Tschenresi Kommentar2014


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Fortwährender Regen zum

Wohle aller Wesen

Kommentar zur Meditation auf Avalokiteśvara von Karmapa Khakyab Dorje

Unterweisungen von Lama Tilmann Freiburg, 27. Dezember 2014 – 3. Jänner 2015

Kommentar zur Meditation auf Avalokiteśvara

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Lama Tilmann, Neujahr 2014/15

Kommentar zur Meditation auf Avalokiteśvara

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INHALT Einführung........................................................................................................................................5 Preisung............................................................................................................................................5 1. Zuflucht und Hervorbringen des Bodhicitta...............................................................................7 Meditation – Zuflucht...............................................................................................................8 Fragen der Teilnehmer/-innen:...............................................................................................10 Meditation – Körper spüren – Licht.......................................................................................11 Kyerim und Dzogrim......................................................................................................................13 Meditation – Zuflucht.............................................................................................................17 Meditation – Qualitäten erspüren...........................................................................................18 Alle Wesen meine Mütter...............................................................................................................19 Befreiende Qualitäten.....................................................................................................................20 Fragen der Teilnehmer/-innen................................................................................................21 Vorstellungen – Visualisation.........................................................................................................22 Die drei Arten Vertrauen.................................................................................................................23 2. Die Meditation auf die Gottheit...................................................................................................24 Keimsilben......................................................................................................................................25 Übung: Opfergaben aussenden...............................................................................................27 Symbolik – Erklärungen von Gendün Rinpoche............................................................................30 Meditation...............................................................................................................................32 Symbolik – Fortsetzung..................................................................................................................34 3. Die Rezitation des Mantras..........................................................................................................38 a) Das Anrufen des Geistes der Erwachten durch Gebete..............................................................38 Lung............................................................................................................................................42 Meditation...............................................................................................................................43 b) Die Visualisation des Ausstrahlens und Sammelns....................................................................46 Anmerkung zur Rezitation der Zuflucht.....................................................................................59 Erklärungen zur Mala.................................................................................................................63 Zusätzliche Erklärung zur Mantra-Rezitation............................................................................64 Visualisationsübung................................................................................................................65 Visualisationsübung................................................................................................................69 Erläuterungen zu den sechs Silben.................................................................................................69 Verbindung der Sechs Silben mit den Vier Unermesslichen..........................................................76 3

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Zusammenfassung......................................................................................................................76 Auflösung.......................................................................................................................................77 Notwendigkeit der Auflösungsphase..........................................................................................79 Experiment mit dem Atem......................................................................................................82 Kontemplation zum Jahresende mit Manis....................................................................................84 Neujahrsansprache..........................................................................................................................85 Ausführliche Visualisation während der Mantraphase – Lama Gendün........................................88 4. Abschluss: Alles als Weg nutzen..................................................................................................90 5. Das Widmen der Wurzeln des Heilsamen und Sprechen vonWunschgebeten.......................96 Widmung........................................................................................................................................96 Widmung frei von den drei Kreisen..........................................................................................96 Die Kurzform der Praxis................................................................................................................98 Praxis des Gebetes des Mönchs Padma Karpo...........................................................................99 Austausch über die Praxis – Arbeit mit Emotionen..................................................................100 Visualisation.................................................................................................................................104 6. Die Erläuterung des Nutzens der Praxis..................................................................................106 Lung – Übertragung durch Lesen.............................................................................................111 Die Praxis der sechs Paramitas mit OṀ MANI PADME HŪṀ.........................................................112 1. Freigebigkeit.........................................................................................................................113 2. Heilsames Verhalten.............................................................................................................113 3. Geduld...................................................................................................................................114 4. Freudige Ausdauer................................................................................................................115 5. Meditative Stabilität..............................................................................................................116 6. Weisheit................................................................................................................................117 Fragen der Teilnehmer/-innen..............................................................................................118 ANHANG........................................................................................................................................124 Das Sieben-Zweige-Gebet............................................................................................................124 Die Herzenspraxis des Mönches Pema Karpo..............................................................................129 Geführte Praxis.........................................................................................................................137 Das Sechs-Silben-Gebet..................................................................................................................138

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Einführung Kommentar des 15. Karmapa Khakyab Dorje zur Praxis auf Avalokiteśvara (Sanskrit) bzw. Tschenresi (Tibetisch) Wir meditieren bei dieser Art der Praxis auf einen Buddha in Lichtgestalt, den wir uns zunächst außerhalb – oberhalb von uns – vorstellen, mit dem wir dann verschmelzen und uns selber dann auch als Tschenresi spüren. Diese Praxis war die Hauptpraxis der Tibeter und sie ist es heute noch. Das Mantra, das zu dieser Praxis gehört – OṀ MANI PADME HŪṀ – findet man in Tibet überall; auf Steine gemeißelt, es wird von den Tibetern mit der Gebetsmühle praktiziert und es ist das universelle Mantra für alle Situationen. Die Praxis hat viele Ebenen von Bedeutung. Man kann sie sehr leicht wie nebenbei praktizieren oder aber als Einstieg nehmen in tiefe meditative Versenkung und damit den Weg in alle Bereiche der Verwirklichung hinein gehen. Ich werde euch die Praxis mithilfe des Kommentars im Detail erklären und versuchen, diese Ebenen anzudeuten, sodass ihr allmählich hineinfinden könnt. Es ist Tradition bei so einer Kommentar-Erklärung, dass jedes Wort vorgelesen wird und alle Unklarheiten nach Möglichkeit beseitigt werden. Deswegen wird selbst so ein kleines Büchlein die Zeit von sechs Tagen reichlich füllen. Der Titel des Kommentars lautet „Fortwährender Regen zum Wohle aller Wesen“. Wir sind ja nicht so scharf auf Regen. Aber in Indien war Regen Ausdruck von Segen. Der lang ersehnte Monsun kam endlich und befreite die Menschen von der Dürre und garantierte die Nahrung. So sollten wir uns das vorstellen; wie der Regen die Menschen aus den Hütten lockt und sie in der Freude, diesen Segensregen zu erfahren, zu tanzen beginnen. Diese Symbolik übertrug sich auch auf Tibet. Auch in Tibet war Regen sehr begehrt. Tibet hat nicht sehr viel Regen, weil die Himalaya-Kette ganz viel vom Regen abhält. Der Titel heißt weiter: Kurze einführende Erläuterungen zur Meditation und Rezitation des höchsten Avalokiteśvara begleitend zu dem Text „Das Wohl der Lebewesen, das den Raum erfüllt“ aus der direkten Übertragung von Thangtong Gyalpo, dem König unter den Verwirklichten. Der Text, der hier erwähnt wird, ist unser Praxistext. Er wurde von Thangtong Gyalpo geschrieben und der Kommentar folgt der direkten Übertragung von Thangtong Gyalpo, der auch König oder Prinz unter den Verwirklichten genannt wird. Er war ein absolutes Genie und hat unter anderem – neben vielen Dingen, die er getan hat – eine spezielle Legierung für Eisen entwickelt, sodass Eisen nicht mehr rostet, eigentlich einen nicht rostenden Stahl. Er hat in Tibet viele, viele Brücken gebaut, um die Wege zwischen den Dörfern zu verkürzen, um tagelange Umwege durch Schluchten und an Flüssen entlang, die man nicht überqueren konnte, zu ersparen. Er hat sich ganz konkret in vielen Situationen um das soziale und materielle Wohl der Menschen gekümmert, nicht nur um ihr spirituelles. Er ist 125 Jahre alt geworden (1385 – 1510). Der 15. Karmapa war der einzige der Karmapas, der seine Mönchsgelübde zurückgegeben hat und mit Partnerin gelebt hat. Er war ein großer, großer Meister und lebte noch in der Zeit, bevor die Chinesen nach Tibet eingefallen sind. Das hat 16. Karmapa dann erlebt.

Preisung SVASTI (Verehrung) Ich verbeuge mich… … Abgründe Samsaras erschüttert. Karmapa verbeugt sich als Autor selbst vor Avalokiteśvara und weist mit diesem Vierzeiler auf sein besonderes Mitgefühl hin, das ihn unter allen Siegreichen – Buddhas – hervorhebt. Er manifestiert sich in symbolischer Form bedeutet, dass sich aus der Sicht von Karmapa Avalokiteśvara in vielen Gestalten

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manifestiert, zum Teil als Lichtgestalt, zum Teil als Mensch, die Ausdruck für das Mitgefühl sind; verschiedene Symbole, Ausdrucksformen des Mitgefühls. Untrennbar von der Aktivität, welche die Abgründe Samsaras erschüttert. – Das ist ein anderer Name von Tschenresi: Derjenige, der die Abgründe Samsaras erschüttert. Unter allen Buddhas… … als Helfer der sechs Arten Lebewesen fortfahren. – Tschenresi ist also die Verkörperung des Bodhisattva-Ideals. Es ist die innere Haltung, sich nicht aus der Welt in befreite Bereiche zurückzuziehen, solange es noch Leiden in der Welt gibt – und dies auf unbegrenzte Zeit. Und genau das ist das Merkmal für Tschenresi, und er wird diese Aktivität eines Bodhisattvas oder Buddhas in Bodhisattvagestalt fortführen, solange es noch Leid unter den sechs Arten von Lebewesen gibt. Diese Klassifizerung stammt aus der alten indischen Kosmologie, nicht von Buddha – Höllen, Hungergeister, Tiere, Menschen, Halbgötter, Götter. Wenn man genauer hinschaut, gibt es noch ganz, ganz viele Unterbereiche; es gibt auch Überschneidungen in den sechs Daseinsbereichen. Das ist nur ein ganz grobes Raster zur Orientierung. Aber es sind unzählige Lebewesen – allein im Menschenbereich – das ist überwältigend, und dann noch die Tiere. Diese beiden Bereiche können wir mit den eigenen Augen sehen. Von den anderen Bereichen wird immer wieder gesprochen, es gibt sehr viele Berichte davon. Aber wenn wir allein das nehmen, was wir sehen können, dann ist das schon so immens. Die Motivation, sich um all diese Wesen zu kümmern, ist enorm. Diese Motivation brauchen wir uns jetzt nicht gleich zu Eigen machen. Wir können sie als Inspiration nehmen, um zu erahnen, zu erfühlen, was möglich ist; wie sich Motivation, Liebe und Mitgefühl noch ausweiten können. Wie schon oft erklärt, sollten wir nicht den Fehler machen, beim Hören dieser Beschreibung des Bodhi sattva-Ideals zu meinen, wir müssten das alles gleich selber so praktizieren oder fühlen. Aber wir können uns damit verbinden, dass es offenbar Menschen gibt, und Buddhas und Bodhisattvas, die genau von dieser Motivation beseelt sind. Insbesondere erfüllt er den Auftrag… … zu einem durch den Edlen bezähmten Land. ‚Schwer zu Bezähmende‘ ist ein alter Ausdruck, aber es war tatsächlich wohl so, dass es im alten Tibet sehr rau zuging. Mord und Totschlag waren fast auf der Tagesordnung, bevor der Dharma dorthin gekommen ist. Auch als der Dharma schon dort war, waren die Tibeter nicht gerade das friedlichste Volk. Aber es gibt offenbar eine Prophezeiung von Buddha Śakyamuni, in der er sagt: „Auch in diesem Land jenseits der Himalayakette wird der Dharma verbreitet werden und es wird durch die Praxis des Edlen Tschenresi gezähmt werden.“ Wie er diese Prophezeihung erfüllt… … beigebracht worden sei. – Man muss dazu ein wenig aus der Geschichte Tibets wissen. In Tibet wurde jeweils darauf geachtet, wie sich Kinder entwickeln, was für Zeichen sie manifestieren. Es gab eine Reihe von Königen, Ministern usw., die sich ganz der TschenresiPraxis gewidmet hatten und ihre ganze Aktivität in den Dienst des Dharma stellten zum Wohle der gesamten Bevölkerung. Bei einigen von ihnen tauchten schon in der Kindheit merkwürdige Zeichen auf. Unter anderem, dass sie OṀ MANI PADME HŪṀ zu sprechen begonnen haben, ohne dass es ihnen beigebracht worden war. Das wird von zwei oder drei Karmapas berichtet, aber auch von anderen. Darauf bezieht sich Karmapa hier. Er schreibt diesen Kommentar für die Tibeter, und sie wissen, dass die Könige aus der Anfangszeit des Dharma in Tibet – z.B. Trisong Detsen – als Ausstrahlungen von Tschenresi betrachtet wurden. Auch der Dalai Lama wird als solche betrachtet, als eine Manifestation der Aktivität von Tschenresi, und es ist offenbar auch die Praxis, die er heute ausführt – genauso wie auch der 16. Karmapa und viele andere Meister. Karmapa schreibt für die Tibeter: Der „Herr des Großen Mitgefühls“… … der König unter den Verwirklichten erschien. Die Vorgehensweise beim Praktizieren wird in sechs Punkten erläutert: Vorbereitung: Hauptpraxis:

