfolgsbeispielen, die sich mit neuen Lebensmitteln auf dem Markt etabliert haben. Und bislang gilt für alle jungen Un-

Denn während große E-Commerce-Unternehmen bereits viele Milliarden mit dem Online-Verkauf von Schuhen, Smartphones oder Uhren verdienen, tut sich im Lebensmittelhandel noch wenig: Etwa eine Milliarde Euro wurde im vergangenen Jahr im Netz umgesetzt, heißt es vom Bundesverband E-Commerce und Versandhandel. Das entspricht weniger als einem Prozent des Marktes. Zum Vergleich: Bei Kleidung ist es bereits etwa ein Fünftel. Auch in den kommenden zehn Jahren werde das so bleiben, glaubt Gerrit Heinemann: „Das Einkaufsverhalten für Lebensmittel verändert sich nur extrem langsam“, sagt der Professor, der sich an der Hochschule Niederrhein mit dem Thema E-Commerce beschäftigt.

ANONYMER FOOD-GRÜNDER

Die Startups müssen die Händler dazu bringen, auf die sogenannte Listungsgebühr zu verzichten. Die kann sich schon mal auf mehrere tausend Euro belaufen. „Wir sagen den Händlern dann, dass sie mit unserem Produkt eine bestimmte Zielgruppe in den Laden ziehen“, so Zumbaum. Diese Kunden seien etwa an Themen wie Nachhaltigkeit interessiert – und würden im Durchschnitt pro Einkauf mehr bezahlen. Einmal pro Jahr müssen die Startups bei den wichtigen Vertretern der großen Handelsketten antreten, um über Zahlen, neue Produkte und die Handelsmarge zu sprechen. „Bis zur zweiten Stelle nach dem Komma wird bei der Marge gefeilscht“, erzählt ein

Unternehmer, der nicht genannt werden will. „Und sie drohen dir immer wieder: Wenn du das nicht machst, fliegst du aus dem Sortiment.“ Um die Eintrittshürden zu verringern, gibt es bei Edeka einen Startup-Beauftragten. Marcus Reh beteuert, sie hätten großes Interesse an neuen Ideen: „Wir wollen Trends entdecken und fördern.“ Wer es einmal in den Handel geschafft hat, muss mit seinem Unternehmen weiter kämpfen: Nur wenn sich das Produkt gut verkauft, bleibt es im Sortiment. Wichtig ist auch, wo das Produkt im Laden steht. Für die Bio-Suppe des Startups

Ein wichtiger Grund: In Deutschland sei ein Supermarkt maximal eine halbe Stunde von dem Wohnort entfernt. „Ein Verbraucher wird nicht anfangen, plötzlich Einzelprodukte wie Müsli oder eine Suppe online zu bestellen“, sagt Heinemann. Lebensmittel wie Weine, Delikatessen oder Sportlernahrung zählten zu den wenigen Ausnahmen, die auch online funktionieren. Zu diesem Schluss kam auch die Gründerin Laura Zumbaum: Mit ihrem Startup Selo verkauft sie ein Erfrischungsgetränk aus ganzen Kaffeekirschen. Ausgiebig studierte sie die verschiedenen Vertriebswege. „Wenn wir kein elitäres Nischenprodukt bleiben wollen, müssen wir in den Handel“, sagt Zumbaum. Gerade der Anfang war schwer: Die 28-Jährige verhandelte einzeln mit mehreren Edeka-Kaufleuten, die in Berlin Supermärkte betreiben. Schritt für Schritt kam das Getränk in erste Filialen, bald sollen weitere in Hamburg folgen. „Das hat viel Überzeugungsarbeit gekostet“, erzählt die Gründerin. Denn:

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Little Lunch befindet sich der optimale Platz im Laden beispielsweise bei den anderen Fertig-Suppen. „Wir wollen natürlich möglichst auf Augenhöhe stehen“, sagt der Gründer Denis Gibisch. Das Startup aus Augsburg ist bereits bei den großen Einzelhändlern gelistet. Von Zeit zu Zeit platzieren sie auch einen sogenannten Aufsteller im Eingang des Marktes. „Das musst du als Startup allerdings selber zahlen“, sagt Gibisch. Und Little Lunch schlägt sich gut: Im vergangenen Jahr lag der Umsatz bei zehn Millionen Euro – und er wächst weiter. Denn läuft es einmal, profitieren die Startups vom hohen Absatz des Handels.

Der Aufstieg der Food-Blogger

Janina Uhse kocht mit ihrem Produktionsteam in einer privaten Wohnung in Berlin-Kreuzberg. Zwölf Videos entstehen so alle sechs Wochen.

