Ungegenständliches Erkennen - Buch.de

ger Erfahrungen, das vom Erleben der Schönheit oder der Tiefe der Welt bis .... beginne ich im dritten Kapitel mit inneren Transzendenzerfahrungen. Dort wird.
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Ungegenständliches Erkennen Franz von Kutschera ·

Erfahrungen sind normalerweise intentional: Erfahrungen eines Subjekts von einem Gegenstand. Die ungegenständlichen Erfahrungen, von denen dieses Buch handelt, bilden daher einen Grenzfall. Man spricht oft von »mystischen Erfahrungen«. Sie spielen in vielen Religionen eine herausragende Rolle, eine Beurteilung ihres Gehalts und ihrer kognitiven Relevanz ist aber schwierig, solange wir solche Erfahrungen nicht besser verstehen. Dazu will das Buch beitragen. Es stützt sich dazu auf Einsichten aus der Philosophie des Geistes und zeigt deren Nützlichkeit an einigen Beispielen ungegenständlicher Erfahrungen. Dass diese Erfahrungen auch Erkenntnisse sind und eine Wirklichkeit zeigen, die intentionales Denken nicht erreicht, erschließt sich zunächst nur denen, die sie machen. Um auch bei anderen die Bereitschaft zu wecken, sich ernsthaft mit ihnen zu befassen, werden im letzten Kapitel Grenzen intentionalen Denkens aufgewiesen und es wird gezeigt, dass sich gegenständlichem Denken ebenso entzieht, wie die Welt an sich ist, wie auch, was das Erkenntnissubjekt für sich ist.

ISBN 978-3-89785-781-0

Franz von Kutschera

Ungegenständliches Erkennen

von Kutschera · Ungegenständliches Erkennen

Franz von Kutschera

Ungegenständliches Erkennen

mentis PADERBORN

Einbandabbildung: Fotografie von Inge von Kutschera

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ∞ ISO 9706

© 2012 mentis Verlag GmbH Schulze-Delitzsch-Straße 19, D-33100 Paderborn www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Satz: Rhema – Tim Doherty, Münster [ChH] (www.rhema-verlag.de) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-781-0

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5

Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . Erleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfahren und Begreifen . . . . . . . . . Distinkte und objektive Vorstellungen Freiheit und Zeitlichkeit . . . . . . . . .

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11 11 14 16 19 23

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffe der Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . Einwände gegen die Annahme von Transzendentem Religiöse Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Implizite Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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27 27 29 31 37 39

3 3.1 3.2 3.3 3.4

Innere Transzendenzerfahrungen Selbstbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . Werthaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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43 43 49 52 55

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Äußere Transzendenzerfahrungen Andere Personen . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schönheit der Welt . . . . . . . . . . . . Die Tiefe der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . Gotteserfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . Das Eine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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61 61 64 67 68 72

5 5.1 5.2 5.3 5.4

Unio mystica . . . . . . . . Advaita Vedanta . . . . . . . Meister Eckhart . . . . . . . Deutung . . . . . . . . . . . . Die Frage nach dem Grund

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6 Grenzen intentionalen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 6.1 Zur kognitiven Relevanz von Transzendenzerfahrungen . . . . . . . 101 6.2 Die Einheit der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

6 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7

Inhalt

Das Erkenntnisproblem . . . . . . . . . . . . Das Leib-Seele-Problem . . . . . . . . . . . . Die Transzendenz der Wirklichkeit an sich Das Gute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Evolution des Bewusstseins . . . . . . .

