Utopia reloaded? - Urbanista

begann mit der Freizeitwelt zu verschmelzen4, die "virtuelle Realität" versprach das neue ... Büros, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen und Wohnungen sollte den über- ...... Hilbersheimer, Ludwig: Großstadtarchitektur, Stuttgart 1978. Höhns ...
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Utopia reloaded? Das utopische Moment und seine Motive in der Geschichte des Städtebaus

Kontakt und Copyright: urbanista.better cities Julian Petrin Mottenburger Twiete 1 22765 Hamburg Tel: 040/29812170 Fax: 040/29812175 E-Mail: [email protected] Net: www.urbanista.de/bettercities

Utopia reloaded? | Das utopische Moment und seine Motive in der Geschichte des Städtebaus | Julian Petrin

Inhalt

Vorwort Eine Renaissance der Utopien? Das digitale Arkadien.................................................................... 3 Die Rückkehr der Ungleichheit..................................................... 4 Die Utopie als Zukunftslabor ........................................................ 4 Neue Herausforderungen - neue Utopien? ................................. 4 Plädoyer für das utopische Moment von Planung ...................... 5 1 Plan und Utopie - eine Begriffsabgrenzung Plan und Utopie - zwei Seiten derselben Medaille? .................... 6 Utopie und Möglichkeit................................................................ 8 2 Das utopische Moment und seine historischen Auslöser 2.1 Neue Welten.............................................................. 9 Utopia und Amerika...................................................................... 9 Neue, alte Welt ...........................................................................10 Vom Ozean in den Weltraum ....................................................11 2.2 Die Suche nach der perfekten Gesellschaft ..................12 Gleichheitliche Gesellschaft - horizontale Stadt ........................12 Autoritäre Gesellschaft - vertikale Stadt ....................................12 Die liberale Gleichheit der sozialistischen Kommune................14 Zwischen Gleichheit und Gleichförmigkeit................................15 Die Wiederkehr der Motive ........................................................16 2.3 Die Sehnsucht nach der idealen Form.........................18 Henne oder Ei?............................................................................18 Das Prinzip der Symmetrie..........................................................18 Die Perspektive als Ordnungsprinzip..........................................19 Die Eleganz der Rationalität .......................................................20 Die Kraft der Dimension .............................................................23 Die Flucht in die Idylle.................................................................24 2.4 Der Kampf gegen die Stadt .......................................26 Von der Gegenstadt zur wiederentdeckten Stadt.....................26 2.5 Auf der Geisterbahn der Moderne..............................29 Die düstere Metropole................................................................29 Spiegel der Ironie ........................................................................30 Spielplatz der Utopien ................................................................31 2.6 Das öffentliche Labor................................................33 Kunst und Subversion.................................................................34 Grundlagenforschung.................................................................35 Xerox Parc ...................................................................................36 Literaturverzeichnis ..........................................................38

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Vorwort

Eine Renaissance der Utopien? Es scheinen keine guten Zeiten zu sein für Utopien. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus war zunächst klar: Der Traum einer sozialistischen "besseren Welt" war ausgeträumt, die Utopie als Blaupause für gesellschaftliche Erneuerung hatte endgültig ausgedient, der "mehr als zweihundert Jahre alte Glaube, dass sich die Welt nach einem ausgedachten Bilde von Grund auf ändern lasse" schien nun beendet1. Der Politikwissenschaftler Fukuyama verkündete 1992 gar das "Ende der Geschichte"2. Der Sieg der liberalen Demokratie würde über kurz oder lang alle gesellschaftlichen Gegensätze ausgleichen - die Ungleichheit, der alte Marxsche Motor der Geschichte würde damit zum Stehen kommen. Das digitale Arkadien Und es sah zunächst ganz danach aus, als sollte Fukuyama Recht behalten. Mit der Internet-Revolution startete ab 1995 der Triumphzug der siegreichen Marktwirtschaft durch die Volkswirtschaften. Konjunkturzyklen schienen außer Kraft gesetzt3, Ökonomen beschworen den immer währenden Aufschwung, die neue Aktienwelt versprach Reichtum für jedermann. Die digitale Welt demokratisierte einerseits die Produktionsmittel, um gleichzeitig immer weitere Bereiche der reproduzierenden Tätigkeit überflüssig zu machen. Die Arbeitswelt begann mit der Freizeitwelt zu verschmelzen4, die "virtuelle Realität" versprach das neue Utopia - ein Ort, befreit von den Hemmnissen der physischen Realität - eine freie Gesellschaft in freier digitaler Architektur mit freier Sexualität im Cyberspace. Fourier, der von den Frühsozialisten beeinflusste Sozialutopist hätte seine Freude gehabt. Welche Ironie der Geschichte: Die Marktwirtschaft war im Begriff, die utopischen Ideale des alten Systemgegners umzusetzen.

1

Joachim Fest, Der zerstörte Traum, Berlin 1991

2

Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? München 1992 (USA 1992) 3 www.welt.de/daten/2001/05/02/0502wi250868.htx 4 Fast schon utopisch angesichts der im Jahr 2001 schon offensichtlichen Krise der New Economy mutet der Entwurf für den Hamburger "Media City Port" an: Eine "bessere Arbeits- und Wohnwelt", eine Stadt in der Stadt mit Büros, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen und Wohnungen sollte den übergangslosen Wechsel zwischen Arbeit und Freizeit bieten. Der Großstadtnomade wird sesshaft, er braucht sein Gebäude eigentlich kaum noch verlassen - Eine Phalanstère des digitalen Zeitalters? Seite 3

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Die Rückkehr der Ungleichheit Inzwischen ist klar: "Das Ende der Geschichte" war in Wahrheit bloß die Ruhe vor dem Sturm. So jäh, wie die "alten Utopien" in sich zusammenfielen, so plötzlich zerplatzte auch der neue Traum eines digitalen, marktwirtschaftlichen Arkadiens. Mit dem 11. September 2001 brach die alte Realität der Ungleichheit, der Konflikte um Ideologien und Ressourcen, mit kaum für möglich gehaltener Heftigkeit in die "neue Zeit" zurück und fegte alle Träume einer durch den liberalen Markt befriedeten Welt zur Seite. Kulturelle Unterschiede, Globalisierung, neue Märkte, Biotechnologie: Was gestern noch die Phantasien der Analysten, der Propheten des neuen Utopia, beflügelt hatte, wurde nun zur Bedrohung, zum Risiko. Jetzt hieß es Unüberschaubarkeit statt Wahlmöglichkeit, Verlust von alter Sicherheit statt Gewinn neuer Flexibilität. Die Krise des beginnenden 21. Jahrhunderts ist, besonders in Deutschland, auch eine Krise der Zukunftswahrnehmung und -bewertung. Wäre dies nicht eigentlich der geeignete Zeitpunkt für eine Renaissance der Utopien? Die Utopie als Zukunftslabor Der Blick in die Geschichte zeigt: Fast immer waren Utopien auch Reaktionen auf technologische und gesellschaftliche Revolutionen und ihre eruptive Freisetzung von Euphorie und Ängsten. Das Neue zu bändigen, dabei das Mehr an Möglichkeiten und Risiken im Labor weiter zu denken, das ist eine wesentliche Funktion von Utopien. So lässt sich die Inselphantasie von Thomas Morus auch als Verarbeitung der Entdeckung Amerikas lesen (siehe 2.1), so spricht aus den euphemistischen Visionen der italienischen Futuristen der lustvolle Schauder angesichts ungehemmter Mobilität, so spiegelt sich in den technizistisch-gigantomanischen Architekturen der Metabolisten die zu Beginn des Raumfahrtzeitalters für möglich gehaltene Vision der Besiedlung des Orbits. Neue Herausforderungen - neue Utopien? Und heute? Verlangen die "schrumpfenden Städte" im Osten Deutschlands und anderswo nicht auch nach ganz neuen Rezepten der gesellschaftlichen Organisation und der räumlichen Planung?5 Mit welchen Visionen begegnet die Planung den asiatischen MegaMetropolen mit ihrem "Hochgeschwindigkeits-Urbanismus"6 oder den schier unlösbaren Aufgaben, die sich in den Bevölkerungszentren der Entwicklungsländer stellen? Braucht es angesichts neuer globaler Herausforderungen wie Klimaschutz, Ressourcenknappheit oder Globalisierung nicht dringend die konkrete Utopie eines gemeinsamen, 5

Im Oktober 2003 fand im Bauhaus Dessau ein Workshop zum Thema "Schrumpfende Städte" statt, auf dem auch neue soziökonomische Organisationsmodelle mit teils utopischem Charakter diskutiert wurden (Komplementärwährung, lokale Tauschringe). 6 Der Begriff wurde geprägt von der Architekturzeitschrift "Arch+", die diesem Thema eine ganze Ausgabe widmete (Arch+, Ausgabe 1/2004?) Seite 4

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überstaatlichen Handelns? Die durch den 11. September beschleunigte Krise der überhitzten globalen Ökonomie hat die Sollbruchstellen der "Neuen Weltordnung" zu Tage treten lassen. Utopia ist längst nicht wahr geworden, es darf und muss also weitergeträumt werden. Nur wie? Plädoyer für das utopische Moment von Planung Die Utopie als absolutes Abbild der "besseren Welt" hat sich mit ihrem totalitären Zug längst selbst ad absurdum geführt. Immer wieder hat die Vergangenheit gezeigt, dass Utopien zum Scheitern verurteilt sind, sobald ihre Umsetzung geprobt wird, im Grossen wie im Kleinen7. Jedoch mit den "alten Utopien" das "Prinzip Hoffnung"8, das utopische Denken per se über Bord zu werfen, hieße, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Man muss genau unterscheiden zwischen der zu Recht diskreditierten absoluten Utopie als Form und Ergebnis utopischen Denkens und einem der Planung immanenten utopischen Moment, dem Wunschgehalt von Planung, das einmal stärker, einmal schwächer zu Tage tritt, je nachdem ob es sich um experimentelle oder um formelle Planung handelt. Natürlich hat sich der "Weltentwurf" überholt. Das ihm zugrunde liegende "utopische Moment" aber nicht. Im Gegenteil: Als der Teil der Planung, der Träume und Wünsche ausdrückt, ist das utopische Moment ein unverzichtbarer Teil visionärer Planung. Mit dem Blick in die Geschichte des utopischen Planungsdenkens möchte ich in dieser Arbeit zeigen, wie vielfältig sich das utopische Moment auch nach der Zeit der großen Gesellschaftsutopien in der Stadtbaugeschichte wieder findet. Weit über die Utopie im engeren Sinn, den "absoluten Weltentwurf" hinaus, hat das utopische Moment immer wieder die planerische Zukunftsgestaltung beflügelt und gesellschaftliche Problemlagen, auch außerhalb der Planung reflektiert, wie die Betrachtung z. B. des utopischen Moments in der Unterhaltung zeigt (siehe 2.5). Wann und aus welchen Gründen hat sich das utopische Denken in der Geschichte manifestiert? Was waren Auslöser, was waren Katalysatoren für utopische Konzepte? Wo tritt das utopische Moment außerhalb der klassischen Utopien deutlich zu Tage? Eine Analyse der wesentlichen geschichtlichen "Trigger" für das utopische Moment soll die konstituierende Bedeutung des utopischen Denkens für den modernen Städtebau deutlich machen. Die Verlängerung der geschichtlichen Linien in die Gegenwart versucht zu zeigen, in welchen Formen sich das utopische Moment heute äußert. Denn auch heute, in der "post-utopischen" Zeit hat das utopische Moment eine nach wie vor große Bedeutung für die Suche nach neuen Wegen der räumlich-sozialen Erneuerung. 7

Egon Schwarz beschreibt eindrucksvoll das Scheitern utopischer Kommunen in Amerika (Egon Schwarz, in: Utopieforschung, Band 3, S.411 ff) 8 Der Philosoph Ernst Bloch beschreibt in seinem Hauptwerk "Das Prinzip Hoffnung", wie sehr menschliches Handeln von der Sehnsucht nach einer besseren Welt angetrieben wird. (siehe auch: www.bloch.de/Bloch/index.htm) Seite 5

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1

Plan und Utopie - eine Begriffsabgrenzung

In der Geschichte der gebauten und geplanten Umwelt hat die Utopie ihren festen Platz. Von den antiken Beschreibungen idealer Staaten und Städte, von Platons Politeia und Vitruvs erster Architekturtheorie über die idealisierten mittelalterlichen Darstellungen Jerusalems führt eine direkte Linie zu Thomas Morus, der 1516 mit seinem Bericht von der erfundenen Insel "Utopia" den Begriff der Utopie prägte. Abgeleitet hat Morus seine Begriffsschöpfung aus dem griechischen "u topos", was soviel bedeutet wie "Nicht-Ort". Utopia war als Prototyp der gesellschaftlichen Utopie Ausgangspunkt und Vorbild einer Vielzahl von Visionen einer "besseren Welt", manche mehr aus baulichem, manche mehr aus gesellschaftlichem Blickwinkel formuliert. Idealstadt-Entwerfer, Revolutionsarchitekten, Frühsozialisten, Sozialreformer, Modernisten - die Geschichte des Städtebaus lässt sich auch als Geschichte des utopischen Denkens lesen. Stellt man Utopien und Planungen historisch zueinander in Bezug, stellt sich die Frage: Bis zu welchem Grad von utopischem Gehalt muss man von "reeller" Planung sprechen und wo beginnt die "pure" Utopie? Plan und Utopie - zwei Seiten derselben Medaille?

Oben: Jerusalem aus Schedels Weltchronik. Unten: Utopia von Thomas Morus, Titelholzschnitt der Erstausgabe.