Professionelle Fotos, kreative Rezepte und lockere Texte. Das sind die drei Komponenten, die es für einen erfolgreichen Food-Blog braucht. Besonders hübsch anzusehen sind folgende Blogs aus Deutschland: ● ● ● ● ●

Janina, bist du eine gute Köchin? JANINA UHSE: Ich bin vor allem eine leidenschaftliche Esserin. Aber natürlich koche ich auch unheimlich gerne. Meine Großeltern kommen aus der Gastronomie, und meine Eltern sind Schausteller. Schon früher musste ich mit meiner Mutter häufig für die Angestellten kochen. Auf deinem Kanal „Janina and Food“ kochst du Strammer Max oder Hummus-Suppe. Wer sucht die Rezepte aus? Ich gebe den Tenor vor. Ich habe mit Backen beispielsweise nichts am Hut, denn ich hasse es, mich an genaue Zutatenmengen zu halten. Healthy Food steht bei mir ganz oben. Wen willst du mit deinen Rezepten erreichen? Meine Zielgruppe sind junge Mütter, Studenten oder Berufseinsteiger. Ich benutze einfache Zutaten, die man häufig ohnehin zu Hause hat, ohne viel ChiChi. So kann ich meine Zuschauer mit meiner Leidenschaft anstecken und zum Kochen bewegen.

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„CHICHI“

kommt nicht in die Küche Ist das das Erfolgsgeheimnis deines Channels? Das Erfolgsgeheimnis ist, dass ich meine persönliche Note mit reinbringe und neben dem Kochen auch private Erlebnisse mit den Zuschauern teile. Dein Kanal läuft ausschließlich über Facebook, gar nicht über Youtube. Wieso? Die Zielgruppe, die ich ansprechen möchte, ist auf Facebook am aktivsten. Hinter deinem Food-Kanal steckt die Produktionsfirma Ufa, die auch die Serie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ produziert, in der du mitspielst. Kam so der Kontakt zustande? Ich wollte neben meinem täglichen Job als Schauspielerin zum Ausgleich gerne ein Projekt haben, das mich auf andere Art kreativ fordert. Da ich Kochen liebe, kam mir die Idee für den Food-Channel. Allerdings wusste ich von Anfang an, dass ich dafür Hilfe benötige, sonst wirken die Videos unprofessionell.

Ich wollte jemanden haben, der mich bei der Produktion unterstützt, die Videos filmt und schneidet. Deswegen bin ich mit der Idee auf die Ufa zugegangen. Wie viele Personen helfen dir? Im Kernteam sind wir vier Personen. An einem Produktionstag unterstützen mich auch mal sieben Menschen. Das klingt sehr aufwendig... Das ist es auch. Unser Anspruch ist es, vier Videos die Woche hochzuladen. Deswegen war bei „Janina and Food“ von Beginn an Power dahinter, das war nie ein Nebenbei-Projekt. Ganz im Gegenteil. Wir drehen an zwei Tagen alle eineinhalb Monate, an denen insgesamt zwölf Videos entstehen. Das zahlt sich aus: Heute habe ich eine große, hochwertige und engagierte Community, die sehr aktiv ist. Aktuell folgen mehr als 200.000 Menschen meinem Kanal auf Facebook.

CHRIS MARXEN

Die Schauspielerin Janina Uhse zählt mit ihrem FacebookKanal „Janina and Food“ zu den wichtigsten Food-Bloggern Deutschlands. Wir wollten wissen, was sie so erfolgreich macht

Eatery Berlin Living the healthy choice Krautkopf Our Food Stories Eat this

Wie finanziert ihr das Projekt? Wir arbeiten glücklicherweise mit vielen Partnern, für die wir Rezepte entwickeln und die wir unserer Community vorstellen, wie Amarula, Lieken Urkorn oder Rama. Wie viel Geld verdient ihr mit jeder Kooperation? Das variiert, deswegen können wir dazu keine Angaben machen. Was willst du in den kommenden Jahren mit „Janina and Food“ erreichen? Ich habe Tausende Ideen und Wünsche für die Zukunft! Ich möchte viel reisen und meine Eindrücke mit meinen Zuschauern teilen. Darüber hinaus ist alles vorstellbar. Ein eigenes Kochbuch oder auch eine eigene Gewürzmischung. Vielleicht sogar in ferner Zukunft ein eigenes Restaurant. An Ideen mangelt es mir also nicht. Interview: Hannah Scherkamp

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Ingrid Jeske auf der Fahrt durch die Dörfer KONSUM-WAGEN heißen die fahrenden Einkaufs-Laster, die durch die mecklenburgische Provinz fahren. Sie versorgen Menschen, die keine Autos haben oder zum Fahren zu alt sind, mit Lebensmitteln, Toilettenartikeln und Kreuzworträtseln. Seit 26 Jahren fährt Ingrid Jeske bereits übers Land.