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1. Zuflucht und Geist des Erwachens 2. Meditation auf die Gottheit

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Abschluss: sowie:

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3. Mantrarezitation 4. Alles als Weg nutzen 5. Widmen der Wurzeln des Heilsamen 6. Erläuterung des Nutzens der Praxis

Das war eine Einführung des 15. Karmapa. Im Vajrayana – inzwischen wird es „Tibetischer Buddhismus“ genannt, was er aber nicht ist, es ist spätindischer Buddhismus aus dem 8. – 12. Jahrhundert, der in Tibet Wurzeln geschlagen hat und in Indien durch historische Bedingungen verschwunden ist – wird mit drei zusätzlichen Methoden gearbeitet:

Mantra – Mudra – Visualisation Der tibetische Buddhismus ist dafür berühmt geworden, dass ganz viele Mantras benutzt werden, Formeln und Worte, die nicht unbedingt eine Satzstruktur ergeben, sondern eine symbolische Bedeutung haben; symbolische Silben, die eine starke symbolische Kraft in sich tragen. Die Bedeutung kann erklärt werden, nur ist sie nicht mehr aus dem Wort selbst zu entschlüsseln. Mudra – körperliche Ebene. Das sind Gesten, mit denen wir symbolisch einiges darstellen, z.B. den Lotuskreis als Einladung, die Opfermudra mit dem Fingerschnippen. Dazu gehört die Vorstellung – Visualisation –, dass die Opferungen tatsächlich dargebracht werden. Das vermutlich wichtigste Element sind die Visualisationen, unsere Vorstellung. Man nutzt die Vorstellungskraft, die jedem zu eigen ist, um den Geist auf etwas auszurichten, was zutiefst heilsam ist. Diese drei Elemente sind im Vajrayana immer zu finden, wobei die Tschenresi-Praxis, die wir hier machen werden, ganz wenige Mudras enthält. Die ist so einfach. Es gibt nur die Gebetsmudra, das Aneinanderlegen der beiden Handflächen. All die anderen Mudras (Opfermudra, Einladungsmudra, Verschmelzungsmudra, Segen einladen) kommen gar nicht vor. Es ist eine Praxis, bei der es vor allen Dingen um Visualisation und Mantra geht, und die bewusst einfach gehalten wird. Es wird mir ein Anliegen sein, zu vermitteln, wie wir das wirklich sinnvoll und heilsam in unserem Leben einsetzen können, sodass wir nicht nur etwas imitieren, versuchen nachzuleben, nachzugestalten, was offenbar in Tibet gut funktioniert, sondern dass wir es für uns heilsam anwenden können, in direkter Verbindung mit dem, was unsere Lebensthemen sind.

1. Zuflucht und Hervorbringen des Bodhicitta Wenn ich in dieses Kapitel hineinfühle, löst es in mir den Gedanken aus: „Was bringt euch das?“ Ich werde euch jetzt eine Visualisation erklären. Aber was soll denn das bewirken, worum geht es eigentlich? Es geht darum, dass wir Zugang finden zu einer Dimension, in der wir uns zunächst einmal sicher fühlen, aufgehoben, getragen; in der wir in Kontakt kommen mit eigenen, inneren Qualitäten, die durch diese Visualisation mit dem entsprechenden Gebet stärker stimuliert werden. Diese Verbindung mit den eigenen Qualitä ten, das Eintreten in einen Raum, in dem wir uns sicher fühlen, uns ausrichten, schafft eine Voraussetzung, um schwieriges emotionales Material angehen zu können. Wenn wir eine Zufluchts-Visualisation ausführen, tun wir in dem Moment erst einmal unser emotionales Gepäck auf die Seite. Wir konzentrieren uns für eine Weile, aber werden all das, was uns beschäftigt, später wieder einladen, wenn wir etwas stabiler im Heilsamen verankert sind. Dann lassen wir es wieder kommen und bearbeiten es mit der neuen Perspektive, die uns diese Tschenresi-Praxis ermöglicht. – Wir beamen uns nicht auf Wolke Nr. 7! – Wir gehen innerlich an einen sicheren Ort, um dort die innere Arbeit mit unseren emotionalen Themen auszuführen. Diese Themen sind mit den sechs Silben und mit den sechs Daseinsbe reichen verbunden und decken an sich das gesamte Spektrum unseres Erlebens ab.

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Wie wird so ein inspirierender Raum traditionell beschrieben? Am besten folgt ihr nun mit geschlossenen Augen meiner Anleitung und versucht, das zu erahnen, zu erspüren, sodass direkt eine Erfahrung entsteht. Ihr braucht die Augen nicht unbedingt zu schließen, es ist nur für manche eine Erleichterung, um visualisieren zu können. Meditation – Zuflucht1 Schaut, dass ihr angenehm sitzt und geht innerlich an einen Ort in der Natur, wo ihr euch sicher fühlt, warm, gut aufgehoben, und wo ihr den Himmel sehen könnt. Wir sind umgeben von Menschen und Tieren, die uns wohlgesonnen sind, die uns begleiten. Aber zunächst einmal richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf das, was wir vor uns am Himmel entdecken. Es tauchen wunderbare, inspirierende Regenbögen auf, Lichtbänder in verschiedenen Farben, ein besonderes Geschenk des Himmels. Sonne und Mond sind gleichzeitig zu sehen und auch andere Lichtsphären, als könnten wir auch die Sterne sehen. Es ist, wie als wäre der Himmel geschmückt für ein großes Fest, mit wunderbaren Wolkenformationen, die zum Teil die Form von Blumen haben, als wären Blumen am Himmel. Inmitten dieses Himmels sitzt der edle Tschenresi, leuchtend. Er symbolisiert die Einheit aller Buddhas, aller Erwachten, und ist untrennbar von den Lehrern und Lehrerinnen, Meistern, in die wir Vertrauen haben. Tschenresi – heißt es – ist die manifeste vereinigte Essenz der drei Juwelen (Buddha, Dharma und Sangha) und der drei Wurzeln (Lamas, Yidams und Schützer). Es ist, als hätten sich alle Siegreiche aller Zeiten zusammengetan in dieser einen Manifestation. Er leuchtet weiß, und obwohl er leuchtend weiß ist, erstrahlt er im Licht aller Farben des Regenbogens. Sein Gesicht ist mitfühlend, offen. Heiter, lächelnd betrachtet er uns. Er sitzt auf einem Lotus, der die makellose Reinheit seiner Motivation symbolisiert. Der Lotus ist vollkommen weiß. Auf diesem Lotus ist eine Mondscheibe zu sehen, sie steht für die geschickten Mittel des Mitgefühls. Darauf erstrahlt Tschenresi mit vier Armen, die für die vier großen Qualitäten stehen (Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut). Wir sehen, wie sich die ersten beiden Hände vor seinem Herzen zusammenlegen und ein Juwel zwischen den beiden Handflächen halten. Dieses Juwel ist das Herzensjuwel, Symbol unseres eigenen Geistes, ein wunscherfüllendes Juwel. Rechts dreht er mit der zweiten rechten Hand, etwas seitlich ausgestreckt, eine weiße Kristall-Mala, die Licht ausstrahlt. Links hält er einen weiß-rosa-farbenen Lotus, der für Bodhicitta steht. Er hält den Stengel von dem Lotus, und der Lotus entfaltet sich neben seinem linken Ohr. Er erstrahlt selber – obwohl weiß – mit allen Farben des Regenbogens. Ihm gegenüber sind wir selbst in unserer gewöhnlichen Form, umgeben von dicht gedrängten Scharen aller Lebewesen der sechs Daseinsbereiche. Und wir selbst [mitten unter ihnen] handeln als ihr Leiter, ihr Anführer. Das heißt, wir machen die Wesen aufmerksam: „Schaut! Schaut auf dieses Wunder! Da gibt es eine Zuflucht!“ Und wir erkennen unter der Menge dieser Lebewesen all unsere Feinde, Freunde und auch neutral eingestellten Wesen. Alle sind sie da, und wir brauchen keine Angst zu haben. Sie sind alle zutiefst berührt und beeindruckt. Wir verpflichten uns mit den drei Toren [Körper, Rede und Geist], den Weg des Erwachens zu gehen und beten gemeinsam zu Lama Tschenresi – getragen von einem Vertrauen, wo wir uns ihm völlig übergeben und ihn als unsere einzige Hoffnung betrachten [den Ausstieg aus allem Leid zu finden]. Wir verstehen dabei, dass es sich um die erwachten Qualitäten unseres eigenen Geistes handelt, die sich hier in inspirierender Form als Tschenresi manifestieren. Diese Qualitäten besitzen die Fähigkeit und Kraft, uns völligen Schutz vor Samsara – vor Verstrickung – zu gewähren. Voller Sehnen denken wir: „Bitte schütze uns!“ und bringen die Überzeugung hervor, tatsächlich geschützt zu sein. Im Besitz dieser drei vertrauensvollen Einstellungen [Vertrauen, Sehnen und Überzeugung] sprechen wir dann das Zufluchtsgebet. Wir sprechen dies aus ganzem Herzen und sehen, wie die Zuflucht vor uns, wie Tschenresis Strahlen noch zunimmt, während wir das Zufluchtsgebet sprechen: Bis zum Erwachen nehmen wir Zuflucht zu Buddha, zum Dharma und zur höchsten Gemeinschaft.

