VERGEBUNG

Raum lassen für den Begriff der Vergebung. Im ökonomisch verstandenen .... vergebene Schuld verschlossen gehalten hätte. Während die Eröffnung eines.
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ISBN 978-3-89785-631-8

VERGEBUNG Johannes Brachtendorf | Stephan Herzberg (Hrsg.) ·

Das Phänomen der Vergebung besitzt einen festen Platz in unserer moralischen Lebenswelt. Als endliche Vernunftwesen, die einerseits eine Vielzahl von Bedürfnissen und Interessen haben und andererseits unter dem Anspruch der Moral stehen, werden Menschen immer wieder aneinander schuldig. Das Unrecht und das Leid, das sie dem anderen zufügen – es reicht von alltäglichen Nachlässigkeiten bis zu schweren Verbrechen –, ist Gegenstand des Vergebens. Doch was ist überhaupt Vergebung? Was sind die wesentlichen Merkmale dieses Begriffs? Was genau bewirkt Vergebung? Darf und soll Vergebung überhaupt gewährt werden? Wie ist Vergebung zu rechtfertigen? Wer darf vergeben? Eine Moralphilosophie, welche die conditio humana in ihrer ganzen Breite zu berücksichtigen versucht, muss auch diese Fragen behandeln. So kann sie zur Überwindung von Schuld und zur Wiederherstellung gestörter menschlicher Beziehungen beitragen. Die einzelnen Beiträge des vorliegenden Bandes nehmen zum einen die anglophone Gegenwartsdiskussion auf, die sich vorwiegend an Joseph Butler orientiert, berücksichtigen zum anderen aber auch die historische Dimension des Themas, insbesondere die Antike sowie die moderne Phänomenologie.

Johannes Brachtendorf | Stephan Herzberg (Hrsg.)

VERGEBUNG

Philosophische Perspektiven auf ein Problemfeld der Ethik

Brachtendorf/Herzberg (Hrsg.) · Vergebung

Johannes Brachtendorf, Stephan Herzberg (Hrsg.)

Vergebung Philosophische Perspektiven auf ein Problemfeld der Ethik

mentis MÜNSTER

Gefördert von der Diözese Rottenburg-Stuttgart sowie von der »Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen e.V.« Einbandabbildung: Rembrandt van Rijn: Die Heimkehr des verlorenen Sohnes, um 1666/1669 (St. Petersburg, Eremitage)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier

© 2014 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-631-8 (Print) ISBN 978-3-89785-893-0 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS

Johannes Brachtendorf und Stephan Herzberg Einleitung 7 Johannes Brachtendorf Vergebung – eine Begriffsanalyse

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Richard Schaeffler Schuld, Vergebung und Sühne als Gegenstand der philosophischen Ethik 35 Klaus Lennartz Die (fast) verwaiste Vergebung – Schuld, Vergebung und Sühne in der griechischen Tragödie 59 Stephan Herzberg Verzeihen ist besser als Vergelten – Über den Umgang mit moralischen Verfehlungen in der antiken Ethik 85 Theo Kobusch Schuld, Vergebung und Freiheit im Denken der christlichen Spätantike 115 Linda Radzik Joseph Butler on Forgiveness

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Inhaltsverzeichnis

Werner Stegmaier Schuld und Rang – Nietzsches Vorschlag zur Überwindung des Schuldkomplexes 149 Reinhold Esterbauer Zeit zu vergeben – Phänomenologische Zugänge zum Problem der Schuld 167 Aaron Looney Unstrafbar, Unsühnbar, Unvergebbar – Vladimir Jankélévitch und die Grenzen zwischenmenschlicher Vergebung 187 Franz-Josef Bormann Schuld, Vergebung, Sühne aus moraltheologischer Sicht 217

