Unterbestimmtheit und pragmatische Aprioris

Schema und Inhalt – Quine und Davidson . . . . . . . . . . . . . . 105. V. Friedmans dynamische Vernunft ... After the overture, the opera seemed brief. – Donald Justice.
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Die vorliegende Untersuchung kommt nach einer philosophiehistorischen Rekonstruktion der Unterbestimmtheitsthese bei Duhem, Neurath und Quine zu dem Ergebnis, dass es keine einheitliche Unterbestimmtheitsthese gibt: Unterbestimmtheit übernimmt bei den drei Autoren je unterschiedliche Rollen, die nur vor dem Hintergrund ihrer philosophischen Gesamtkonzeption angemessen zu verstehen sind, aber keine Rückschlüsse auf eine realistische oder instrumentalistische Interpretation von Wissenschaften erlauben. Dieses Buch schlägt einen anderen Weg zur Analyse von Unterbestimmtheiten ein: Es rekonstruiert ausgehend von William James’ und C. I. Lewis’ Verständnis der konstitutiven Bedingungen von Wissenschaften theoretische Rahmenbedingungen als pragmatische Aprioris, die dem historischen Wandel unterliegen. Im Zuge dieses Wandels können sich die apriorischen Bedingungen semantisch aufladen und werden der empirischen Erforschung zugänglich. In diesem Prozess werden sie von formalen Bedingungen der Forschungspraxis zu unterbestimmten empirischen Hypothesen. Die Unterbestimmtheitsthese mutiert damit vom metatheoretischen Postulat zum empirischen Werkzeug zur Analyse wissenschaftlicher Entwicklung.

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Anacker · Unterbestimmtheit und pragmatische Aprioris

Die Unterbestimmtheitsthese ist in der wissenschaftstheoretischen Diskussion wesentlicher Bestandteil der Realismus-Debatte. Sie thematisiert das Verhältnis wissenschaftskonstitutiver, theoretischer Aspekte zur Empirie und dessen philosophische Konsequenzen. Die forschungspraktische Bedeutung von Unterbestimmtheiten für die Wissenschaften gerät nie in den Blick.

Michael Anacker

Unterbestimmtheit und pragmatische Aprioris Vom Tribunal der Erfahrung zum wissenschaftlichen Prozess

20.04.12 12:14

Anacker · Unterbestimmtheit und pragmatische Aprioris

Michael Anacker

Unterbestimmtheit und pragmatische Aprioris Vom Tribunal der Erfahrung zum wissenschaftlichen Prozess

mentis MÜNSTER

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Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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A Unterbestimmtheit im wissenschaftstheoriegeschichtlichen Kontext: Reflexionen zur »Duhem-Neurath-Quine-These« 1 Duhem: Unterbestimmtheit und Skepsis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. II. III. IV.

Die verengte Rezeption Duhems Physik und Metaphysik . . . . . Sens commun und Realismus . . Duhems Unterbestimmtheit . .

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I. Den Elefanten von hinten aufzäumen: Neuraths wissenschaftliche und gesellschaftliche Utopie – Enzyklopädie und Einheitswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Universalslang und Ballungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ballungen und Un[ter]bestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Neurathsche Unterbestimmtheit von Duhem und Poincaré . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Quine: Unterbestimmtheit, Wahrheit und Passung . . . . . . . . . . . . .

41

2 Neurath: Unterbestimmtheit und Einheitswissenschaft

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I. Holismus, Unterbestimmtheit, Unbestimmtheit, Unerforschlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Natur eines natürlichen Missverständnisses: Quines naturalisierte Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Evolution und Unterbestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Holophrase und Januskopf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Den Kuchen behalten wollen, den man isst . . . . . . . . . . . . . .