Literaturverzeichnis Personen

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Stichwörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Vorwort Mit den Überlegungen in diesem Buch möchte ich zum Verständnis einer Gruppe von Erfahrungen beitragen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie ungegenständlich sind, also keine Erfahrungen, in denen sich ein Subjekt einem Gegenstand oder Ereignis gegenüber sieht. Es gibt ein breites Spektrum derartiger Erfahrungen, das vom Erleben der Schönheit oder der Tiefe der Welt bis hin zu Erfahrungen einer mystischen Union reicht. Einen Teil könnte man als »mystische Erfahrungen« oder als »Transzendenzerfahrungen« bezeichnen, solche Bezeichnungen werden aber erst dann informativ, wenn man sich auf ein genaues Verständnis der Wörter »mystisch« und »transzendent« beziehen kann. In unserem heutigen, von der europäischen Kultur geprägten geistigen Leben spielen solche Erfahrungen kaum eine Rolle, weder im wissenschaftlichen und philosophischen noch im religiösen Denken. Trotzdem ist eine Beschäftigung mit ihnen wichtig, denn auch heute gibt es Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben und denen sie persönlich viel bedeuten, die aber Schwierigkeiten haben, zu verstehen, was ihnen widerfahren ist, und den Erkenntniswert dieser Erfahrungen zu beurteilen. Zudem haben solche Erfahrungen in unserer geistig-religiösen Tradition eine große Rolle gespielt. Erfahrungen einer mystischen Union begegnen uns in ganz verschiedenen Zeiten, Kulturen und Religionen, zuerst in den Upanishaden und der indischen Philosophie des Vedanta, dann, zuerst wohl durch Vermittlung der Orphik, auch in der griechischen Philosophie bei Parmenides und später bei Plotin, in der Spätantike bei Augustinus und Pseudo Dionysios Areopagita und im hohen Mittelalter bei Meister Eckhart, um nur einige Beispiele zu nennen. Ohne Zugang zu diesen Erfahrungen bleibt ein Verständnis unserer eigenen Geschichte daher unvollständig. Endlich zeigen sich in diesen ungegenständlichen Erfahrungen Grenzen unseres normalen, intentionalen Denkens. Diese Grenzen sind uns kaum bewusst. Daher ist es wichtig zu prüfen, ob diese Erfahrungen tatsächlich zuverlässig sind. Ein Verständnis ungegenständlicher Erfahrungen ist schwierig. Das wird bei den Unionserfahrungen besonders deutlich. Einerseits spricht ihre Verbreitung dafür, sie ernst zu nehmen, andererseits fällt das, was über sie berichtet wird, so weit aus dem Rahmen unseres normalen Begreifens heraus, dass man geneigt ist, ihnen jeden kognitiven Wert abzusprechen. Dionysios Areopagita schreibt in der Mystischen Theologie vom Mystiker: Danach löst [er] sich auch vom Bereich dessen, was sichtbar ist […] und taucht in das Dunkel des Nichtwissens ein, in das wahrhaft mystische Dunkel, indem er sich allem verschließt, was Erkenntnis begreifen kann. Er ist dann eingeschlossen in das völlig Unbegreifbare und Unsichtbare. […] Dadurch, dass alles Erkennen aufhört,

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Vorwort ist er mit dem vereint, der vollkommen unerkennbar ist, und indem er nicht mehr erkennt, erkennt er in einer die Vernunft übersteigenden Weise. 1

