Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Kinder- und Jugendhilfe im ...

2 Die Genfer Flüchtlingskonvention ist ein am 28.07.1951 beschlossenes und durch das. Protokoll von New York vom 31.01.1967 geändertes internationales ...
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Anna Efler

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Kinder- und Jugendhilfe im Spannungsfeld zwischen dem SGB VIII und dem deutschen Ausländerrecht

disserta Verlag

Efler, Anna: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Kinder- und Jugendhilfe im Spannungsfeld zwischen dem SGB VIII und dem deutschen Ausländerrecht. Hamburg, disserta Verlag, 2015 Buch-ISBN: 978-3-95425-456-9 PDF-eBook-ISBN: 978-3-95425-457-6 Druck/Herstellung: disserta Verlag, Hamburg, 2015 Covermotiv: © laurine45 – Fotolia.com

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung........................................................................................................ 7

2. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ........................................................ 10 2.1 Begriffsklärung ........................................................................................ 10 2.2 Daten und Fakten ................................................................................... 13 2.2.1 Fluchtmotive ..................................................................................... 15 2.2.2 Zahlen und Herkunftsländer ............................................................. 18 2.2.3 Einreise und Verteilung .................................................................... 28 2.3 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Berlin ..................................... 34

3 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – Kinder- und Jugendhilfegesetz ..... 42 3.1 Rechtliche Grundlagen im SGB VIII ........................................................ 44 3.1.1 Inobhutnahme .................................................................................. 52 3.1.2 Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII ........... 57 3.1.3 Vormundschaften ............................................................................. 63 3.2 Akteure/innen und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe...................... 70

4 Exkurs: Internationale Übereinkommen ........................................................ 76

5 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – Deutsches Ausländerrecht ........... 80 5.1 Ausländerrechtliche Grundlagen ............................................................. 81 5.1.1 Aufenthaltsgesetz ............................................................................. 85 5.1.2 Asylverfahrensgesetz ....................................................................... 92 5.2 Das Asylverfahren .................................................................................. 96

6 Gegenüberstellung SGB VIII – Ausländerrecht ............................................. 99 6.1 Handlungsauftrag: Kinder- und Jugendhilfe versus Ausländerrecht ....... 99 6.2 Das Spannungsfeld zwischen SGB VIII und Ausländerrecht ................ 101 6.3 Kinder- und Jugendhilfe im Spannungsfeld .......................................... 109

7 Zwischenfazit............................................................................................... 111 5

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Empirischer Zugang zum Spannungsfeld  Das Spannungsfeld aus der Perspektive der Akteure/innen von Kinder- und Jugendhilfe ................... 112 8.1 Erhebungsmethode – Das Experten/innen-Interview ............................ 114 8.1.1 Das Experten/innen-Interview als eine Methode der qualitativen Sozialforschung ....................................................................................... 120 8.2 Durchführung der Erhebung ................................................................. 124 8.2.1 Beschreibung der Interviewpartner/innen und der Interviewsituationen........................................................................ 126 8.3 Auswertung  Die qualitative Inhaltsanalyse......................................... 132 8.4 Ergebnisse ............................................................................................ 139

9 Fazit ............................................................................................................ 148

Abkürzungsverzeichnis .................................................................................. 152 Literaturverzeichnis ........................................................................................ 156

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1. Einleitung

„Also insgesamt finde ich, dass die jungen Flüchtlinge für unsere Gesellschaft eine große Bereicherung darstellen und ich würde mir wünschen, dass da das Ausländerrecht mehr mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz korrespondiert, damit man nicht den Kindern und Jugendlichen, die sich hier sehr einbringen wollen und auch sehr viel leisten, in der letzten Minute dann die ‚Beine wegkloppt, sozusagen.“ (Stellungnahme einer für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zuständigen Sozialpädagogin des Jugendamtes1)

„Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge  Wer oder was soll genau damit gemeint sein?“ So oder in ähnlicher Weise würden wahrscheinlich die Reaktionen der meisten Menschen lauten, wenn sie mit der Thematik dieser Personengruppe konfrontiert würden. Vor allem in den ländlichen Regionen, aber auch in den Großstädten der Bundesrepublik Deutschland sind die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge kaum Jemandem ein Begriff (vgl. Dieckhoff in: Dieckhoff (Hrsg.) 2010, S. 7). Die Tatsache, dass es sich hierbei um Kinder und Jugendliche handelt, die ihre Heimat hinter sich gelassen haben und ohne Eltern oder andere Verwandte ganz allein nach Deutschland gekommen sind, bleibt damit vielen genauso verborgen, wie das Wissen über die (traurigen) Hintergründe, die diese jungen Menschen dazu bewegt haben, ihr Leben in der vertrauten Umgebung aufzugeben. Endlich in Deutschland angekommen, werden die Kinder und Jugendlichen aber keinesfalls mit ihren Hoffnungen auf bessere Lebensumstände allein gelassen. So treffen sie hier insbesondere in Großstädten wie Berlin auf ein Netz an Hilfe- und Unterstützungsangeboten, die ihnen von zuständigen Akteuren/innen der Kinder- und Jugendhilfe aufgezeigt werden.

1

Die Aussage stammt aus einem der drei geführten Interviews im Empirieteil dieser Arbeit. Aufgrund der Anonymisierung der befragten Experten/innen der Kinder- und Jugendhilfe erfolgt keine namentliche Nennung.

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Diese (sozialpädagogischen) Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, genauer formuliert, ihre in der Praxis gesammelten Erfahrungen und Einschätzungen, stehen in der vorliegenden Untersuchung im Zentrum des Interesses. Das Augenmerk liegt dabei auf dem Spannungsfeld, das aus den zum Teil gegensätzlichen Bestimmungen des SGB VIII auf der einen und des deutschen Ausländerrechts auf der anderen Seite resultiert. Die Frage, ob und inwiefern sich die diesbezüglichen Konfliktpunkte unmittelbar auch auf die praktische Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe auswirken, soll in diesem Buch empirisch untersucht werden. Anlass dazu geben der bis dato rudimentäre Forschungsstand im Hinblick auf das Arbeitsfeld mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen im Allgemeinen, bzw. die speziell auf die Sichtweise von Akteure/innen der Kinder- und Jugendhilfe bezogene fehlende empirische Erkenntnisgewinnung. Der Jahresbericht des Bundesfachverbandes Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V. (B-UMF) des Jahres 2012 gab zudem Aufschluss darüber, dass die Nachfrage nach Fortbildungen im Hinblick auf die Betreuung der Kinder und Jugendlichen und den diesbezüglichen rechtlichen Grundlagen seitens professioneller Vertreter/innen der Kinder- und Jugendhilfe stetig ansteigt (vgl. Bundesfachverband für Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (Hrsg.) 2012, S. 10). Aufgrund dessen, dass sich die Vorgaben zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen innerhalb Deutschlands teilweise als heterogen (z.B. im Bezug auf die Schulpflicht) erweisen und damit eine Untersuchung der Situation samt Vergleichen in allen Bundesländern die Kapazität dieser Fachbuches übersteigen würde, konzentriert sich die empirische Forschung auf den Raum Berlin. Bevor sich der theoretischen Darstellung des Spannungsfeldes gewidmet wird, erfolgt zunächst im Kapitel 2 eine Charakterisierung der Personengruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, um dem/der Leser/in einen Eindruck über die Hintergründe der Kinder und Jugendlichen zu ermöglichen. Alsdann schließt sich im Kapitel 3 die Darlegung der die unbegleiteten Minderjährigen betreffenden Gesetzesgrundlagen des SGB VIII an, im Zuge derer auch die Akteure/innen der Kinder- und Jugendhilfe zusammen mit ihren spezifischen Aufgaben konkretisiert werden. Das Kapitel 4 informiert als Exkurs über internationale kinderrechtliche Abkommen. Die Konzentration in der vorliegenden Studie liegt zwar auf den nationalen 8