Personenregister Sachregister

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Autorenverzeichnis

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Johannes Brachtendorf und Stephan Herzberg EINLEITUNG Das Phänomen der Vergebung besitzt einen festen Platz in unserer moralischen Lebenswelt. Wir werden aneinander schuldig und vergeben einander. Der Mensch ist ein endliches Vernunftwesen, das einerseits seine Bedürfnisse befriedigen muß und sich andererseits den Ansprüchen der Moral ausgesetzt sieht. Getrieben vom Selbstinteresse, verstößt er oftmals gegen die sittlichen Gebote der Fairness, der Gerechtigkeit und des Wohlwollens. Das Unrecht und das Leid, das wir dabei den anderen zufügen – es reicht von alltäglichen Nachlässigkeiten bis zu schweren Verbrechen –, ist Gegenstand des Vergebens oder Verzeihens. Die Moralphilosophie befaßt sich zunächst mit der Begründung eines Kriteriums, das es erlaubt, gut und böse zu unterscheiden. Die Vergebung hat ihren Ort da, wo Böses getan wurde, und wo das Opfer vor der Frage steht, wie mit dem erlittenen Unrecht und mit demjenigen, der es zugefügt hat, umzugehen ist. Was ist Vergebung? Welche sind ihre Wesensmerkmale? Was bewirkt sie? Darf und soll Vergebung überhaupt gewährt werden? Wer darf vergeben? Dies sind Fragen, die die Moralphilosophie ebenfalls zu behandeln hat. Denn wenn es Aufgabe der (praktischen) Philosophie ist, Phänomene zu beschreiben, Begriffe zu klären und Bewertungen zu rechtfertigen, dann ist Vergebung nicht nur ein legitimes, sondern auch ein notwendiges Thema philosophischer Reflexion. Freilich kann die Geschichte dieses Themas die Meinung begünstigen, Vergebung sei vor allem ein christlich-religiöser Begriff, der primär von der Theologie zu bearbeiten sei. Denn während Vergebung in der paganen antiken Literatur und Philosophie erst ansatzweise präsent ist, tritt sie mit dem christlichen Evangelium deutlich hervor und entfaltet eine geradezu kulturprägende Wirkung. Hinzuweisen ist hier etwa auf die Vater-Unser-Bitte: »Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern« (Mt 6,12), sowie auf die Aufforderung Jesu, dem anderen nicht nur sieben Mal, sondern siebenundsiebzig Mal, also wohl unbegrenzt oft zu vergeben (vgl. Mt. 18,21f.). Doch Hannah Arendt ist zuzustimmen, wenn sie schreibt: »Was das Verzeihen innerhalb des Bereiches menschlicher Angelegenheiten

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vermag, hat wohl Jesus von Nazareth zuerst gesehen und entdeckt. Daß diese Entdeckung in einem religiösen Zusammenhang gemacht und ausgesprochen ist, ist noch kein Grund, sie nicht auch in einem durchaus diesseitigen Sinne so ernst zu nehmen, wie sie es verdient« (Vita activa – oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, 234). Zwar liegt ein wichtiger Ausgangspunkt der modernen philosophischen Diskussion des Themas wiederum in Texten religiösen Ursprungs, nämlich in den beiden Predigten des anglikanischen Bischofs Joseph Butler von 1726 mit dem Titel Upon Resentment und Upon Forgiveness of Injuries, die das Gebot der Feindesliebe (vgl. Mt. 5,43f.) auslegen. Allerdings finden diese Predigten heute aus zwei Gründen besondere Beachtung. Erstens befaßt Butler sich dort vor allem mit der Vergebung der Menschen untereinander statt mit der Vergebung menschlicher Sünden durch Gott, und zweites bemüht er sich um eine Analyse der Begriffe resentment (Empörung, Groll, Übelnehmen) und forgiveness (Vergebung) in moralphilosophischer Perspektive. Beides macht ihn zum Stammvater der gegenwärtigen philosophischen Diskussion um Vergebung. Selbstverständlich kann und muß Vergebung auch von anderen Disziplinen als der Philosophie thematisiert werden, beispielsweise von der Theologie, aber auch von der Psychologie. Beide haben ihre je eigene Perspektive auf das Thema: die Theologie, indem sie das Verhalten der Menschen zueinander vom Gottesbezug des Menschen her in den Blick nimmt; die Psychologie, indem sie den Umgang des Opfers und des Täters mit dem erlebten Unrecht und mit den Schuldgefühlen untersucht. In jedem Fall sollte aber die Begriffsarbeit der Philosophie die Grundlage aller weitergehenden Bemühungen um das Phänomen der Vergebung bilden. Der vorliegende Band ist dieser Begriffsarbeit gewidmet. Johannes Brachtendorf nimmt im eröffnenden Beitrag eine Vermessung des Begriffsfelds von »Vergebung« vor. Er arbeitet zunächst konstitutive Faktoren heraus, die gegeben sein müssen, damit überhaupt von Vergebung gesprochen werden kann. Zum paradigmatischen Fall von Vergebung gehört etwa das Vorliegen von Schuld als moralisch falscher Schädigung eines Menschen durch einen anderen, also eine Täter-Opfer-Relation, ebenso die Reue auf Seiten des Täters und seine Bitte um Vergebung, ferner die Bereitschaft zur Wiedergutmachung, und schließlich die ausdrückliche Gewährung von Vergebung durch das Opfer. Zweitens fragt der Beitrag, was der Vergebungsakt in Bezug auf das Opfer, den Täter und die Beziehung zwischen beiden bewirkt. Da Vergebung ein moralisches Phänomen ist, muß weiter untersucht werden, welche der wichtigsten Moraltheorien (Tugendethik, deontologische Ethik, Utilitarismus) dieses Phänomen am ehesten zu integrieren und ihm gerecht zu werden vermag. Wie stellen sich Schuld und Vergebung in der Perspektive jeder dieser Theorien dar? Schließlich werden häufig vorkommende Grenzfälle erörtert, in denen nicht alle, aber doch einige Merkmale

