Umarme den Tod, liebe das Leben - Heilungsreise zur Kraft - Buch.de

zeuger trommelte und den Rhythmus angab. Und jetzt? Jetzt war er ausgestiegen. Einfach so. Aus allem. Aus dem Leben. Aus der tiefen seelischen Verwandtschaft mit ihr. So etwas konnte doch nicht wahr sein, solche Dinge durften einfach nicht passieren! In den vergangenen zwei Tagen und Nächten hatte sich Angelina.
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Eve A. Meier Bear Umarme den Tod, liebe das Leben Heilungsreise zur Kraft der Seele Roman

Eve A. Meier Bear

Umarme den Tod, liebe das Leben Heilungsreise zur Kraft der Seele Roman

TRIGA – Der Verlag

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1. Auflage 2011 © Copyright TRIGA – Der Verlag Feldstraße 2a, 63584 Gründau-Rothenbergen www.triga-der-verlag.de Alle Rechte vorbehalten Korrektorat: Renate Maier, Frankfurt am Main ISBN 978-3-89774-816-3

Die Darstellung von Ereignissen und Personen in dieser Geschichte sind frei erfunden und inspiriert von einer wahren Freundschaft ... aufgeschrieben in Erinnerung an Chäbe.

Kapitel 1 Die klagenden Töne des Saxofons drangen kaum bis in Angelinas Bewusstsein vor. Sie fühlte nichts. Ausgebrannt war sie, leer, hohl. Die anderen Trauergäste drängten sich unter ihren Schirmen und warteten darauf, dass die Abschiedszeremonie vorüberging. Viele junge Menschen waren auf dieser Beerdigung und viele waren in bunten Kleidern gekommen, das hätte Marno bestimmt gefallen. Angelina konnte nichts fühlen und nahm nichts wirklich wahr. Ihr ganzes Sein befand sich in einem sinn- und emotionslosen Vakuum. Es war gut, dass Marnos Vater darauf bestanden hatte, keinen Pfarrer zur Abdankung einzuladen, es hätte nicht gepasst. Stattdessen lasen verschiedene Leute gefühlvolle Geschichten und Gedichte vor oder zitierten irgendwelche Weisheiten. Angelina hörte zu, doch sie verstand nichts wirklich. Die Worte drangen zwar an ihr Ohr, doch sie drangen nicht bis zu ihrem Verstehen. Sie sprach nicht, nicht ein einziges Wort. Wozu auch? Was hätte es schon zu sagen gegeben, angesichts der Endgültigkeit der Situation? Es war Marnos Entscheidung gewesen, nicht mehr weiter leben zu wollen und sie respektierte diese Entscheidung. Oft hatten sie nächtelang zusammen über den Tod philosophiert, hatten über das wie, wann und warum eines Freitodes diskutiert. Ein paar Mal war sie selber schon nahe dran gewesen, hatte sogar einmal eine ganze Packung Schlaftabletten geschluckt und versucht, die Grenze zu überschreiten. Ein verletzter, wütender und unverstandener Teenager war sie gewesen, der sich verzweifelt mehr Aufmerksamkeit gewünscht hatte. Als sie damals nach etwa zwanzig Stunden Tiefschlaf von alleine wieder erwachte, war sie zuerst tief schockiert, noch immer am Leben zu sein, dann ebenso tief beschämt darüber, dass sie bereit gewesen war, dieses Leben so leichtfertig und aufgrund einer miesen Spontanlaune wegzuwerfen und schließlich fühlte sie sich plötzlich euphorisch glücklich und erleichtert darüber, dass sie die Sonne eines neuen Tages wieder auf ihrem Gesicht und Körper spürte. 7

Aber das hier, das war so verdammt endgültig, so verdammt echt, so verdammt brutal. Es war einfach zu viel. Sie konnte, sie wollte nicht begreifen, dass Marno es wirklich getan hatte. Allein hatte er sie zurückgelassen. Hatte es nicht einmal für nötig gefunden, einen Abschiedsbrief zu schreiben. Sicher, sie wusste, dass er in letzter Zeit oft Schwierigkeiten mit seiner Freundin hatte, dass ihm die nervenaufreibende Arbeit als Pfleger im Krankenhaus zu schaffen machte, dass er sich überlegte, aus der Rockband auszusteigen, in der er seit vielen Jahren als Schlagzeuger trommelte und den Rhythmus angab. Und jetzt? Jetzt war er ausgestiegen. Einfach so. Aus allem. Aus dem Leben. Aus der tiefen seelischen Verwandtschaft mit ihr. So etwas konnte doch nicht wahr sein, solche Dinge durften einfach nicht passieren! In den vergangenen zwei Tagen und Nächten hatte sich Angelina immer wieder versucht der Illusion hinzugeben, dass sie bald aus diesem Horrortraum aufwachen würde. Aber sosehr sie es hoffte, sie wachte nicht auf. Um ganz sicher zu sein, dass es das reale Leben war, indem sie sich befand, aber auch um sich endgültig von Marno zu verabschieden, hatte Angelina darum gebeten, ihn vor der Kremation noch einmal sehen zu dürfen. Natürlich hatten die meisten Bekannten und Arbeitskolleginnen, ihr dringend davon abgeraten. Leichen von Menschen, die sich erschossen hatten, sähen meist ziemlich übel aus, wurde ihr gesagt. Und ihre Chefin hatte gemeint, sie solle ihn doch lieber so in Erinnerung behalten, wie sie ihn zu Lebzeiten gekannt hatte. Doch dieser Tod war sein Tod und seine Leiche, in welchem Zustand sie sich auch immer befand, gehörte ebenso zu seinem Leben und jetzt eben zu seinem Tod! Die anderen verstanden das nicht, doch spielte es keine Rolle, denn Angelina wusste, dass sie ihn sehen musste. Als sie vor ihrem toten Freund stand, war sie froh darüber, dass sie diesen Schritt gewagt hatte. Der Tod, sein Tod, wurde irgendwie fassbarer. Sie wurde aus dem Schockzustand, in dem sie sich immer wieder gerne Illusionen hingegeben hatte, mit einem 8