Die akademische Definition des Begriffs der Utopie ist recht weit gefasst und hilft nur bedingt weiter, möchte man Plan und Utopie abgrenzen: Norbert Elias definiert Utopie als "Phantasiebild einer Gesellschaft, die in bestimmter Weise verschieden ist von der realen Gesellschaft derer, die uns dieses Phantasiebild mitteilen". Das Phantasiebild enthält nach Elias "Lösungsmöglichkeiten für Probleme realer Gesellschaften". Damit kann jedoch jeder Zukunftsentwurf gemeint sein. Sind nicht auch Pläne, Prognosen oder Szenarien Phantasiebilder, die zwar einer stark verwissenschaftlichen Imaginationskraft entspringen, aber gleichzeitig Lösungsmöglichkeiten für planerische Probleme aufzeigen? Eine deutlichere Unterscheidung von Utopie und Planung lässt sich hingegen im alltäglichen Sprachgebrauch finden: "das klingt utopisch" wird als wertende Umschreibung im Sinne von "zwar möglicherweise wünschenswert aber unrealistisch" Ideen zugesprochen, die in fast abwegiger Weise ideal zu sein scheinen. Mit diesem alltäglichen Sprachgebrauch tritt die in der wissenschaftlichen Definition höchstens subtil mitschwingende, wertende Grenze zwischen der Utopie als naiver Wunschvorstellung im Gegensatz zur Planung als vernünftigem Zukunftsentwurf klar hervor. Tatsächlich aber verhält es sich komplexer. Utopie und Plan lassen sich nicht so leicht voneinander abgrenzen, wie es die landläufige Verwendung des Begriffs vermuten lässt.

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Man nehme die Metastadt Wulfen9, Bofills zynisches Wohnexperiment Walden 710, oder die "bessere Welt" der Gated Community Celebration (siehe S.26): Alles reelle Planungen, physisch umgesetzt, ganz und gar nicht im "Nirgendland" verortet. Wer würde hier von Utopien sprechen? Jedoch: Mit ihrer unverblümten Attitüde, ein neues gebautes Umfeld als physische Voraussetzung für eine ideale Gemeinschaft zu schaffen, stehen sie den Motiven der großen Utopisten wie Morus, Fourier oder Archigram in nichts nach. Zeigt Le Corbusiers Unité d' habitation nicht dieselben utopischen Züge, wie Fouriers Phalanstére, die eine "Stadt im Haus" für eine moderne Gesellschaft schaffen wollte? Auch andersherum gilt: Manche Utopie ist bei näherer Betrachtung ganz und gar nicht "unrealistisch". Ist die in der Literatur eindeutig mit ihrer konsequenten Funktionstrennung und der Durchdetaillierung der baulichen Gestaltung nicht eine Vorwegnahme der geordneten Welt heutiger Flächennutzungs- und Bebauungspläne? Mehr noch: Ist nicht jede Utopie auch ein Plan und hat nicht jeder Plan auch ein utopisches Moment, indem er versucht, ein Bild einer besseren Welt zu entwerfen, sei es auch noch so stark rationalisiert?

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Irrwege der Utopie? Metastadt Wulfen (oben), Walden 7 (mitte) und Unité d'habitation (unten).

Viele stadtbaugeschichtliche Darstellungen betrachten die Utopie als ähnlich der literaturwissenschaftlichen Gattung des utopischen Romans: Fourier oder Archigram haben Utopien entworfen, Le Corbusier und Hilbersheimer hingegen zwar ideale, aber vordergründig praktikable Stadtmodelle. Es ist, als würde mit dieser Klassifizierung eine Wertung vorgenommen zwischen Spiel und Ernst, zwischen Kür und Pflicht, als seien Utopien ein skurriler Seitenzweig der Stadtbaugeschichte. Dies wiederum verstellt möglicherweise den Blick auf die tatsächliche Bedeutung des utopischen Denkens, das mit Verhältnis von Labor (Utopie) und Praxis (Plan) oder Prototyp (Utopie) und Produkt (Plan) meiner Meinung nach besser umschrieben werden kann. Blendet man die subtile wertende Trennlinie zwischen den Begriffen Utopie und Plan aus und begreift man Plan und Utopie als zwei Seiten einer Medaille, eröffnet dies einen Blick auf die Stadtbaugeschichte als einem Prozess von try und error, der sich vor dem Hintergrund sich ändernder gesellschaftlicher Konstellationen vollzogen hat. Mir scheint es deshalb angebrachter, einer historischen Betrachtung der Bedeutung von Utopien das Konzept des "utopischen Moments" zugrunde zu legen, eines der Planung immanenten Wunschbilds der Zukunft, das sich als utopischer Gehalt von Planung einmal stärker und einmal schwächer äußert, je nachdem ob es sich um den "Labor-Prototypen" oder das "marktfähige Produkt" von Zukunftsplanung handelt. 9

http://www.nrw-architekturdatenbank.uni-dortmund.de/obj_detail.php?gid=1063 Walden 7 wurde 1970 von Bofill am westlichen Stadtrand Barcelonas errichtet. Mit seinen labyrinthischen Treppenhäusern und den schachtartigen Lichthöfen ruft das Gebäude Assoziationen von Piranesis düsteren Architekturzeichnungen hervor. Mehr Information unter http://www.city-inspace.com/locations/presentation.asp?ID=29&LNG=en 10

Utopie und Plan: zwei Seiten einer Medaille? Oben: Ausschnitt aud der Cité industrielle. Unten: Bebauungsplan aus DüsseldorfGerresheim.

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Beide Äußerungen des Wunsches, die Zukunft zu gestalten, der Plan und die Utopie, entspringen demselben Motiv eines spezifischen gesellschaftlichen Innovationsdrucks11. Utopie und Möglichkeit

Koolhaas, S.83

Aber nicht immer ist es der Innovationsdruck allein, der das utopische Moment der Planung beflügelt. Immer wieder gerät das utopische Denken in den Strudel eines Möglichkeitsüberschusses. Es sind die geschichtlichen Augenblicke, wenn die tatsächlichen gesellschaftlichen und technischen Möglichkeiten die in den Utopien für möglich gehaltenen Spielräume für neue planerische Entwicklungen überholen.

Schwarz, Frank (Hrsg.), S.186

Der Möglichkeitsüberschuss lässt die Türme in den Himmel wachsen. Oben: Das boomende Shanghai. Unten: Benenson Building (1908) und Equitable Building (1915), New York.

Zum Beispiel der entfesselte Markt: Die Euphorie des ungebremsten Wirtschaftsbooms lässt jede Utopie verblassen; die bessere Welt ist nun bezahlbar, man muss sie nur bauen - Shanghai macht es vor. Oder die Technikeuphorie, die jedes gesellschaftliche Problem durch technische Innovationen zu lösen verspricht und das Bild der Stadt schneller überformt, als die Utopie es neu denken kann; wie im New York des beginnenden 20. Jahrhunderts, als die Erfindung des Fahrstuhls die Wolkenkratzer in ungeahnte Höhen schießen ließ. Und immer wieder sind es auch die düsteren Momente der Geschichte: die Diktatur, die ihr ideales Bilder der Gesellschaft rücksichtslos umzusetzen versucht, oder der Krieg, der mit seiner Hinterlassenschaft der leeren Trümmerflächen den Pathos des Neuanfangs beschwört. So gab es durchaus ernsthafte Überlegungen, Hannover an den nahe gelegenen Hügeln des Deisters völlig neu zu errichten. Und auch die im Krieg schwer zerstörte Hamburger Innenstadt wäre fast bis auf wenige historische Bauten komplett abgeräumt worden, um einer modernen, "aufgelockerten Stadt“ Platz zu machen. Aber auch die Planung selbst erzeugt hin und wieder einen Möglichkeitsüberschuss: So schien gesellschaftlicher Fortschritt währen der Planungseuphorie der sechziger Jahre nur eine Frage des richtigen Plans zu sein, ganz so wie es sich die Utopisten immer vorgestellt hatten.

Schwarz, Frank (Hrsg.), S.189

In diesen Momenten des Möglichkeitsüberschusses scheint es, als fallen Utopie und planerische Realität zusammen, als werde die Planung zum Auftraggeber der Utopisten. Das utopische Moment tritt aus dem Nebel des "Nirgendorts" heraus und wird zum Grundton des planerischen Handelns. Dass aus der "besseren Welt" dabei zuweilen eine "schlechtere Welt" wird, zeigt, wie sehr das utopische Moment das kritische Korrektiv der eingeschränkten Möglichkeit benötigt, um nicht maßlos zu werden. Oben: Wettbewerbsbeitrag für die Neugestaltung der Hamburger City nach dem Krieg von Werner Ohm (1948). Unten: Die konkrete Stadtutopie des Alsterzentrums (1966).

11

Der deutsche Soziologe Norbert Elias spricht vom "gesellschaftlichen Ort" einer Utopie. Eine Utopie lässt sich nur bewerten vor dem Hintergrund der historischen Rahmenbedingungen, die das jeweilige Phantasiebild hervorgebracht haben. (Norbert Elias in: Utopieforschung, Band 2, S.102) Seite 8

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Das utopische Moment und seine historischen Auslöser

2.1

Neue Welten Der Blick in die Geschichte zeigt es: Ein bedeutender Anstoß für architektonische wie auch gesellschaftliche Utopien war stets die Erweiterung der Grenzen der bekannten Welt. Neue Länder, neues Wissen, neue Technologien wurden fast immer zur Inspirationsquelle utopischer Konzepte, so auch bei der prototypischen Utopie des Thomas Morus. Dies lenkt den Blick auf eine der Grundfunktionen von Utopien: Die Verarbeitung der Risiken und Chancen, die sich in Zeiten großer Innovationsschübe ergibt. Utopia und Amerika Nicht zufällig erschien Utopia, die erste umfassende Gesellschaftsutopie des Thomas Morus, veröffentlicht erstmals 1516, an der Zeitenwende zur Neuzeit, als sich das Weltbild von Grund auf änderte. Gerade erst war Amerika entdeckt, verbreiteten sich die unfassbaren Geschichten über ein unberührtes Land hinter dem Ozean. Welch bessere Inspiration und Projektionsfläche für utopische Gedanken hätte es geben sollen, als die neue Welt? Hier schien alles möglich, hier war genug Imaginationsraum für ein "Nirgendland". Allein die Tatsache, dass tatsächlich neue Kontinente auf der anderen Seite des Globus entdeckt wurden, mag den Entwurf des idealen Inselreichs inspiriert haben. Ganz offensichtlich siedelt Morus seinen idealen Staat Utopia in der neuen Welt an, indem er die zentrale Erzählerfigur des Romans, den Weltreisenden Raphael Hythlodaeus, als fiktiven Begleiter des Seefahrers Vespucci vorstellt12. Es ist der Reisebericht dieser Kunstfigur, den Morus vorschiebt, um sein ideales Gegenbild zur frühabsolutistischen Realität Englands zu entwerfen, ohne sich selber der unverblümten Staatskritik schuldig zu machen. Bis in die Details lassen sich Parallelen zu den Berichten aus der neuen Welt finden: So mag der in Utopia beschriebene und die späteren kommunistischen Idealvorstellungen vorwegnehmende Verzicht auf Einzeleigentum von Vespuccis zweitem Reisebericht inspiriert worden sein, in dem den idealisierten Naturvölkern der neuen Welt ein ähnliches Verhalten nachgesagt wird13.

12

Anschaulich wird der Bezug zwischen Morus' Utopia und den Entdeckungsfahrten Vespuccis in der Analyse von Norbert Elias. (Norbert Elias in: Utopieforschung, Band 2, S.134) 13 Norbert Elias merkt an, das es sich bei der idealisierten Darstellung der Lebensumstände der Naturvölker Amerikas um eine im 16. Jahrhundert weit verbreitete Wunschprojektionen handelt, die sich auch bei dem mit Morus befreundeten Humanisten Erasmus von Rotterdam wieder findet. Seite 9

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Benevolo, Die Stadt in der eruopäischen Geschichte,

Auch die formale Konstruktion von Utopia scheint Anleihen bei der Praxis kolonialer Besiedelung genommen zu haben, verweisen doch die Regelmäßigkeit des Rasters und die Gleichverteilung der Siedlungen auf der Insel Utopia auf die planmäßige Besiedlung der Kolonialreiche. Das Raster der phantastischen Inselhauptstadt Amaurotum kann mithin als Sinnbild der rationalen Bändigung der unbekannten, neuen Welt gelesen werden, es ist gleichsam das Lob einer rational geplanten Gesellschaft als Gegenbild zu den Fährnissen der neuen Welt. Kolonialstädte als Vorbild für Utopia? Die portugiesische Festung Daman in Indien.

Neue, alte Welt Während der Blick in die "neue Welt" Amerika also offensichtlich das Erstarken des utopischen Moments in Form der Morusschen Utopie stimuliert hat, ist das wahre Motiv für den prototypischen Idealstaatsentwurf der Utopia wohl in einer anderen "neuen Welt" zu suchen, in der zu Morus Zeiten gerade wieder entdeckten Welt der Antike. Im Alter von fünfzehn Jahren hatte Morus in Athen griechische und lateinische Schriftsteller der Antike studiert und war dabei wohl auch auf das "neue alte" Wissen über ideale Staaten und das Leben in der Gemeinschaft gestoßen14. Dieses Wissen mag Morus die gesellschaftlichen Missstände seiner Zeit besonders deutlich vor Augen geführt haben - jedenfalls sind die Bezüge der als Staatskritik zu verstehenden Utopia zur antiken Gedankenwelt offensichtlich. So finden sich Grundmuster von Platons Politeia, der antiken Beschreibung einer idealen Gemeinschaft mit ihrer ausführlichen Schilderung der Lebensumstände in einer "gesunden" Polis15 in der ausführlichen Schilderung des Alltags in Utopia wieder. Und auch der antike Städtebau stand Pate beim Entwurf der ersten neuzeitlichen Utopie: Die Beschreibungen der baulichen Anlage der Inselhauptstadt Amaurotum mit ihrem "zweckmäßigen" Straßennetz lassen sich als Weiterführung der städtebaulichen Grundregeln Vitruvs lesen16, dessen zwischen 33 und 22 v. Chr. geschriebenes Werk "10 Büchern über Architektur" 1487 erstmals gedruckt erschien und Morus somit zugänglich gewesen sein dürfte17. Mit der griechischen Stadtgründung Thuiroi (443 v. Chr.) lag gar ein antikes Vorbild für ein ideales Gemeinwesen vor, das - wenn die Gründung auch scheiterte - in idealer Weise eine neue Verfassung mit einem neuen Städtebau zu verbinden suchte. War dies bereits ein früher utopischer Stadtentwurf, auf den sich Thomas Morus bezog?