Bestimmungen, die Erwähnung internationaler Abkommen erweist sich aber als unerlässlich, da diese nationale Gesetzesformierungen beeinflussen. Als zweiter Bestandteil des Spannungsfeldes veranschaulichen die Erläuterungen im Kapitel 5 die ausländerrechtlichen Vorgaben im Hinblick auf ihre Bedeutung für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Nachdem somit die einzelnen im Spannungsfeld involvierten Faktoren betrachtet wurden, gliedert sich mit dem Kapitel 6 die Gegenüberstellung des SGB VIII und des Ausländerrechts an, wobei nicht nur spezifische Konfliktpunkte des Spannungsfeldes ergründet werden, sondern auch die diesbezüglich resultierende Ausgangslage für die Akteure/innen der Kinder- und Jugendhilfe thematisiert wird. Im Hinblick auf die entsprechenden theoretischen Darstellungen in sämtlicher Fachliteratur, stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich das Spannungsfeld zwischen dem SGB VIII und dem deutschen Ausländerrecht auf die praktische Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe auswirkt. Aus diesem Grund erfolgt im Anschluss an ein Zwischenfazit (Kapitel 7) im Kapitel 8 der Übergang von der theoretischen Skizzierung des Spannungsfeldes hin zu einer empirischen Forschung, die auf die Beantwortung dieser Frage abzielt. Nachfolgend schließt die Studie mit einem Fazit im Kapitel 9 ab.

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2. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

Um dem/der Leser/in einen Einstieg in die Thematik dieses Fachbuches zu gewähren, wird im folgenden Kapitel zunächst die Begrifflichkeit des „unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings“ näher erläutert. Neben einer Definition werden zudem einige empirische Daten aufgezeigt, um die Situation der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge darzustellen und den/die Leser/in in die Thematik einzuführen. Anschließend soll außerdem die Datenlage zu den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen speziell in Berlin dargelegt werden, da sich die vorliegende Studie auf die Situation der Flüchtlinge in Berlin beschränkt. Der Kürze halber wird im Folgenden oft die Abkürzung UMF für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge verwendet.

2.1 Begriffsklärung Laut Artikel 2 (i) der am 29.April 2004 vom Rat der Europäischen Union beschlossenen

Richtlinie

Nr.

2004/83/EG,

der

so

genannten

,Qualifikationsrichtlinie‘, handelt es sich bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen um „Drittstaatenangehörige oder Staatenlose unter 18 Jahren, die ohne Begleitung eines gesetzlich oder nach den Geflogenheiten für sie verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen, solange sie nicht tatsächlich in die Obhut einer solchen Person genommen werden; hierzu gehören auch Minderjährige, die ohne Begleitung zurückgelassen werden, nachdem sie in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten eingereist sind.“ (Rat der Europäischen Union Art.2 (i) Richtlinie Nr. 2004/83/EG 2004, zit. n. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009, S.13).

In dieser Definition werden die Termini „unbegleitet“ sowie „minderjährig“ deutlich herausgestellt. Demzufolge bedeutet ,unbegleitet‘, dass sich die betreffenden Personen nicht in Begleitung ihrer Eltern beziehungsweise Erziehungsberechtigten befinden, sei es, dass sie direkt ohne Begleitung in ein Land eingereist sind, oder aber nach der Einreise von möglichen Begleitpersonen

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getrennt wurden und davon auszugehen ist, dass die Trennung über einen längeren Zeitraum andauert (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009, S. 13.). Als „minderjährig“ wird laut den zivilrechtlichen Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches (§ 2 BGB) bezeichnet, wer das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat (vgl. Bürgerliches Gesetzbuch 2011, S. 7). Bis zur Volljährigkeit werden die Interessen der Minderjährigen von ihren Erziehungsberechtigten oder Vormündern vertreten (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009, S. 13). Was in der Begriffsbestimmung des Rates der Europäischen Union nicht näher gehend erklärt wird, ist die Auslegung der Wortwahl „Flüchtling“. Diese bloße Bezeichnung birgt Raum für zahlreiche unterschiedliche Interpretationen und Missverständnisse, so kann sie sich beispielsweise sowohl auf das Völkerrecht als auch nur auf das deutsche Recht beziehen (vgl. Ehring 2008, S. 6). Im Working Paper 26 der Forschungsgruppe des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (2009) heißt es dazu, dass mit dem Begriff „Flüchtling“ im Fall der UMF jede Person gemeint ist, die den Flüchtlingsstatus oder eine andere Form des legalen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland anstrebt. Es handelt sich hier demnach nicht um Flüchtlinge in einem engeren rechtlichen Kontext, was beinhaltet, dass der-/diejenige laut dieser Definitionsbestimmung nicht das Anerkennungsjahr für Flüchtlinge gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention2 durchlaufen haben muss (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009, S. 13f). In dieser heißt es, dass Personen als Flüchtlinge gelten, wenn sie sich aufgrund der begründeten Angst vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischer Ausrichtung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nicht mehr innerhalb ihres Landes befinden und staatenlos sind, weil sie u. a. aus den oben genannten Gründen den Schutz ihres Landes nicht in Anspruch nehmen können oder wollen (vgl. http://www.aufenthaltstitel.de (1) [Stand: 30.01.2012]). 2

