Und der Daimler? - Akademie für Publizistik

17.09.2011 - er zur Mercedes-Toch- ter AMG in Affalter- bach. Die traditionsreiche Firma hat sich ... Zur gleichen Zeit verkehrt Thomas Mül- ler (Name ...
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34 REPORTAGE

STUTTGARTER ZEITUNG Nr. 216 | Samstag, 17. September 2011

Und der Daimler? Vor einem Jahr hat ein unerfahrener Praktikant auf einer Teststrecke in Papenburg mit Tempo 200 einen Unfall verursacht, bei dem ein Ingenieur starb. Sieht so verantwortungsvoller Personaleinsatz aus? Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den Stuttgarter Autokonzern. Von Michael Ohnewald Nachspiel

odak Moments nennen die Amerikaner einen Augenblick, der unbedingt auf Film gebannt werden muss. Menschen gehen, Bilder bleiben. Auf dem Tisch vor Elisabeth Kemmler liegt ein Leben in Kodak Moments. Sie haben ihre eigenen Farben. Blau sind sie, wie ein Tag in Solana Beach. Weiß, wie ein Surfbrett. Und grau, wie ein Grabstein. Bilder konservieren Erinnerungen. Aber es sind doch nur Bilder, kalt und still. Elisabeth Kemmler hält die Stille nur schwer aus. Sie redet dagegen an. Vor einem Jahr ist ihr Sohn gestorben, ein lebensfroher Fahrzeugingenieur, an einem Tag im September, auf einer Autoteststrecke in Papenburg. Er wurde nur 27. Die Kemmlers haben ihren Jungen längst beerdigt, aber nicht den Gedanken, dass der große Konzern den kleinen Leuten aus Pfullingen vielleicht nicht die ganze Wahrheit sagt. Deshalb haben sie Strafanzeige erstattet. Seit wenigen Tagen gibt es bei der Staatsanwaltschaft Osnabrück ein „Ermittlungsverfahren gegen Dr. Dieter Zetsche. Tatvorwurf: fahrlässige Tötung.“ Eine unselige Geschichte ist das. Sie handelt von einem 25-jährigen Studenten aus Ehingen, der im Auftrag von Daimler mit 200 Sachen über ein Prüfgelände brettert, von einem zwei Jahre älteren Ingenieur, der nichtsahnend mit 65 km/h auf der gleichen Spur unterwegs ist, und von einem Weltunternehmen, das seine eigene Kultur pflegt, wenn es um die Folgen geht. Christof Kemmler, Jahrgang 1983, macht nach dem Abitur Zivildienst, anschließend studiert er Maschinenbau an der Fachhochschule in Esslingen. In seiner Di„Liegen aber plomarbeit befasst er nicht auch sich mit „messtechniVersäumnisse schen Bestimmungen der Laufruhe von Verder Daimler brennungsmotoren“. AG vor?“ Über ein Stuttgarter Die Kemmlers im Ingenieurbüro kommt Brief an Zetsche er zur Mercedes-Tochter AMG in Affalterbach. Die traditionsreiche Firma hat sich auf „einzigartige Hochleistungssportfahrzeuge“ spezialisiert. Ein Traumjob für Christof Kemmler. Neben seinem Beruf hat der Pfullinger eine große Leidenschaft, das Wellenreiten. Mit dem Surfbrett reist er durch die Welt. Im August 2010 bricht Kemmler nach Solana Beach in Kalifornien auf. Er tanzt auf den Wellen und begegnet am Strand dem Profisurfer Kelly Slater. Es wird einer seiner Kodak Moments. Am 16. September fliegt Christof Kemmler zurück in die Heimat. Seine Eltern warten am Stuttgarter Flughafen. Sie stehen dort vor einem Menschen, der einfach nur happy ist. „Dich muss man ja zweimal anschauen“, sagt seine Mutter, „so glücklich siehst du aus.“ Bis zur letzten Minute, erzählt der Sohn, habe er das Meer genossen. Fünf Tage später holt der Alltag Christof Kemmler ein – und nicht nur er. Auf dem ATP-Testgelände im emsländischen Papenburg, einst von Daimler gebaut, ist der Ingenieur am Nachmittag des 27. September 2010 mit dem neuen Mercedes SLS AMG Roadster befasst. Es ist kurz vor Feierabend, als er vorschriftsmäßig auf Bahn 2 des Rundkurses mit einem Kollegen im dritten Gang die Fahrgeräusche misst. Zur gleichen Zeit verkehrt Thomas Müller (Name geändert) auf der Teststrecke. Im Rahmen seines Studiums hat der angehende Fahrzeugbauer erst zwei Wochen zuvor bei Daimler ein Praktikum begonnen. Müller ist Jahrgang 1985, ein aufrichtiger Kerl. Er hat kein eigenes Auto, wenn er eines braucht, leiht er sich den Kleinwagen der Mutter. Hochgeschwindigkeitsteststrecken und Steilkurven kennt der Student nur vom Fernsehen aus der Formel 1. Nach einer theoretischen Schulung und einigen Fahrten mit Abteilungsleitern auf der Autobahn darf Müller mit dem Team nach Papenburg auf eines der weltweit größten, herstellerunabhängigen Automobil-Prüfgelände. Um auf der dortigen Teststrecke zugelassen zu werden, bedarf es einer „Berechtigung zum Fahren eines Fahrzeugs zu Versuchs- und Erprobungszwecken“. Eine der Voraussetzungen ist ein Fahrsicherheitstraining. Müller hat es nicht absolviert, als er sich an jenem Septembertag im Auftrag von Daimler ans Steuer der M-Klasse setzt. Bevor er losfährt, muss er noch ein Papier ausfüllen. Das ist Vorschrift. Ohne weiter darauf zu achten, unterschreibt Müller als Teamleiter. Der wahre Teamleiter ist nicht vor Ort. Die Fahrt dient zur Vorbereitung einer für den nächsten Tag geplanten Messung. Es geht um das Stabilitätssystem ESP. Der