14

Norbert Elias beschreibt Morus Utopieschrift als Resultat eines begeisternden Generationenerlebnisses, vergleichbar mit dem "Generationenerlebnis des Marxismus in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts" (Norbert Elias in: Utopieforschung, Band 2, S.114) 15 Gerd de Bruyn, Braunschweig 1996, S. 36 16 Gerd de Bruyn, S. 62 17 Inken Nowald, in "Stadt und Utopie" S.15, Berlin 1982 Seite 10

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Die Wiederentdeckung der idealisierten antiken Vergangenheit und ihre Wirkung auf die Humanisten der Renaissance deckt eines der Grundmotive utopischer Konzepte auf: Die Wiederherstellung eines "Goldenen Zeitalters", eines statischen Glückszustandes auf der Basis früherer Werte als Ziel der gesellschaftlichen Erneuerung.

www.osnabrueck-net.de/Kultur/ausst_julesverne.html

Vom Ozean in den Weltraum

www.alyon.org

Spätestens im 19. Jahrhundert gab es kaum noch weiße Flecken mehr auf dem Globus, der Raum für Utopia wurde langsam knapp. Jules Verne musste gar auf den Meeresboden ausweichen, um seiner Phantasie einer Stadt 20.000 Meilen unter dem Meer Raum zu geben. Seine Wiederkehr erfährt das Motiv der "Neuen Welt" als Auslöser für utopisches Denken in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Vorstoß ins Weltall. Die neuen technischen Möglichkeiten der Weltraumfahrt (siehe 2.7), in Verbindung mit der endlosen Weite des Weltraums, bildeten ein schier unerschöpfliches Reservoire für Besiedelungsphantasien fremder Planeten und für den Blick in die ganz weite Zukunft, das zeitliche "Nirgendland". Neue Städte im All, neue Gesellschaften auf fremden Planeten - Utopia konnte nun in ganz neuen Dimensionen geträumt werden. Und auch das Motiv des "Goldenen Zeitalters" taucht jetzt wieder auf - wenn auch nur in der Fiktion, wenn in Science-Fiction-Filmen wie 2001 - Odyssee im Weltraum oder Contact die Suche nach den mythischen Wurzeln der Menschheit in den Weltraum verlegt wird. Eine extraterrestrische Lebensform, ein ferner, allwissender Verwandter, hält der Menschheit den Spiegel vor: Hier treffen alte religiöse Mythen auf die humanistische Vision einer bisher unentdeckten Gesellschaft, die im Verborgenen der neuen Welt zu idealer Reife finden konnte. Oben: Illustration zu: Jules Vernes "20000 Meilen unter den Meeren". Unten: Motiv des Kinoplakats zu "2001Odyssee im Weltraum".

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2.2

Die Suche nach der perfekten Gesellschaft Gleichheitliche Gesellschaft - horizontale Stadt Der Bezug der Utopia von Thomas Morus auf die Entwürfe idealer Gemeinschaften der Antike hat gezeigt: War der Neue Horizont der äußere Auslöser, die Inspirationsquelle für das utopische Denken, so war die eigentliche, humanistische Motivation für das Entwerfen einer "besseren Welt" die Suche nach dem perfekten Staat, der die Gleichheit seiner Bürger garantieren konnte. Nicht umsonst fällt der Entwurf der Utopia, des seit dem antiken Thuiroi vermutlich ersten Versuchs, Planstadt und Sozialutopie zu verknüpfen18, in eine Zeit, in der sich der moderne Staatsbegriff bildete. Es waren die Zeiten der Sforzas und der Medicis, in denen sich zusammen mit einem neuen Herrschertyp der Begriff "lo stato" von Italien aus in ganz Europa einbürgerte. Aus den mittelalterlichen, feudalen Herrschern wurden moderne Fürsten, die ihre friedlichen und kriegerischen Staatsgeschäfte durch Steuern und Anleihen finanzierten, die mit Hilfe ihrer stehenden Heere eine größere Kontrolle über ihren Staat und seine Bevölkerung ausüben konnten19. In dieser Umbruchzeit, der Frühzeit des Absolutismus, schrieb Thomas Morus, der später selber als Lordkanzler im Dienste Heinrichs VIII. von England Teil der absolutistischen Staatsgewalt war, seine Staatskritik. Und obwohl er selbst ein hoher Beamter war, scheute Morus es nicht, die bestehenden Verhältnisse offen in Frage zu stellen, wenn auch in der indirekten Form seines fiktiven Reiseberichts. Könige waren Vergangenheit in Utopia, es gab Regierende, die aus Wahlen hervorgingen, das Privateigentum, das Morus als Ursache vieler Missstände ansah, war weitgehend abgeschafft - deutlicher hätte die Kritik an der Ungleichheit und an der autoritären Herrschaftsform seiner Zeit nicht sein können. Mit der Gleichförmigkeit der Siedlungsstrukturen, wie dem horizontalen Raster, das allen 54 Quadratstädten des Inselstaats zugrunde liegt, drückt Morus sein demokratisches Grundverständnis, sein Streben nach Gleichheit auf der baulichen Ebene aus20. Zwar ist Morus' Utopia mit seinen totalitären Zügen noch längst keine demokratische Gesellschaft nach heutigem Verständnis21, dennoch ist die politische Weitsicht dieses Entwurfs einer idealen Gemeinschaft bemerkenswert. Autoritäre Gesellschaft - vertikale Stadt Auf der Suche nach der idealen Gesellschaft befand sich auch der Dominikanermönch Campanella, der 1602 in Kerkerhaft seine Utopie einer idealen Gemeinschaft entwirft; fast schon ein Gegenbild zu Morus' humanistischem Idealstaat. Im Gegensatz zu Morus' horizontalem Städtenetz und der niedrigen

18

Gerd de Bruyn, S.56 Norbert Elias in: Utopieforschung, Band 2, S.111 20 Gerd de Bruyn, 73 21 Gerd de Bruyn, S. 68 19

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de Bruyn, S.70

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Schemazeichnung der Città del Sole.

Bebauung der Inselhauptstadt Amaurotum ist Campanellas Utopie, die den Namen Città del Sole trägt, ein streng hierarchischer und monozentrischer Staat. Seine "Sonnenstadt", regiert durch einen autoritären Priesterfürsten, beschreibt Campanella als kreisrunde, terrassenförmige Anlage, als einen entfernt an den mythischen Turm von Babylon erinnernden stumpfen Kegel mit trutzigen Wehrmauern, der sich auf einem Hügel auf der Insel Ceylon befinden soll22. Die gigantische, den Hügel krönende Tempelanlage lässt schon die Architekturvisionen der späteren Revolutionsarchitekten wie Ledoux und Boullèe erahnen, deren revolutionärer Anspruch freilich nicht allein gesellschaftlicher, sondern auch architektonischer Art war.23 So grundverschieden wie der bauliche Charakter der Stadtanlage, war auch der gesellschaftliche Aufbau im Vergleich zur Utopia des Thomas Morus. Campanella entwirft ein aus heutiger Sicht bedrückendes Szenario eines Überwachungsstaats, in dem jegliche Intimität aufgehoben ist. Sogar die Fortpflanzung wird reguliert, um eine durch gleichartige Menschen harmonisierte Gesellschaft zu formen24. Die späteren literarischen Dystopien von Orwell und Huxley schimmern hier ebenso durch, wie die noch über dreihundert Jahre entfernte Perversion der nationalsozialistischen Rassenpolitik. Nach der oberflächlich gesehen ganz dem Blochschen "Prinzip Hoffnung" verschriebenen "guten" humanistischen Utopie des Thomas Morus, die bei näherem Betrachten auch ihre autoritären Züge nicht verbergen kann25, tritt in der vertikalen "Sonnenstadt", in dieser ganz dem absolutistischen Herrschaftsgedanken verschriebenen Gesellschaftsutopie, erstmals das totalitäre Gesicht des utopischen Denkens zu Tage; das "Prinzip Ordnung"26, das - manchmal verdeckt, manchmal ganz unverblümt zur Schau getragen - viele der noch folgenden Utopien aus heutiger Sicht diskreditiert. Die Suche nach der idealen Gesellschaft sollte auch weiterhin eine der treibenden Kräfte hinter utopischen Konzepten bleiben, gleichsam als Grundton, der nahezu allen Planungen, wie groß auch ihr utopisches Moment sein mag, zugrunde liegt. Die zwei "Urfiguren" des utopischen gesellschaftlichen Ideals - "demokratische" Gleichheit und

22

Gerd de Bruyn, S.71 Das revolutionäre der Revolutionsarchitekten lag weniger im Politischen, als im Bruch mit der Tradition: die Suche nach einer Universalsprache der Bauformen verband sich mit der konsequenten Hinwendung zu den neuen Themen der Zeit. Orientiert an den Ideen Rousseaus und seiner Zeitgenossen standen Ideen der sozialen Gleichheit in Vordergrund, ebenso wie die Hinwendung zu praktischen Bedürfnissen einer Gesellschaft an der Schwelle zur Industrialisierung. Seinen prominentesten Ausdruck fand diese Haltung in der Salinenstadt Chaux des Revolutionsarchitekten Ledoux (Inken Nowald in: Stadt und Utopie, S.37 ff). 24 Gerd de Bruyn, S.77 25 siehe Gerd de Bruyn, S.67 f. 26 Gerd de Bruyn, S. 82 23

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Utopia reloaded? | Das utopische Moment und seine Motive in der Geschichte des Städtebaus | Julian Petrin

"autoritäre" Gleichförmigkeit - tauchen seit Morus und Campanella immer wieder auf, sobald der gesellschaftliche Erneuerungsdruck nach neuen Wegen der sozialräumlichen Organisation verlangt.

Schoof, S.21

Schauer (Hrsg.), S.51

Die liberale Gleichheit der sozialistischen Kommune

Coates, Stetter (Hrsg.), S.29

de Bruyn, S.123

Vergleich der Stadtgrundrisse: Garantistische Stadt (oben) und Salinenstadt Chaux (unten).

Oben: Grundrissvergleich Phalanstère (links) Versailles (rechts). Unten: Eine Lithographie der Phalanstère von 1848.

So zum Beispiel bei Charles Fourier, dem kaufmännischen Angestellten aus Besançon, der sich nach 1800 auf der Suche nach einer idealen und gleichheitlichen Gemeinschaft befand. Sein utopisches Konzept einer mehrstufigen gesellschaftlichen Entwicklung hin zu einer klassenlosen Harmonie, beeinflusst von den Frühsozialisten um SaintSimon27, kann sicher als Meilenstein für die Entstehung gleichheitlichsozialistischer Gesellschaftsmodelle gesehen werden. Als Basis diente Fourier eine sozialpsychologische Laientheorie der "Weltharmonie"28. In sieben Stufen sollte sich die Gesellschaft zu harmonischen Gemeinschaften wandeln. Fourier selbst sah seine Zeit an der Schwelle von der fünften zur sechsten Stufe. Der Prozess der gesellschaftlichen "Reifung" hin zu dieser Harmonie bildet sich bei Fourier auch auf der baulichen Ebene ab. Der garantistischen Stadt, einer äußerlich an die Salinenstadt Chaux erinnernden "Idealstadt des Übergangs" mit großen Einzelgebäuden, zonierten Nutzungen und Zügen moderner Bauleitplanung folgt in der siebten Stufe der "Harmonie" die Phalanstère - die Stadt löst sich in die Landschaft auf. Fourier entwirft unter dem Dach eines 1.200 Meter langen Gebäudes eine kleine Stadt mit unterschiedlichsten Funktionen, eine bauliche Hülle für die über 1.600 Bewohner der Phalanx, der gesellschaftlichen Grundeinheit in der Zielepoche des Fourierschen Gesellschaftsmodells. Erinnert die Phalanstère mit ihrer dreiflügeligen Anlage im Grundriss zwar an das feudale Versailles, ist das Gebäude in seiner inneren Organisation eher ein "Wunderschloss"29, völlig auf die Bedürfnisse einer hochkommunikativen Gemeinschaft ausgerichtet. So sollten die in Produktionsgemeinschaften organisierten Phalangisten alle zwei Stunden ihre Tätigkeit und damit ihren Arbeitsplatz wechseln, um der Eintönigkeit der Arbeit vorzubeugen; allein hierfür musste das Gebäude seinen ständig mobilen Bewohnern die nötige Infrastruktur bereit halten, wie zum Beispiel glasgedeckte Galerien, in denen sich Fourier einen vom Geschiebe fröhlicher Menschen erfüllten Straßenraum erträumte30; als sei seine Phalanstère eine Art frühsozialistischer Bienenkorb. Auch brauchte es Raum für die "neue Liebeswelt"31 Fouriers, in der das so genannte "Feenministerium" Orgien kollektiver Sexualität organisieren sollte. Ziel dieser milden Form der diktatorischen Sexualplanung Campanellas war das freie Ausleben der Triebe; 27

Heinrich Schoof, S.32 Gerd de Bruyn beschreibt Fouriers theoretische Forschungen als Ergebnis eines autodidaktischen Erfinderdrangs (de Bruyn, S. 103 ff.) 29 Gerd de Bruyn, S.121 30 Gerd de Bruyn, S.118 31 Gerd de Bruyn, S.103 28

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laut Fouriers Theorie war dies eine wichtige Basis der angestrebten Harmonie.32 Für diese "freie Gesellschaft" bot die Phalanstére das passende Raumprogramm. Mit seinen überdachten Galerien, die an die Geschäftigkeit des damals modernen "Konsumtempels" Palais Royal erinnern33, scheint die Phalanstère die Idee einer sozialistischen Musterkommune mit dem Konzept des kapitalistischen Warentempels zu vereinen34. Erstmals zeigt sich die Utopie der "besseren Welt" ohne ihr puritanistisches, sinnenfeindliches Kleid.

de Bruyn, S.119

Zwischen Gleichheit und Gleichförmigkeit

de Bruyn, S. 92

Das Palais Royal als Vorbild für die Galerien der Phalanstère.