Die Genfer Flüchtlingskonvention ist ein am 28.07.1951 beschlossenes und durch das Protokoll von New York vom 31.01.1967 geändertes internationales Abkommen über die Rechtsstellung von Flüchtlingen. Es handelt sich bei der Konvention um die wichtigste internationale Regelung zum Schutz von Flüchtlingen (vgl. Hailbronner 2008, S. 322).

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Es wird deutlich, dass sich trotz des im Fachjargon gängigen Begriffs eine exakte Definition der Bezeichnung ‚unbegleitete minderjährige Flüchtlinge‘ nicht so einfach finden lässt. Darüber hinaus lässt sich die Gruppe der UMF in die sich legal in Deutschland aufhaltenden und die sich in der Illegalität befindlichen Kinder und Jugendlichen unterteilen. Im Gegensatz zu denjenigen, die einen aufenthaltsrechtlichen Status besitzen und somit legal in der BRD leben, haben manche Heranwachsende die Hoffnung auf eine Aufenthaltsgenehmigung vielfach bereits vor der Einreise aufgegeben und halten sich deshalb ohne gültige Papiere in Deutschland auf (vgl. von Balluseck in: von Balluseck (Hrsg.) 2003, S. 16). Manche von ihnen werden durch die Polizei aufgegriffen und anschließend an das zuständige Jugendamt verwiesen, andere verbleiben nach Beendigung des sechzehnten Lebensjahres und der daraus resultierenden Entlassung aus Jugendhilfeeinrichtungen wegen der drohenden Abschiebung ohne Papiere illegal hier (vgl. ebd.). Zudem kommt es vor, dass Kinder und Jugendliche durch Schleuser/innen, die kriminellen Organisationen angehörig sind, nach Deutschland gebracht werden, um hier für eben diese durch entsprechende Straftaten Geld zu erwirtschaften. Hierbei scheint es sich um eine Minderheit zu handeln, exakte Zahlenangaben sind aber nicht bekannt (vgl. ebd., S. 17). Einige Kinder und Jugendliche geraten auch in die Illegalität, wenn sie von ebenfalls in den Jugendhilfeeinrichtungen lebenden Kontaktpersonen, die bereits in die kriminelle Szene integriert sind, dazu ermuntert werden (vgl. ebd.). Da die Flucht aus der vertrauten Heimat die Heranwachsenden mitten in ihrer persönlichen und sozialen Entwicklung trifft, verwundert es nicht, dass sie sich eher zu entsprechenden Delikten hinreißen lassen, als es vielleicht bei Erwachsenen der Fall wäre, sind sie doch in ihrer Persönlichkeit noch lange nicht gefestigt. Demnach stellt die Tatsache der Minderjährigkeit für die Flüchtlinge eine besondere Situation dar:

„Unbegleitete Flüchtlingskinder […] werden aus ihrem kulturellen Umfeld und ihrer Entwicklung herausgerissen und mit ihnen fremden Entwicklungsaufgaben konfrontiert, ohne dass sie zunächst über entsprechende kulturelle Ressourcen verfügen.“ (Meißner in: von Balluseck (Hrsg.) 2003, S. 145)