Schlag in die endgültige Alltagsrealität katapultiert. Steif und tot sah sie ihn in seinem Sarg liegen. Ein lächerliches, völlig unpassendes, bis zum Hals zugeknöpftes Totenhemd hatte man ihm angezogen. Es hätte ihn wohl recht genervt, wenn er sich selbst gesehen hätte. Aber er lag nur da, kalt, tot, die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet. Einer der vorderen Schneidezähne war abgeschlagen, vermutlich vom Schuss, als er sich die Schweizer Armeepistole in den Mund gesteckt hatte. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war nicht wirklich glücklich oder zufrieden, aber Angelina konnte deutlich erkennen, dass er froh gewesen sein musste, eine Entscheidung getroffen zu haben. Froh, dem seelischen Leiden in diesem Leben entflohen zu sein. Dafür begann sich in ihrer eigenen Seele das Leiden wie ein stetig zunehmender Strudel zu drehen. Sie fühlte sich entzweigerissen und ihre schmerzende Seele schrie den im Sarg liegenden stumm an: Warum, warum nur, warum hast du das getan? Ohne mich!? Ich wäre doch mit dir gegangen, wir haben doch darüber geredet, darüber, dass es Scheiße ist, wenn einer alleine sterben muss. Wir wollten doch zusammen sein! Ernüchtert, innerlich gelähmt und mit leerem Blick hatte sie fröstelnd und zitternd die eisig kalte Leichenhalle verlassen. Die frühlingshaften, wohltuend wärmenden Sonnenstrahlen, die sie blendeten, ließen sie die Diskrepanz von Leben und Tod noch deutlicher spüren. Die zwei Tage bis zur Beisetzung verbrachte sie damit, einen Joint nach dem anderen von ihrem letzten gemeinsamen Dope zu rauchen. Sie fiel immer tiefer in eine leblose Starre und versuchte, sich dem wiederkehrenden Warum zu entziehen. Die Trauerfeier war vorbei und die Leute waren froh, aus dem Regen und in ihre Autos oder in die Straßenbahn zu kommen. Angelina ließ sich von Marnos Eltern mitschieben, die äußerlich ziemlich gefasst waren, obwohl sie soeben ihr einziges Kind zu Grabe getragen hatten. Angelina wurde nach Hause gebracht. Nachdem sie allen Besorgten gegenüber beteuert hatte, dass es 9

ihr gut gehe und sie zurechtkäme, war sie nun endlich wieder mit sich allein. Eine unbestimmte Zeit saß sie nur auf ihrem Stuhl am Schreibtisch und schaute aus dem Fenster, ohne jedoch irgendetwas zu sehen. Wie in aller Welt konnten die Leute nur glauben, dass es einem gut gehe, wenn man soeben den innigsten und liebsten Menschen beerdigt hatte? Glaubten sie das etwa wirklich oder gaben sie es nur vor, war es doch nur der klägliche Versuch einer verzweifelten Lüge, in der Hoffnung, sich dahinter verstecken zu können, um sich ja nicht mit der Wucht der tobenden Gefühle konfrontieren zu müssen? Doch lieber dachte sie gar nichts. Sie saß da und schaute ins Nichts. Sie sah nicht, wie die Kraft des Frühlings sich voll entwickelt hatte und die frisch aufgegangenen bunten Blumen im Garten ihre Köpfe regennass und schwer zur Erde hinunter hängen ließen. Der monotone Regen, der an die Fensterscheibe klopfte, machte ihren Kopf leer. So saß sie da, auf nichts wartend, nichts unternehmend, nicht einmal etwas denkend. Irgendwann drang doch ein deutlicher Gedanke in ihr Bewusstsein vor und sie erhob sich. Sie suchte die Holzschachtel, die Marno für sie angemalt hatte und in der sie die teuren Räucherstäbchen aufbewahrte, die er ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte und die sie beide so gerne mochten. Sie nahm das Telefon, bestellte sich ein Taxi, rollte sich noch eine Tüte und ging dann auf die Straße hinunter, um dort auf den Wagen zu warten. Als sie zum zweiten Mal an diesem Tag an Marnos Grab stand, diesmal alleine, regnete es nicht mehr. Die Wolkendecke war aufgerissen und ein blutroter Abendhimmel senkte sich über die Stadt. Angelina zündete die mitgebrachte Kerze und einige Räucherstäbchen an und legte sie aufs Grab. Ein herzzerreißendes Schluchzen und Wehklagen entwand sich ihrer Kehle, es fegte über den Friedhof und zwang die Trauer, sich innerhalb dieser kalten Mauern zu vervielfachen. Es war, als ob all das Leid, das 10