Einleitung

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eines paradigmatischen Begriffs der Vergebung vorliegen, so etwa die Frage, ob einem unbußfertigen Täter vergeben werden kann, ob Kollektive und Institutionen um Vergebung bitten oder Vergebung gewähren können, und ob Selbstvergebung möglich ist. Der Beitrag faßt zugleich die gegenwärtige Diskussion um Vergebung zusammen, wie sie vor allem im englischen Sprachraum intensiv geführt wird. In systematischer Absicht überprüft Richard Schaeffler die wichtigsten traditionellen Begriffe von Schuld daraufhin, ob und in welchem Sinn sie Raum lassen für den Begriff der Vergebung. Im ökonomisch verstandenen Modell der Schuld als Nicht-Erfüllung berechtigter Ansprüche anderer bleibt die Schuld, etwa als Geldschuld, dem Schuldner äußerlich, so daß auch ein anderer sie stellvertretend begleichen kann. Vergebung ist hier ein bloßer Nachlaß ökonomischer Forderungen. Im juristischen Modell gilt Schuld als Normwidrigkeit, d. h. als Gesetzesbruch, durch den der Verbrecher gegenüber der Rechtsgemeinschaft als Ganzer schuldig wird. Diese Schuld kann durch eine Amnestie vergeben werden. Ein drittes, moralphilosophisches Modell, das vor allem auf die antike Philosophie zurückgeht, deutet Schuld als seelische Selbstverletzung des sittlichen Subjekts. Hier herrscht der sokratische Grundsatz, daß Unrechttun schlimmer ist als Unrechtleiden, weil die moralische Schuld einen Menschen immer weniger erkennen läßt, was gut und was böse ist, und seine Befähigung zum Guten mindert. Tugend meint dagegen die Einübung in eine Praxis, die den Menschen zur Selbstfindung und Selbsthingabe an das Gute befähigt. Vergebung bedeutet in diesem Modell, dem Täter die Rückkehr auf den Pfad der Tugend zu ermöglichen. Die Grenze dieses Vergebungsverständnisses ist jedoch durch die Grenze der Tugendethik überhaupt gezogen, die sich wegen des ihr zugrunde liegenden Perfektionsgedanken stets in der Gefahr befindet, zu einer Leistungsmoral auszuarten. Einer solchen Leistungsmoral stellt Richard Schaeffler ein viertes Verständnis von Vergebung gegenüber, nämlich Vergebung als »gutmachende Güte«. So gesehen bedeutet die Vergebung ein Mitgehen des Opfers mit dem Täter, indem es diesem die Schuld nicht mehr vorhält und ihm so dabei hilft, die Last der eigenen Gewissensanklage zu tragen. Dadurch eröffnet sie dem Täter eine neue Zukunft. Diese Eröffnung verdankt sich nicht dem eigenen Tugendstreben, sondern ist das Geschenk eines anderen; zugleich ermöglicht und verlangt sie ein neues moralisches Bemühen des Täters. Von hier aus ergibt sich eine philosophische Perspektive auf den christlichen Gedanken stellvertretender Sühne, in der dieser weder auf eine Verwechslung moralischer mit ökonomischer Schuld hinausläuft, noch das Leiden als solches verherrlicht wird. Den historischen Teil dieses Bandes eröffnet Klaus Lennartz, indem er der Frage nachgeht, ob und inwiefern in der griechischen Tragödie Vergebungsakte thematisiert und auf der Bühne dargestellt werden. Da in den