41 43 45 47 49

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Inhaltsverzeichnis

B Eine pragmatische Theorie der Unterbestimmtheit im Rahmen wissenschaftskonstituierender Faktoren und ihrer Rolle für die wissenschaftliche Entwicklung, ausgehend von William James und C. I. Lewis Zusammenfassende Überleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4 William James als Wissenschaftstheoretiker

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . James: Ein philosophischer Amateur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . James’ wissenschaftliche Entwicklung 1860–90 . . . . . . . . . . . Was ist eine wissenschaftliche Psychologie? . . . . . . . . . . . . . . . Die konstitutiven Merkmale der Psychologie als Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die Korrelationsthese als pragmatisches Apriori . . . . . . . . . . . VII. Pragmatisches Apriori und Unterbestimmtheit . . . . . . . . . . . .

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I. II. III. IV. V.

5 Was ist eigentlich ein pragmatisches Apriori?

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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Clarence Irving Lewis und das pragmatische Element der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Definitionen und notwendige Wahrheiten . . . . . . . . . . . . . . . IV. Schema und Inhalt – Quine und Davidson . . . . . . . . . . . . . . V. Friedmans dynamische Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die Empirisierung des pragmatischen Apriori . . . . . . . . . . . . . VII. Unterbestimmtheit in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85 88 98 105 110 115 119

6 Transiente Unterbestimmtheit – Rationalität und Realität . . . . . . . . .

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I. Einleitung und algorithmisch erzeugte Unterbestimmtheit . . . . II. Sklar: Transiente Unterbestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Stanfords Kritik an strengen Versionen der Unterbestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Stanford: Unconceived Alternatives . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. New Induction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Realismus oder Instrumentalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123 128

Resümee

132 140 144 146

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153

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

After the overture, the opera seemed brief. – Donald Justice

Seit circa zwei Jahrzehnten steht die Unterbestimmtheitsthese als sogenannte Duhem-Quine-These wieder im Zentrum wissenschaftsphilosophischer und wissenschaftstheoretischer Fragestellungen. In ihrer schlichtesten, klassischen Version besagt sie, dass es zu jeder gegebenen Theorie über einen bestimmten Datensatz eine Theorie über denselben Datensatz gibt, die der ersteren widerspricht – oder dass zu jeder Theorie eine ihr widersprechende Theorie konstruiert werden kann, die denselben empirischen Gehalt hat. In der gegenwärtigen Diskussion wird sie im Wesentlichen als Angriff auf die wissenschaftliche Rationalität und den wissenschaftlichen Realismus verstanden und als ein metatheoretisches Problem behandelt, wobei aus der philosophischen Perspektive unberücksichtigt bleibt, inwiefern dieses Problem in der tatsächlichen Forschungspraxis überhaupt eine Rolle spielt. Dieser Mangel scheint in der letzten Zeit, besonders repräsentativ in den Arbeiten P. Kyle Stanfords, durch eine Verlagerung des wissenschaftsphilosophischen Augenmerks von einer radikalen Unterbestimmtheit zu transienten, vorübergehenden, Unterbestimmtheiten abgeschwächt zu werden, doch auch hier gilt das Hauptinteresse vornehmlich der Frage nach dem wissenschaftlichen Realismus als einer philosophischen Interpretation des wissenschaftlichen Unternehmens. Die vorliegende Arbeit schlägt eine grundlegende Neubewertung der Unterbestimmtheitsthematik vor. Meine These ist, kurz gesagt, dass Unterbestimmtheiten eine zentrale Rolle in der wissenschaftlichen Entwicklung spielen und elementarer Bestandteil der Forschungspraxis experimenteller Wissenschaften sind. Sie sind also nicht ein philosophisches Problem, sondern der Motor im Prozess sich stets weiterentwickelnder Wissenschaften. Durch diesen Perspektivwechsel hin zur Wissenschaftspragmatik soll aber nicht ein philosophisches Anliegen in einen Gegenstand der empirischen Wissenschaftsforschung umgewandelt werden. Es ist vielmehr beabsichtigt, durch die Berücksichtigung der Wissenschaftspragmatik ein originär philosophisches Thema neu zu interpretieren; nämlich die Frage nach dem Verhältnis von konstitutiven Bedingungen von Wissenschaften zur Empirie. Nimmt man die Dynamik der wissenschaftlichen Entwicklung ernst, so scheint es, dass die Trennung in konstitutive Bedingungen und empirischen Gehalt einen wesentlich historischen Sinn hat: Im Zuge der wissenschaftlichen Entwick-