1 Anleitung frei nach Kommentar Seite 4/5 8

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Tschenresi vor uns ist nur noch Licht, und dieses Licht tritt in uns ein – vielleicht durch unseren Scheitel oder durch das Herz, was angenehm ist. Und wir ruhen für eine Weile in stiller Meditation und spüren die Zuflucht in uns. – Stille Phase Ich lade euch ein, allmählich wieder die Augen zu öffnen, und in dem Bewusstsein der Zuflucht zu bleiben, also in diesem angeregten, eventuell ausgeglichenen Gefühl in uns selbst, verbunden mit unseren Qualitäten. Wir wagen es, ein wenig um uns zu schauen in Kontakt mit diesen Qualitäten in uns. Das also findet statt, während wir diese vier Zeilen der Zuflucht singen, das tut sich da auf. Das war eine etwas längere, geführte Meditation. Es ist dieses Szenario, dieser Raum, in den wir eintreten können – in etwas Ähnliches, wir schauen, wie es für uns passt. *** Diese Zufluchtsvisualisationen sind Teil von jeder Vajrayana-Praxis. Sie kommen in leicht abgewandelter Form zu Beginn einer jeden Sadhana vor. Die gemeinsamen Elemente dieser Zufluchts-Visualisationen sind jeweils, dass wir uns in normaler Form befinden, und wir gehen in eine inspirierende Umgebung hinein. Diese Umgebung spüren wir mit all unseren Sinnen. In der Ngöndro-Visualisation z.B. spüren wir, wie weich das Gras ist, über das wir gehen, und wie sich unter dem Fuß, der sich wieder hebt, das Gras aufrichtet. Wir spüren mit allen Sinnen. Wir können die Vögel zwitschern hören, wir spüren Wärme, wir spüren vielleicht einen frischen Luftzug, wenn wir das möchten. Wir spüren mit allen Sinnen, in welcher Umgebung wir sind. Diese Umgebung wird gar nicht so genau beschrieben. Es kann am Ufer eines Sees sein, dessen Wasser alle erfrischenden, labenden Qualitäten besitzt. Es kann in der Natur, von Bäumen umgeben sein, es kann auf einer Wiese sein. Es kann aber auch einfach so stattfinden, ohne dass wir die Umgebung in irgend einer Weise beschreiben müssten. Das Gemeinsame ist aber, dass es ein sicherer Ort ist und dass alle, die wir während des Zufluchtnehmens – in dieser Vorstellung – einladen, keine Querelen, keine Schwierigkeiten anfangen, sondern ausgerichtet sind, dass sie selber präsent sind als Lebewesen, die ihren Weg in die Freude gehen möchten, die frei sein möchten von Leid und zu ihrem eigenen Potential erwachen möchten – obwohl sie vielleicht gar nicht wissen, was genau damit gemeint ist. Bei allen Zufluchts-Visualisationen im Vajrayana sind immer alle Lebewesen einbezogen. Es ist niemand ausgeschlossen. Das ist aber nicht so zu verstehen, dass es eine Form von geheimer Missionierung wäre. Es ist nicht so, dass wir denken, wir würden sie vereinnahmen und für sie Zuflucht nehmen, damit sie alle Buddhisten werden. Das ist uns völlig fremd. Was tatsächlich passiert, ist, dass wir uns darauf einstimmen, dass alle mit uns zusammen denselben Wunsch haben, glücklich zu sein; dass keiner von uns zusätzlich leiden möchte, dass wir alle den Weg in die volle Entfaltung unserer Qualitäten gehen. Das haben wir ja alle gemeinsam – egal, ob Freund oder Feind. Selbst bei einer kleinen Ameise kann man beobachten, dass sie nicht in eine Pfütze hinein läuft, sondern dass sie einen Weg drum herum macht; dass sie nicht unnötig leiden möchte. Bei jedem kleinen Wurm kann man das sehen. Wir haben das gemeinsam, dass wir möglichst dorthin gehen, wo es Gutes gibt und dass wir möglichst nicht dorthin gehen, wo es Schmerzen und Leid gibt, wo es schwierig ist. Und wenn wir wüssten, wie es ist, vollkommen frei zu sein, dann wäre das unser höchstes Ziel. Deswegen beziehen wir alle mit ein. Vor uns ist in allen Vajrayana-Visualisationen das Feld der Zuflucht, eine Gruppierung von dem, was für uns besonders inspirierend wirkt. Je nach Praxis variiert das. Der Standard ist so, dass wir in einer Tara-Praxis Tara als Zuflucht visualisieren, in einer Tschenresi-Praxis Tschenresi. In einer Guru-Yoga-Praxis auf Buddha Śakyamuni visualisieren wir den Buddha. Der Haupt-Buddha der Praxis wird auch in der Zuflucht immer vor uns visualisiert. Meistens folgen die Praktiken, die uns zugänglich sind, der Methode des einen Juwels, das alle anderen in sich vereint – so wie auch in dieser Praxis. Wir könnten nämlich um Tschenresi herum noch all die anderen visualisieren. Wir könnten das Feld, so wie bei den Vorbereitenden Übungen, ausweiten, wo wir den Zufluchtsbaum haben, auf dessen verschiedenen Ästen unzählige weitere Aspekte sitzen – die ganze Übertragungslinie, die über 1000 Buddhas unseres Zeitalters, die verschiedenen Meditations-Gottheiten, die Repräsentanten der Sangha, die Dharmatexte – all das gehört eigentlich dazu.

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Das wird aber hier nur mitgefühlt, mitgedacht. Es ist mit Tschenresi alles da – das eine Juwel, das alle anderen beinhaltet. Das ist die einfachste Form, Zuflucht zu nehmen, sich auszurichten. Damit das für uns wirkt, müssen wir das natürlich mit Qualitäten verbinden. Da ist es für uns zunächst einmal näher, zu sagen: „Ich richte mich auf die Liebe aus. Ich richte mich auf das erwachte Mitgefühl aus. Ich richte mich auf den offenen Geist aus, die Weite des Geistes. Symbole sind unglaublich kraftvoll, sie sind kraftvoller als Worte. Worte sind auch Symbole, aber sehr abstrakt. Eine rote Rose steht in unserem Kulturkreis für Liebe, das ist eine sehr direkte Botschaft. So ist für manche von uns vielleicht der Lotus zu einem Symbol geworden, das Bedeutung hat. Die Mondscheibe, die hier in der Visualisation vorkommt, dürfte für die meisten von euch überhaupt keinen inspirierenden Symbolcharakter haben. Der Mond in Indien war die Erlösung. Das war das wunderbare Licht nachts, wenn man sich nicht mehr zu schützen braucht. Man kann rausgehen, man sieht genug, um sich fortbewegen zu können, wird aber nicht von der Sonne verbrannt. Der Mond hat in Indien einen ganz anderen Stellenwert als bei uns. Er ist ein Symbol für Frische, für Schutz, wo man sich entspannen kann. Man braucht nicht mehr vor der Hitze der Sonne fliehen. Damit kommen Symbole zu uns, die wir uns erst einmal erarbeiten müssen, oder wir setzen die Aspekte etwas anders, wir betonen andere Aspekte. Alle Visualisationen werden immer so gemacht, dass sie durchscheinend sind. Es ist Licht, und die Licht qualität ist dergestalt, dass – wenn wir uns z.B. Tschenresi vorstellen und hinter ihm etwas stattfinden würde – man durch Tschenresi durchschauen kann. Es ist also ein Licht, das nicht blockierend wirkt, sondern transparente Qualität hat. Wenn es heißt, dass Tschenresi ganz, ganz hell und leuchtend ist, so wie der frisch gefallene Schnee in der Mittagssonne, dann ist damit nicht gemeint, dass er uns blendet und es uns unange nehm wird. Es bleibt in dem angenehmen, inspirierenden Bereich, als Symbol totaler Reinheit, völliger Frische. Das sind die grundlegenden Prinzipien; dass wir umgeben sind von allen Lebewesen, ohne uns irgendwie bedrängt zu fühlen. Und all das ist in unserer Vorstellung, wir spüren das. Wir spüren vor allen Dingen vom Herzen, wir spüren die Verbindung, und vor uns ist das, was uns inspiriert. Und das, was uns inspiriert, verschmilzt am Schluss mit uns. Damit wird die Täuschung aufgelöst, es wäre das, worin wir Zuflucht nehmen, etwas anderes als wir selbst. Wenn wir es in unsere Sprache übersetzen, würden wir sagen: „Gott bleibt nicht getrennt von uns.“ Das Allerhöchste, das absolut Inspirierendste, das, was die Natur des Geistes darstellt in seiner liebevollen, schöpferischen Dimension, findet sich in uns. Und das lassen wir in einem ersten Prozess anregen in uns, in unserem eigenen Bewusstsein. *** Fragen der Teilnehmer/-innen: Teilnehmer/-in: Ist es bei den Symbolen so, dass man sich die Symbolbedeutung aneignen muss, wie sie in Indien war, oder kann man auch sagen, man konzentriert sich auf die, die funktionieren? Das Zweite ist auf jeden Fall so: Wir konzentrieren uns auf die, die funktionieren. Aber ein Teil meiner Aufgabe ist es, euch die traditionelle Bedeutung zu erläutern. Dann kann es sein, dass du Zugang dazu findest, dass du allein aufgrund der Passage, wo ich über den Mond gesprochen habe, plötzlich damit was anfangen kannst, weil es erklärt wurde. Das nennt man mündliche Übertragung. Es ist mein Job, euch diese alte Symbolik zu erklären. Ich denke, es geht uns überall so, z.B. wenn wir uns in eine Fachsprache in der Wissenschaft einlernen, eignen wir uns das an und mit der Zeit beginnt es dann, Bedeutungsträger zu werden. Dieser Prozess findet auch im Vajrayana statt. Und zum Glück findet er statt, andernfalls müssten wir sagen, das wir uns ewig fremd bleiben. Aber es ist für mich auch nicht ewig fremd geblieben. Teilnehmer/-in: Ich finde die Erklärung mit der Mondscheibe super, das habe ich so noch nie gehört. Aber warum sitzen diese Aspekte auf einer Mondscheibe? Komplett wäre Lotus, Sonne und Mond. Der Sitz einer Meditations-Gottheit symbolisiert, woraus ihre Verwirklichung oder Aktivität entsteht. Der Lotus ist immer Ausdruck für das Bodhicitta, eigentlich für die grundlegenden Qualitäten des Erwachen. Der Lotus ist das umfassendste Symbol, auch das früheste Symbol des Buddhismus. Er steht dafür, wie aus dem Schlamm, aus all dem Verstricktsein, in dem wir uns sonst befinden, sich etwas ganz Reines zeigt. So, wie der Lous aus dem Schlamm heraus wächst und im