Ganz anders präsentiert sich die Vision der Gleichheit bei Cabet, dem praxiserprobten Politiker und Juristen35, der seinen 1839 veröffentlichten utopischen Staatsentwurf mit dem Titel Voyage en Ikarie aus einer fiktiven Revolution und einem anschließenden Übergangsregime entstehen ließ - eine gemilderte Version der französischen Revolution mit ihrem gnadenlosen Regime des Robespierre. In der Metropole des Inselreichs mit seinen 8.000 Dörfern und 1.000 Provinzhauptstädten herrscht wieder das strenge, rationale Raster, aufgefüllt mit standardisierten Wohneinheiten in Blockrandbebauung, die in ihrer Dimension an die späteren Wiener Gemeindebauten wie den Karl-Marx-Hof erinnern36. Keine Spur von der Geschäftigkeit der Phalanstère: Außer den grünen Gartenhöfen im Innern der Wohnblocks gibt es kaum Raum für öffentliche Kommunikation, sieht doch Cabet in den Stadtteilen seiner vermutlich mehrere 100.000 Einwohner umfassenden Stadt keinerlei private Geschäfte und Betriebe vor, "...weder Kneipen noch Kaffeesäle, weder Börsen noch Kasernen und Wachthäuser, weder Polizei noch Spione noch Gendarme, weder Trunkenbolde noch Bettler..."37. Die Ratio siegt über die Leidenschaft; das Motiv der Gleichheit schlägt hier in Ansätzen schon wieder um in die Gleichförmigkeit der am Reißbrett durchgeplanten Gesellschaft, wenn auch die politische Verfassung des Staates Ikaria mit seinen Wahlen und Versammlungen38 eindeutig liberaler gefasst ist, als in der diktatorischen "Sonnenstadt". Neu für das utopische Denken ist das Element der Mitbestimmung. Die Bewohner dürfen bei der Planung ihrer Stadt eigene Gestaltungsvorschläge einbringen - ein Vorgriff auf die über hundert Jahre später von Max Frisch geäußerte Utopie der Partizipation, deren

Schema des Idealplans von Ikaria.

32

Gerd de Bruyn, S.112 Eine ausführliche Beschreibung der Phalanstère findet sich bei Gerd de Bruyn auf S. 116 ff. 34 Gerd de Bruyn, S.120. 35 Gerd de Bruyn, S.88 36 Gerd de Bruyn, S.93 37 Cabet 1893, S.44 in: Gerd de Bruyn, S.98 38 Ikaria liegt eine demokratische Verfassung zugrunde, die eine ständig tagende 2000-köpfige Volksvertretung vorsieht. (Gerd de Bruyn, S.98) 33

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Grundgedanke als Bürgerbeteiligung fest im heutigen Planungsverständnis verankert ist (siehe 2.6). Die Wiederkehr der Motive

Benevolo, Die Geschichte der Stadt, S.811

Nach dem Einsetzen der industriellen Revolution wird die Suche nach der idealen Gesellschaft immer drängender, spitzen sich doch die sozialen Ungleichheiten auf unerträgliche Art in den neuen Industriestädten zu. Das utopische Moment drängt nach Verwirklichung, weiter pendelnd zwischen den Idealen der mitbestimmten Gleichheit und der autoritären Gleichförmigkeit. Zunächst siegt die Gleichheit: Aus den Ideen der Frühsozialisten, nicht zuletzt auch aus der bildhaften Utopie Fouriers mit ihren konkreten Handlungsanweisungen, erwächst der verwissenschaftlichte Sozialismus von Marx und Engels, der zunächst noch ganz der Selbstbestimmung verpflichtet, in die "Diktatur des Proletariats" münden wird. Und auch Fouriersche Utopie der gleichheitlichen Gemeinschaft wird zwischen 1859 und 1885 erstmals durch den französischen Fabrikanten Godin in Guise umgesetzt, wenn auch die Familistère, Godins Entsprechung der Phalanstère ein reines Wohngebäude ist und damit hinter dem visionären Geist der „Stadt im Haus“ zurückbleibt39. Eine umgesetzte Utopie: Der glasgedeckte Hof der Familistère von Godin.

Nach dem ersten Weltkrieg wendet sich das Blatt: Während die Welt in den Taumel aus gesellschaftlicher Dynamik und ökonomischer Krise stürzt, sucht die Utopie Zuflucht hinter den festen Mauern der Autorität. Der entfesselte Fortschritt muss gebändigt werden, immer natürlich im vorgeblichen Dienste der eigenen Vorstellung einer "besseren Welt", die mit Hilfe einer kriegerischen Missionierungsstrategie im Zweifel auch gewaltsam durchgesetzt werden würde. Zuerst ist es der Stalinismus, der das Modell der Gleichförmigkeit über die Gleichheit stellt, bevor mit dem Nationalsozialismus die dunkelste Stunde des utopischen Moments schlägt. Hier scheinen alle düsteren Motive der Utopiegeschichte aufeinander zu fallen: Campanellas Überwachungsphantasien, seine sexuelle "Planwirtschaft", die einschüchternden Architekturphantasien der Revolutionsarchitekten, die heile Welt der harmonischen, von ordnender Hand geplanten Gemeinschaft, gepaart mit einem bisher nicht gekannten politischen "Möglichkeitsüberschuss" (siehe 2.5). Aus dem enthemmten utopischen Moment erwächst so die Katastrophe des zweiten Weltkriegs, die unfassbare Perversion der "idealen Gesellschaft", manifestiert im Holocaust. Die absolute Utopie ist nach dem Nationalsozialismus diskreditiert und damit auch das ihr zugrunde liegende Modell der Gleichförmigkeit als Instrument zum Glück. Aber noch hallt das Denken der disziplinierten Gesellschaft nach, verkleidet im kleinbürgerlichen Geist der fünfziger Jahre, sich baulich äußernd in der rationalen Strenge des Nachkriegs-Städtebaus.

39

Gerd de Bruyn, S.129 Seite 16

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Coates, Stetter, S.122/123

Mit der verordneten Freiheit der wahllos reproduzierten städtebaulichen Ideologie von "Licht, Luft, Sonne" wird die Idee der Gleichheit wieder in das Korsett der Gleichförmigkeit gezwängt, wie einst bei der durchgrünten Stadtvision der Cabetschen Inselhauptstadt Ikara.

Utopia under construction? Die amerikanische Gated Community Celebration, eine Stadtgründung der Disney Corporation in Florida.

Doch mit der bürgerlichen Revolte der sechziger Jahre beginnt ein Ausbruch aus dem Korsett der Gleichförmigkeit, der zwar die ökonomische Gleichheit nicht herstellen kann, wohl aber die Gleichheit der gesellschaftlichen Gruppen. Jeder hat das Recht auf Selbstbestimmung und Mitsprache - der individualisierten Gesellschaft sind nun Tür und Tor geöffnet. Die Suche nach urbanen Nischen in den lange geschmähten Altbauten beginnt; Archigram fassen die "neue Freiheit", die auch eine technische ist, in ihre phantastischen Versionen einer Stadt, die vollkommen auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittenen ist (siehe 2.6). Jeder ist nun frei, sein Bild der idealen Gesellschaft, seinen Raum für freie Entfaltung zu suchen, und sei es hinter den Zäunen der von Disney gegründeten Gated Community Celebration. Hier hat sich das Ideal der "besseren Welt" auf kleinstem Raum verwirklicht - das utopische Moment bleibt sicher eingezäunt.

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2.3

Die Sehnsucht nach der idealen Form Nicht nur die Suche nach der idealen Gesellschaft war Auslöser für das utopische Moment der Planung. Auch die ideale Form, stets als Ausdruck einer idealen "inneren Ordnung" begriffen, war immer wieder Gegenstand des utopischen Denkens. Henne oder Ei? Aber war die perfekte Form für sich genommen schon Anlass genug für utopisches Denken? War die städtebauliche oder architektonische Ordnung der Dinge nicht vielmehr ein zwangsläufiges "Abfallprodukt" des Entwurfs utopischer Gesellschaften, ganz im Sinne des modernen Form follows function? Bei den Utopien im engeren Sinne, den Staatsentwürfen der Renaissance, waren es tatsächlich gesellschaftliche Überlegungen, die nach einer passenden idealen Form verlangten, wie bei Morus und seinem horizontalen, "demokratischen" Raster oder bei Campanella und seiner konzentrisch-vertikalen, "absolutistischen" Turmstadt. Hier war also die ideale Form ganz klar Produkt der perfekten Gesellschaft. Zuweilen war es aber auch die ideale Form selbst, die als Ausgangspunkt utopischer Überlegungen und Vorbedingung einer nicht konkretisierten idealen Gemeinschaft zum Auslöser für ein deutlicher zutage tretendes utopisches Moment wurde. Gewisse formale Gestaltungsprinzipien waren immer wieder Anlass für modellhafte "Etüden" von der Idealstadt bis zur Postmoderne. Das Prinzip der Symmetrie

Benevolo, Die Stadt in der europäischen Geschichte, S.111

Die vielen Utopien zugrunde liegende wohlgeordnete Harmonie findet ihren offensichtlichsten baulichen Ausdruck in der Symmetrie, dem formalen Sinnbild der Harmonie. Zum zentralen städtebaulichen Motiv wurde die Symmetrie in der Renaissance: Fast zeitgleich zu den ersten Utopien erlebte mit der Wiederentdeckung der antiken Architekturtheorien auch das entwerferische Genre der Idealstadt seine Blüte - die räumliche Utopie ohne ausgeprägtes gesellschaftliches Programm. Zuerst war es Leon Battista Alberti (1404 bis 1472), der die Symmetrie wieder zum ästhetischen Prinzip macht, als er die Gedanken der antiken Architekturtheorie Vitruvs aufgreift und zwischen 1443 und 1452 sein Werk De re aedificatoria libri X (zehn Bücher über die Baukunst) schreibt40. Albertis Regeln für die ideale Stadt stellen den Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt, wenn er schreibt: "Die Gebäude sind der Menschen wegen erbaut worden, sei es zur Notwendigkeit, zum Bedürfnis und Vorteil des Lebens, sei es zum zeitweiligen Vergnügen bestimmt. Verschiedene Einteilung der Das Prinzip der Symmetrie. Illustration aus De re aedificatoria von Alberti. 40

Inken Nowald in: Stadt und Utopie, S.21 Seite 18

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Schauer (Hrsg.), S.26

Schauer (Hrsg.), S.25

Schauer (Hrsg.), S.22

menschlichen Gesellschaft, woher auch die Verschiedenheit der Gebäude herrührt und wovon auch auszugehen ist."41 Zwar nimmt Alberti mit seinen Überlegungen zur idealen Stadt noch nicht das typische utopische Motiv vorweg - die Anlage neuer Städte - sondern bezieht seine Vorstellungen zur Stadt, niedergeschrieben im vierten Buch seines Traktats, das "Über Anlagen allgemeiner Art" handelt, auf die Optimierung bestehender Städte42. Aber ist Alberti, dessen Überlegungen noch vor der Utopia des Thomas Morus erschienen, nicht auch ein Utopist, ein Träumer von der "besseren Welt"? Zumindest liegt seinem Denken ein ausgeprägtes utopisches Moment zugrunde: "Und überhaupt behaupte ich, es müsse eine Stadt derart beschaffen sein, dass von den Nachteilen ... überhaupt keiner vorhanden sei. Und von allen Sachen, welche für des Lebens Notdurft wünschenswert sind, soll keine fehlen."43 Zwar lässt Alberti weitgehend offen wie die "bessere Welt" aussehen soll, mit seinen Ausführungen zur Schönheit und der radialen Form seiner Idealstadt formuliert er jedoch das formale Programm für die nachfolgenden Entwürfe symmetrischer, ebenfalls meist radialer Idealstädte.

Die Symmetrie der Idealstadt. Oben: Sforzinda (Filarete, 1460) Mitte: Idealstadtentwurf von Scamozzi (1615) Unten: Idealstadtentwurf von Perret (1601)

Sowohl Filaretes Sforzinda aus dem Jahr 1460, als auch die späteren Idealstadtentwürfe von Scamozzi (1615) und Perret (1601) führen die Überlegungen Albertis fort und feiern dabei die Harmonie der Symmetrie. Bei diesen Idealstädten reduziert sich das utopische Moment jedoch auf die Vitruvsche "Festigkeit, Zweckmäßigkeit und Anmut"44 der städtebaulichen Form, erscheinen die Städte doch wie einzig zu Festungszwecken errichtet. Die gesellschaftlichen Überlegungen treten in den Hintergrund. Übrig bleibt die Symmetrie als Erinnerung an das humanistische Potenzial der Idealstadt. Die Perspektive als Ordnungsprinzip

Schauer (Hrsg.), S.20

Immer wieder ist die Ordnung der Gesellschaft und damit die Ordnung des Raums eines der zentralen Motive, an dem sich das Suchen nach der idealen Form entzündet. So auch während des Barock, als zwischen 1550 und 1650 mit den astronomischen Erkenntnissen von Kopernikus und Galilei das althergebrachte Weltbild ins Wanken gerät. Das neue Bild des grenzenlosen Universums führt zu einer revolutionierten Raumauffassung: Architektur und Städtebau müssen versuchen, mit den Mitteln der Perspektive das "Unendliche begreifbar zu machen"45. Zur gleichen Zeit Das neue Weltbild, illustriert von PetrarcaMeister um 1520.