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Einleitung

lung erfahren die konstitutiven Bedingungen eine semantische Aufladung und können selbst zu empirischen Hypothesen mutieren. Ontologische Festlegungen, die sich in konstitutiven Bedingungen ausdrücken und zunächst nur formal den Gegenstandsbereich einer jeweiligen Wissenschaft abstecken, können sich zu empirischen Begriffen wandeln, deren Unterbestimmtheit Einfluss auf die weitere Forschungspraxis nimmt, indem sie neue Forschungsfelder erschließt, deren Bearbeitung im Idealfall die Unterbestimmtheit aufhebt. So lässt sich etwa die Frage, ob Atome teilbar oder unteilbar sind, erst wissenschaftlich sinnvoll stellen, wenn der Atombegriff keine rein instrumentelle Verwendung als Messbegriff mehr hat, sondern zu einem empirischen Begriff, dem ein eigenständiger Phänomenbereich zugeordnet werden kann, geworden ist. Für diesen Perspektivwechsel ist es aber erforderlich, die konstitutiven Bedingungen wesentlich als pragmatische Aprioris zu verstehen. In der Arbeit werden zunächst die klassischen Positionen zur Unterbestimmtheit von Duhem, Neurath und Quine vorgestellt. Hierbei sollen aber nicht zum wiederholten Male die Geschichten vom experimentum crucis bei Duhem, von Neuraths Angriff auf die Korrespondenztheorie der Wahrheit und von Quines Holismus erzählt werden; es wird darum gehen, welche Funktion der Unterbestimmtheitsthese in der Philosophie dieser drei Autoren zukommt. Entsprechend frage ich auch an keiner Stelle danach, ob die Unterbestimmtheitsthese in den jeweiligen Versionen richtig ist. Ich frage nach ihrem Status für ein bestimmtes Verständnis von Philosophie und Wissenschaften, aber ich frage nicht nach der Richtigkeit dieses Verständnisses. Mir scheint, dass gerade das Bedürfnis, diese letzte Frage beantworten zu wollen, zu einigen Missverständnissen in Bezug auf die Unterbestimmtheit geführt hat. Im anschließenden Kapitel stelle ich William James als Wissenschaftstheoretiker vor. James war eine zentrale Figur für die Etablierung der experimentellen Psychologie als eigenständiger akademischer Disziplin. Seine Principles of Psychology von 1890 galten über lange Zeit als das paradigmatische Lehrbuch der Psychologie und werden tatsächlich auch noch in gegenwärtigen wissenschaftlichen Publikationen zitiert. Im Zentrum meines Interesses steht James’ Verständnis von den konstitutiven Bedingungen der neu zu begründenden Psychologie. Ich werde diese als pragmatische Aprioris interpretieren und aufzeigen, wie diese zu Unterbestimmtheiten weiterentwickelt werden müssen, um ein wissenschaftliches Fortschreiten zu ermöglichen. Hierauf folgt eine genaue Bestimmung des Verhältnisses von pragmatischen Aprioris zur Unterbestimmtheit. Die konstitutiven Bedingungen von Wissenschaften werden mit C. I. Lewis und Michael Friedman näher analysiert, wobei ich in den Vordergrund stelle, dass die apriorischen Strukturen als Gebote für die Forschungspraxis zu verstehen sind. Auf dieser Grundlage lässt sich ein dynamisches Modell des Verhältnisses von konstitutiven Bedingungen und Empirie entwickeln, das hier vorgestellt wird.