Jedem, der sich auf rationalen Wegen um Erkenntnis bemüht, sträuben sich bei solchen Äußerungen zunächst einmal die Haare. Wer über einschlägige Erfahrungen verfügt, erkennt aber, dass es sich bei der Aussage von Dionysios nicht bloß um eine Mystifizierung handelt, sondern um eine durchaus zutreffende Beschreibung mystischer Erfahrungen. Mystiker sagen übereinstimmend, dass sich die Inhalte solcher Erfahrungen mit unseren normalen sprachlichen Mitteln nicht angemessen darstellen lassen. Daher ist es kaum möglich, sich allein aus den Aussagen anderer ein zutreffendes Bild von ihnen zu machen, und man darf sachlich bedingte Mängel des Ausdrucks nicht den Autoren zur Last legen. Daraus ergibt sich die erste Schwierigkeit einer Erörterung von ungegenständlichen Erfahrungen: Man kann sich nur mit Menschen über ein Phänomen verständigen, die dazu auch einen Zugang haben. Mit Tauben kann man nicht über Musik diskutieren. Die Erfahrungen, von denen ich reden will, fallen aus dem gewohnten Rahmen heraus. Sie sind zwar keineswegs alle so selten wie Erfahrungen einer unio mystica, ich kann sie aber doch nicht ohne weiteres beim Leser voraussetzen. Ich kann sie ihm auch nicht vermitteln, sondern nur gedankliche Zugänge angeben, welche die Erfahrungen zwar erleichtern, sie aber nicht garantieren. Jeder muss sich selbst um sie bemühen. Ich kann nicht einmal den Inhalt dieser Erfahrungen so beschreiben, dass sich der Leser ein genaues Bild davon machen kann. So bin ich auf sehr viel entgegenkommendes Verständnis des Lesers angewiesen und muss hoffen, dass er meine Aussagen mit eigenem Erfahrungsgehalt auffüllt, damit sie für ihn nicht leere sprachliche Hülsen bleiben. Ich möchte in diesem Buch zeigen, dass sich ungegenständliche Erfahrungen einem vernünftigen Verständnis nicht verschließen. Das heißt nicht, dass sie sich in unsere normalen Denkmuster integrieren lassen, in solchen Erfahrungen werden wir ja mit den Grenzen unseres normalen Denkens konfrontiert. Mein Insistieren auf vernünftigen Überlegungen macht eine zweite Schwierigkeit der folgenden Erörterungen deutlich: Eine Abhandlung über mystische Erfahrungen zieht leicht die falschen Leser an, Leute, die für Esoterisches schwärmen, für eine Anstrengung des Begriffs aber nicht zu haben sind. Ich kann nur versuchen, sie durch den Hinweis abzuschrecken, dass es im Folgenden nicht um Esoterisches und Mirakulöses geht, sondern um ein Stück Philosophie, die sich um klare Aussagen und solide Argumente bemüht. Die ersten beiden Kapitel des Buches haben vorbereitenden Charakter. Das erste handelt von Erfahrungen im Allgemeinen, insbesondere von ihrer intentionalen Struktur, von der Rolle des Begreifens im Erfahren und vom Erleben, 1 Pseudo-Dionysios Areopagita, mystische Theologie, üb. und hg. von A. M. Ritter, Stuttgart 1994, 76.