MICHEL PENKE

VON MICHEL PENKE | Als der Kiosk-Wagen über das Kopfsteinpflaster holpert, klirren die Schnapsflaschen, als würden sie gleich zerspringen. Eine Packung Brause-Lollis reißt sich los und landet in der Brötchen-Kiste. Unbeirrt kämpft sich der Transporter von Ingrid Jeske weiter über die löchrige Dorfstraße. „Festhalten“, schreit sie über den dröhnenden Motor hinweg, steigt auf die Bremse und hupt drei Mal. Dann hupt sie zur Sicherheit noch einmal. Viele ihrer Kunden hören nicht mehr gut.

Jetzt kommt

INGE Die Idee, Ware zum Kunden zu bringen, gibt es schon etwas länger. Wir haben eine Frau begleitet, die das Liefergeschäft seit mehr als 20 Jahren betreibt – und noch nie etwas von Foodora oder Lieferando gehört hat

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Es ist Freitag, westliches Mecklenburg, ein warmer Frühlingstag. Ingrid Jeske ist auf Tour. Jeden Tag fährt sie mit ihrem mobilen Laden eine andere Strecke. Heute ist sie südlich von Wismar unterwegs. „Hallo, Inge”, sagt eine Kundin und steigt ein. Hier nennen sie alle nur Inge. Im Angebot sind Tomaten, Spülmittel, Hundefutter, die „TV Spielfilm”. Daneben gibt es Bier, Binden, Ü-Eier und Waschpulver. Inge weiß, was jeder kauft. Bestellen kann man bei ihr aber auch. Ein Lieferdienst – seit mehr als zwei Jahrzehnten. Foodora, Lieferando und all die gehypten Berliner Food-Startups kennt sie nicht. „Ich hab’ da gar keine Zeit für”, sagt Inge und dreht den Zündschlüssel. Das nächste Dorf wartet. Wieder röhrt der Motor, wieder hüpfen die eingekochten Erbsen im Regal, als der Wagen einen Satz nach vorne macht. „Die Kunden sind so dankbar, dass ich vorbeikomme”, erzählt Inge während der Fahrt. Trinkgeld gibt es immer reichlich, manchmal auch einen Kuchen. „Ich hab’ genug Kunden”, sagt sie und erzählt von einer zänkischen Dorfbewohnerin, die nur bei der Konkurrenz – nie bei ihr – kaufen wollte. „Als der andere Laden aufhörte, bin ich bei

der Kundin vorbeigefahren und hab’ gewunken.” Inge kichert. „Als die Kundin in der Woche darauf auf mich gewartet hat, bin ich vorbeigefahren – und hab’ wieder gewunken.” So leicht vergisst Inge nicht. Heute jedoch streikt der mobile Laden. Der Motor dröhnt, aber der Wagen fährt nicht mehr als 50 Kilometer pro Stunde. 70, wenn es bergab geht und der Wind von hinten kommt. Irgendetwas ist kaputt. Das ist schlimm, denn Inges Laden ist auf den Dörfern eine wichtige Einrichtung. Wenn Inge nicht kommt, bleiben Brotkörbe leer und der Nachschub an Kreuzworträtseln versiegt. Irgendwann geht auch das Klopapier aus. Für viele Menschen ohne Fahrerlaubnis jenseits der 80 ist ihr Wagen die einzige Einkaufsmöglichkeit. Begonnen hat es vor vielen Jahren: In der DDR lässt sich Inge zur Fleischerin ausbilden. „Ich hab’ alles gemacht”, sagt sie, „abgestochen, gehäutet, Fleisch gehackt, Würste.” Eines Tages wird sie gefragt, ob sie nicht den Fleischerwagen fahren könne. Sie kann. Doch bald schmerzt ihr Rücken vom Fleisch hacken und ein Kunde beschwert sich, dass sie nicht freundlich genug sei. Inge reicht’s. Sie kündigt – und bekommt ein neues Angebot: Diesmal ist es ein fahrender Laden. Kein Fleisch hacken. „Und 300 D-Mark wollt’ er mir extra draufgeben, wenn ich für ihn fahre”, sagt Inge, „da hab’ ich Ja gesagt.” Norbert heißt der Mann. Bis heute trägt sie seinen Ehering. Seit 26 Jahren fährt sie den Laden. „Wir hatten mal jemanden eingestellt”, sagt Inge, „aber der hat nur geklaut.” Auch wenn ihr Mann eine ihrer Touren durch Manderow, Groß Stieten und Warnow übernahm, gab es keinen Umsatz. „Die Leute haben durch die Gardinen ge-