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Dies bedeutet, dass aus der (meist abrupten) Flucht aus dem Herkunftsland für die Kinder und Jugendlichen ein Bruch in ihrer Sozialisation und ein damit einhergehender Verlust der Wertnormen und der kulturell bedingten Handlungskompetenz resultiert (vgl. ebd.). Im Gegensatz zu Gleichaltrigen, die nicht von der Flüchtlingsproblematik betroffen sind, besteht für sie nicht die Möglichkeit, einen langsamen Ablösungsprozesses und die Entwicklung zur Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit zu durchlaufen, sondern sie werden ‚ins kalte Wasser geworfen‘. Angekommen in der Fremde entstehen weitere Schwierigkeiten: Der unsichere Aufenthaltsstatus fördert die Angst vor einer ständig drohenden Abschiebung, welche die Eingewöhnung und Integration kaum begünstigt (vgl. Meißner in: von Balluseck (Hrsg.) 2003, S. 145). Die UMF sehen sich in einem Dilemma, denn die Anpassung an das ,neue‘ Leben bedeutet gleichermaßen das Zurücklassen von traditionellen Normen und Werten, die Herkunftsgesellschaft rückt folglich in immer weitere Ferne (vgl. ebd.). So stammen die UMF, die in Deutschland Zuflucht suchen, zumeist aus Ländern, in denen andere kulturelle Ansichten verbreitet sind, als es im Zielland der Fall ist. Hier sind gerade die Akteure/innen der Sozialen Arbeit gefragt, an den Verbindungspunkten beider Gesellschaften anzusetzen und eine Brücke zwischen ,alten‘ und ,neuen‘ Wertvorstellungen zu bauen, um eine weitere Gefährdung der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu vermeiden.

2.2 Daten und Fakten Laut den Angaben des UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees (dt.: Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen))3 beläuft sich die Zahl der Flüchtlinge auf weltweit etwa zweiunddreißig Millionen, von denen allerdings nur ca. vier Millionen in Europa leben, aber ca. zehn Millionen 3

Der UNHCR wurde 1951 von der UN-Generalversammlung gegründet, um den aus den Folgen des Zweiten Weltkriegs resultierenden Millionen Flüchtlingen Schutz zu geben (vgl. Rieger, in: Dieckhoff (Hrsg.) 2010, S. 22). Heute ist der UNHCR für den Schutz und die Unterstützung der Flüchtlinge, Asylsuchenden und Rückkehrern weltweit zuständig, mit dem Vorhaben, für international geltende Vereinbarung und deren Umsetzung zu plädieren (vgl. http://www.unhcr.de (1) [Stand: 18.03.2012]).

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in Afrika (vgl. Löhlein in: Dieckhoff (Hrsg.) 2010, S. 27). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass nur ein geringer Teil der weltweit Vertriebenen nach Europa gelangt, während ein Großteil von ihnen aufgrund von Kriegszuständen, Armut und politischen Unruhen in erster Linie in die Nachbarländer flieht, also weiterhin in Afrika verbleibt (vgl. Ehring 2008, S. 13). Im folgenden Abschnitt soll zunächst näher auf die Fluchtmotive der UMF eingegangen werden, um zu verstehen, aus welchen Gründen sie ihre Heimatländer verlassen und sich auch den beschwerlichen Weg in ein fremdes Land mit fremder Kultur zu begeben. Daran anschließend werden einige Zahlen und Statistiken zu den UMF sowie zu deren Herkunftsländer aufgeführt, wobei hier mit Einschränkungen zu rechnen ist, da sich die Datenlage bezüglich unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge als sehr dürftig erweist. So finden die UMF zum Beispiel im Migrationsbericht 2010 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge keine Erwähnung und in der Broschüre ‚Das Bundesamt in Zahlen 2010‘ desselben Amtes werden zwar Zahlen über die minderjährigen Asylantragsteller/innen genannt, hieraus geht aber nicht hervor, ob es sich um unbegleitete oder begleitete minderjährige Flüchtlinge handelt4. Generell kann lediglich der Anteil an unbegleiteten minderjährigen Asylbewerber/innen beziffert werden, da über die unbegleiteten Flüchtlinge, die keinen Asylantrag stellen oder sich illegal in Deutschland aufhalten, keine zahlenmäßigen Angaben vorliegen. Bezüglich der im Folgenden skizzierten Statistiken ist zu beachten, dass sich die Datenlage für die Jahre 2001 bis 2008 als ergiebiger und detaillierter erweist, als es für die vergangenen drei Jahre der Fall ist. Während eine Nachforschung beim Statistischen Bundesamt bezüglich genauerer Zahlenangaben kein zufrieden stellendes Ergebnis hervorgebracht hat (vgl. Mail vom Statistischen Bundesamt [Stand: 01.03.2012]), ergab die Nachfrage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zwar Zahlenangaben zu den Jahren 2009 bis 2011, aber keine weitergehenden Informationen und näheren Erläuterungen, da die statistischen 4

Es wird darauf hingewiesen, dass der Migrationsbericht 2010 und die Broschüre ,Das Bundesamt in Zahlen 2010‘ online einzusehen sind: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Migrationsberichte/migrationsberich t-2010.pdf?__blob=publicationFile) [Stand: 17.03.2012] http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/bundesamt-in-zahlen2010.html) [Stand: 17.03.2012]

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Daten noch nicht publiziert wurden (vgl. Mail vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [Stand: 12.03.2012]).