41

Inken Nowald in: Stadt und Utopie, S.21, zitiert nach: Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, übersetzt und herausgegeben von Max Theuer, Wien und Leipzig 1912 42 Leonardo Benevolo, Die Stadt in der europäischen Geschichte, S.110 43 Inken Nowald in: Stadt und Utopie, S.21, zitiert nach: Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst 44 Inken Nowald in: Stadt und Utopie, S.15, zitiert nach: Vitruv, Zehn Bücher über Baukunst, übersetzt von Curt Fensterbusch, Darmstadt 1964 45 Leonardo Benevolo, Die Stadt in der europäischen Geschichte, S. 149 Seite 19

Benevolo, Die Stadt in der europäischen Geschichte,

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Schauer (Hrsg.), S.32

Barocke Straßendurchbrüche in Rom währen des 15. und 16. Jahrhunderts

Benevolo, Die Stadt in der europäischen Geschichte, S.168/169

Die barocke Stadtgründung Karlsruhe

Benevolo, Die Geschichte der Stadt, S. 839

Neu angelegte Straßen und Gärten des Barocks im Pariser Westen

gelangt auch die gedruckte Stadtansicht zu neuer Blüte. Die Stadt wird jetzt nicht mehr als Aneinanderreihung einzelner baulicher Elemente gesehen, sondern als ganzheitliches Gefüge aus ihren städtebaulichen und geographischen Gegebenheiten. Mit Hilfe der perspektivischen Darstellung ist es nun möglich, das Gefüge der Stadt zu ordnen, denn schon längst entsprechen die noch weitgehend von den baulichen Vorstellungen des Mittelalters geprägten Städte nicht mehr der ganzheitlichen Sichtweise, die das neue Weltbild mit sich bringt.46 Die Sehnsucht nach der idealen Form wird zur Suche nach einer neuen Ordnung von Stadt und Landschaft, und mit dem absolutistischen "Möglichkeitsüberschuss" (siehe 2.5) darf sich das utopische Moment im Dienste dieser Formsuche nun voll entfalten. Der Karlsruher Fächer, Sinnbild der absolutistischen Stadtgründung, könnte auch der Feder eines Utopisten entsprungen sein, als Ausdruck eines idealen Staats, als perfekte Synthese aus Symmetrie und Perspektive. Aber auch die vielen barocken Stadtumbauten, wie das Netz der neuen Achsen und Gärten in Paris wirken vor dem Hintergrund der früheren utopischen Entwürfe, als sei hier versucht worden, ein Stück "bessere Welt" umzusetzen. Wenn schon nicht ganze neue Städte errichtet werden konnten, so war es wenigstens möglich, die bestehenden nach idealen Prinzipien zu ordnen, ganz wie Alberti es sich vorgestellt hatte. Mit der "postliberalen Stadt"47, den Straßendurchbrüchen des Haussmannschen Paris und den gründerzeitlichen Stadterweiterungen erlebt die Perspektive als europäisches Formprinzip einen neuen Höhepunkt. Das utopische Moment, beflügelt durch den Rausch der Industrialisierung, sucht nach einer idealen Form, um der Rohheit der industriellen Stadt den Pathos des Aufbruchs in eine "bessere Welt" zu verleihen. Allerdings ist nun die ehemals ideale Form bloß noch ästhetisches Zitat; längst ist, vor allem in den USA, ein passenderes, altbekanntes gestalterisches Prinzip dabei, sich als perfekte Form für die durchrationalisierte Stadt des Industriezeitalters durchzusetzen: das Raster, einstmals Ausdruck der Ordnung Utopias, nun Resultat der Rationalität des Marktes. Die Eleganz der Rationalität

Haussmanns Straßendurchbrüche in Paris

Von Anfang an strebte das utopische Denken nach Rationalität, nach Ordnung und Vernunft und die städtebauliche Form sollte Ausdruck dieser Vernunft sein. So wurde die Sehnsucht nach der puren Eleganz des durchrationalisierten Stadtentwurfs ein Thema, das von den ersten Utopien der Renaissance bis zur Ville Radieuse immer wieder im Mittelpunkt städtebaulicher Überlegungen stand. Schon Morus beschreibt seine Inselhauptstadt Amaurotum als rational durchgeplante Quadratstadt, wobei er die städtebauliche Argumentation von Alberti und Vitruv aufgriff: "Die Straßen sind zweckmäßig angelegt, und zwar ebenso mit Rücksicht auf die Winde als 46 47

Leonardo Benevolo, Die Stadt in der europäischen Geschichte, S. 149 ff. Leonardo Benevolo, Die Stadt in der europäischen Geschichte, S. 196 ff. Seite 20

Utopia reloaded? | Das utopische Moment und seine Motive in der Geschichte des Städtebaus | Julian Petrin

de Bruyn, S.64

de Bruyn, S.64

auch auf den Verkehr".48 Und war die quadratische, unhierarchische Form der Stadt nicht auch ein Garant für die angestrebte Gleichheit der Gesellschaft? Albrecht Dürer griff die Idee der Quadratstadt auf und lieferte mit seinem 1527 angefertigten Entwurf einer quadratischen Idealstadt gleichsam eine Illustration der Rationalität Amaurotums, die zudem auch als Vorbild für den Entwurf der protestantisch-rationalen Stadtgründung Freudenstadt diente. Das Quadrat kann als die Antwort des protestantischen Nordens auf die radialen Idealstadtentwürfe der italienischen Renaissance verstanden werden.

Schoof, S.109

Oben: Dürers Idealstadt (1527) Unten: Entwurf für Freudenstadt (um 1599)

Otto Wagners General-Regulierungs-Plan für Wien (1893)

Auch wenn die Rationalität schon während der Renaissance durchaus Grundlage des utopischen Denkens war, so blieb das utopische Moment doch meist dem Symbolhaften verschrieben, wenn es um die Umsetzung idealer oder utopischer Modelle ging. Sowohl die barocken Stadtanlagen wie auch ideale Planungen wie die Salinenstadt Chaux oder die utopischen Siedlungsmodelle der Frühsozialisten trachteten nach der Schaffung von Orten, deren innovativer Charakter sich mit Hilfe einer pathetischen formalen Inszenierung vermitteln sollte. Symmetrie und Perspektive beherrschten weiterhin das Bild der neuen Stadt - und selbst die Rationalität des Marktes bediente sich beim Zuschnitt des Stadtgrundrisses der feudal geprägten, hierarchischen Struktur der Achsen, wie der Hobrecht-Plan für die Berliner Stadterweiterung von 1861 zeigt. Die Rationalität der Stadt, ihre funktionale Organisation, wurde durch die formale Anlage der gründerzeitlichen Stadterweiterungen kaum abgebildet. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, mit dem Aufkommen der Stadtplanung als eigenständige Disziplin, gewann auch die Analyse der städtischen Strukturen, der "Blick hinter die Form" an Bedeutung. So zeigte der 1893 durch Otto Wagner vorgelegte GeneralRegulierungs-Plan für Wien schon deutlichere Züge einer rationalen Quartiersorganisation auf der Basis eines regelmäßigeren Rasters49, ebenso wie die Stadterweiterung von Berlage für Amsterdam-Süd.

Lampugnani (Hrsg.), S.59

Den wohl frühesten Prototypen der modernen, vollkommen rationalisierten Stadt liefert Tony Garnier, der in der Zeit von 1899 bis 1904 als Rom-Stipendiat der Pariser Ecole des Beaux-Arts sein ideales Konzept der Cité industrielle verfasst. Als literarisches Vorbild dient ihm Emile Zolas utopischer Roman Travail, der die Gründung einer idealen Industriestadt, aufbauend auf den Ideen Fouriers beschreibt50. In Anlehnung an Zola entwirft Garnier eine Stadt, in der sich die Industrie streng getrennt von der leicht erhöht gelegenen Wohnstadt und der alten Ortschaft befindet, ein "Bahnhofsviertel" übernimmt zentrale Funktionen. Hier deutet sich erstmals die konsequent funktionsgetrennte Stadt an, streng aufge-

48

Gerd de Bruyn, S.62 Heinrich Schoof, S. 106 50 Gerd de Bruyn, S. 187 49

Tony Garniers Citè industrielle (1899 bis 1904)

Seite 21

de Bruyn, S.215

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de Bruyn, S.239

Das Raster der Cité industrielle.

Lamupnani (Hrsg.), S.79

Le Corbusiers Plan Voisin (oben) und das Konzept der Ville contemporaine (unten).

Streng rational: Hilbersheimers Großstadtentwurf (1926).

teilt in Bereiche des Wohnens, der Arbeit, der Kultur und der Erholung51, basierend auf einem regelmäßigen Raster. Mit Garnier verpflichtet sich das utopische Moment der Planung ganz der Rationalität und schafft damit die Basis für den Städtebau der Moderne, für die funktionsgetrennte Stadt, die mit der Charta von Athen (1933) als Leitbild für den Städtebau des 20. Jahrhunderts prägend werden sollte. Denn es ist Le Corbusier selbst, der spätere Mitverfasser der Charta von Athen, der in seiner programmatischen Schrift Vers une Architecture (1922) die städtebauliche Rationalität der Cité industrielle lobt52, um die überschaubare Größe der Cité nur wenige Jahre nach deren Erscheinen weit in den Schatten zu stellen. Mit der Utopie einer modernen Geschäftsstadt für 3 Millionen Einwohner, der Ville contemporaine53, verfasst Le Corbusier eine der bis heute radikalsten Visionen einer streng rationalisierten, funktionsgetrennten Stadt. Aber es fehlt dieser technischen Stadtutopie, die ganz auf die Verkehrsproblematik und die Funktionstrennung konzentriert ist, der reformerische Geist der Cité industrielle: Garnier hatte seiner Utopie in Anlehnung an Zola eine sozialistische Gesellschaft zugrunde gelegt, bei Le Corbusier fehlt jeder Hinweis auf die politischen Verhältnisse; das utopische Denken ist nicht länger allein sozialen Motiven verpflichtet, sondern stellt sich in den Dienst der technischen Machbarkeit. 1925 konkretisiert Le Corbusier sein abstraktes Stadtmodell, in dem er mit dem Plan Voisin vorschlägt, es auf Paris anzuwenden. Das Desinteresse der Stadtverwaltung hat diese Metropole wohl vor der Zerstörung bewahrt.54 So lässt sich eine Linie der Rationalisierung des utopischen Denkens zeichnen, von Fourier und seinen sozialistischen Überlegungen über die literarische Utopie von Zola zu Garnier und weiter zum Städtebau der Moderne, zu Le Corbusier und seinen Zeitgenossen; zu Hilberseimer und seiner strengen, dichten und verkehrsgerechten Großstadtvision für 4 Millionen Einwohner (1927)55; zu Neutra und seiner Rush City Reformed56, einer Aktualisierung der Bandstadtidee von Soria y Mata (1882)57. Form follows Funktion - dieses Leitmotiv der Moderne hat das utopische Denken versachlicht und damit aus dem Kontext der sozialen Motive herausgerissen.

51

Gerd de Bruyn, S. 212 Gerd de Bruyn, S. 234 53 Le Corbusier veröffentlichte das Konzept der Ville contemporaine anlässlich des 3. Kongresses der CIAM in Brüssel erneut unter dem Titel Ville radieuse. (Gerd de Bruyn, S.249) 54 Koolhaas beschreibt Le Corbusiers vergebliche Versuche, seine Ville radieuse in unterschiedlichen Metropolen zu realisieren. (Rem Koolhaas, S. 276) 55 Ludwig Hilbersheimer, 1978 56 Heinrich Schoof, S. 133 57 Heinrich Schoof, S. 57

de Bruyn, S.177

52

Die Ciutad lineal, eine 500 m breite Stadtstruktur entlang eines Schnellverkehrssystems.

Seite 22

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de Bruyn, S.248

Die Kraft der Dimension

Schauer (Hrsg.), S.40

Coates, Stetter (Hrsg.), S.199

Auch die Moderne sucht die Kraft der Größe: Wolkenkratzer der Ville radieuse (1929/30).

Coates, Stetter (Hrsg.), S.200

Coates, Stetter (Hrsg.), S.201

Der Turm als Symbol: Darstellung des Turms von Babel von 1595 (oben), Leuchtturm von Boullée, entworfen um 1785 (unten).

Kuppelphantasien: Albert Speers Große Halle für Berlin von 1938/39 (oben) und der Cenotaphe a Newton von Boullée, entworfen um 1785 (unten).