K

Der Ingenieur Christof Kemmler war ein leidenschaftlicher Wellenreiter. Fünf Tage vor dem tödlichen Unfall kehrte er aus Kalifornien zurück.

Student soll konstant mit Tempo 200 durch die Steilwand fahren. Dafür muss er den Tempomat einstellen. Er hat darin keine Übung. Alle 1,3 Sekunden wird seine Geschwindigkeit an die Leitstelle gemeldet. Als der Tacho der M-Klasse 214 km/h zeigt, sieht der Student plötzlich vor sich das Heck des SLS-Cabrios von Christof Kemmler, der mit nur rund 65 Stundenkilometern auf dem Kurs unterwegs ist. Es kommt zu einem gewaltigen Aufprall. Die M-Klasse fliegt 26 Meter durch die Luft. Das SLS-Cabrio kracht in die Leitplanke. Der Praktikant ist verletzt, ebenso der Beifahrer im gerammten Wagen. Christof Kemmler hat es bei der Karambolage weit schlimmer getroffen. „Reanimation erfolglos“, schreibt der Notarzt wenig später auf die Todesbescheinigung. „Exitus 19.20 Uhr.“ Daimler zieht sofort das Team aus Papenburg ab. Der Student Müller liegt verstört im Krankenhaus. Ein Kollege, der sich dem eigenen Gewissen verpflichtet fühlt, bleibt bei ihm, bis Angehörige des Studenten vor Ort sind. Noch am selben Abend überbringt die Polizei den Kemmlers in Pfullingen die Todesnachricht. Als die Eltern am nächsten Morgen ihren Briefkasten öffnen, finden sie darin eine Karte,