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Dichtungen des Aischylos, des Sophokles und des Euripides die Schuld des tragischen Helden im Vordergrund steht, könnte erwartet werden, daß das Thema der Vergebung aufkommt, zumal diese Schuld oft eher schicksalhafter als persönlicher Art ist. Allerdings zeigt sich, daß die Tragiker nicht Vergebung, sondern Sühne als Antwort auf Schuld vorführen. Im Zentrum steht die Idee der göttlichen Gerechtigkeit, die die Schuld des tragischen Helden durch dessen Vernichtung straft. Doch lassen sich auch einige Ausnahmen vom Schuld-Strafe-Schema finden, in denen die Idee der Vergebung in der griechischen Tragödie aufscheint, so etwa in Ödipus auf Kolonos und im Philoktet. Insgesamt steht Vergebung wegen der Dominanz des Talionsgedankens hier aber noch auf verwaistem Boden. Stephan Herzberg geht den Ansätzen des Vergebungsgedankens in der griechischen Philosophie von der Spruchweisheit bis zu Aristoteles nach. Grundsätzlich liefert der ethische Perfektionismus, der dem antiken Tugendgedanken zugrunde liegt, kein günstiges Umfeld für die Idee der Vergebung, denn er beinhaltet die Vorstellung, daß der Täter stets sich selbst am meisten schade, und daß der wahrhaft tugendhafte Mensch aufgrund seiner seelischen Vollkommenheit gar nicht geschädigt werden könne. Syngnômê meint daher oftmals bloße Entschuldigung als Einsicht darein, daß der Handelnde in Wahrheit gar keine Schuld auf sich geladen hat und daher entschuldigt ist. Der Beitrag weist aber nach, daß sich schon in der griechischen Spruchweisheit, dann aber vor allem bei Xenophon und Aristoteles die Vorstellung von Vergebung im Sinne eines verzeihenden Verständnisses und damit eines Verzichts auf Vergeltung findet, der begründet ist in der Einsicht in die Schwäche der menschlichen Natur. Damit liegt bei diesen Autoren zwar noch nicht der paradigmatische Begriff von Vergebung vor, aber doch weit mehr als eine bloße Entschuldigung. Theo Kobusch zeigt, wie die christlichen Denker der Antike die platonische und stoische Idee des inneren Menschen neu zur Geltung bringen und daraus die Begriffe des Willens, der Schuld, der Reue und der Vergebung formen. Mit der »Entdeckung des Willens« in der Patristik erfährt auch die menschliche Freiheit eine besondere Würdigung. Dadurch wird es möglich, die Fähigkeit zum Verzeihen als Proprium des Menschen zu bestimmen. Die Kirchenväter wenden sich damit bewußt gegen das klassisch-griechische Gerechtigkeitsdenken, das sich bis in den Neuplatonismus hinein durchhält, und knüpfen statt dessen an die altgriechische Spruchweisheit an, derzufolge gilt: »Verzeihen ist besser als Rache.« Vergebung bedeutet nun, den Täter nicht restlos mit seiner bösen Tat zu identifizieren, sondern den Zusammenhang von Täter und Tat so weit zu lockern, daß das Opfer zum Täter sagen kann: So, wie du nach deiner Tat zu sein scheinst, bist du in Wirklichkeit nicht. Bei den Predigten Bischof Butlers handelt es sich um Schlüsseltexte des modernen Diskurses über Vergebung. Sie stellen den gemeinsamen Bezugs-