Geradezu im Gegensatz zur Rationalität speziell der modernen Stadtutopien steht die pure Dimension dieser idealen Konzepte. Die jedes menschliche Maß missachtende Maßstäblichkeit sowohl der idealen Großstadt Hilbersheimers wie auch der Ville Radieuse, die fast schon militärische Strenge der sich mechanisch wiederholenden Elemente, die sich auch schon bei Cabet und seiner utopischen Hauptstadt Ikaria findet, stehen in offensichtlichem Gegensatz zu den humanistischen Motiven dieser Entwürfe. Die philanthropische Intention wird überlagert durch die Machbarkeitseuphorie des modernen utopischen Denkens. Die "bessere Welt" scheint plötzlich planbar, man muss sie nur mit ausreichender Kraft, mit der kühlen Konsequenz des absoluten Plans aus dem "Nirgendland" holen und auf das Zeichenbrett projizieren, als erhebendes Bild der absoluten Idee. Und je absoluter das utopische Moment, je weniger Widerspruch es duldet, umso mehr scheint es die Erhabenheit der Dimension zu suchen, um seinen Intentionen Ausdruck zu verleihen. Das ideale Quartier oder eine ideale Siedlung wie die Gartenstadt sind längst nicht genug; die ganze Stadt soll von dem Streben nach der "besseren Welt" erfasst oder zumindest überragt werden, als laute das Motto: "ganz oder gar nicht". Die Urbilder der Erhabenheit reichen weit zurück: Schon der Turm von Babel wie auch die sieben Weltwunder wussten durch schiere Größe zu beeindrucken; es waren Bauwerke, die allein durch ihre Dimension die Möglichkeiten des Fortschritts verbildlichten. So ist es nicht verwunderlich, dass Boullée, der Revolutionsarchitekt auf der Suche nach der "Universalsprache der Bauformen"58, die mythische Form des Turms von Babel aufgriff, um seinen Leuchtturmvisionen die nötige Erhabenheit zu geben (Abbildung Stadt und Utopie). Aber selten wird die Dimension stärker übersteigert als in der Diktatur. Hier bricht sich der eingangs erwähnte Möglichkeitsüberschuss des totalitären Regimes Bahn, hier trifft das utopische Denken auf die nach symbolischer Überhöhung gierende absolute Macht: Alles ist baulich erlaubt zur Feier der "besseren Welt", in deren Dienst die Diktatur stets zu handeln glaubt. Besonders in den Entwürfen der Nationalsozialisten für Berlin und die "Gauhauptstädte" kommt dieser maßlose Größenwahn zum Ausdruck, der letztlich nur eine plump übersteigerte Kopie der baulichen Vorbilder erzeugt. So stellt sich das zentrale Element der nationalsozialistischen Umgestaltungspläne für Berlin, die Große Halle mit ihren 250 Metern Höhe als gigantomanische Neuinterpretation des römischen Pantheons dar, als maßstabsloses Zitat der kugelförmigen klassizistischen Idealarchitekturen von Ledoux oder Boullée. Und auch der geplante Triumphbogen für das Berlin der Nationalsozialisten versucht, durch pure Größe zu beeindrucken. Dass ihm dabei

58

Inken Nowald in: Stadt und Utopie, S. 39 Seite 23

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die ausgewogene Proportion des Vorbilds, des Pariser Arc de Triomphe, gänzlich abhanden kommt, scheint die Auftraggeber der Entwürfe nur wenig gestört zu haben.

Lampugnani (Hrsg.). S.69

Das Pathos der überhöhten Dimension hat fast alle Diktaturen baulich geprägt, von der Rauminszenierung der Magistrale in der sozialistischen Diktatur bis zur absurden Größe des Bukarester Volkspalasts59. Aber auch der ungebremste Markt und die grenzenlose Technikeuphorie finden ihre ideale Form zumeist in purer baulicher Größe: So mutet das boomende Shanghai des 21. Jahrhunderts wie ein aus der Perspektive des freien Unternehmers gezeichnetes kapitalistisches Utopia an, eine zeitgemäße Übersetzung der futuristischen Visionen des Antonio Sant' Elia. Die absolute politische und wirtschaftliche Macht enthemmt das utopische Denken und Größe wird zum Sinnbild dieser durch keine Kritik gebremsten Euphorie des Aufbruchs.

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Die Flucht in die Idylle

de Bruyn, S.145

Die Kraft der Dimension: Volkspalast in Bukarest (oben), Stadtvision von Antonio Sant' Elia (mitte), Ansicht von Shanghai (unten)

Dabei kennzeichnen durchaus zwei gegenläufige Bewegungen das utopische Denken: Zum einen der euphorische Aufbruch in die "bessere Welt", zum anderen der Rückzug in die Idylle; der Staatsentwurf steht dem Schäferroman60 gegenüber. So wie die Erhabenheit des Aufbruchs durch Größe und maschinenhafte Wiederholung einzelner Elemente repräsentiert wird, so findet sich auch für den Rückzug in die Idylle das formale Äquivalent: Der Rückgriff auf idealisierte vormoderne Bauformen soll einen angenommenen glücklichen Urzustand der Gesellschaft wiederherstellen. Zuweilen treffen beide Bewegungen - Aufbruch und Rückzug - aufeinander: So manche mit euphorischem Geist entworfene Utopie kann neben dem Moment des Aufbruchs den Fluchtreflex in die Idylle nicht verbergen. So versuchte schon Cabet, die Strenge seines Rasters durch die Schaffung eines dörflichen Ambientes mit Laubengängen und Vogelvolieren zu mildern61, wie auch Owen seiner dem Fortschritt verpflichteten Industriesiedlung New Harmony ein traditionelles gotisches Gesicht gibt, mit spitzgiebeligen, ganz und gar nicht fortschrittlichen Behausungen.62

Der Fortschritt im Gewand der Tradition: Schemazeichnung des Entwurfs von Thomas Stedman Whitwell für Owen's New Harmony.

59

Die 1996 in Barcelona, Berlin und London gezeigte Ausstellung "Kunst und Macht" zeigt auf anschauliche Art die Verwandtschaft der nationalsozialistischen und kommunistischen ästhetischen Ideale (http://www.dhm.de/ausstellungen/artpow/). 60 Die Gattung des Schäferromans ist der literarischen Utopie verwandt; sie knüpft in der Renaissance an antike literarische Formen an und skizziert ein ideales "Arkadien". (R.Grimm in "Utopieforschung" Band 2, S.83 ff.) 61 Gerd de Bruyn, S. 96 62 Gerd de Bruyn, S. 144 Seite 24

Utopia reloaded? | Das utopische Moment und seine Motive in der Geschichte des Städtebaus | Julian Petrin

Coates, Stetter (Hrsg.), S.117

Coates, Stetter (Hrsg.), S.116

Coates, Stetter (Hrsg.), S.102

Zum baulichen Leitmotiv des utopischen Denkens wurde der Rückzug in die architektonische Idylle jedoch vollends, als der "Kampf gegen die Stadt" (siehe 2.4) nach einer idealen Form als Gegenmotiv zur baulichen Realität der Großstadt verlangte. Sowohl die Architektur der Gartenstädte mit ihren ländlichen Zitaten, wie auch die postmodernen Fluchtträume zeigen die vielfältigen Versuche, eine scheinbar naturgegebene, traditionelle bauliche Ordnung wiederherzustellen. Und das synthetische Arkadien erscheint auf den ersten Blick zuweilen durchaus perfekt. Auf dem Stadtplan wirkt die postmoderne Idealstadt Poundbury tatsächlich wie eine alte, gewachsene englische Kleinstadt, mit ihren geschwungenen Straßenführungen und den ländlich-traditionellen Architekturen des Architekten Leon Krier63. Dennoch kann diese, in den achtziger Jahren auf Initiative von Prince Charles entstandene, englische Antwort auf Amerikas postmoderne Gated Communities Seaside und Celebration ihre Künstlichkeit nicht verbergen: Alles wirkt steril, aufgeräumt und auch der Plan entlarvt bei näherer Betrachtung seine ideale Anlage, sein konzentrisches Halbrund. Hier, wie in fast allen postmodernen Entwürfen einer "besseren Welt", bleibt die Idylle nur oberflächliches Zitat. Die Suche nach der idealen Form kann den vermeintlich glücklichen Urzustand der Gesellschaft nicht wiederbringen.

Oben: Ländliche Idylle in Letchworth, der ersten gebauten Gartenstadt. Mitte und unten: Tradition vom Reißbrett in Poundbury.

63

Hilary French in: Impossible Worlds, S.116/117 Seite 25

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Benevolo, Die Geschichte der Stadt, S. 792

2.4

Ein zwischen Eisenbahnbrücken gelegenes Armenviertel in London (Stich von Gustav Doré aus dem Jahre 1872).

Der Kampf gegen die Stadt Bereits im 17. und 18. Jahrhundert waren die großen europäischen Hauptstädte wie Paris und London zu veritablen Großstädten geworden, die mit ihren teils unhaltbaren hygienischen Zuständen und großen sozialen Gegensätzen neben dem Glanz der Metropole auch die Schattenseiten des Großstadtlebens an die Oberfläche brachten. Als im 19. Jahrhundert die Industrialisierung erst England und später das kontinentale Europa erfasste, erlebten die europäischen Städte eine bisher nicht gekannte Bevölkerungsexplosion. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurden aus kleinen Landstädten neue Industriezentren mit teils mehreren hunderttausend Einwohnern, und auch die Metropolen vervielfachten ihre Einwohnerzahl.64 Die zunehmenden sozialen Missstände in den industriellen Großstädten wurden für viele Zeitgenossen zum Anlass, nach Auswegen aus der sozialen Krise des industriellen Zeitalters zu suchen. Der Kampf gegen die moderne Stadt und ihre Zumutungen sollte bis weit in das 20. Jahrhundert eines der wichtigsten Motive für utopische Gesellschafts- und Stadtkonzepte bleiben. Von der Gegenstadt zur wiederentdeckten Stadt Schon die frühen Utopien versuchten, die Stadt durch radikale Ordnung zu bändigen, wurde doch die unüberschaubare Stadt seit jeher als Ort des Lasters und Ursprung vieler sozialer Missstände gesehen. Zwar wurden in Utopia oder Ikaria Städte mit durchaus beträchtlicher Einwohnerzahl entworfen65, dennoch waren es keine urbanen Orte, herrschte hier doch eine städtebauliche Gleichförmigkeit, die durch die wohlgeordnete Disziplinierung der Gesellschaft nur verstärkt wurde66. Nur Fourier vermochte mit seiner Vision der Phalanstère so etwas wie urbanes Leben zu skizzieren, wenn auch er mit seiner "Stadt im Haus" letztlich die Abschaffung der Stadt intendierte. Auch wenn das utopische Denken zur Zeit der Renaissance zumindest die wohlgeordnete Stadt zu akzeptieren scheint, so deutet bereits Campanella mit seiner turmartigen Sonnenstadt ein Gegenmodell zur Stadt an, das die geschlossene Gemeinschaft der Siedlung über die schwer zu steuernde, offene städtische Gesellschaft stellt. Von Campanella und seiner idealen Siedlungsgemeinschaft führt eine direkte Linie zu den Frühsozialisten und ihren Versuchen, ihre idealen Gütergemeinschaften mit Hilfe in sich geschlossener, neuer Siedlungen in die Realität umzusetzen. Es war der gleiche Geist des radikalen Neuanfangs in einer hermetischen "besseren Welt" abseits der Unübersichtlichkeit der Städte, der die autoritären Phantasien des Cam64

Einen guten Überblick über die Verstädterung im 19. Jahrhundert gibt Clemens Zimmermann in "Die Zeit der Metropolen", Frankfurt 1996 65 Gerd de Bruyn schätzt die Einwohnerzahl der fiktiven Stadt Ikaria auf zwischen 100.000 und 500.000 Einwohner (Gerd de bruyn, S.95) 66 Gerd de Bruyn Seite 26

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panella, wie auch die humanistisch motivierten Siedlungsversuche der Frühsozialisten beflügelt haben mag.

Coates, Stetter (Hrsg.), S.100

So schien Anfang des 19. Jahrhunderts der geeignete Zeitpunkt gekommen, den Aufbruch in die "bessere Welt" zu wagen. Das Vorbild boten die amerikanischen Siedlungsexperimente der Rappisten und der Shaker, die Engels 1845 als idyllische, ländlich geprägte Kleinstadtgemeinschaft abseits der brutalen Realität der Großstädte beschreibt: "Jede dieser Gemeinden ist eine schöne, regelmäßig gebaute Stadt, mit Wohnhäusern, Fabriken, Werkstätten, Versammlungshäusern und Scheunen; sie haben Blumen- und Gemüsegärten, Obstbäume, Wälder, Weinberge, Wiesen und Ackerland im Überfluss; dazu Vieh aller Art (...) und von der besten Zucht. Ihre Scheunen sind immer voller Korn, ihre Vorratskammern voll Kleiderstoffe (...). Sie haben keine Armenhäuser und Spitäler, weil keine einzigen Armen und Not leidenden (...); sie kennen keinen Mangel und brauchen ihn nicht zu fürchten. In ihren zehn Städten ist kein einziger Gendarm oder Polizeidiener, kein Richter, Advokat oder Soldat, kein Gefängnis oder Zuchthaus; und doch geht alles ordentlich zu."67 Zuerst war es der englische Unternehmer Robert Owen, der versuchte, seine Ideale des stadtfernen Lebens der Gütergemeinschaft in den USA umzusetzen. Nachdem er mit seiner 1809 bis 1813 errichteten idealen Fabriksiedlung New Lanark in England dem Ideal der Gegenstadt schon nahe gekommen war, hatte Owen 1823 im Staat Indiana die verlassene Rappistensiedlung Harmony gekauft, um hier sein ideales Konzept der Village of Unity and Mutual Co-operation umzusetzen, ein in sich geschlossenes Industriedorf, das den Menschen mit der Natur wieder versöhnen sollte. Aber sowohl New Harmony als auch der Mitte des 19. Jahrhunderts unternommene Versuch, die Cabetsche Vision Ikarien in den USA zu realisieren, scheiterten. New Harmony zog nurmehr Intellektuelle an, die Utopie verkam zum Diskutierklub68. Zu labil war scheinbar die konstruierte "bessere Welt" der idealen Siedlung.

Das Beste von Stadt und Land vereinen: Das Diagramm der Drei Magneten, von Ebnetzer Howard 1898 in seiner Schrift Garden Cities of To-Morrow publiziert.