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schlammigen Wasser knapp über der Wasseroberfläche sich öffnet und sich in makelloser Reinheit entfaltet. Das ist das Symbol für alle Buddha-Qualitäten. Dann hat man Sonne und Mond – in diesem Fall hier nur die Mondscheibe –, die stehen dann für die Einheit von Weisheit und Mitgefühl. Die Sonne ist der Weisheits-, Erkenntnisaspekt und der Mond steht für die geschickten Mittel des Mitgefühls, des Wirkens; all das, was man braucht, um anderen helfen zu können. Tschenresi sitzt auf der Mondscheibe der geschickten Mittel des Mitgefühls, denn das genau ist sein DaseinsZweck. Er ist da, um zu helfen. Er sitzt in den geschickten Mitteln, um allen Wesen helfen zu können. Das ist die Bedeutung. Bei jeder Visualisation kann man den Sitz nehmen als das, worauf es sich gründet, woraus es entstanden ist. Teilnehmer/-in: Warum der Mond als Scheibe und nicht einfach nur der Mond? Die Mondscheibe ist als Vollmond gemeint. Nicht ab- oder zunehmend, sondern es ist das Mond-Mandala gemeint, es ist rund. Teilnehmer/-in: Du hast gesagt, Tschenresi steht für die geschickten Mittel des Mitgefühls. Tara sitzt auch auf der Mondscheibe, gehören sie zur gleichen Familie? Das hat nichts mit ihrer Buddha-Familie zu tun. Es ist, dass beide als wesentlichen Sinn haben, den Wesen zu helfen. Da sind sie Bruder und Schwester, das hat nichts mit der Buddha-Familie zu tun. Meditation – Körper spüren – Licht Wir spüren unseren Körper, die Empfindungen… vielleicht dort, wo wir Kontakt mit dem Boden haben, angefangen von den Fußsohlen über die Knöchel, Fußrücken… wir gehen die Waden hinauf, die Schienbeine bis zu den Knien, die Oberschenkel… Sitzfläche. Wir wandern allmählich nach oben, spüren die Hüften, das Becken, den Unterbauch, den unteren Rücken. Wir spüren den ganzen Unterkörper mit all den vielen Empfindungen, die dort zu bemerken sind. Dann wandern wir weiter hoch: mittlerer Rücken, oberer Rücken, Bauchraum, Brustkorb; bis hinauf in die Schultern. Wir spüren die Arme, hinunter bis zu den Fingerspitzen; Handflächen, Handrücken, Unterarme, Ellenbeuge, Oberarm, Hals und Nacken, Hinterkopf, Ohren, Unterkiefer, Mundraum, Oberkiefer, Mund, Lippen, den ganzen Nasenbereich, den Bereich der Augen, die Schläfen, die Stirn, den oberen Teil den Kopfes bis zum Scheitel. – Wir spüren den ganzen Oberkörper und den Unterkörper. – Mannigfache Empfindungen… Wandert für euch noch einmal durch den Körper: Gibt es irgendwo Bereiche, in denen gar nichts zu spüren ist? Verweilt in diesen Bereichen, um dort die ganz feinen Empfindungen aufzuspüren. – Von den Fußsohlen bis zum Scheitel, überall ist Leben zu spüren. … Wir lassen die Aufmerksamkeit durch den Körper fließen, ohne bestimmte Stellen zu bevorzugen und andere zu benachteiligen. Alle bekommen die gleiche Aufmerksamkeit. – Wenn wir in diesem Körpergefühl verweilen und das mit der Meditation von Tschenresi verbinden, dann nehmen wir diese feinen Energieflüsse, die überall zu bemerken sind – das Vibrieren, das sich an manchen Orten etwas mehr sammelt – innerlich als Sprungbrett, um uns vorzustellen, dass diese vibrierende Energie, diese Lebensenergie wie Licht ist; eine Lichtqualität hat, nur eine spürbare Qualität. – Das, was manche Menschen als Aura wahrnehmen, die Lichtqualität unseres energetischen Seins. – Wenn wir so wie Tschenresi dasitzen, lassen wir unser Körpergewahrsein so entspannt, wie es nur irgendwie geht; frei von Anhaften. … Wir spüren vielleicht im Herzen, vielleicht im Bauch oder anderswo eine tiefe Zuversicht und eine Liebe, eine Offenheit und die Fähigkeit zu völliger Resonanz mit unserer Umgebung. – *** Das war eine erste Annäherung an das Meditieren von sich selbst als Tschenresi, also als Medtitationsgottheit. Auch das sind wieder gemeinsame Elemente in jeder dieser Yidam-Praktiken. Wir gehen über das ganz normale Körperbewusstsein. Wir haben einen Body-Scan gemacht, wir sind durch den Körper gewandert. Dabei schenken wir allen Bereichen möglichst gleichmäßige Aufmerksamkeit. Ausgleichend habe ich euch gebeten, dort, wo ihr weniger spürt, etwas länger zu verweilen. Danach geht es nur noch

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darum, ausgeglichen überall gewahr zu sein. In diesem ausgeglichenen Gewahrsein merken wir, dass dadurch, dass wir so ausgeglichen bleiben, Bereiche, die im Empfinden sehr dicht waren, sich allmählich etwas lockern und andere Bereiche, wo ganz wenig zu spüren war, stärker ins Bewusstsein kommen. Allmählich entsteht so ein Gefühl von einem harmonischeren Spüren im Körper. Die Empfindungen werden insgesamt – wenn wir intensiv dabei bleiben – stärker, aber sie gleichen sich mehr aus. Und was wir dabei erleben, heißt auf Tibetisch tsa, lung und tigle. Ihr kennt es vielleicht aus der Sanskrit-Terminologie des Yoga als nadi, prana und bindu. Prana ist der bekannteste Begriff, das ist diese Vitalenergie; die fließende oder vibrierende Vitalenergie. Die Bahnen, in denen diese Energie stärker läuft – tsa bzw. nadi – verbinden sich an bestimmten Orten zu stärkeren Empfindungen; im unteren Bauchraum, im oberen Bauchraum, im Herzen, in der Kehle gibt es Orte, an denen wir stärker empfinden; in den Handflächen, in den Fußsohlen. Wo wir stärker empfinden, das sind die sogenannten Chakren – khorlo auf Tibetisch. In den Visualisationen bereichern wir dieses Körper-erleben um die visuelle Dimension. Ihr kennt vielleicht die Kirlian-Fotografie, diese Hochvolt-Fotografie, in der lebende Objekte auf den Fotografien einen Lichthof haben – von einem Physiker namens Kirlian entdeckt. Die normale Fotografie bildet das normale Äußere ab und die Hochvolt-Fotografie zeigt z.B. den Sterbeprozess eines Blattes. Das Blatt, das noch am Baum ist, hat einen starken Lichthof. Wenn man es hinlegt und immer wieder fotografiert, sieht man, wie sich innerhalb einiger Stunden dieser gesamte Lichthof auflöst. Nun sind wir ja lebendige Wesen, und wir nehmen mit diesen Visualisationen Bezug auf eine andere Ebene unseres Seins, die wir normalerweise mit den Augen nicht so sehen können – auf diesen Lichthof, dieses Strahlen, was ein Ausdruck unserer Lebensenergie ist. Wenn wir Licht innerhalb der Vajrayana-Praktiken visualisieren, hat es immer etwas mit Vitalität zu tun – mit Vitalität und Bewusstheit. Licht, das einfach so ist, wie das Licht, das wie bei der Visualisation vorhin von Tschenresi ausstrahlt. Er ist einfach da, leuchtend, wie so eine Sonne oder wie ein Regenbogen. Das ist die Vitalität, dieses Licht wird stets vibrierend, an- und abschwellend visualisiert. Es ist kein statisches Licht, es ist lebendig. Das ist bei allen Visualisationen dasselbe. Dann gibt es Visualisationen, in denen Lichtstrahlen, Lichtströme ausgehen. Die stehen jeweils für Bewusst heit. Bewusstheit geht irgendwohin, Gedanken. Der Geist wird ausgerichtet. Das begann schon mit den Meditationen, die Buddha lehrte, in denen er Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut – Gelassenheit – als die Vier Unermesslichen lehrte. Da strahlt die Liebe nach vorne, nach hinten, nach rechts und links und nach allen Richtungen aus. Das ist die Bewusstheit, die sich ausdehnt. Der Lichthof oder die Lichtstrahlen, die wir uns vorstellen, sind das Feld unserer Bewusstheit. Wenn wir einem Buddha begegnen, um innerlich Kontakt aufnehmen zu können mit dieser grenzenlosen Bewusstheit, die da ist, stellen wir uns grenzenloses Licht vor. Das ist aber ein Symbol für die all-umfassen de Bewusstheit. Und so ist es auch in unserem Körper: Wenn wir im eigenen Körper voll bewusst werden, merken wir, dass er innerlich wie eine lichte Qualität bekommt. Und der setzen wir keine Grenzen, wir erlauben ihr, sich auszuweiten. Wir erlauben ihr, diesen Raum zu füllen, über diesen Raum hinauszugehen, sich nicht durch Mauern und dergleichen aufhalten zu lassen. Bewusstheit ist überall da, wo der Geist hingeht und ist nicht begrenzt. Das ist mit dem Licht gemeint. Wir werden ganz viel mit Licht zu tun haben, was irgendwo hingeht, was ausstrahlt und zurück kommt. Das sind Grundprinzipien des Vajrayana, mit Licht so zu arbeiten, wie wenn Gedanken, also Bewusstsein, wo hingeht und eine Resonanz kommt; dann kommt das Licht zurück. Ich habe Menschen erlebt, die funktionieren so, dass sie das als Licht sehen. Das ist also keine Erfindung, nur Symbol; es gibt Menschen, die das erleben. Sie erleben dieses Licht um andere Menschen herum, sie sehen Gedanken. Sie erleben, was andere denken, was sie selber denken, visuell. Und darauf wird auch Bezug genommen. Es ist also nicht nur ein erfundenes Erleben, sondern ein Erleben, in das wir uns intuitiv hinein begeben können. Und das dazu führt – wenn wir uns erlauben, so zu sitzen –, dass sich etwas in uns weitet und der

