Uletokpo Village a Story of the Himalaya
Tibet. Die kalte Höhenluft streicht sanft
den Pass beginnt. Die beiden wandern
über die schneebedeckten Berghänge,
den holprigen Pfad entlang, müssen bei
während ein Schneeleopard gut getarnt
jedem Schritt aufmerksam sein, um nicht
den Kamm entlang schleicht. Während
zu stürzen. Je weiter sie kommen, desto
hier auf den höchsten Berggipfeln des
kälter wird die Bergluft, die dem kleinen
Himalayas alles friedlich zu sein scheint,
Jungen und dem Yak durchs Haar stre-
macht sich in Uletokpo, dem abgelegen-
icht. Kyobpas Enkel beginnt zu frieren
sten Dorf des Gebirges, Unruhe breit.
und drückt sich eng an seinen zotteligen Begleiter, der sich ängstlich umsieht. Als
Kyobpa, die älteste Bewohnerin des
der Yak den Flügelschlag eines Adlers
Dorfes, liegt schweißgebadet und mit
vernimmt, zuckt er zusammen, doch der
hohem Fieber auf einer alten Matratze
Junge wirft ihm einen beruhigenden
und windet sich vor Magenschmerzen,
Blick zu und zieht ihn behutsam mit sich.
die beunruhigten Bewohner versammeln sich um ihre Hütte. Besorgt deckt Loden
Nachdem die beiden einen weiteren
seine Frau mit einer warmen Daunen-
Hang erklimmen, sinkt der Neunjährige
decke zu und wendet sich hilfesuchend
erschöpft zusammen. Nach einer kurzen
an seinen neunjährigen Enkel. „Lauf den
Pause geht die Reise weiter, Kyobpas En-
Krater so lange hinauf bis du hinunter
kel und das Huftier klettern den steilen
ins Tal siehst! Dann suche in der großen
Pfad hinauf, rutschen immer wieder ein
Stadt nach Hilfe!“, sagt er dem Jungen.
Stück ab. Der eisige Wind bläst ihnen Schnee und Eis ins Gesicht. Plötzlich sieht
Dieser blickt ängstlich den beschnei-
der Yak in der Ferne einen Himalaywolf
ten Pfad hinauf, fürchtet sich vor dem
stehen, der die beiden anstarrt. Panisch
Unbekannten, das ihn dort erwarten
reißt er sich vom Strick. Er stürzt sich
könnte. „Ich gebe dir meinen Yak mit auf
schnaufend den Hang hinunter und ver-
den Weg“, flüstert ihm Loden aufmun-
schwindet im Schneegestöber. Der Junge
ternd zu und hastet zum Zaun, an dem
ruft ihm erschrocken nach, er versucht
das zottelige Huftier angebunden ist.
dem Tier zu folgen. Jedoch verschwinden
Während der Großvater seinem Enkel
seine Spuren unter dem heftigen Sturm
noch ein paar Stück Fladenbrot einpackt,
schon bald.
blickt der Yak zitternd vor Angst den
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Berg hoch. Sofort schießen ihm furch-
Der Neunjährige beschließt den Yak
terregende Bilder von Lawinen, Raub-
seines Großvaters zu suchen und quält
vögeln, Himalayawölfen und Schneestür-
sich durchs unwegsame Gelände, er
men durch den Kopf. Doch bevor er
durchsucht Höhlen, enge Klämme und
flüchten kann, zieht ihn der kleine Junge
Spalten. Keine Spur.
entschlossen mit sich und die Reise über
Augenblicklich beruhigt sich der Sturm,
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die Sicht wird frei. Der Junge erblickt vor sich ein kleines grünes Pflänzchen, das über einem steilen Abgrund wächst. Er erkennt es wieder, erinnert sich daran, als ihm sein Großvater von der heilenden Wirkung des Krauts erzählte. Begeistert davon, die rettende Medizin für seine Großmutter gefunden zu haben, versucht der Neunjährige die Pflanze zu pflücken, als plötzlich die Erde unter ihm nachgibt. Aus der Ferne beobachtet der Yak das Geschehen und muss zusehen, wie unter den Beinen des Jungen der Überhang abrutscht und dieser in die Tiefe stürzt. Angsterfüllt blickt das Tier den Hang hinunter, fürchtet sich davor abzstürzen. Doch plötzlich überwindet es seine Höhenangst und wagt den ersten Schritt. Noch sehr zögerlich steigt das zottelige Huftier den Steig hinunter und erreicht schließlich den abgestürzten Jungen. Dieser greift schwach nach dem Fell seines treuen Begleiters, der den Jungen Richtung Tal trägt. Nach einer langen, holprigen Reise kommt der Yak mit dem Kleinen am Rücken in Uletokpo an. Der Großvater stürzt besorgt aus seiner Hütte und läuft auf seinen Enkel zu. „Wach auf, wach auf!“ Der Junge kommt zu sich und öffnet die Hand, als ein paar Blätter der heilenden Pflanze zu Boden fallen. Doris Wimmer
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