Erst mit dem 1898 publizierten Konzept der Gartenstadt erneuerte sich die Idee der Siedlung als "Gegenstadt", wenn auch Ebnetzer Howard, der Autor dieses Siedlungsmodells, den urbanen Charakter der Stadt nicht gänzlich ablehnte. Howard versuchte, das Beste beider Welten zu vermählen: Die angenommene idyllische Natürlichkeit des Landlebens mit der kulturellen und infrastrukturellen Ausstattung der Stadt. Letztlich scheiterte auch dieser Versuch, der industriellen Stadt einen selbstständigen, alternativen Siedlungstyp entgegenzustellen; erfolgreich wurde die Gartenstadt als städtebauliches Modell erst im Kontext der Großstadt, als angenehmer Wohnvorort mit ländlichen Assoziationen, als "hübsches Anhängsel der Großstädte"69. 67

Gerd de Bruyn, S.139, zitiert nach: Engels, 1976 Gerd de Bruyn, S.147, zitiert nach: Julius Posener, 1983 69 Gerd de Bruyn, S.173 68

Seite 27

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte es sich gezeigt: Der sozialistisch motivierte "Kampf gegen die Stadt" bewirkte nichts, solange er sich in die Idylle flüchtete und die industrielle Produktion ausklammerte70. Erst mit der fortschrittsoptimistischen "Feier der Technik", die sich in den verkehrstechnisch orientierten Planungen der Bandstadt71 (1882) erstmals ausdrückte, kam neue Dynamik in die Suche nach der Gegenstadt. Das Zusammenspiel der kapitalistisch geprägten Technik und der sozialistisch motivierten Planung ergab jenen Möglichkeitsüberschuss, der während der Moderne mit dem Konzept der Ville contemporaine die alte, gewachsene Stadt auf viel bedrohlichere Weise in Frage stellte. Und als sich mit dem Wiederaufbau die Chance bot, die zerstörten Städte vollends in die Landschaft aufzulösen, da schien die Gegenstadt endgültig gesiegt zu haben. Aber auch hier zeigte sich die erstaunliche Widerstandsfähigkeit der Stadt: Als die Dimension der Stadtzerstörung immer offensichtlicher wurde, obsiegte die Sehnsucht nach der alten, "echten" Stadt. Längst hatte zudem der "Kampf gegen die Stadt" seine Nahrung verloren, hatten sich doch, zumindest in den Städten der westlichen Welt, die Lebensbedingungen entscheidend gebessert. Die einstmals unerträgliche Dichte wurde nun der Motor der neu entdeckten Urbanität.

70 71

Gerd de Bruyn, S.175 Eine Beschreibung der Bandstadtidee findet sich bei Heinrich Schoof, S.57 Seite 28

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2.5

Auf der Geisterbahn der Moderne Das utopische Moment in der Unterhaltung Das Aufkommen der Unterhaltungsindustrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts bot dem utopischen Denken völlig neue Ausdrucksmöglichkeiten. Besonders der Film war in vorher nie da gewesener Art in der Lage, die kollektiven Ängste und Wünsche eines breiten Publikums als perfekte Illusion abzubilden. Aber auch große Publikumsereignisse wie Vergnügungsparks und Weltausstellungen waren immer wieder Schauplatz eindrucksvoller Zukunftsvisionen.

Coates, Stetter (Hrsg.), S.175

Die düstere Metropole

Koolhaas, S.109

Fritz Langs Metropolis, der Archetyp des utopistischen Films, scheint im Rückblick das zentrale Medium kollektiver Zukunftsträume und ängste der zwanziger Jahre zu sein. Allein formal finden sich zahlreiche Spuren damaliger Zukunftsvisionen: Von den bedrückenden futuristischen Stadtgebirgen eines Antonio Sant' Elia bis hin zu den düsteren New York-Visionen des Architekturzeichners Hugh Ferriss72. Im Film verkehrt sich das utopische Moment in sein Gegenstück, die Dystopie, die ein düsteres Bild einer totalitären Gesellschaft in einem bedrückenden Stadtszenario zeichnet. Es ist, als würden die Kerkervisionen des Piranesi als Kulissen verarbeitet: Immer wieder taucht in den dystopischen filmischen Stadtvisionen das Thema der selbstreferenziellen Welt auf, die das "Außen" vergessen zu haben scheint, sind doch die Dimensionen der dystopischen Stadtvisionen des Films meist unermesslich. So schaffen es die Helden des Films Brazil73 erst gegen Ende der Filmhandlung, ihrem urbanen Gefängnis zu entfliehen, in dem eine totalitäre Bürokratie, agierend in kafkaesken Gebäudelabyrinthen, das freie Alltagsleben beschneidet. Die Kulisse des Films musste übrigens nicht erst komplett erfunden werden, wurden doch Teile des Films in den postmodernen Pariser Sozialwohnungsgebirgen des katalanischen Architekten Bofill gedreht, dessen Architektur nicht erst seit seinem Wohnexperiment Walden 7 einiges dystopisches Potenzial zu besitzen scheint.

bizarre-movie-reviewer.8m.com

So, wie sich der konstruktive Teil des utopischen Moments zu Zeiten technischer Innovation in der positivistischen Antizipation der Chancen zeigt, so übernimmt nun neben der Literatur der Film die Rolle, die Risiken abzubilden. Im scheinbar unpolitischen Freiraum der Unterhaltungsindustrie darf die Zukunft sich von ihrer düsteren Seite präsentieren, geht es hier vordergründig doch nicht um Aufklärung und politische Ziele, sondern um den Kitzel der Geisterbahn. Tatsächlich werden hier, in der Welt der puren Fiktion, die dunklen Seiten der Utopie aufgedeckt, die das "Prinzip Ordnung", dieser Grundton vieler Entwürfe für eine "bessere Welt", hervorzubringen in der Lage ist. Düstere Visionen: Fritz Lang's Metropolis (oben), theoretischer Umriss eines Gebäudes nach dem New Yorker Zoning Law von 1916 von Hugh Ferriss, Szene aus dem Film Brazil (unten).

72

Hugh Ferriss machte sich im New York der zwanziger Jahre einen Namen als exzellenter Architekturzeichner (Rem Koolhaas, S. 111). 73 www.channel4.com/film/reviews/film.jsp?id=101493 Seite 29

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www.classic.archined.nl/news/0301/tati_eng.html

Spiegel der Ironie

Coates, Stetter (Hrsg.), S.170

Koolhaas, S.182

Tati's Irrgarten der Moderne: Mon Oncle (oben) und Playtime (unten)

Die Stadt als Berg: Theoretisches Konzept für Manhattan (oben) und Stadtvision aus Das fünfte Element (unten).

Aber nicht immer herrscht absolute Düsternis im Utopia der Filmemacher. Oft genug wird das ernste Thema der totalen Ordnung ironisch gebrochen, wie beispielsweise in den Filmen von Jaques Tati. In seinem Film Mon Oncle nimmt er das Leben in einer voll automatisierten Umgebung aufs Korn, wenn er liebevoll die kleinen Katastrophen zeigt, die eine aus dem Ruder laufende Technik mit sich bringen kann. Nur leise klingt hier das dystopische Potenzial einer verselbstständigten Technik an. In Playtime hingegen widmet sich Tati in noch direkterer Weise der Utopie der modernen Stadt, die autogerecht, funktionsgetrennt und streng durchrationalisiert den Menschen mit seinen ganz und gar nicht ausschließlich rationalen Bedürfnissen auf die Probe stellt. Wie ein Fremder aus vormodernen Zeiten taumelt die Hauptfigur des Films fast wortlos durch eine perfekt inszenierte funktionale Stadt der Großraumbüros und der reflektierenden Glasfassaden, ständig irritiert durch die für ihn fremde Benutzeroberfläche mit all ihren fremden Eindrücken, die ihm wie Trugbilder vorkommen müssen. Es ist eine ironische Architekturkritik, die Tati mit Playtime geschaffen hat, mit der Nähe zur Realität der Stadt der Sechziger Jahre, die den Eindruck erweckt, als hätten Mies van der Rohe oder Le Corbusier persönlich die Kulissen entworfen. Aber auch Hollywood versteht Spaß, wenn es um die Darstellung des utopischen Moments geht. Wie anders sollte man die absurden Dimensionen der Stadtkulisse von Luc Bessons Das fünfte Element (1995) deuten, die sich mit ihren bergartig getürmten Wolkenkratzern als direktes Zitat der Stadtgebirge des New Yorker Architekten Raymond Hood lesen lässt? Als einer der "Theoretiker des Wolkenkratzers"74 hatte Hood 1931 ein Siedlungsmodell mit utopischen Dimensionen für New York entworfen, das vorsah, an 38 Schnittpunkten der Avenues zu ihren Querstraßen große "Berge" zu errichten, riesige von den Straßen durchschnittene Gebäudekomplexe, die sich zur Umgebung langsam terrassenartig abstufen sollten75. Im Kontrast zu dem absurd-dystopischen Charakter von Bessons filmischer Stadtvision, die unverholen in der Tradition von Metropolis steht, werden die schier bodenlosen Straßenschluchten von allerlei kuriosen Gefährten bevölkert - Wie eine Sammlung von Blechspielzeug, das in die ernste Welt der Utopisten hineingeraten ist.

Coates, Stetter (Hrsg.), S.158

Auf ganz eigene Art zeigt sich das utopische Moment in der "Truman Show". Hier wird mit ironischem Blick auf die Mediengesellschaft die perfekte mediale Konstruktion vorgeführt. Eine hermetische Welt unter einen sphärischen Kuppelhimmel - Boullée oder Buckminster Fuller hätten die Kuppel nicht großartiger entwerfen können - konstruiert nur als Kulisse für eine Fernsehshow. Es ist wie eine Karikatur Blechspielzeug in Utopia?

74 75

Rem Koolhaas, S.111 Rem Koolhaas, S.185 Seite 30

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Coates, Stetter (Hrsg.), S.118

Schauer (Hrsg.), S.109

Utopias, eine humanistische Inszenierung, in der alle Menschen freundlich sind. Nur der Held, der Fernsehstar der Inszenierung, weiß nichts von seiner Scheinexistenz, nimmt seine Welt für bare Münze. Als er am Ende des Films die Kuppel durchstößt, um in die reale, unperfekte Welt vorzudringen, zerplatzt die Utopie wie eine Seifenblase. Es ist wie eine ironische Paraphrase des Schicksals aller bisherigen "besseren Welten": Die Utopie verflüchtigt sich in dem Moment, in dem sie mit der Essenz der Realität zusammentrifft. Die Ironie der Ironie: So utopisch die Handlung, so real war der Drehort: die "Gated Community" Seaside in Florida, eine postmoderne "bessere Welt". Hier ist es längst in der Realität angekommen, das utopische Moment. Es fehlen nur die Kameras. Spielplatz der Utopien

Hermetische Idealwelten: Buckminster Fullers Kuppel über Manhattan (oben) und Seaside, Florida (unten)

Im Dienste des perfektionierten Freizeitvergnügens darf das utopische Moment sich frei und ohne die Last des Gesellschaftsentwurfs ausleben. Hier zeigt sich die "bessere Welt" als Stadtderivat in Form einer Freizeitkulisse, als ein Venedig ohne Gestank und Taschendiebe, ein New York ohne Lärm und Verkehrschaos, ein Neuschwanstein ohne lästige Anfahrt. Das utopische Moment ersinnt eine Kunstwelt zu Zerstreuungszwecken, eine kommerzielle Ironie der idealen Stadt.

Coates, Stetter (Hrsg.), S.131

Coates, Stetter (Hrsg.), S.126

Das Sinnbild dieser synthetischen Stadt ist sicher Las Vegas, dessen Kulissenarchitektur die Sehenswürdigkeiten der Welt imitiert und damit ein auf den ersten Blick überraschend echtes Stadtszenario generiert: Alles schon mal gesehen, aber irgendwie anders. Es ist wie ein Arkadien, das nur das Beste aus den Metropolen der Welt um sich versammelt. Ebenso Disneyworld, Legoland, die vielen Freizeitparks und nicht zuletzt die hermetischen Reise-Resorts mit ihrer sauberen, inszenierten Folklore. Diese Freizeitarchitektur, die meist gar nicht erst vorgibt, echt zu sein, ist wie eine ironische Überzeichnung der idealen Städte der Utopisten, die den Trugschluss des utopischen Masterminds entlarvt, seinen Glauben, eine städtische Gemeinschaft inszenieren zu können. Vielleicht hätte Cabet, der mit den folkloristischen Zitaten seiner Architektur die Brutalität seines Rasters zu überspielen versuchte, sich in Disneyworld zu Hause gefühlt.

simcity.ea.com/

Vielleicht hätte er auch Sim City gespielt, wo er sein Raster wiedergefunden hätte, wo er abermals und abermals utopische Staaten hätte entwerfen können, mal bergig, mal verinselt, vielleicht im Wettstreit mit Morus, der hier sein Amaurotum zu virtuellem Leben hätte erwecken können. Nur Campanella hätte es mit seiner polyzentrischen Stadtanlage doch schwer gehabt, erlaubt Sim City doch nur ein orthogonales Raster.

Ideale Spielwelten: Las Vegas (oben), Legoland (mitte) und Sim City (unten). Seite 31

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Coates, Stetter (Hrsg.), S.65

Freizeitwelten, Spielwelten: auch das Wohnzimmer kennt das utopische Moment, besser gesagt der Hobbykeller. Man führe sich nur die vielen idealen Welten der Modelleisenbahn vor Augen; Abbildungen eines goldenen Zeitalters, das die glückliche Welt des ländlichen Lebens mit der verklärten Romantik der Dampflokomotiven und der Eleganz der heutigen Technologie vermählt. Der computergesteuerte ICE fährt im Schritt-Tempo durch eine Allgäuer Wiesenlandschaft; freundlich grüßt der Bauer am Wegesrand, während in der auf Dorfgröße geschrumpften Industriestadt die Gaslaternen angehen. Hier darf sich das private utopische Moment ganz der Konstruktion einer Idylle widmen, die auch ein Thomas Morus nicht liebevoller hätte ausstatten können.

Die Idylle der Modelleisenbahn

Seite 32

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2.6

Das öffentliche Labor

Gausa (Hrsg.), S.57

Woran entzündet sich das utopische Moment heute? Der Blick in die jüngste Geschichte des Städtebaus zeigt Widersprüchliches: Das eingangs in dieser Arbeit postulierte "Ende der Utopien" ist offensichtlich: Die großen Stadtentwürfe und Leitbilder haben ausgedient. Mit den klaren gesellschaftlichen Konfliktlinien sind auch die einfachen Lösungen verschwunden. Politik verzichtet weitgehend auf Ideologie, entscheidet pragmatisch von Fall zu Fall. Ebenso verhält es sich mit der Planung der Stadt, dem gebauten Ausdruck der Gesellschaft. Die Stadt wird zur Eventkette, zur Aneinanderreihung von Projekten, pragmatisch und marktwirtschaftlich gesteuert, fallweise zwischen den unterschiedlichen Interessensgruppen verhandelt.