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Zugriff auf das vermeintlich Materielle, Konkrete etwas weniger stark wird. Es kommt ein gelösteres Sein in uns hinein. Das ist die erste grundlegende Unterweisung dazu, warum wir in den Visualisationen ständig mit Licht arbeiten. Teilnehmer/-in: Bei dem Licht, das ausstrahlt, stelle ich mir vor, es gibt eine Lichtquelle und dass sich das Licht dann mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegt. Was ich mir vorstelle, ist anders herum, dass das, was ich mir vorstellen kann oder das, was sowieso schon da ist, immer – auch wenn ich nicht dran denke – die Schnelligkeit meines Bewusstseins oder die Weite ist, was es begrenzt. Ja, wir haben es nicht mit physikalischem Licht zu tun, das mehr oder weniger gerade geht; es wird durch Körper abgelenkt usw. Wenn wir im Vajrayana von Licht sprechen, haben wir es mit Licht zu tun, das alles tun kann, was wir wollen. Wir können das Licht aus dem Herzen fließen lassen. – Ich stell mir das gerade vor, es macht gerade einen Looping. Es kann noch einen Looping machen, es kann auch zur Seite, es kann rauf und runter, es kann rückwärts, … Es geht dahin, wo der Geist hingeht. Es ist Ausdruck der Bewusstheit des Geistes. Also Licht, das vor und zurück kann, Licht, das um die Kurve kann; Licht, das in alle Richtungen gleichzeitig kann; Licht, das die Farbe wechseln kann, … alles! Licht ist hier Ausdruck dessen, was wir mit dem Geist machen. Eine klassische Situation ist, dass ich mir z.B. eine andere Person vor mir vorstelle und mit ihr Tonglen praktiziere, das Geben und Annehmen. Ich kann mir vorstellen, dass Licht fließt. Wir können uns das jetzt gleich vorstellen; in dem Moment, wo wir jemanden anschauen, fließt Licht. Und: Es kommt auch zurück. Die Bewusstheit des anderen kommt auch in Form von Licht zurück. Wir erlauben uns, etwas, das stattfindet, zusätzlich visuell wahrzunehmen. Es gibt Menschen, die können das sehen. Sie sehen, wenn z.B. in unserem Bewusstsein ein Greifen stattfindet, dass da ein greifendes, pumpen des Licht ausgeht oder ganz im Unterschied dazu ein gebendes. Wir üben uns mit Licht. Diese Vorstellungen gehen viel schneller als das begriffliche Denken. Das ist der eigentliche Grund, warum wir mit Visualisationen arbeiten. Zum einen gehen sie schneller. Wenn ihr wollt, ist die Visualisation, die wir vorhin zur Zuflucht gemacht haben, in einem Moment da, die Beschreibung dauert ewig. Und Lichtqualitäten oder visualisierte Qualitäten sich vorzustellen, hat zusätzlich den Vorteil, dass es ein schnelleres Denken ist, auf tieferen, symbolischen, emotionalen Ebenen – schneller als Worte. Wie stark uns die symbolischen Handlungen erwischen, wissen wir in dem Moment, wo jemand eine symbolische Geste macht, z.B. eine Drohgebärde. Die Gebärde mit der dazugehörenden Mimik wird sofort registriert und verstanden, schneller als Worte. Oder das Öffnen der Arme, ein liebevoller Blick wird sofort registriert und löst sofort was aus. Aber zu denken „Tschenresi ist liebevoll“ ist ziemlich mühsam und hat wenig Wirkung. Tschenresi tatsächlich innerlich wahrzunehmen und den liebevollen Blick zu spüren, so wie wir uns immer gewünscht haben, liebevoll, mitfühlend angeschaut zu werden, kann uns sofort im Herzen erreichen. Wir können uns erinnern, hineinspüren, hineinfühlen in ein liebevolles, mitfühlendes Erleben, wo wir schon einmal so einen liebevollen Blick bekommen haben, und der taucht auf. Oder aus unserer inneren Schöpferkraft, aus der Liebe des Geistes, entsteht er einfach so, auch wenn wir es noch nicht erlebt haben. Wir können uns nämlich ganz vieles vorstellen, was wir noch nie erlebt haben; unglaublich vieles. Dem Geist sind da keine Grenzen gesetzt.

Kyerim und Dzogrim Das nutzen wir in dieser kreativen Phase der Vajrayana-Praxis. Auf Tibetisch heißt das Kyerim. Kye heißt erschaffen, kreativ sein. Kyepa ist die Geburt, das, was gebären lässt; und rim heißt Phase. Kyerim ist die Phase der Praxis, in der wir entstehen lassen, kreativ sind. Unser Geist ist ja eigentlich die ganze Zeit kreativ – mehr als uns manchmal lieb ist. In der Praxis nutzen wir die natürliche Kreativität auf die bestmögliche Art und Weise, indem wir diese Kreativität sich noch weiter entfalten lassen.

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Lasst Tschenresi noch einmal entstehen und dann stellt euch vor, das Licht von Tschenresi strahlt aus. Er ist vor uns, passt schon gar nicht mehr in diesen Raum hinein. Das geht weit, weit, weit, immer weiter. Was passiert mit unserem Geist, wenn wir uns vorstellen, dass das Licht so weit geht? – Der geht mit, er geht überall hin. Wenn du es zu deiner Tochter, deinem Sohn schicken möchtest, geht es da hin. Wenn du es in deiner Vorstellung von New York schicken willst oder in den Dschungel, dann geht es dort hin. Und wo geht unser Geist, unsere Bewusstheit hin? – Genau dort hin. Genau dort ist unser Bewusstsein. Genau dort, was wir innerlich verbinden, dort geht unser Bewusstsein hin. Wir werden uns mit dem Tierreich verbinden, mit unseren Feinden, unseren Freunden, mit unseren Nächsten, mit den Schwierigen, mit allen… Immer wird Licht Symbol dafür sein, dass die Bewusstheit Bereiche unseres Seins einbezieht, und tatsächlich passiert es automatisch, denn es ist unmöglich, dass wir uns etwas vorstellen und unser Bewusstsein woanders hingeht. Wenn unser Bewusstsein woanders hingeht, ist die Vorstellung auch vorbei. Es geht immer nur eines. Das geht unglaublich schnell. Stellt euch einfach vor, Tschenresi nimmt eure Mutter in den Arm – oder irgend jemanden, auch wenn derjenige schon gestorben ist, das spielt überhaupt keine Rolle. Einfach Licht, das Licht umarmt. Die Eltern, die wir uns vorstellen, sind ja auch keine Substanz. Das ist ja nicht materiell, es ist nur Vorstellung. Und die Vorstellung hat welche Natur? – Eine Vorstellungs-Natur, das ist nicht substantiell. Das ist dieselbe Natur wie Tschenresi; alles, was wir uns vorstellen. Wenn wir an unsere Probleme denken. – Habt ihr überhaupt welche? Wir könnten jetzt unsere Probleme umarmen lassen, aber auch selber umarmen. Wir können sie genauso mit Licht und Gewahrsein, Bewusstheit aufnehmen und durchdringen wie alles andere, denn sie haben dieselbe Natur; sie sind Vorstellungen. Und wo wir unseren Geist hinlenken, da ist er; das erleben wir. Diese Fähigkeit, den Geist auf heilsame Art und Weise mithilfe von Vorstellungen zu lenken, die wir ohnehin die ganze Zeit benutzen, das ist Vajrayana, das ist Tantra. Tantra bedeutet Kontinuität, diese Kontinuität des Gewahrseins. Und das Tantra, das wir praktizieren, ist die Kontinuität des liebevollen, non-dualen Gewahrseins. Um diese Kontinuität, die eigentlich unsere wahre Natur ist, zu ermöglichen, schaffen wir Brücken. Mit Vorstellungshilfen schaffen wir Möglichkeiten, da hinein zu finden. Wenn wir drin sind, brauchen wir uns nichts mehr vorzustellen. Wenn wir drin sind – nehmen wir an, wir sind dann Tschenresi – dann brauchen wir uns Tschenresi nicht mehr vorzustellen, dann geht das Bewusstsein dorthin und dorthin und dorthin und ist weiterhin so kreativ, wie es jetzt ist, im erwachten Zustand. Das ist es, was man erwachte Aktivität nennt. Die Welt, in der wir leben, hat einen bildhaften Charakter; man könnte sagen, ist Vorstellung, aber dabei gehe ich das Risiko ein, dass ihr mich erst einmal missversteht. Aber schaut euch einmal um. Wir sind hier vielleicht sechzig Personen, da sind Unbekannte darunter, auch Bekannte. Kaum schauen wir jemanden an, geht unser Bewusstsein dorthin, es ist kein unbewusstes Schauen, wir gehen bewusst dorthin. Und was passiert? – Wir haben eine Vorstellung von dem Menschen. Nicht nur, dass unser Gehirn die visuelle Form zusammensetzt, Tiefenschärfe reinbringt usw., sondern es entstehen schon im ersten Schauen Gefühle, Empfindungen. Wir nehmen etwas wahr, was sich in uns zu Vorstellungen verdichtet. Schaut noch einmal, aber mit einem anderen Radar. Ihr wart schon vorhin wohlwollend, aber schaut jetzt mit dem Radar, im anderen diese erwachte Natur wahrzunehmen, als ob ihr mit den Augen von Tschenresi schauen würdet; das wahrzunehmen im anderen, … Mensch! Und gleichzeitig nehmen wir wahr, wie so ein bisschen Zögern da ist, wo sich die meisten nicht so recht trauen, das Tschenresi-Sein zuzulassen. Das nehmen wir auch wahr, aber wir schauen tiefer. Wir sehen „Ja, es leuchtet schon…“ Es ist schon ein Leuchten zu merken im anderen, und das ist es, was wir im Vajrayana nutzen. In der Praxis nennen wir das Entwickeln der reinen Sicht. Das ist keine Sicht, die etwas rein tüncht, sondern ein Gewahrsein von dem, was eigentlich ist. Wer die Augen hat zu sehen – wer das Herz hat zu sehen –, kann in jedem, den er anschaut – auch wenn derjenige richtig Stress hat –, die Buddhanatur sehen, das eigentlich Wache, die Qualitäten im anderen. Man würde sagen, die unter der Oberfläche sind – sind sie ja gar nicht. Sie sind ja sichtbar, sind ja fühlbar, sie sind in jedem Menschen wahrnehmbar. Wir schauen dadurch etwas anders. Wir schauen hindurch durch das, was da so verschleiernd ist. Wir schauen hindurch und nehmen im anderen wahr, was wir sonst leider nicht so wahrnehmen. Aber es tut gut, das wahrzunehmen.