Einleitung

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Im abschließenden Kapitel werden Lawrence Sklars und P. Kyle Stanfords Überlegungen zur transienten Unterbestimmtheit erörtert und mit meinem Modell des Wandels von pragmatischen Aprioris zu Unterbestimmtheiten verglichen. Stanfords Version der transienten Unterbestimmtheit als problem of unconceived alternatives und seine daraus abgeleitete new induction erfahren eine kritische Betrachtung. Insbesondere die von Stanford geführte Diskussion zwischen Instrumentalismus und wissenschaftlichem Realismus stellt ein rein innerphilosophisches Problem der akademischen Philosophie dar, das im konkreten Forschungsprozess keine Rolle spielt; hier zeigt sich vielmehr, dass instrumentelle und realistische Auffassungen bestimmter Hypothesen und Terme sich im steten Fluss befinden. Zur Diskussion um die Unterbestimmtheitsthese sind in den letzten Jahren zwei grundlegende Monographien erschienen: P. Kyle Stanfords Exceeding Our Grasp (2006) und Thomas Bonks Underdetermination (2008). Während Stanford ausgehend von einer Kritik an den klassischen, von ihm als strengen oder starken (strong) benannten, Versionen der Unterbestimmtheitsthese seine Spielart der transienten Unterbestimmtheit entwickelt, mache ich in den ersten drei Kapiteln der vorliegenden Arbeit deutlich, dass es zwar einen gemeinsamen Kern philosophischer Intuitionen in den Überlegungen zur Unterbestimmtheit von Duhem, Neurath und Quine gibt, darüber hinaus ihre Vorstellungen über die Rolle und genauere Bestimmung der Unterbestimmtheit aber sehr weit auseinandergehen, sodass es fahrlässig wäre, von einer einheitlichen Unterbestimmtheitsthese zu sprechen, weswegen es hier in der Einleitung auch nicht sinnvoll ist, eine exaktere Definition von Unterbestimmtheit anzugeben. Die Unterbestimmtheitsthese gibt es eben leider philosophiehistorisch nicht. Thomas Bonks Essay unternimmt eine systematische Rekonstruktion der Unterbestimmtheitsthese, hierfür sieht er vollständig von den unterschiedlichen philosophiehistorischen Wurzeln ab. Insbesondere ist er bemüht, seine Rekonstruktion im Einklang mit einem wissenschaftlichen Realismus zu entwickeln, um realistisch motivierte Argumente gegen die Existenz von Unterbestimmtheiten wissenschaftlicher Theorien zu entkräften. Diese Immunisierungsstrategie macht Bonks Fassung der Unterbestimmtheit merkwürdig steril: Sie hat offenkundig keinerlei Folgen für unseren Umgang mit Theorien oder unsere Einschätzungen des Erklärungswerts oder des Bezugs von Wissenschaften. Mir ist es in der vorliegenden Arbeit wichtig, dass eine zu bestimmende Eigenschaft von Theorien und Theoriebildungen durch ihren Beitrag, den sie zum Verständnis unseres wissenschaftlichen Umgangs mit der Welt leistet, ausgezeichnet werden muss; nur hierin kann ihr Gehalt bestehen. Die Relevanz einer gänzlich folgenlosen These vermag ich nicht einzusehen. Entsprechend liegt der Schwerpunkt meiner Überlegungen zur Unterbestimmtheit auch nicht auf einer möglichst exakten systematischen Definition von Unterbestimmtheit, die sie gegen philosophische Angriffe sichert, sondern auf der Suche nach einem Phänomen im wissenschaftlichen Prozess, das den grundlegenden phi-