Vorwort

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das für unser Leben größere Bedeutung hat als wissenschaftliche Beobachtungen. Im zweiten Kapitel werden zuerst verschiedene Begriffe der Transzendenz unterschieden. Dann wird auf eine Form von Transzendenz hingewiesen, die in der Philosophie des Geistes eine wichtige Rolle spielt. Diese »implizite Transzendenz« kommt in allen Akten des Wahrnehmens und Denkens vor. In diesem Sinn ist insbesondere das Subjekt transzendent, weil es nie vollständig zum Gegenstand seiner eigenen Betrachtung werden kann. Dieser Begriff impliziter Transzendenz wird sich als Schlüssel zum Verständnis ungegenständlicher Erfahrungen erweisen. Im Sinn dieses Begriffes von Transzendenz sind alle Erfahrungen, die hier erörtert werden, Transzendenzerfahrungen. In den Kapiteln 3 bis 5 werden Beispiele solcher Erfahrungen erörtert. Je nachdem, ob sie von inneren oder äußeren Erfahrungen ausgehen, unterscheide ich innere und äußere Transzendenzerfahrungen. Der Weg der Mystik ist ein Weg ins eigene Innere. Alle Erfahrungen, mit denen wir uns hier befassen, sind entweder Selbsterfahrungen oder doch mit Selbsterfahrungen verbunden. Daher beginne ich im dritten Kapitel mit inneren Transzendenzerfahrungen. Dort wird auch der Begriff der ungegenständlichen Erfahrung durch jenen eines überintentionalen Bewusstseins präzisiert: Die ungegenständlichen Erfahrungen führen zu einem Bewusstsein jenseits des Subjekt-Objekt-Gegensatzes. Das ist der Grund für das Versagen unserer normalen Begriffe und sprachlichen Beschreibungsmittel, die ja alle dem Bereich intentionalen Denkens angehören. Im vierten Kapitel bespreche ich Beispiele äußerer Transzendenzerfahrungen und gehe auf die Konzeption des Einen bei Parmenides und insbesondere bei Plotin ein, das, wie das Selbst, eine Wirklichkeit ist, die sich intentionalem Denken entzieht. Das fünfte Kapitel befasst sich dann mit den am schwersten zugänglichen Erfahrungen, den Erfahrungen einer Einheit von Selbst und Absolutem. Im sechsten Kapitel erörtere ich zuerst die Frage der kognitiven Relevanz solcher Transzendenzerfahrungen, wie sie in den Kapiteln 3 bis 5 vorgestellt wurden. Für den, der sie selbst macht, gehören sie zu den eindrucksvollsten Erfahrungen überhaupt, so dass sich diese Frage nur für die anderen stellt. Da ihr Gehalt, soweit er sich aus Aussagen anderer entnehmen lässt, radikal aus dem gewohnten Wirklichkeitsverständnis herausfällt, werden sie den Erfahrungen nur dann einen Erkenntniswert zuschreiben, wenn es Argumente gibt, die sich nicht auf Transzendenzerfahrungen stützen, aber ebenfalls Grenzen unseres normalen, intentionalen Denkens aufweisen und es so zumindest als möglich erscheinen lassen, dass Transzendenzerfahrungen Erkenntnisse sind. Das sind Argumente zu einer immanenten Kritik intentionalen Denkens, und um die geht es dann im größten Teil des sechsten Kapitels. Dieser Teil ist zwar insofern ein Anhang der Studie, als er nichts zum Verständnis ungegenständlichen Erkennens beiträgt, die Einsicht, dass intentionales Denken von begrenzter Reichweite ist, fördert aber doch die Bereitschaft, sich ernsthaft mit der zentralen Frage des Buches zu beschäftigen, ob es auch ein überintentionales Erkennen gibt.

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Vorwort

Ich danke Godehard Brüntrup, SJ und Josef Schmidt, SJ für ihre konstruktiven und kritischen Bemerkungen und Michael Kienecker vom mentis Verlag für die wiederum gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit.

1 Erfahrung 1.1 Intentionalität In der Regel ist unser Bewusstsein intentional strukturiert: als Bewusstsein eines Subjekts von etwas. Ich beobachte z. B. einen Hasen, ich wünsche, dass es bald hell wird, ich erwarte, dass der Kurs des Euro fällt, ich glaube, dass es bald regnen wird, ich begründe eine Behauptung. Intentionale Zustände oder Akte sind also, logisch gesehen, Beziehungen zwischen einem Subjekt und einem Objekt oder Sachverhalt. In beiden Fällen will ich von einem Gegenstand reden. Ich verwende das Wort »Gegenstand« im Folgenden also nicht im engen Sinn von »Objekt« oder »Ding«, sondern für das Thema eines intentionalen Bewusstseins, sei es ein Objekt oder ein Sachverhalt. In unseren Erörterungen können wir uns grundsätzlich auf intentionale Formen des Bewusstseins beschränken, deren Gegenstand ein Sachverhalt ist. Eine Beobachtung eines Hasen ist ja z. B. eine Beobachtung, dass er diese oder jene Eigenschaften hat oder sich so und so verhält. Wir beobachten nicht Objekte allein, sondern immer Sachverhalte, die diese Objekte betreffen. Intentionale Einstellungen und Akte, die sich auf Sachverhalte beziehen, bezeichnet man als propositionale Haltungen oder Einstellungen. Den Sachverhalt, auf den sie sich beziehen, bezeichne ich auch als ihren Inhalt, das Subjekt der intentionalen Einstellung als deren Träger. In einem intentionalen Bewusstsein ist dem Subjekt nicht nur dessen Gegenstand bewusst, sondern auch es selbst und sein Verhalten zum Gegenstand. Dieses Bewusstsein ist freilich von anderer Art als das Bewusstsein vom Gegenstand. Dem Gegenstand gilt die Aufmerksamkeit, auf ihn fällt das hellste Licht des Bewusstseins. Zur Unterscheidung vom Gegenstandsbewusstsein will ich auch sagen, das Subjekt sei sich in einem intentionalen Akt seiner selbst und seines Verhaltens zum Gegenstand inne. Wenn ich glaube, dass es bald regnen wird, bin ich mir nicht im Unklaren, wer das glaubt, und ich weiß auch, dass es sich um ein Glauben handelt und nicht etwa um ein Zweifeln. Ich bezeichne das Bewusstsein des Gegenstandes auch als explizites Bewusstsein, das Innesein als implizites Bewusstsein. Wenn von Erfahrung die Rede ist, meint man meist die sinnliche, äußere Erfahrung, in der uns die physische Außenwelt zu Bewusstsein kommt. Auch unsere eigene Innenwelt, unser seelisch-geistiges Leben, unsere Gefühle und Gedanken, Eindrücke und Ziele sind uns bewusst. Das, was uns die eigenen psychischen Zustände und Vorgänge zu Bewusstsein bringt, wird oft als