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Einige von euch sind als Paare hier am Kurs. Wenn ihr euch so anschaut, seht ihr euch anders als diejenigen, die sich ohnehin schon kennen und Stress hatten, hierher zu kommen – keine Ahnung, was da gelaufen ist bei euch. Aber diese Herzensantennen auszufahren, im anderen das Erwachte wahrzunehmen, das nennen wir, Tschenresi im anderen wahrzunehmen. Wir könnten es auch Tara nennen. Wir können es einfach „erwachte Natur“ nennen; das, was sich zeigen möchte. Wir gehen noch einen Schritt weiter. Wir schauen uns noch einmal um, schauen die anderen an und denken, „Wie sieht denn diese Person aus als ein vollkommen erwachter Buddha?“, ohne dass sich äußerlich was ändern muss. Wirklich den Buddha im anderen sehen, das ist noch einmal ein bisschen mehr, als nur das Potential zu sehen. Da kann man sehen, wie im anderen bereits die Frucht von dem, was eigentlich sein könnte, schon da ist. Das ist super. Wir genießen es so, mit dem Herzen zu schauen, dass wir nicht nur das Potential wahrnehmen – da waren noch ganz viele Schleier – wir lassen uns so sehr drauf ein, dass wir im anderen schon sehen können, wie sie oder wie er ausschaut, wenn sie oder er erwacht ist. Und da braucht er keine Frisur zu ändern oder etwas anderes zu tragen. Er braucht niemand anders zu sein, nicht jünger, älter – einfach Buddha. Das ist reine Sichtweise. Und die üben wir, indem wir damit spielen, einander als Tschenresi zu sehen. Es geht aber nie darum, dem anderen Tschenresi überzustülpen. Es geht nur um das Wahrnehmen, dass Tschenresi in ihm ist. Es geht nur darum, diese Wahrnehmung zu kultivieren. Das tut richtig gut. Und das machen wir vor und zurück. Das passiert doch ständig. Ich schaue jemanden an, sehe den Buddha in der Person, kenne sie aber auch, wie sie manchmal schon war. Das ist wunderbar, aber es ist anders; es ist nicht ganz Buddha. Und in mir selber auch „Du meine Güte, wie schräg ich drauf bin…“, und „Ich bin Buddha!“ Und wieder ich… und „Ich bin Buddha!“ Und manchmal sehe ich: „Da gibt es Dinge, denen ich mich zuwenden muss, an denen ich arbeiten muss!“ Ja, das mache ich, ich wende mich diesen Dingen zu, die anstehen, die ich in mir zu bearbeiten habe, und ich tue es als der Buddha. Ich tue es mit all den Kräften, die in mir sind, mit all dem Potential, das in mir noch nicht ausgeschöpft ist. Das bringe ich da rein. Das ist hilfreich. Das Grundprinzip ist dasselbe wie bei all den heutigen Trauma-Therapien oder bei sonstigen TherapieFormen. Es geht immer darum, vorwiegend im Heilsamen verankert zu sein und dann zu pendeln. In der Tschenresi-Praxis sind wir im Tschenresi-Bewusstsein verankert, wir haben sogar noch Tschenresi über dem Kopf, damit die Verankerung schön stabil ist, und dann gehen wir in die sechs Daseinsbereiche; in die verschiedenen Emotionen, und verlieren uns nicht. Das ist das Wichtige. Die dürfen nicht Überhand nehmen. Wir verlieren uns nicht, wir gehen aus dem Bewusstsein der Qualitäten in den Kontakt mit dem Schwierigen, mit der Herausforderung. Wir bleiben verankert und holen uns den Stoff, das Material, an dem wir arbeiten wollen: unsere Sucht, unsere Probleme, unsere Phobien, unsere depressiven Neigungen, unsere Neurosen – was auch immer wir mit uns tragen, holen wir ins Bewusstsein. Aber da ist noch was anderes. Wir werden nicht überschwemmt, all das macht uns nicht blind. Wir bleiben wach im Herzen. Wir bleiben wach dafür, dass unsere Filme Filme sind, dass sie nicht die Wahrheit sind. Jetzt kann ich euch natürlich fragen, was ihr davon haltet. Was ist denn wahrer, unsere Probleme oder dass wir Tschenresi sind? Wahrer – ich glaube, beides ist nicht wahr. Aber wenn man schon vergleicht, dann ist die Vorstellung von Tschenresi näher an der Realität – an dem, was wir wirklich sind – als unsere problematischen Vorstellungen. Das ist sehr viel näher dran, aber ist auch noch eine Brücke. Was wirklich wahr ist, ist das, was immer bleibt, was immer ist, wenn wir vollkommen entspannt und offen sind, ohne irgend etwas zu produzieren. Darauf können wir uns verlassen – die Grundnatur unseres Sein. Das bleibt. Und in dieses Sein ist die Tschenresi-Praxis wie eine Brücke – jede Vajrayana-Praxis. Jede heilsame Vorstellung ist eine Brücke in dieses grundlegend freie, offene Sein. Und nur das ist wahr – aber auch nicht korrekt. All das sind noch Vorstellungen, Heilmittel. Man kann sagen, dass die Tschenresi-Vorstellung ein Heilmittel für die neurotischen Vorstellungen ist. Das kann man doch sagen, wir leben in einer neurotischen Welt und die nennen wir Samsara. Und um eine Brücke zu schlagen in die Welt freien Seins, nutzen wir solche Vorstellungen. Wir beziehen auch die Rede mit ein – Mantra, dass unsere Sprache zu Mantra wird, dass

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unsere Körperbewegungen zu Mudra werden. Das sind Brücken. Solange dabei noch eine gewisse Absicht eine Rolle spielt, ein Wollen, bleibt es künstlich und ist deswegen nicht wirklich wahr. Es ist nicht das, was letzten Endes bleibt, weil es immer noch ein bisschen produziert ist. Wenn das Produzierte wegfällt, dann sind wir so, wie wir wirklich sind. Und das ist die zweite Phase der Vajrayana-Praxis. Die erste Phase war die kreative Phase – Kyerim –, und dann kommt Dzogrim, die Vollendungsphase. Die Vollendungsphase ist, wo sich alles auflöst, so wie in der Zufluchts-Visualisation. Tschenresi löst sich in Licht auf, das Licht verschmilzt mit uns und wir ruhen im natürlichen Sein. Dieses natürliche Sein, das ist Dzogrim, die Vollendungsphase. Alles dient dazu, in diese Vollendung, in dieses vollkommene Sein des jetzigen Erlebens einzutauchen. Das jetzige Erleben, so wie es ist, ist nicht etwa perfekt, weil es irgendwie super-toll wäre – alles nur glückliche Bedingungen. Selbst wenn wir z.B. mit einer Krebs-Diagnose leben oder im Bett liegen, ist in diesem gelösten Gewahrsein alles – grad so wie es ist – vollendet. Es gibt nichts zu tun, um es besser zu machen. Der Geist kann ganz offen sein; das Herz kann ganz weit sein. Und wenn es ganz weit ist, dann ist das die echte Vollendungsphase. Darum geht es. Es geht in diesem Kurs um diese Brücken. Es geht um eine Praxis, die uns in dieses geschickte Arbeiten mit dem Geist einführt, wo wir solche Brücken nützen lernen. Die Praxis ist super, millionenfach bewährt – Gütesiegel… auf der Produktliste im Warentest ganz oben. Da können wir uns doch drauf einlassen! Aber es gibt viele, viele andere. Und welche dieser Brücken ihr persönlich verwenden werdet, welche für eure Probleme am besten geeignet sind, das gilt es herauszufinden. Teilnehmer/-in: Wenn man bei der Vollendungsphase merkt – in die eine Sichtweise rein, dann die andere usw. und merkt, dass beides Filme sind und man beides loslässt, ist das dann schon die Vollendungsphase? Das ist die Vollendungsphase, ohne durch den Prozess des Visualisierens durchgegangen zu sein. In dem Moment, wo du z.B. jetzt alles loslässt, bist du in einer natürlichen Vollendungsphase. Wir werden auch darüber sprechen, wie wir diese beiden Phasen durchmischen können, dass sie gleichzeitig stattfinden. Wir können uns z.B. jetzt anschauen, miteinander sprechen und innerlich so gelöst sein, wie es nur irgendwie geht. Das ist möglich, das ist Menschen möglich. Das ist das Duchdringen von diesem kreativen, schöpfe rischen Prozess, in dem Vorstellungen eine Rolle spielen und Gedanken – jetzt gerade Worte – mit der völligen Gelöstheit des natürlichen Seins. Das natürliche Sein kann total aktiv sein, ohne sich zu verheddern. Und darum geht es letzten Endes, in dieses aktive, natürliche Sein hinein zu finden. Für mich sind diese Vorstellungen mit dem Licht so künstlich. Du wirst sicherlich den Weg gehen, der für dich einfacher ist. Für manche ist es eine zusätzliche Unter stützung, sich erst einmal ganz auf das Szenario einzulassen: „Ja, das ist die Quelle, da ist auch der Buddha, als ob er vor mir wäre.“ Dann verschmilzt der Buddha mit mir und macht es mir leichter zu spüren: „Ja, jetzt meditiert der Buddha in mir!“ Diese Vorstellung macht es für viele Menschen leichter, aber es kann sein, dass sie es für dich komplizierter macht. Probier es aus, aber wenn du merkst, etwas tut dir nicht gut und macht alles komplizierter, dann lässt du es sein. Das brauchen wir nicht, das Leben ist schon kompliziert genug. Teilnehmer/-in: Wo war denn der Sprung vom Bodyscan zum Visualisieren als Tschenresi bei der angeleite ten Meditation? Es kommt bei mir immer aus dem Erleben, deshalb weiß ich nie ganz genau, wo es bei der Meditation hingeht. Wir haben den Bodyscan gemacht, und dann kam so ein feines vibrierendes Erleben überall. Und von dieser prickelnden Lebensenergie aus, die überall zu spüren war – da verschmelzen auch die Grenzen mit der Umgebung, man kriegt nicht mehr so mit, wo der Boden anfängt, wo der Körper anfängt –, da beginnt die Körperbegrenzung sich aufzulösen. Das hab ich zwar nicht angesprochen, aber diese prickelnde Lebensenergie, die wir prana nennen, wie mit einer Lichtqualität zu erleben, bringt so etwas Leichtes, Lichtes in den eigenen Geist. Also diese Körper-Vibration mit dem Licht zu verbinden… Vielleicht suchst du jetzt nach einer Methode, aber…