die Christof vor seiner Abreise aus Kalifornien geschrieben hat. „Hoffe, ich verpasse den Flieger nicht“, steht da. „Wäre aber auch nicht so schlimm.“ Nach der Beerdigung versucht die Familie, das Geschehene zu verarbeiten. Sie ist dankbar für die große Anteilnahme von Christofs Freunden und Kollegen und auch für einen Gedenkstein, den Daimler zur Erinnerung an der Teststrecke platziert hat. Es beginnt die Zeit der Briefe und der Juristen. Ein Sachverständiger wird mit der Untersuchung beauftragt. „Die Unfallstelle liegt mehr als zwei Kilometer nach dem Durchfahren der Steilwand, so dass sich die M-Klasse der Unfallstelle auf gerader Strecke näherte. Langsame Fahrzeuge wären hier bei genügender Obacht und Sorgfalt zu erkennen gewesen“, lautet sein Befund. Die Staatsanwaltschaft in Osnabrück will es genauer wissen. Ihr Fragenkatalog wird von Rechtsanwälten des Autokonzerns beantwortet. Die Daimler-Juristen schreiben: „Die Unfallfahrt war eine reine Vorbereitungsfahrt, die der Praktikant auf eigenen Wunsch außerhalb des an sich vorgesehenen Programms absolvierte.“ Auch Christofs Eltern bekommen Post vom Unternehmen. Man bietet ihnen die Hilfe ei-

Elisabeth und Albrecht Kemmler wollen es genau wissen.

Fotos: Reiner Pfisterer

Präsentation auf der IAA: „An diesem Auto hat unser Christof gearbeitet.“

nes Psychologen an. „Der Unfalltod Ihres Sohns auf dem Testgelände in Papenburg ist und wird ein schreckliches und unfassbares Ereignis bleiben, das Ihre und auch unsere Welt verändert hat“, heißt es in dem Brief. „Nach allen bisherigen Erkenntnissen war Unfallursache menschliches Versagen und keine sicherheitstechnischen Mängel an der Strecke oder mangelnde Schulung bei dem Unfallverursacher.“ Praktikant Müller wird nach seiner Genesung in eine andere Abteilung versetzt. Als er seine Abrechnung erhält, stellt er fest: „Mir wurden die Tage im Krankenhaus vom Lohn abgezogen.“ Der Student schreibt einen Brief an die Kemmlers. „Für mich ist es noch immer unbegreiflich, wie es zu dem Unfall kommen konnte. Diese Frage beschäftigt mich sehr. Jedoch finde ich keine Antwort darauf. Ich entschuldige mich für alles, was ich Ihnen angetan habe.“ Die Kemmlers antworten: „Wir wünschen Ihnen, trotz unserer großen Trauer, dass dieser entsetzliche Unfall für Sie in den Hintergrund tritt und Sie wieder gesund weiterleben können. Sie sind noch jung und haben das Leben noch vor sich.“ Für die Eltern ist nicht allein der Student schuld. Sie hegen Zweifel an den Bedingungen, unter denen Autos bei Daimler getestet werden. Sie beschleicht das Gefühl, nicht richtig informiert zu sein. Alles läuft schleppend. Sie haben den Eindruck, dass man sie isolieren will. Kollegen von Christof erzählen ihnen, dass der Konzern zunächst jeglichen Kontakt unterbunden habe. Sie glauben nicht, dass die Firma zum Schutz der Familie handelte. „Nach unserer Ansicht geschah vieles, eigentlich alles, zum Schutz des Unternehmens.“ Diesen Satz schreiben die Eltern an Daimler-Chef Dieter Zetsche. In ihrem Brief äußern sie offen den Verdacht: „Strafrechtlich ist der M-Klasse-Fahrer schuldig. Liegen aber nicht auch Versäumnisse seitens der Daimler AG vor, die hierbei eine Rolle spielen?“ Zetsche schreibt persönlich zurück. „Als Vater leide ich mit Ihnen und bedauere zutiefst das Schicksal, das Sie und Ihre Familie getroffen hat.“ Er verweist auf interne Untersuchungen. „Wir sind zu der Auffassung gekommen, dass auch die besten organisatorischen und sicherheitstechnischen Vorkehrungen tragische Unfälle wie diesen nicht völlig ausschließen können.“ Im Juli 2011 wird der Fall vom Amtsgericht in Papenburg aufgerollt. Zum ersten Mal hören die Kemmlers dort, dass der Unfallverursacher wegen des fehlenden Sicherheitstrainings nicht die nötige firmeninterne Fahrerlaubnis hatte. Wie ein Mitarbeiter von Daimler erklärt, wurde kurzfristig eine Ausnahmegenehmigung eingeholt. Der Student sagt offen, was er weiß. „Dieser junge Mann steht zu seiner Schuld. Davon könnte sich Daimler eine Scheibe abschneiden“, ruft Elisabeth Kemmler dazwischen. Das Gericht würdigt die Ehrlichkeit und verurteilt Müller wegen fahrlässiger Tötung, verhängt aber eine milde Geldstrafe von