Einleitung

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punkt zahlreicher englischsprachiger Beiträge zum Thema Vergebung dar. Linda Radzik bemüht sich um eine Interpretation dieser Texte, die sich gegen die beiden einflußreichen Deutungen von Murphy und Griswold abgrenzt, indem sie die Verbindung von Vergebung und Liebe bei Butler aufweist. Vergebung ist nach Butler nicht forswearing of resentment (Ablegen des Grolls), wie Murphy in einer oftmals wiederholten, aber bei Butler nicht zu findenden Formel meint, sondern bloß dessen Einschränkung und Limitierung auf ein gesundes Maß. Auch erschöpft sie sich nicht darin, die böse Tat vom Standpunkt eines unbeteiligten Dritten zu beurteilen, um so den Verzicht auf Rache einzuüben, wie Griswold meint, denn damit würde der Unterschied von Vergebung und bloßer Gerechtigkeit verwischt. Eine sorgfältige Lektüre der Predigten zeigt vielmehr, daß Butler die Vergebung in Verbindung mit der Nächstenliebe sieht, die eine aktive Sorge um das Wohl des Täters beinhaltet. Damit setzt Butler den Impuls fort, den die Kirchenväter gegeben haben. Drei weitere Beiträge sind der neueren kontinentaleuropäischen Diskussion um Vergebung gewidmet. Zunächst untersucht Werner Stegmaier Nietzsches Stellung zu den moralischen Begriffen Schuld, Ressentiment und Vergebung. Durch einen genealogischen Zugang versucht Nietzsche das Ressentiment als Wurzel des Schuldbegriffs und der Schuldzuweisung aufzudecken. Die Moral soll in ihrer Herkunft erklärt werden aus dem, was sie ausgeschlossen hat, nämlich aus dem Nicht- und Außermoralischen. Der Schuldbegriff stammt nach Nietzsche letztlich aus dem ökonomischen Schuldner-Gläubiger-Verhältnis und dient vor allem der Schuldzuschreibung, die als Machtinstrument verwendet wird. Das Ressentiment als Empörung über erlittenes Unrecht führt er zurück auf ein dauerhaft gehemmtes Verlangen, Rachebedürfnisse zu befriedigen, die als Schuldzuweisung ausgelegt werden. Damit will Nietzsche auch der Vergebung den Boden entziehen, denn diese setzt das Recht auf Schuldzuweisung voraus und stellt somit eine moralische Anmaßung dar, die letztlich der Machtausübung durch die Ohnmächtigen dient. Dagegen setzt Nietzsche die Idee des Individuums von Rang, das in seiner »Vornehmheit« nicht vergibt, sondern nach den Gründen fragt, die Menschen dazu nötigen, andere in Nöte zu bringen. Vergebung ist für Nietzsche also nichts moralisch Schätzenswertes, sondern verfällt zusammen mit der Moral als ganzer seiner genealogischen Kritik. Ihmzufolge ist nicht die Vergebung von Schuld zu loben, sondern die Überwindung des Schuldgedankens überhaupt ist anzustreben. Dagegen haben die von der Phänomenologie inspirierten Autoren des 20. Jhs. ein eminent positives Verständnis, das dem Phänomen der Vergebung sogar über die Moralphilosophie hinaus metaphysisches Gewicht zuerkennt. So sehen die phänomenologischen Ansätze die Vergebung tief im Prozeß der Subjektivität und der Zeitlichkeit verankert. Reinhold Esterbauer stellt sich auf den Boden dieses Denkens. Er unterscheidet zunächst verschiedene