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1. Erfahrung

innere Erfahrung oder Introspektion bezeichnet. Beide Ausdrücke sind insofern unglücklich, als sie eine Ähnlichkeit mit äußerer Erfahrung, speziell mit dem Sehen suggerieren. Der Unterschied zwischen innerer und äußerer Erfahrung läge danach vor allem im Gegenstandsbereich. Nach Hume und Kant vermittelt uns innere Erfahrung ebenso wie äußere nur Eindrücke einer Realität, von denen wir grundsätzlich nicht feststellen können, wie gut sie dieser Realität entsprechen, ja ob sie überhaupt etwas Reales darstellen. Im Fall innerer Erfahrung würde das jedoch zu einem infiniten Regress führen: Dass ich z. B. einen Eindruck von einem Stück blauen Himmel habe, würde ich nur vermittels eines Eindrucks von diesem Eindruck erkennen, und von dem könnte ich wiederum nur vermittels eines Eindrucks von ihm erfahren, usw. Die innere Erfahrung eines eigenen momentanen Eindrucks ist nichts anderes als das implizite Bewusstsein dieses Eindruckes, die innere Erfahrung eines momentanen eigenen Gedankens nichts anderes als das implizite Bewusstsein vom Denken dieses Gedankens. Die Quelle von Erkenntnissen über eigene psychische Zustände und Akte ist deren Innesein, nicht Eindrücke von meinem Inneren. Offenbar kann ich auch keinen falschen Eindruck von einem eigenen, gegenwärtigen Eindruck haben, so, wie ich einen falschen Eindruck von einer Verkehrssituation haben kann. Nicht alles Bewusstsein ist intentional. Das ergibt sich schon daraus, dass das Innesein einer eigenen propositionalen Einstellung ein Bewusstsein ist, das sich nicht auf einen Gegenstand bezieht. Wenn ich hoffe, dass mein Freund mich besucht, ist mein Hoffen eine Einstellung zum Gegenstand, nicht aber ein zweiter Gegenstand neben dem Sachverhalt, dass mein mich Freund besucht. Andernfalls hätte ich auch dazu wieder eine Einstellung, und so fort ins Unendliche. Implizites Bewusstsein ist nicht intentional. Auch Empfindungen sind nicht immer Empfindungen von etwas. Eine Schmerzempfindung kann intentional sein, z. B. als Schmerz über den Tod eines Freundes. Das kann man auch so ausdrücken: Ich empfinde es schmerzlich, dass mein Freund gestorben ist. Dabei wird der Gegenstand der Empfindung – den Tod des Freundes – von der intentionalen Einstellung dazu unterschieden. Kopfschmerzen sind hingegen keine Schmerzen über etwas, ein Angstgefühl braucht sich nicht auf etwas Bestimmtes beziehen, eine Rotempfindung ist nicht immer eine Empfindung von etwas Rotem. Logisch gesehen ist eine Schmerzempfindung eine Eigenschaft, die ein Subjekt hat, keine Beziehung zwischen dem Subjekt und einem Gegenstand. Ich kann auch auf meine Kopfschmerzen reflektieren und z. B. feststellen, dass sie stärker sind als normal. Ich kann also die nichtintentionale Empfindung zum Gegenstand einer intentionalen Einstellung machen. Die intentionale Haltung ist dabei jedoch ein Feststellen, nicht ein Schmerzempfinden. Empfindungen werden nicht empfunden, sie sind vielmehr selbst Weisen des Empfindens. Nun bewirkt eine Reflexion auf die Kopfschmerzen leider nicht, dass sie aufhören. Die Empfindung begleitet also meine Feststellung, sie ist aber nicht Teil von ihr. Ebenso können die Kopfschmerzen