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Nein, ich hab dann das Gefühl von Raum… Ja, durch das Spüren des Vibrierens im Körper wird so viel Raum spürbar, dann ist der Körper gar nicht mehr so dicht und solid, wie wir ihn sonst so denken. Durch diese starke Körperbewusstheit kommt so viel Raum ins Körpererleben, und damit können wir gehen. Das erlebt ja der Geist, im Geist wird diese Leichtigkeit, dieser Raum im Körper erfahren. Das lassen wir einfach zu und sich ausweiten. So war glaube ich der Übergang. Meditation – Zuflucht Wir selber sind an einem Ort in der Natur – muss nicht sein, aber ist oft hilfreich; eine Umgebung, in der wir uns wohl fühlen, sicher fühlen. Wir spüren den Boden unter den Füßen; wir riechen die Pflanzen, wir spüren die warme Sonne – ganz so, wie es uns entspricht. Es ist ein weiter, offener Raum, in dem all unsere Freunde Platz haben, sie sind um uns herum, rechts unser Vater, links unsere Mutter – auch wenn sie schon gestorben sind. Vor uns sind all diejenigen, mit denen wir Schwierigkeiten haben. Sie schauen aber auch noch vorne, in die gleiche Richtung wie wir, auf die Zuflucht. In dieser Praxis ist es so, dass sich die Zuflucht – Buddha, Dharma, Sangha – in einer Figur vereint. Es ist die Figur von Tschenresi – weiß, mit vier Armen, die Juwelenkrone auf der Stirn; das Haar leuchtet und strahlt. Der ganze Körper strahlt wie frisch gefallener Schnee in der Mittagssonne. Und dieses Strahlen beinhaltet alle Farben des Regenbogens. Ohne jetzt weiter ins Detail zu gehen – ihr könnt euch alle Details vorstellen – , aber das Wichtigste ist, dass wir uns verbinden mit der Erscheinung von Tschenresi vor uns als Inbegriff der Qualitäten, auf die wir ganz persönlich unser Leben ausrichten möchten. Worum geht es mir? Was sind die Qualitäten, die Tschenresi für mich jetzt symbolisieren kann? Das können ganz unterschiedliche sein: Einfachheit, Mut, Freigebigkeit oder die großen Qualitäten wie Liebe, Mitgefühl, Freude, Gleichmut. Alle Qualitäten des Erwachens sind in Tschenresi vereint. Und mit diesem Gefühl klarer Ausrichtung auf das, was mir wirklich am Herzen liegt, singen wir die Zufluchtsverse. Rezitation der Zuflucht Wir stellen uns vor, wie sich Tschenresi in einem gewaltigen Leuchten auflöst und mit allen von uns verschmilzt – in den Scheitel, die Kehle, das Herz, in den ganzen Körper. – Wir spüren unseren Körper mit einem wachen Bewusstsein, gewahr, gelöst; … Wir sind ganz offen für alle Sinneseindrücke. Wir brauchen nichts auszuschließen, nichts festzuhalten. – Der Atem fließt ganz natürlich, im Körper sind ebenfalls fließend kleine Bewegungen, die ganz natürlich sind. – Und wir erinnern uns noch einmal an die Grundqualitäten, auf die wir unser Leben heute ausrichten wollen. Indem wir uns an sie erinneren, werden sie ein wenig spürbar; genau das lassen wir zu. *** Diese kleine Praxis könnte eine tägliche Praxis für euch sein. Ihr könntet euch vornehmen, sie einmal am Tag auszuführen und euch darin mit eurer inneren Zuflucht verbinden. Das, was euch wichtig ist, nimmt Form an, drückt sich in Lichtgestalt aus als ein Licht-Buddha vor euch, verschmilzt mit euch, und ihr ruht im Gewahrsein seiner Qualitäten. Allein das – wenn ihr das jeden Morgen tun könntet – verändert schon euer Leben. Wir haben acht Minuten dafür gebraucht, habt ihr die einmal am Tag? Und das ist eigentlich schon die Essenz der Praxis, da ist eigentlich alles schon drin. Unser eigenes wahres Sein, die Qualitäten, die in uns aktiv sind, aber sich manchmal nicht so ganz aus drücken, werden angeregt dadurch, dass wir wie in einen Spiegel schauen und den Segen von Tschenresi er fahren. Dadurch wird unsere eigene Buddhanatur angeregt und dieses Vertrauen wird immer stärker: „Ja, ich bin das! Ja, das ist mein wahres Sein!“ Wenn wir das als einzige Praxis machen würden, dann wäre der nächste Schritt, in diesem Gewahrsein, wo wir jetzt aufgehört haben, den Geist darauf zu richten, was denn an Herausforderung heute auf mich zukommt. – Vielleicht ist es ja für einige von euch eine Herausforderung, mit so vielen Menschen in einem Raum zu sitzen, in dem es regelmäßig zu heiß und stickig wird oder wieder zu kalt, oder zu laut oder es wird

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wieder herausfordernd leise. Egal, was es ist, an der Arbeitsstelle, Begegnung mit Freunden oder mit schwierigen Menschen. – Es geht darum, diese Vorstellungen einzuladen, während wir noch im Nachklang der Meditation sitzen: Wie kann ich mit diesem Gewahrsein, das ich jetzt gerade habe, in die Situation gehen? Wie kann ich die als Tschenresi erleben? Wie kann ich da diese Gewahrseinskräfte, diese Qualitäten wirken lassen? Wie gehe ich damit um, wenn mir jemand gleich eine unbequeme Frage stellt; etwas, worauf ich lieber gar nicht zu sprechen kommen möchte? Wie kann ich damit umgehen, wenn etwas schief liegt; wenn dieses oder jenes, was ich mir vorgenommen habe, nicht so eintritt, wie ich mir das wünsche; wenn ich wieder nicht das bekomme, was ich eigentlich möchte oder wenn ich genau das bekomme, was ich nicht möchte? Wie kann ich als Tschenresi durch die herausfordernden Situationen gehen? Und ich stelle mir vor, wie ich das dann mache und taste mich an Lösungen heran. Es könnte so einfach sein, in diesem einfachen gelösten Gewahrsein die alltäglichen Herausforderungen sehr gut zu meistern – bloß kommt mir manchmal dieses Gewahrsein abhanden, wenn die Herausforderung kommt. Deswegen muss ich mich ja darauf vorbereiten und stelle mir vor, wie ich in dieser Situation bin, z.B. an meinem Arbeitsplatz, und wie ich dieses neue Gefühl in jeder Zelle meines Körpers spüre. So schaffen wir die Integration. Die Frage ist immer: Wie komme ich aus dieser reinen Welt der wunder baren Vorstellungen, dieser Visualisationen in den Alltag? Wir müssen den Alltag einladen in dieses Gewahr sein, um dann ein Gespür dafür zu haben; als ob der Körper spüren würde, wie sich das in der Situation anfühlt. Das üben wir jetzt, damit ihr das schon einmal spüren könnt. Meditation – Qualitäten erspüren Es heißt immer: Der vollendete Buddha ist vor uns. Vollendet bedeutet „mit allen Qualitäten“. Wir spüren, erahnen all die Qualitäten von Tschenresi, von denen wir uns berühren lassen wollen. Und genau in dem Moment, wo wir uns mit diesen Qualitäten von Tschenresi verbunden haben, löst er sich in Licht auf und verschmilzt mit uns. Das bedeutet, all diese Qualitäten sind in uns. – Wir spüren sie, wir spüren sie mit dem ganzen Körper, mit unserer ganzen Existenz. – Dann laden wir eine Situation in unser Bewusstsein ein, in der wir genau das leben. Wir stellen uns vor, was genau in dieser Situation herausfordernd ist… und wie wir genau darauf mit unseren Qualitäten antworten. – Das spüren wir mindestens drei Atemzüge lang. – *** Es ist gar nicht notwendig, das länger zu machen, diese Verankerung reicht – aber auch nicht kürzer. Wenn wir es nur ganz kurz denken, kommt es nicht wirklich in unser System. Was ich euch gerade als diesen Transfer erklärt habe, heißt auf Tibetisch kyalwa sum, das dreifache Hineinbringen in den Alltag. Das Hinübertragen der Yidam-Haltung, der Haltung, Buddha zu sein mit Körper, Rede und Geist. Wir stellen es uns vor und setzen es dann mit Körper, Rede und Geist um. Wir leben diese Qualitäten, wir kommunizieren diese Qualitäten, und sie zeigen sich in allen geistigen Bewegungen – begriffliches Denken, innere Vorstellungen usw. Das sind die drei Instruktionen, die dazu gedacht sind, die Praxis in den Alltag hinein zu bringen. Sie sind am Ende der Tschenresi-Sadhana zu finden. Vor der Mantraphase heißt es da: Körper, Rede und Geist aller in dieser Welt lebenden Wesen werden zu Tschenresis… Nach dem Mantra: Ich und die anderen, der Körper und alle Erscheinungen… Das sind Hinweise, wirklich uns selber mit Körper, Rede und Geist als Tschenresi zu praktizieren und auch alle, denen wir begegnen; dass alle Formen wahrgenommen werden in diesen Qualitäten, was an Formen, an Sinneswahrnehmungen erscheint; dass alle Klänge, alle Kommunikation zum Ausdruck dieser Qualitäten wird und dass alle Vorstellungen und Gedanken dazu werden. Damit hätten wir eine komplette Praxis. Diese Zufluchts-Praxis ist in sich schon vollständig. Und was wir im Laufe der nächsten Tage durchgehen werden, ist eine Ausführung, eine Variation zu diesem Thema.

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Kommentar Seite 5. Da hatte ich die ersten beiden Zeilen erklärt: Bis zum Erwachen nehmen wir Zuflucht zu Buddha, Dharma und zur höchsten Gemeinschaft. Mit diesen Worten… … dem Wohl der Lebewesen widmen. – Das ist in ausführlicher Form das Bodhisattva-Gelübde und bezieht sich auf die dritte und vierte Zeile von dem, was wir „Zufluchtsgebet“ nennen, aber in Wirklichkeit ein Zufluchts-Bodhicitta-Gebet ist. Es besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist die Zuflucht und der zweite Teil ist das Entwickeln vom Geist des Erwachens, den wir Bodhicitta nennen.