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„Ich kann die Kunden nicht im Stich lassen”, sagt Inge erschrocken. „Die warten auf ihr Brot.“

September 19, 2017 – Berlin

INGRID JESKE

guckt”, sagt sie, „aber keiner ist rausgekommen.” Inge aber kennen sie. Der nächste Ort heißt Thorstorf. Inge hupt das Dorf zusammen, öffnet die Tür und begrüßt zwei Kundinnen. Brot, Würstchen und eine Fernsehzeitschrift – als das Geschäftliche beendet ist, stellt sich Inge neben die Kunden und hält ein Schwätzchen. Die schwache Frühlingssonne wärmt den Asphalt der Dorfstraße. Schwalben sausen über den Konsum-Wagen. Zwei, drei Mal am Tag gönnt sich Inge eine Pause und steckt sich eine Zigarette an. „Ich rauche nicht”, sagt sie, „Ich pass’ nur auf, dass das Feuer nicht ausgeht.” Sie lacht. Neun Monate, eine Woche und einen Tag hat sie nicht geraucht. Dann kam 2016 der Tag, an dem ihr Mann Norbert ins Hospiz eingeliefert wurde. Genau wie sie ist er übers Land gefahren. Er hat die Firma geführt, sie war angestellt. Doch eines Tages konnte er nicht mehr: Krebs. „Da hab’ ich wieder angefangen”, sagt Inge und passt auf, dass ihre Zigarette nicht ausgeht. „Ich hab’ ihm morgens zu Essen und zu Trinken hingestellt, aber im Hospiz haben sie sich nicht gekümmert. Stundenlang, nichts!” Sie zieht das Handy aus der Hose und zeigt ein Foto. Ein alter Mann. Norbert. Er ist auf den Boden gestürzt, dünne Beine, in Unterwäsche, das Gesicht auf der Erde. Eine Wasserflasche steht neben seinem Kopf. „Er hatte Durst.” Inges Stimme bricht, als sie das sagt. Der Anblick ihres hilflosen Mannes tut ihr weh. Ihre Augen schimmern feucht, das Sprechen fällt ihr schwer. „Die haben ihn stundenlang da liegen lassen. Keiner hat’s bemerkt.“ Nach dem Vorfall droht sie dem Hospiz. Ab dann steht ein Babyphone im Zimmer ihres Mannes.

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Als der Krebs Norbert schließlich besiegt, belädt Inge ihren Wagen, füllt ein paar Formulare aus und fährt wieder übers Land. Sie ist nun Unternehmerin und muss sich um alles kümmern: die Lieferanten, die Kunden, die Schulden. Auch um die Reparaturen am Kiosk.

Encounter demanding consumers and the next level of retail innovations

Als sie auf die Bundesstraße abbiegt, röchelt der Wagen nur noch und quält sich über einen 20 Meter hohen Hügel. In Mecklenburg heißt so etwas Berg. „Siehste das?”, schreit sie gegen den wummernden Motor an, „Nicht mehr als 25 Kilometer pro Stunde!” Hinter dem Wagen bildet sich bereits eine Schlange von Autos. Ein Motorrad überholt den Kiosk und hupt verärgert. „Leck mich, du blödes Kamel!“, brüllt Inge hinterher. Doch der Wagen muss in die Werkstatt. Das weiß auch Inge. „Er kriegt einfach nicht genug Luft”, sagt Mechaniker Ronni. Der Turbo ist kaputt. „Willst du ihn gleich hier lassen?”, fragt Ronni und deutet auf den Kioskwagen. „Ich kann die Kunden nicht im Stich lassen”, sagt Inge erschrocken. „Die warten auf ihr Brot.” Und so muss der Turbo noch bis Montag durchhalten. Montags fährt Inge nicht. „Da mach ich Behördengänge und kläre das mit den Lieferanten.” Ansonsten fährt sie fast immer. Nur nach Ostern muss sie eine Woche aussetzen. „Da hab ich Pflichturlaub”, sagt Inge und grinst, als sie im letzten Dorf des Tages Einkäufe zusammenpackt. „Macht 6,54 Euro.” Die Kundin gibt einen Zehn-Euro-Schein. Als Inge wechseln will, winkt sie ab. „Stimmt schon”, sagt die 86-Jährige, steigt schwerfällig aus dem Kioskwagen und dreht sich auf der letzten Stufe um: „Wir brauchen dich ja. Wenn du nicht mehr kommst, sehen wir alt aus.”

Wenn der Konsum-Wagen in einem Dorf ankommt, hupt Inge laut. So hören die Kunden, dass der Einkaufs-Laster da ist. Doch heute macht der Motor Probleme: Der Turbo ist kaputt, erklärt Mechaniker Ronni. Inge ärgert sich.

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