2.2.1 Fluchtmotive Es gibt eine ganze Bandbreite verschiedener Faktoren, die Menschen dazu bewegen, ihr Herkunftsland und somit ihre Heimat und Kultur hinter sich zu lassen und in ein anderes Land zu flüchten. In diesem Unterkapitel werden einige spezifische Fluchtgründe insbesondere von Kindern und Jugendlichen aufgeführt, in der Regel vermischen sich aber mehrere Motive miteinander, sodass sie nicht klar voneinander abgegrenzt sind (vgl. Angenendt 2000, S. 32). Es ist anzumerken, dass in den meisten Fällen die Entscheidung zur Flucht nicht von den Kindern und Jugendlichen selbst getroffen wird, sondern ihre Eltern oder andere erwachsene Bezugspersonen das Verlassen des Heimatlandes in die Wege leiten. Da die Aufnahmestaaten bezüglich ihres Asylgewährens immer restriktiver handeln und sich eine Flucht im Zuge dessen als schwieriger und kostspieliger gestaltet, ist ein solches Unterfangen ohne die Hilfe Erwachsener kaum zu realisieren (vgl. ebd.). Die Vielzahl der Fluchtmotive lässt sich in die so genannten Schub- und Sogfaktoren (vgl. Ehring 2008, S. 8) oder auch Push- und Pullfaktoren (vgl. Jordan 2000, S. 15) unterteilen. Mit den Schubfaktoren werden jene innerstaatlichen Gründe bezeichnet, die einen Menschen dazu veranlassen sein Herkunftsland zu verlassen, das heißt, dass die heimatlichen Umstände für die Flucht ausschlaggebend sind. Hierzu zählen beispielsweise Krieg, Armut oder politische Verfolgung. Die Sogfaktoren sind hingegen durch die (Wunsch-)vorstellung gekennzeichnet, in einem fremden Land unter besseren Bedingungen, beispielsweise ohne tägliche Angst und in Wohlstand, leben zu können als es im Heimatland möglich ist (vgl. Ehring 2008, S. 8). Viele Migrationsforscher/innen vertreten allerdings die Ansicht, dass für eine Flucht primär Schubfaktoren ausschlaggebend sind, wobei beide Faktoren in der Regel nicht einseitig auftreten, sondern sich gegenseitig verstärken (vgl. ebd.). Dies leuchtet ein, da ein Verlassen der Heimat aufgrund der nicht tragbaren Zustände dort immer auch die Wunschvor15