je an diesem Ort beweint wurde, nun auf sie hereinstürzte. Angelina knickten die Knie weg, ihr Körper sank zu Boden. Verzweifelt gab sie sich ihrer Hoffnungslosigkeit hin. Ihre steifen Finger krallten sich in die kaltfeuchte Erde des frisch zugeschaufelten Grabes. In wirren Strähnen hing ihr rotbraunes Haar von den zitternden Schultern und verfing sich in den Blumengestecken und Kränzen, die die Trauergäste am frühen Nachmittag hingelegt hatten. Die lang zurückgehaltenen heißen Tränen, die ihr wie brennende kleine Lavaströme über die Wangen liefen, vermischten sich mit der kühlen Erde und verschmierten ihr Gesicht. Ihre Seele wurde weggerissen von der gewaltigen Flut des über sie hereinbrechenden Kummers und Schmerzes. Sie schluchzte und schrie, wimmerte und weinte ihre Klage ohne Worte hinaus, denn für ihr Leid gab es keine Worte. Sie schlug mit den Fäusten auf die weiche Erde, ihr Körper bäumte sich auf und krümmte sich wieder zusammen. In sich zusammengesunken lag sie bebend da und der sie voll und ganz beherrschende Schmerz zwang sie, sich diesem alles verschlingenden Gefühl tiefster Trauer und Ohnmacht hinzugeben. Einen kurzen Moment lang ging ihr durch den Kopf, dass es vielleicht nicht erlaubt wäre, auf einem frischen Grab zu liegen und dass vielleicht schon bald der Friedhofswärter im Anmarsch sei, doch schon mit dem nächsten Atemzug wurde sie erneut vom durchdringenden Schmerz des bohrenden Verlustes ergriffen. Sie hatte keine Kraft mehr, sich dagegen zu wehren – und so ließ sie mit sich geschehen, was aufzuhalten nicht in ihrer Macht stand. Die Dämme in ihrem Inneren, die versucht hatten, den Fluss zurückzuhalten, waren gebrochen. Sie glaubte weggezogen zu werden, mitgerissen von der Strömung ihrer blutenden Seele an einen Ort ohne Wiederkehr.

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Kapitel 2 Angelina konnte sich später nicht mehr daran erinnern, wie sie die nächsten Tage überstanden hatte. Meist saß sie in ihrem Zimmer, starrte blicklos aus dem Fenster, bemerkte nicht mehr den Unterschied zwischen Tag und Nacht und koppelte sich immer mehr von dem Leben ab, das sie einst gehabt hatte und das ihr Hunderte von Jahren zurückzuliegen schien. Essen mochte sie nicht oder vergaß es. Rauchen und weinen war nahezu ihre einzige Beschäftigung und sie verließ das Haus nur, um Zigarettennachschub zu holen. Das Telefon hatte sie schon lange aus der Steckdose gezogen, der Akku des Handys war leer und den Briefkasten leerte sie sowieso nicht mehr. Selbst wenn ihr jemand schreiben würde, was sie unter normalen Umständen immer riesig gefreut hatte, jetzt interessierte sie sich für nichts und für niemanden. Sie hatte keinerlei Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen oder gar irgendeine andere Person zu sehen. Die Leere und die Ohnmacht hatten ihr ganzes Sein in festem Griff. Das änderte sich ein wenig, nachdem es eines Tages ihrer Arbeitskollegin Tanja gelang, sie zu erreichen, die dies schon etliche Male versuchte hatte. Unnachgiebig und stur, wie die kleine Hebamme Tanja nun mal war, ließ sie sich durch nichts davon abhalten, mit Angelina in Kontakt zu kommen. Sie war keineswegs überrascht darüber, dass Angelina ihre Tür trotz ihrer hartnäckigen Klingelversuche nicht öffnete. Auch nicht darüber, dass Angelina nicht auf ihre Notizen im Briefkasten und die bittenden Briefe, sich doch endlich zu melden, reagiert hatte. So blieb ihr nichts anderes übrig, als beim Hausmeister unter einem Vorwand Angelinas Hausschlüssel zu erschwindeln. Damit verschaffte sie sich knapp drei Wochen nach Marnos Beerdigung endlich Zugang zu Angelinas Wohnung. Sie fand sie im Bett liegend, neben ihr überquellende Aschenbecher und leere Coladosen. »Na hör mal, meine Süße, hier sieht’s ja aus wie in der Loge eines Junkies!«, rief sie betont scherzhaft und gleichzeitig 12