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Einleitung

losophischen Intuitionen zur Unterbestimmtheit entspricht und darüber hinaus einen eigenständigen, bestimmbaren Beitrag zur wissenschaftlichen Entwicklung erkennen lässt. Bemerkungen zur Zitation: Um eigene Hervorhebungen in Zitaten kenntlich zu machen, in denen der Autor selbst bereits durch Kursivierungen Hervorhebungen gemacht hat, habe ich mich für Fettdruck entschieden; dies ist im Blocksatz leichter zu erkennen als etwa Sperrungen. In aller Regel habe ich in den einzelnen Kapiteln nach erster vollständiger bibliographischer Angabe in den Fußnoten das Autor/Jahr-System verwendet, bei wenigen Ausnahmen, in denen dies zu Unübersichtlichkeit geführt hätte, habe ich einen Kurztitel anstelle der Jahreszahl angegeben.

A Unterbestimmtheit im wissenschaftstheoriegeschichtlichen Kontext: Reflexionen zur »Duhem-Neurath-Quine-These«

1 Duhem: Unterbestimmtheit und Skepsis I. II. III. IV.

Die verengte Rezeption Duhems Physik und Metaphysik Sens commun und Realismus Duhems Unterbestimmtheit

I. Die verengte Rezeption Duhems Das anhaltende Interesse an Duhems wissenschaftshistorisch ausgerichteter Wissenschaftstheorie verdankt sich hauptsächlich der sogenannten »Duhem-QuineThese«, also dem Holismus im Verbund mit der Unterbestimmtheitsthese. 1 Üblicherweise wird hier von seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Rolle des experimentum crucis in der wissenschaftlichen Entwicklung, wie er es paradigmatisch im zehnten Kapitel von »Ziel und Struktur der physikalischen Theorien« 2 behandelt, ausgegangen. 3 Duhem legt hier ausführlich an verschiedenen wissenschaftshistorischen Beispielen, insbesondere Newtons Emissions- und Huygens Wellentheorie des Lichts, dar, dass ein experimentum crucis in der Physik unmöglich ist: 4 Das Auftreten oder Nichtauftreten der Erscheinung, das die Debatte entscheiden soll, ergibt sich nicht aus dem strittigen Lehrsatz allein, sondern aus der Verbindung desselben mit dieser ganzen Gruppe von Theorien. Wenn die erwartete Erscheinung nicht auftritt, wird nicht nur der einzige strittige Lehrsatz widerlegt, sondern das ganze theoretische 1

Vgl. Schäfer, Lothar: Einleitung: Duhems Bedeutung für die Entwicklung der Wissenschaftstheorie, in: Duhem, Pierre: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien. Hamburg 1998, IIX*–XXXIII*; unter dem Kapitel-Titel »6. Die Duhem-Quine-These« schreibt Schäfer: »Duhems Präsenz in der gegenwärtigen Wissenschaftstheorie ist wohl nirgends so gut zu belegen wie unter diesem Titel.« (Ebd., XXVI*). 2 Duhem, Pierre: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien. Hamburg 1998, 238–292. 3 Vgl. z.B. Koppelberg, Dirk: Die Aufhebung der analytischen Philosophie. Quine als Synthese von Carnap und Neurath. Frankfurt a.M. 1987, 106; Harding, S. G. (Ed.): Can Theories Be Refuted? Essays on the Duhem-Quine-Thesis. Dordrecht 1976; Worral, John: Falsification, Rationality, and the Duhem Problem. Grünbaum versus Bayes, in: Earman, John/Janis, A. I./Massey, G. I./Rescher, Nicholas (Eds.): Problems of the Internal and External Worlds. Essays on the Philosophy of Adolf Grünbaum. Pittsburgh/Konstanz 1993, 329–370. 4 Duhem 1998, 245. Auch P. Kyle Stanford beginnt seine »Jagd« nach Duhem an dieser Stelle, er wählt allerdings ein Zitat vom Ende des nämlichen Paragraphen (ebd. 252). (Vgl.: Stanford, P. Kyle: Exceeding Our Grasp. Science, History, and the Problem of Unconceived Alternatives. Oxford 2006, 28). Vgl. das Kapitel zur transienten Unterbestimmtheit in dieser Arbeit.