stellung von einem besseren Leben beinhaltet, wäre doch ansonsten gar keine Fluchtmotivation gegeben. Anreize zur Migration entstehen vor allem dadurch, dass das regionale und globale Entwicklungsgefälle stetig wächst und dieses Gefälle durch die modernen Kommunikationsmittel verstärkt sichtbar wird. Demnach stellt das Problem der Arbeitslosigkeit, die in den Entwicklungsländer häufig bis zu vierzig bis fünfzig Prozent beträgt, und die diesbezüglich fehlende soziale Absicherung die Hauptursache für eine Migration bei Familien und Jugendlichen dar (vgl. ebd.). Darüber hinaus nimmt die Bedeutung von akuten Umweltkatastrophen und die nachhaltige Umweltzerstörung und die damit einhergehende Vertreibung der Menschen aus ihren Siedlungsgebieten im internationalen Fluchtgeschehen zu (vgl. Ehring 2008, S. 9). In der politischen Debatte sind gerade kinderspezifische Fluchtmotive sehr umstritten. So vertreten Befürworter restriktiver politischer Maßnahmen die Ansicht, dass spezielle Migrationsgründe von Kindern und Jugendlichen, wie zum Beispiel die Furcht vor einer Rekrutierung zu Kindersoldaten oder eine (drohende) Genitalverstümmelung, höchstens theoretisch denkbar seien, in der Praxis aber kaum Relevanz hätten. Argumentiert wird diesbezüglich mit der geringen Anerkennungsquote von UMF seitens der Ausländerbehörde (vgl. ebd.). Es ist aber anzumerken, dass diese Quote womöglich nur deshalb so gering ist, weil die UMF ihre Gründe gerade auch wegen ihres jungen Alters nur selten glaubhaft vor Gericht vortragen können. Zudem ist bei einem Asylgewähren wegen Verfolgung ausschließlich die durch staatliche Stellen ausgeübte Bedrohung relevant, viele Flüchtlinge stammen aber aus Bürgerkriegsgebieten mit nichtstaatlicher Verfolgung (vgl. Ehring 2008, S. 9). Außerdem beweisen zahlreiche positive asylrechtliche Entscheidungen bezüglich UMF, dass kinderspezifische Fluchtmotive doch zu erkennen sind (vgl. ebd., S. 10). Im Folgenden werden einige dieser Fluchtgründe (Schubfaktoren) noch einmal näher erläutert. Wie bereits erwähnt, sollte aber beachtet werden, dass eine Flucht in den meisten Fällen aufgrund mehrerer zusammen auftretender Faktoren in Angriff genommen wird. Zu den speziellen Fluchtgründen zählt die Flucht vor Krieg und Bürgerkrieg. In Kriegs- und Bürgerkriegssituationen sind Kinder und Jugendliche den schlimmen Umständen besonders hilflos ausgesetzt, da sie psychisch und 16

physisch verletzbarer sind als Erwachsene (vgl. Angenendt 2000, S. 29). Minderjährige in diesen Gebieten müssen befürchten, zum Waffendienst gezwungen zu werden, denn in nahezu allen Bürgerkriegsgebieten werden Kinder und Jugendliche zwangsrekrutiert (vgl. ebd., S. 29ff). Darüber hinaus werden viele Minderjährige schon vor ihrem Einsatz als Soldaten Opfer von Menschenrechtsverletzungen, da Misshandlungen, auch sexueller Art (vor allem bei weiblichen Kindersoldaten aber auch bei Jungen), in den Ausbildungscamps nicht selten vorkommen (vgl. ebd.). Weitere mögliche Migrationsmotive sind die Flucht vor Verfolgung wegen politischer Betätigung, die aber einen vergleichsweise seltenen Anstoß zur Flucht darstellt, da Kinder und Jugendliche kaum in klassische politische Untergrundarbeit verstrickt sind, und die Flucht vor Verfolgung als Familienangehöriger (vgl. Angenendt 2000, S. 30f). Wenn Eltern aufgrund von Verfolgung ohne die Kinder ins Ausland fliehen, sind diese besonders gefährdet, weil sie zum Einen nun ohne die elterliche Fürsorge und deren Schutz zurechtkommen müssen und ihnen zum Anderen oftmals durch die Behörden Gewalt angedroht und auch ausgeübt wird, um die Eltern zur Rückkehr zu zwingen. So wird Kindern ungeachtet ihres minderjährigen Alters in vielen Ländern, in denen politische Verfolgung und Repression herrscht, eine höhere politische Bedeutung zugemessen als es in den westlichen Industrieländern der Fall ist (vgl. ebd.). Die Verfolgung bestimmter Menschengruppen muss allerdings nicht zwangsläufig politisch motiviert sein. Auch die Flucht vor Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe kann ein Grund für das Verlassen des Heimatlandes darstellen. Es kommt vor, dass ein Staat den Gebrauch der Sprache einer bestimmten ethnischen Gruppe verbietet, kulturelle und religiöse Einrichtungen zerstört oder versucht, Kinder und Jugendliche zur Anpassung an eine andere Kultur zu zwingen (vgl. ebd.). Als ein weiteres Motiv ist die Flucht aus geschlechtsspezifischen Gründen zu nennen. Die Furcht vor sexueller Ausbeutung und vor geschlechtsspezifischer Verfolgung betrifft vor allem Mädchen und junge Frauen, aber auch junge Männer werden Opfer sexueller Gewalt. Überdies werden in manchen Kulturen bestimmte soziale und kulturelle Praktiken durchgeführt, die eine große Gefahr für das Leben der Kinder bedeuten, wie es beispielsweise bei der Genitalver17