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Schuldbegriffe und befaßt sich sodann mit dem Zusammenhang von moralisch und ontologisch verstandener Schuld. Anders als Ricoeur sieht er die ontologische Schuld aber nicht in der bloßen Fehlbarkeit des Menschen, und im Gegensatz zu Heidegger deutet er sie nicht als Existenzial des Daseins, sondern er sieht sie in der Tatsache, daß ein Täter, selbst wenn ihm vergeben wurde, aufgrund der Unaufhebbarkeit der Vergangenheit immer jenes Individuum bleibt, das die Tat begangen hat. Die Vergebung wird nun von ihrer temporalen Seite her sichtbar bemacht, insofern sie nämlich einen Zeitbruch herbeiführt, der das Geschehene zwar nicht ungeschehen macht, aber dem Täter eine Zukunft neuer Handlungsmöglichkeiten eröffnet, die die nicht vergebene Schuld verschlossen gehalten hätte. Während die Eröffnung eines Neubeginns für den Täter und für seine Beziehung zum Opfer von beinahe allen Autoren als Wirkung der Vergebung gesehen wird, gewinnt sie im Umkreis des phänomenologischen Denkens eine besondere, zeitkonstituierende Bedeutung. Vergebung leistet das innerweltlich Unmögliche, indem sie die Unumkehrbarkeit der Zeit aufhebt. Die so denkenden Autoren verbinden offenbar Husserls und Heideggers Gedanken der Zeitkonstitution im Bewußtsein bzw. im Dasein mit der Idee der Intersubjektivität als Fundament der Subjektivität. Auch Vladimir Jankélévitch bezieht neben der ethischen auch die metaphysische Bedeutung der Vergebung in seine Überlegungen ein. Wie Aaron Looney zeigt, sieht Jankélévitch in der Vergebung einen Bruch in der Zeit, ein Ereignis, das die Ordnungen von Moral, Politik und Recht übersteigt, und so einen Einbruch der Transzendenz in die Immanenz darstellt. Vergeben heißt, in Freiheit auf eine Missetat zu antworten, ohne den Gesetzen des Hasses, der Rache und der Ökonomie der Strafe zu folgen. Dieses Vergeben steht aber nur den Opfern zu, nicht irgendwelchen Dritten, wie Jankélévitch in der französischen Diskussion der 1960er Jahre um die Nazi-Verbrecher und ihre Kollaborateure geltend macht. Während alle Geschehnisse im Leben »unumkehrbar« sind, sind nur die freien Handlungen »unwiderruflich« – und nur sie sind Gegenstand möglicher Vergebung. Mit Hannah Arendt meint er, daß nur das vergebbar ist, was nicht gesühnt werden kann, wofür es also keine angemessene Strafe gibt. Die Vergebung betrachtet die Untat aber so, als ob sie nicht vorgekommen wäre. Daher bleibt nach Jankélévitch auch für die unsühnbaren Verbrechen die Möglichkeit der Vergebung – Vergebung als schöpferischer Akt, der erinnert, um zu löschen: das Getan-Haben wird zum Anders-Tun-Können. Die moraltheologische Diskussion um Schuld, Vergebung und Sühne untersucht Franz-Josef Bormann. Für ein zeitgemäßes Verständnis individueller Schuld ist es ihmzufolge erstens notwendig, eine Individualisierung zu überwinden, die auf die faktische Einbindung der Entscheidungen des Einzelnen in institutionelle Zusammenhänge zu wenig Rücksicht nimmt, und zweitens

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ist ein übertrieben juridisches Sündenverständnis abzulegen, das sich auf die äußere Tat konzentriert und darüber die personale Tiefendimension der Sünde, nämlich den Stolz des Menschen und seine gewollte Abkehr von Gott aus dem Blick verliert. Eine theologische Auseinandersetzung mit dem Vergebungsbegriff muß an der Tatsache ansetzen, daß das für den paradigmatischen Fall von Vergebung notwendige Versöhnungsgeschehen zwischen Täter und Opfer oftmals nicht zustande kommt, entweder weil die Vergehen der Täter so schwer sind, daß sie innerweltlich gar nicht sühnbar sind, oder weil es sich bei Tätern und Opfern um Gruppen handelt, die – etwa im Fall global wirksamen ökonomischen Handelns – füreinander anonym bleiben. Anders als die Moralphilosophie nähert die Moraltheologie sich diesem Problem aber nicht aus ethischer, sondern aus soteriologischer Perspektive. Subjekt der Sühneleistung ist für sie nämlich Gott selbst in der Lebenshingabe Jesu am Kreuz. Der Mensch, der zur Wiedergutmachung des selbstverschuldeten Schadens unfähig ist, wird dadurch gerechtfertigt, daß er die ihm von Gott geschenkte Vergebung seiner Schuld annimmt und in seiner eigenen Vergebungspraxis den Mitmenschen gegenüber bezeugt. So erinnert das christliche Ethos an ein vorausgehendes Handeln Gottes, das der Mensch seinem eigenen Handeln anderen Menschen gegenüber zugrunde legen soll. Dieser Band ist aus einer Tagung der »Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Philosophiedozentinnen und -dozenten im Studium der katholischen Theologie an wissenschaftlichen Hochschulen« hervorgegangen, die im März 2012 in Schwerte stattfand.