World Expo City (oben), Garden of Babel (mitte) und Hispania (unten): Computergenerierte Siedlungsmodelle für Katalonien, von MVRDV im Rahmen der Ausstellung "HiperCatalunya" veröffentlicht.

Vor dem Hintergrund dieser Situation und der in den bisherigen Ausführungen beschriebenen negativen Aspekte utopischen Denkens scheint es nur zu logisch, dass sich die monolithische, absolute Gesellschaftsutopie überholt hat. Und trotz der Einsicht in die Überkommenheit von "besseren Welten" zeigt sich das utopische Moment heute stärker als je zuvor. Ausgehend von den subversiv-kritischen Architekturphantasien der sechziger, siebziger und achtziger Jahre bis zu den niederländischen Planungsexperimenten der vergangenen Jahre76 feiert eine unbekümmert-positivistische Machbarkeitshaltung die alten utopischen Ideale: Landschaft lässt sich formen, Städte werden erst bei Archigram mobil77, um später als Datascapes78 wiederzukehren, es gibt wieder Raum für ideale Gemeinschaften, wenn oft auch nur in den Nischen der Zwischennutzung79 oder den Brachen der schrumpfenden Städte80. Die zunehmend unübersehbare Zahl experimenteller Planungen macht aus der großen, monolithischen Gesamtutopie einen Schwarm punktueller Interventionen und Experimente. Die Frankensteinsche Werkstatt der absoluten Utopie, die so manches Planungsmonster hervorgebracht hat, wurde aufgelöst, es bleibt die Hoffnung auf ein kleines Stückchen "bessere Welt", artikuliert in der Kunst, in der Politik, in der Zukunftsforschung, in Nachbarschaftsprojekten und in experimentellen Raumstudien.

76

Einen guten Überblick über die konzeptionelle Innovationskraft der niederländischen Planungsszene bieten die Publikationen zum "Archiprix", Hollands Nachwuchswettbewerb für angehende Architekten, z.B. "Archiprix 94", 1995 herausgegeben von Henk van der Veem und Thijs Asselbergs im Verlag 010 Publishers. 77 Mechthild Schumpp, S. 162 ff 78 Eine Beschreibung des spezifischen Planungsansatzes des holländischen Architekturbüros MVRDV liefert das Buch "Reading MVRDV", 2003 herausgegeben von Veronique Patteeuw, NAI Publishers, Rotterdam. 79 Speziell in Berlin hat sich in Kultur der Zwischennutzung etabliert, in der spontane und informelle Nutzungen erprobt werden. 80 www.shirinkincities.com Seite 33

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Kunst und Subversion

www.moma.org/exhibitions/2001/gursky/

Die "neue Utopie" ist spielerisch, sie hat das Pathos früherer Utopien längst abgelegt. Am offensichtlichsten zeigt sich die spielerische Lust an der Utopie seit jeher in der Kunst, von Piranesi und seinen düsteren Raumvisionen über die erhabenen Ideallandschaften Schinkels bis zu den Raumphantasien Dalis und den Technikvisionen der italienischen Futuristen. Und mit der Moderne wird die Kunst immer offener politisch, gesellschaftskritisch. Die bestehenden Verhältnisse der Stadt in Frage zu stellen - dieser utopistische Urtrieb wird nun ironischkünstlerisch sublimiert und bleibt bis heute ein wichtiges Motiv für die künstlerische Auseinandersetzung mit der Stadt. So lassen sich auch die in den vergangen Jahren entstandenen fotografischen Arbeiten eines Andreas Gursky oder Thomas Ruff zum Thema Stadt wie die Tableaus einer unsichtbaren utopischen Dimension hinter der Realität lesen.

Lampgnani (Hrsg.), S.126

Schauer (Hrsg.), S.136

Zuerst sind es die französischen Situationisten der sechziger Jahre, die Subversion im öffentlichen Raum zum Thema künstlerischer Auseinandersetzung mit der Gesellschaft machen. Mit ihren Plakataktionen, dem "Umherschweifen" und dem gezielten Stören politischer Veranstaltungen befinden sich die Situationisten, die sich in direkter Nachfolge der Dadaisten sehen, noch in offener Opposition zum "Establishment"81. Dagegen sind die Konzepte und Interventionen späterer Gruppen wie Haus-Rucker-Co oder Coop Himmelblau schon auf viel subtilere Art gesellschaftskritisch, indem sie auf soziale oder ökologische Probleme hinweisen, ohne den heroischen Gestus der Revolution vor sich her zu tragen. So entwirft die österreichische Künstlergruppe Haus-Rucker-Co Anfang der siebziger Jahre Installationen, mit denen sie auf ökologische Missstände hindeutet und propagiert temporäre Architekturen als "Medium für den Umbau der Städte", als "Instrument der Demoskopie", das "eingebrannte Sehgewohnheiten knacken" soll82.

Das utopische Moment zwischen Kunst und Konzept-Architektur. Oben: Andreas Gursky, Shanghai (2000) Mitte: Haus-Rucker-Co, Schräges Haus, 1973 Unten: Coop Himmelblau, 1968

Seine gewohnte räumliche Dimension erhält das utopische Moment durch die Architektengruppe Archigram zurück, nun aber unter den Vorzeichen der künstlerischen Subversion. Noch als Studenten gründet die Gruppe um Peter Cook 1961 eine Zeitung mit dem Titel Archigram, die, teils in Comicform, eine radikale Erneuerung des Bauens fordert. Inspiriert von den technischen Möglichkeiten der Raumfahrt und von neuen Werkstoffen werden phantastische Stadtutopien entworfen, wie die Walking City, die sich mit Hilfe riesiger hydraulischer Beine an jeden beliebigen Ort bewegen kann, oder die Plug-InCity (1962), eine Art Regalstruktur, in die variabel Wohnkapseln ein81

Die öffentlichen Interventionen der Situationisten werden als ein auslösendes Moment für das Entstehen der französischen Studentenrevolte angesehen. (www.nzz.ch/2003/05/03/li/page-article8JEVB.html) 82 Peter Werner in: Stadt und Utopie, S. 137 Seite 34

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Cook, S.113

Coates, Stetter (Hrsg.), S.196

gehängt werden können, womit der Traum der unbegrenzten Mobilität auch auf für den Bereich der "Immobilie" Wohnung möglich werden sollte. Mit Archigram zeigt sich das pure utopische Moment: Die Lust am Entwerfen neuer Wunschbilder, die, frei von absoluter Ideologie, eine "Stadt der Möglichkeiten" anbieten. Archigram stellt dabei das wissenschaftliche und technische Know-how seiner Zeit ganz in den Dienst der individuellen Entfaltung und bricht so mit der utopistischen Tradition, die stets ein fertiges Bild optimaler Individualität autoritär verordnen wollte. Die ganze Kraft des subversiv eingesetzten utopischen Moments zeigt sich 1984, als Peter Cook für die Times ein bewusst provokantes Szenario skizziert, das weite Teile des Londoner Südens flutet. Wie erwartet löst die Veröffentlichung eine Welle der Entrüstung aus83. Die Utopie wird zum Medium, das mit bewusster Überzeichnung urbane Probleme und versteckte Potenziale aufdeckt Grundlagenforschung

Cook, S.105

Auch außerhalb der subversiven Kritik ist das utopische Moment weiterhin zu finden. Betrachtet man die vielfältigen Publikationen des Sekretariats für Zukunftsforschung in Gelsenkirchen84, könnte man zu dem Schluss kommen, die Suche nach einer besseren Welt habe nicht aufgehört, sie hat lediglich ihre neue Heimat im sicheren Gebäude der versachlichten Wissenschaft gefunden. Aus der Utopie ist Zukunftsforschung geworden: Zwischen Methodenerforschung, Szenarienentwicklung und Science-Fiction treibt der Geist der Utopie die Planer und Forscher am SFZ noch immer um.

www.mvrdv.archined.nl

Archigram und die spielerische Utopie. Oben: Walking City (Ron Herron, Archigram) Mitte: Plug-In City (Peter Cook, Archigram) Unten: Peter Cooks provokanter Vorschlag für einen See im Londoner Süden

Archigram hat es vorgemacht und die Zukunftsforscher haben es verwissenschaftlicht - das Prinzip des öffentlichen Labors, das neue Stadtentwürfe quasi am Fließband anbietet, auf dass sich die öffentliche Diskussion an diesen Visionen entzünde. Heute sind es Büros wie OMA, MVRDV, West 8, die sich in das öffentliche Labor begeben, um mit ihren teils utopischen Konzepten, ihren gestapelten Schweinefabriken, ihren raumplanerischen Visionen, stadtplanerische "Grundlagenforschung" zu betreiben85; längst auch im Auftrag der Politik, die erkannt hat, das klassische Planung allein nicht mehr ausreicht, um der Zukunft zu begegnen. Das spielerische Imaginieren einer "besseren Zukunft" - als eine von vielen möglichen Zukünften, nicht als absolutes Bild der Zukunft - hat längst Einzug gehalten in die progressiveren Planungsszenen.

Pig City von MVRDV: Studie im Auftrag des niederländischen Landwirtschaftsministeriums. 83

Peter Cook, S.104 Eine Liste der Publikationen des Sekretariats für Zukunftsforschung findet sich unter www.sfz.de. 85 Ein aktuelles Beispiel für das utopische Denken im Sinne des "öffentlichen Labors" findet sich in dem 2004 erschienenen Buch Hipercatalunya. 26 Internationale Planungsbüros präsentieren hier ihre Ideen für das Katalonien der Zukunft. (HiperCatalyunya, Research Territories, 2 Bände, Manuel Gausa (Hrsg.), Barcelona, 2003 84

Seite 35

www.cthrough.nl/RheinRuhrCity/ParkJPG.html

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Das Ruhrgebiet als grüne Region, eine computergenerierte Utopie?

Kaum eine Stadt, die heute nicht das Visionieren pflegt, verhalten utopisch, oder mit offen zur Schau gestelltem utopischem Moment. So wurde das Ruhrgebiet in der Ausstellung Rhein-Ruhr-City86, die von November 2002 bis Februar 2003 in Düsseldorf gezeigt wurde, zum Schauplatz durchaus utopischer Stadtvisionen, mit denen die verdeckten Potenziale des Standorts sichtbar gemacht wurden. Die ausgestellten Szenarien zeigten mögliche Zukünfte des Ruhrgebiets, teils als überzeichnete Wunschbilder, von der grünen Stadt bis zur futuristischen Hochhauscity, einer ins Ruhrgebiet übersetzten Ville radieuse. Doch anders als bei der absoluten Utopie der Moderne war hier nicht länger der allwissende Philanthrop der Regisseur der Utopie: Der Regionmaker87, eine Software des Büros MVRDV, erlaubte den Besuchern der Ausstellung die Steuerung der dargestellten Stadtvisionen. Hier wurde sie in Ansätzen bereits Realität, die Utopie der partizipativen Stadtentwicklung, die Max Frisch 1955 in seinem Hörspiel "Der Laie und die Architektur" entwarf.88 Das Beispiel der Ausstellung Rhein-Ruhr-City zeigt das Potenzial der instrumentalisierten Utopie. Indem sich die Stadtregion ihren möglichen Zukünften öffnet und diese mit Mut zur visionären Überzeichnung öffentlich imaginiert, stellt sie sich als innovativer Standort dar. Die Utopie gerät so in das Kraftfeld des Standortmarketings. Xerox Parc "Was Xerox' Parc entwickelte, war die Zukunft, in der wir heute leben", sagt der ehemalige Berater und Wirtschaftsautor Douglas Smith89 über das legendäre Forschungslabor des amerikanischen Bürogeräteherstellers Xerox, das Palo Alto Research Center90, kurz Parc genannt. In den siebziger Jahren erwarb das Parc seinen legendären Ruf: Hier durfte sich der forschende Geist im geschützten Raum des Labors entfalten, frei von jeder wirtschaftlichen Vorgabe. Schließlich suchte Xerox, der führende Anbieter von Kopiergeräten, nach technologischen Lösungen, die dem Unternehmen auch im Zeitalter des digitalen Arbeitsplatzes sein Bestehen sichern sollten. Aus diesem Zukunftslabor stammt ein Grossteil der Innovationen der Computerindustrie, von der grafischen Benutzeroberfläche mit dem Prinzip der Fensterdarstellung und dem mausgesteuerten Cursor bis zum Netzwerkstandard Ethernet. Der utopische Moment im Dienste des Labors: Was für Unternehmen selbstverständlich ist, sollte für die Planung nicht gelten? Auch die Stadt braucht ihr Labor, ihre Forschungsabteilung. Aber dazu ist eine Planungskultur nötig, die das utopische Denken einlädt und nicht als überkommen diskreditiert, nur weil die absolute Utopie sich überholt hat. 86

www.stadtbaukultur-nrw.de/projekte/rheinRuhrCity.html Mehr Informationen zum Regionmaker bietet das Buch "The Regionmaker/RheinRuhrCity" von Daniel Dekkers, Hatje Cantz Verlag 2002. 88 Gerd de Bruyn, S. 265 89 brand eins, Ausgabe 02/2001, S. 25 90 www.parc.xerox.com 87

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Nur sollten die Planer dabei nicht vergessen, aus ihren Innovationen "marktfähige" Konzepte zu machen, in dem sie die Ergebnisse des utopischen Denkens in praktikable Planungsmodelle überführen. Denn hier hat das Parc bisher versagt, ist es Xerox doch kaum gelungen, aus den Innovationen Kapital zu schlagen. Die erfolgreichen Produkte haben stets andere umgesetzt, wie Apple, Adobe oder Microsoft, inspiriert durch die Ideen des Parc. Das Utopische denken, und dabei nie die Marktfähigkeit der Konzepte aus den Augen verlieren: Von diesem Spagat kann die Stadtplanung nur gewinnen.

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Utopia reloaded? | Das utopische Moment und seine Motive in der Geschichte des Städtebaus | Julian Petrin

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