1.1 Intentionalität

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eine Beobachtung des Wetters oder die Lektüre des Leitartikels der heutigen Ausgabe meiner Zeitung begleiten, ohne Teil davon zu sein. Auch ein Gefühl von Trauer oder Freude kann uns erfüllen, das sich nicht auf einen Gegenstand richtet. Unabhängig von seinem konkreten Anlass richtet es sich nicht auf etwas, sondern unser Bewusstsein davon besteht nur im Innesein dieses Gefühls. Ein nichtintentionales Bewusstsein entsteht auch, wenn man von einer intentionalen Erfahrung ausgeht und dann die Konzentration auf den Gegenstand beendet. Ich sehe z. B. durch mein Fenster eine Wiese und darauf einen Baum. Schwindet die Aufmerksamkeit auf diese gegenständliche Szene, ohne sich auf etwas anderes zu richten, wie das auch bei Müdigkeit oder Fieber manchmal geschieht, dann verlieren die einzelnen Gestalten ihre Selbstständigkeit, die Raumtiefe verschwindet, weil der Unterschied von Gestalt und Hintergrund aufgehoben wird, und es bleibt so etwas wie ein zweidimensionaler Gesamteindruck, in dem Subjektives und Objektives, Empfindung und Gegenstand verschmelzen. Ein interessanteres Beispiel nichtintentionalen Bewusstseins ist das Hören von Musik. Wir können Musik intentional wie nichtintentional hören. Intentional hören wir sie, wenn wir sie als akustischen Vorgang in der Außenwelt wahrnehmen, wenn wir auf Tonart, Melodie, Stimmen, Harmonien und Rhythmen achten, ihren Wechsel beobachten und analysieren. Nichtintentional hören wir ein Musikstück, wenn wir es nicht nur als äußeres Geschehen auffassen, wenn das Hören vielmehr auch ein innerer Vorgang ist, wenn uns die Musik innerlich, emotional bewegt oder zum Ausdruck unserer Gefühle wird. Die Macht der Musik über unser Gefühl besteht darin, dass sie, wie die Sprache, kein bloß äußerer Vorgang ist, sondern ein Vorgang, in dem sich Seelisches ausdrückt, durch den wir selbst Gefühle ausdrücken oder den wir als Ausdruck von Gefühlen erleben, die in uns Resonanz finden. Wir müssen auch ein nichtintentionales Vorstadium intentionaler Erfahrungen annehmen, ein, wie ich sagen will, vorintentionales Bewusstsein. Die intentionale Struktur unserer Erfahrungen ist Ergebnis einer aktiven Auseinandersetzung mit unserer Umwelt. Systematisch gesehen geht ihr eine Form des Erlebens voraus, in der subjektive und objektive Komponenten noch gar nicht oder noch wenig geschieden sind, in der noch kaum zwischen eigener Befindlichkeit und äußerer Gegebenheit differenziert wird. Solches Erleben ist für uns in den meisten Fällen allerdings ein bloß postuliertes Vorstadium des Erfahrens. Normalerweise unterscheiden wir in unseren Wahrnehmungen automatisch zwischen subjektiven und objektiven Komponenten. Es gibt aber Fälle, in denen das eine Sache bewusster Deutung ist. Sie machen uns klar, dass wir das Wahrgenommene und die Art unserer Wahrnehmung, objektive und subjektive Momente, durch Abgrenzung voneinander bestimmen. So kann es, wenn unser Zug an einem Bahnhof gehalten hat und wir nur den Blick auf einen Zug auf dem Nebengleis haben, unklar sein, ob unser Zug langsam anfährt und der andere stehen bleibt, oder ob das Umgekehrte gilt. Es kann also zunächst