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1. Duhem: Unterbestimmtheit und Skepsis Gerüst, von dem der Physiker Gebrauch gemacht hat. Das Experiment lehrt uns bloß, daß unter allen Lehrsätzen, die dazu gedient haben, die Erscheinung vorauszusagen und zu konstatieren, daß sie nicht auftritt, mindestens einer ein Irrtum sei. Aber wo dieser Irrtum liegt, sagt es uns nicht.

Diese Überlegung stellt zugleich den Kern von Duhems Holismus bezüglich physikalischer Theorien dar 5, aus dem sich dann scheinbar zwanglos die Unterbestimmtheitsthese ergibt. Dirk Koppelberg hat meines Wissens als Erster darauf hingewiesen, dass Quines Holismus und mithin seine Formulierung der Unterbestimmtheitsthese sich wesentlich dem Einfluss Neuraths verdankt, 6 weswegen es wohl richtiger wäre, nicht von der Duhem-Quine-These, sondern von der Duhem-Neurath-QuineThese zu sprechen, unter anderem auch um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Quine erst nach dem Erscheinen der Two Dogmas von Hempel und Frank auf die Nähen seines Holismus zu dem Duhems hingewiesen worden ist. 7 Entscheidend ist hier weniger Quines ursprüngliche Unkenntnis Duhems als vielmehr die philosophiegeschichtlich wirkmächtige Tatsache, dass sich hierdurch eine bestimmte Lesart Duhems in der wissenschaftstheoretischen Diskussion maßgeblich etabliert hat, nämlich die des Wiener Kreises, der durch Neuraths Vermittlung eine von Ernst Mach und Friedrich Adler beförderte positivistische Verengung Duhems weiter tradierte. 8 So heißt es z. B. in Adlers Vorwort zu seiner Übersetzung von »Ziel und Struktur der physikalischen Theorien«: 9 Die Elimination aller Metaphysik bildet die Grundtendenz des Werkes und das Prinzip der Ökonomie des Denkens, das Mach als erster formuliert hat, wird konsequent festgehalten.

In dieser Perspektive wird Duhem zum Kronzeugen einer positivistisch-konventionalistischen Sicht auf wissenschaftliche Theorien, zum Gewährsmann eines wissenschaftshistorisch abgeleiteten, formalistisch motivierten Konventionalismus. 5

Vgl. Schäfer 1998, XXVI*. Vgl. Koppelberg 1987, insb. 18–20, 165f. und 183. Die Bedeutung Neuraths wird auch 1986 von Zolo, Danilo: Sciénza e politica in Otto Neurath (Englisch: Zolo, Danilo: Reflexive Epistemology. The Philosophical Legacy of Otto Neurath. Dordrecht 1989) hervorgehoben. Ebd., 171: »Whenever a theory is examined, whenever the acceptance or refutation of an empirical prediction is at stake, there is also at stake, in the last analysis, the entire apparatus of assumptions, concepts, and theories of science. And this is the thesis which ought by now to be known as the ›Duhem-Neurath‹ (rather than Duhem-Quine) ›holistic-reflexive thesis‹.« 7 Vgl. Quine, Willard Van Orman: A Comment on Agassi’s Remark, in: Journal for General Philosophy of Science XIX (1988), 117–118; 118: »By the way, I was unaware of Duhem in 1950 when I wrote the ›Two dogmas.‹ The footnote mentioning him was added only in reprinting in From a Logical Point of View, 1953, after being alerted to Duhem by Hempel and Philipp Frank.« Vgl. auch: Howard, Don: Einstein and Duhem, in: Synthese 83 (1990), 363–384; 376, Fn 2. 8 Vgl. ebd., 364. 9 Adler, Friedrich: Vorbemerkung des Übersetzers, in: Duhem 1998, V–VII; VI 6