Foto: privat

1500 Euro, die nur gezahlt werden muss, wenn er sich in den nächsten zwei Jahren etwas zuschulden kommen lässt. Bei den Kemmlers verstärkt der Prozess das Gefühl, dass die Schuld des Studenten vielleicht nur ein Teil der Wahrheit ist. Sie lassen nicht locker und schreiben der Staatsanwaltschaft. „Es kann doch nicht rechtens sein und ohne Folgen für die Verantwortlichen, wenn ein unerfahrener Praktikant allein nach zwei Wochen mit 220 Stundenkilometern auf einer Teststrecke fährt und dabei die Einstellung des Tempomats erst noch lernen muss.“ Auch an Mercedes-AMG wenden sich die Eltern. Sie haben gehört, dass der Sportwagen, an dessen Perfektion ihr Sohn gearbeitet hatte, auf der IAA in Frankfurt groß präsentiert werden soll. Sie wünschen sich, dass man an irgendeiner Stelle erwähnt, welches Opfer ihr Sohn für dieses Auto gebracht hat. Sie erhalten einen Anruf. „Man sagte uns, dass es kein Gespräch zu diesem Thema gibt“, erzählt Elisabeth Kemmler. „Das war einfach nur beschämend.“ September 2011. In Frankfurt glänzt auf der Automobilmesse der neue SLS AMG Roadster. In Osnabrück werten die Strafverfolger die gerade eingetroffenen Gerichtsakten aus. „Das Verfahren ist noch im Anfangsstadium“, sagt der Oberstaatsanwalt „Ich fühle Alexander Retemeyer. mich von In der Stuttgarter ZenDaimler trale von Daimler bleibt der Fall ebenim Stich falls präsent. Die Jurisgelassen.“ ten bewerten das neue Persönliche Bilanz Verfahren als „reine des Ex-Praktikanten Formalie.“ Das Amtsgericht Papenburg habe im Prozess gegen den Praktikanten festgestellt, „dass Daimler und mithin auch Dieter Zetsche keinerlei Verschulden trifft“. Irgendwo im Schwäbischen arbeitet der Ex-Daimler-Praktikant Müller an seinem Studienabschluss – und an seiner Psyche. Er konnte lange nicht mehr Auto fahren. Nach einer Therapie traut er sich jetzt wieder Kurzstrecken zu. „Ich saß am Steuer“, sagt er. „Das kann mir keiner abnehmen.“ Auf den Konzern mit dem Stern ist er nicht gut zu sprechen. „Ich fühle mich von Daimler im Stich gelassen.“ Getroffen habe ihn, dass die Juristen in den Schriftsätzen behaupteten, er sei „auf eigenen Wunsch“ gefahren. Das klingt für Müller nach einer Lustfahrt, bei der ein Autonarr endlich mal auf die Tube drücken wollte. „So war das definitiv nicht“, sagt der Student. „Das war keine Fahrt zum Spaß. Ich hatte einen Fahrauftrag bekommen und arbeitete ihn ab!“ In Pfullingen versuchen die Kemmlers noch immer zu verstehen. Vor ihnen liegen die Kodak Moments, ganz oben auf dem Stapel ein Foto, das einen kleinen Gedenkstein unter dem tiefblauen Himmel von Solana Beach zeigt. Freunde ihres Sohns haben darauf einen letzten Gruß geschrieben. „Für Christof Kemmler, surfing in heaven.“