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1. Erfahrung

unklar sein, ob wir uns bewegen oder ob sich der Gegenstand bewegt, auf den wir blicken. Die beiden Auffassungen unterscheiden sich dadurch, wo sie den Schnitt zwischen subjektiven und objektiven Momenten der Erfahrung legen. Ein anderes Beispiel: Es kann zunächst offen sein, ob wir empfinden, dass die Luft warm ist, oder ob wir die Luft als warm empfinden, d. h. ob wir erleben, dass es warm ist, oder aber, dass uns warm ist. Solche Fälle sprechen dafür, eine Vorstufe unseres intentionalen Erfahrens anzunehmen, und zu sagen, dass wir uns als Subjekte und die äußere Welt in Abgrenzung voneinander und damit mit Bezug aufeinander bestimmen und begreifen. Diese Abgrenzung hat auch einen geistesgeschichtlichen Hintergrund: Die Entdeckung der seelisch-geistigen Innenwelt und ihre konsequente Unterscheidung von einer äußeren, physischen Welt hat sich teilweise erst in historischer Zeit vollzogen. 1

1.2 Erleben Es gibt Grade der Differenzierung von subjektiven und gegenständlichen Momenten intentionalen Bewusstseins. Die Momente sind nicht immer scharf voneinander getrennt, sie können sich auch mehr oder minder durchdringen. Unter diesem Aspekt kann man zwei Erfahrungstypen unterscheiden: Beobachten und Erleben. 2 Beobachtungen sind Erfahrungen, bei denen Subjektives und Gegenständliches klar getrennt sind. In ihnen spielen Gefühle und Interessen entweder überhaupt keine Rolle oder sie beeinflussen die Wahrnehmung und Beurteilung des Gegenstandes nicht. Die Aufmerksamkeit gilt allein dem Gegenstand. Bei einer Beobachtung geht es nur um die objektive Beschaffenheit des Gegenstandes, nicht um seinen Wert und seine Bedeutung für den Betrachter. Oft abstrahiert man bewusst von solchen subjektiven Faktoren, um die objektiven Tatsachen klarer zu sehen. Auch wenn eine Beobachtung den eigenen Interessen dient und z. B. die für eine wichtige Entscheidung nötige Information liefern soll, gilt sie selbst nur der Feststellung einer Tatsache. Man kann auch etwas mit Sorge, Freude oder Befriedigung beobachten, solche Gefühle bestimmen dann jedoch weder den Beobachtungsinhalt noch die Beobachtungsweise. Wir können von zwei Personen sagen, sie beobachteten denselben Vorgang in gleicher Weise, obwohl ihn die eine mit Befriedigung, die andere hingegen mit Enttäuschung beobachtet. Den exemplarischen Fall von Beobachtungen bilden wissenschaftliche Experimente. Für das Erleben ist hingegen eine innere Beteiligung oder Anteilnahme am Erfahrenen charakteristisch. In ihm beeinflussen Gefühle, Neigungen und Einstellungen zum Gegenstand die Art und Weise, wie er aufgefasst wird. Gefühle 1 Vgl. dazu B. Snell (1975). 2 Vgl. zu dieser Unterscheidung ausführlicher Kutschera (1998a), 1.1.