Alle Wesen meine Mütter Wir gehen das nun Satz für Satz durch, denn da ist manches nicht so ganz offenkundig, z.B. dass wir füreinander schon alle Mütter und Väter waren, ist eine ungewöhnliche Vorstellung für uns. Ich habe ja auch keine Ahnung, ob das so ist. Ich möchte euch zunächst einmal darstellen, wie es uns die Lehrer – Gendün Rinpoche, Karmapa, Shamar Rinpoche – dargestellt haben. Für sie ist ganz klar, dass wir schon unzählige Male gelebt haben, weil sie offenbar frühere Leben wahrnehmen können, wie es auch von anderen Meistern beschrieben wird. Es wird sehr ausführlich beschrieben, dass der Buddha von jedem, der ihm gegenübertrat, die früheren Leben sehen konnte. Ich kann das nicht und kann das nicht bestätigen, aber es gibt Hinweise darauf, dass wir schon frühere Leben hatten. Es gibt erstaunliche Unterschiede, wie Kinder zur Welt kommen, mit was für Talenten Menschen ausgestattet sind; unterschiedliche Neigungen trotz fast identischer Sozialisation – es gibt viele Hinweise dafür. Und es gibt Flash-backs; es gibt Situationen, die Menschen in den Sinn kommen, die sie so nirgends gelesen oder gehört haben. Ich lasse mich einmal darauf ein, mir vorzustellen, ihr wäret alle schon meine Mütter gewesen und meine Väter – und umgekehrt, wir wären füreinander auch Söhne und Töchter gewesen. Für irgend jemanden waren wir bestimmt Mutter und Vater. Ob es gerade uns selber getroffen hat, das können wir nicht so genau wissen. Aber viele hier im Raum sind ja Eltern, und für eure Kinder tut ihr Unglaubliches. Ihr kümmert euch mit einer Liebe, mit einer Fürsorge, und wir alle haben auch diese Liebe und Fürsorge von unseren Eltern erfahren. Trotz aller emotionalen Schwierigkeiten bewirkt diese Fürsorge, dass wir es bis hierher geschafft haben, dass wir groß geworden sind. Einige tausend Male die Windeln wechseln, füttern, Betten säubern, in die Hand nehmen, vor Gefahren schützen usw. Normalerweise denken wir: „Ja, ich bin dankbar für meine Eltern, aber was mit den Eltern der anderen ist, das geht mich nichts an! Das ist mir nicht so nah!“ Aber das ist ziemlich künstlich, denn die Fürsorge, die ihr irgendjemandem schon in eurem Leben geschenkt habt – was euch zwar nicht bewusst ist, aber ahnen könnt –, die galt auch einem Menschen, einem Lebewesen, vielleicht habt ihr euch um Tiere gekümmert. Da wird diese Herzensregung spürbar, die die Qualität liebevoller Fürsorge ausmacht. Und auch ich habe solche Fürsorge erhalten und gegeben; und ich weiß, was für eine unglaublich schöne Qualität das ist. Ich weiß, wie oft diese Qualität nicht gelebt wird, das weiß ich auch. Ich entscheide mich, diese Qualität nicht zu reservieren für meine Blutsverwandten, meine Famile, sondern auszuweiten auf alle anderen, von denen ich weiß, dass sie sich genau so wie ich nach dieser Qualität sehnen, sie in sich tragen, im Grunde genommen auch weitergeben können. Ich entschließe mich, diese Qualität auf alle Lebewesen auszudehnen, in dem Gefühl, mit ihnen verbunden zu sein. Vielleicht sind wir ja verbunden durch frühere Leben. Dann wäre es so, dass, wenn wir einander übel wollen, wir unseren früheren Müttern und Vätern übel wollen oder unseren früheren Söhnen und Töchtern. Das ist ziemlich absurd. Es gibt Geschichten aus den buddhistischen Traditionen, wo z.B. ein Erwachter einen Angler beobachtet, der einen Fisch aus dem Fluss zieht und dann aufschneidet. Er sieht, dass gerade jemand dabei ist, seine frühere Mutter aufzufressen – weil er es nicht weiß. Das bringt das Ganze auf den Punkt. Wenn wir uns hineinversetzen, dann ist dieser Jemand für jemanden Mutter und Vater und für jemand anderen Sohn oder Tochter – vielleicht nicht für uns, aber für jemand anderen besteht da eine unglaubliche Herzensbeziehung. Dieser Mensch, den ich vielleicht nicht

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ausstehen kann, ist für jemand anderen total wichtig und geliebt. Da zeigt sich diese Herzensweichheit. Da zeigen sich die Qualitäten, die sonst nicht so sichtbar sind. Manchmal zeigen sie sich nur gegenüber einem Tier, aber nicht gegenüber Menschen. Da hinein zu spüren und zu fühlen, dass wir uns alle nach demselben sehnen – nach dieser Liebe, nach dieser Fürsorge, nach dem fließenden Austausch miteinander, wir sehnen uns nach Glück und wollen Leid vermeiden –, das bewirkt, dass wir diesen Impuls spüren: „Ja, ich möchte diese Liebesfähigkeit nicht begrenzen! Ich möchte sie nicht nur für meinen engsten Kreis reservieren“ So, wie ich gehört habe, haben wir unzählige Existenzen hinter uns. Die Arten und Weisen, wie wir miteinander verbunden waren, sind unglaublich viele. Hier wird nur über Kinder-Eltern-Beziehungen gesprochen, aber wir haben einander auch schon die Köpfe angehackt, wir haben einander alles Mögliche angetan und wir waren schon einmal lieb miteinander – wir können wählen. Wir können wählen, und genau diese Wahl treffen wir jetzt. Wir treffen jetzt die Wahl im Bewusstsein unserer Gleichartigkeit – wir sehnen uns eigentlich alle nach demselben – und unserer Verbundenheit, dass wir auch alle voneinander abhängen und miteinander verbunden sind. Das ist das einzig Sinnvolle. Aus diesem Gewahrsein heraus treffen wir die einzig sinnvolle Entscheidung, unsere Herzensqualitäten in jeder Situation mit jedem zu leben und das Leid in dieser Welt zu verringern und zu Glück und Freude beizutragen. Wenn wir dann hinschauen, merken wir, wie ungeschickt Menschen und andere Lebewesen sind in ihrem Streben nach Glück. Sie tun meistens das Ungeschickteste von allen ihren Alternativen. Da, wo es anfängt, ein bisschen freudiger zu werden, etwas angenehmer, machen sie das Dümmste, was sie tun können: Sie greifen, versuchen es festzuhalten und würgen der Freude und dem Glück gerade den Lebenssaft ab. Sie stellen den Hahn ab durch dieses Greifen, durch diese Ichbezogenheit. Da, wo Liebe fließen könnte, kommt ein mächtiges Ich rein: „Ich will! Ich möchte geben! Ich möchte haben! …“ Und schon beginnt die Liebe, sich wie ein scheues Reh zu verziehen. Sie wird dann schwieriger und schwieriger zu spüren. Und da, wo es schwierig wird, reagieren die Lebewesen mit noch stärkerer Anstrengung, verzweifelt, bis hin zu Ärger und Wut und machen alles immer noch schlimmer. Wir sind Meister darin, schwierige Situationen noch schwieriger zu machen, statt die Qualitäten hineinzubringen und die schwierigen Situationen wieder zum Guten zu wenden. Wir haben andere Möglichkeiten, aber ergreifen eigentlich fast automatisch die Möglichkeit, die uns aus der ichbezogenen Perspektive als die richtige erscheint, und haben nicht die „WirPerspektive“. Wir sprechen nicht vom klassischen Altruismus, sondern über die Wir-Perspektive, sie ist nicht nur auf den anderen bezogen, sondern auf die Gesamtsituation. Die altruistische Perspektive wird dann manchmal auch gewählt, aber man neigt meist dazu, sich selbst zu vergessen, sich selbst irgendwie aus der Situation abzusondern. Man gibt Liebe und Mitgefühl in eine Situation hinein, aber ohne sich selbst auf eine gute, natürliche Art voll und ganz einzubeziehen. Und das ist nicht das Bodhisattva-Gelübde. Es ist diese WirPerspektive, in der wir aus einem tiefen Gefühl des Verbundenseins – im selben Boot zu sitzen, aufeinander angewiesen zu sein, einander zu brauchen, einander unterstützen zu wollen – handeln. Aus diesem WirGefühl heraus zu handeln, schafft richtig gute, neue Situationen. Da sind wir anders, andere beginnen, anders zu reagieren. Wo sich dieses Wir-Gefühl ausbreitet, da entsteht größtmögliches Glück für alle im Rahmen der Möglichkeiten dieser Situation. Darum geht es im Bodhisattva-Gelübde, zu sagen: „Ja, ich bringe mich ein ins Wir! Das ist mein Geschenk.“ Mein Geschenk ist, den Ich-Standpunkt zu verlassen und auch nicht den altruistischen anderen Standpunkt einzunehmen, sondern ins Wir zu gehen, in der Verbundenheit zu bleiben, authentisch da drin zu sein. Und das bis ans Ende der Welt, ohne mich zurück zu halten. Das versprechen wir mit der zweiten Hälfte des Zufluchts-Gebetes. Kommentar: So rufen wir mit starkem… … zum Wohle der Wesen Buddhaschaft verwirklichen. Im Praxistext steht dieser Satz ein klein wenig anders: Mögen wir durch die heilsame Kraft von Freigebigkeit und der anderen…

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Befreiende Qualitäten Paramitas sind diese befreienden Qualitäten, diese erwachten Qualitäten. Freigebigkeit ist die erste Qualität in einer Liste von traditionell sechs oder zehn Qualitäten – Freigebigkeit, heilsames Verhalten, Geduld, freudige Ausdauer, meditative Stabilität und Weisheit. Und sie alle entspringen dem Mitgefühl und der Liebe, das ist die Wurzel und wird hier nicht noch einmal extra erklärt. Diese befreienden Qualitäten, die jenseits führen, die hinüber führen aus dem Ozean des Leidens – paramita ist das, was hinüber führt –, stehen stellvertretend für alle Qualitäten, die ihr gerade im Bewusstsein habt. Ich hatte z.B. heute Mut und Einfachheit in meinem Bewusstsein als zwei Qualitäten, die mich gerade ansprechen. Die sind auch darin enthalten. Einfachheit ist z.B. Ausdruck von Weisheit, aber zieht sich durch alles andere hindurch, durch die Freigebigkeit, durch heilsames Verhalten, Geduld. Mut hat tatsächlich mit freudiger Ausdauer zu tun, aber auch mit Loslassen von Ichbezogenheit. Das waren heute meine Qualitäten. Wer mag, kann seine Qualitäten herausrufen: Wachheit – das ist Ausdruck von freudiger Ausdauer und meditativer Stabilität. Irgendwo hab ich Geduld gehört, das war schon in der Liste. Vertrauen – ja, Vertrauen ist eigentlich ein Ausdruck von Weisheit. Offenheit – hat viel mit den letzten beiden, aber eigentlich mit allen zu tun. Offenheit zieht sich durch alle befreienden Qualitäten hindurch. Humor – genau, wo bleiben wir denn ohne Humor! Der ist ganz wichtig. Sanftheit – klar, eine weitere Qualität, die mit Liebe, Mitgefühl und allen anderen zu tun hat. Wenn jemand ‚Sanftheit‘ sagt, könnte jemand anders auch sagen ‚klares und erbarmungsloses Leben der Qualitäten‘. Es könnte also auch genau der andere Aspekt sein, und wäre genauso wahr. Aber es wäre nicht ein erbarmungsloses Aufräumen mit den eigenen Mustern. Es ist sanft in der Anwendung, aber radikal in der Art, wie es an die Wurzeln geht. Da dürfen wir uns nicht ausbremsen lassen durch eine allzu sanft-sentimentale Version der befreienden Qualitäten. Tatkraft, Respekt. All diese Qualitäten gehören dazu, wenn wir im Zufluchtsgebet sagen: „Freigebigkeit usw.“ Da ist Raum für unsere Qualitäten, die uns am Herzen liegen. Die können wir sogar laut sagen, wenn wir die Praxis machen. Wir wiederholen… … in völliger Klarheit. Und dann die Auflösung der Zuflucht: Von Lama Avalokiteśvaras Körper… … Wesensstrom segnet. Eigentlich müssten wir uns in unserem Praxistext markieren, dass wir am Schluss dieser Zuflucht nicht einfach gleich weiter singen, sondern ein bisschen innehalten. – Vielleicht könnt ihr das so machen, wenn ihr die Praxis anleitet. Gebt einfach ein bisschen Zeit dafür, dass das bewusst wird. Fragen der Teilnehmer/-innen Teilnehmer/-in: Was bedeutet das Sehnen im Kommentar? Sehnen ist ein Streben darnach, diese Qualitäten voll und ganz zu verkörpern und den Segen auch zu spüren, dass wir den Mut haben, das zu sein und ganz in dieses Selbstvertrauen hinein zu gehen. Ein Sehnen nach dem Erwachen eigentlich; ein Sehnen auch, alle Lebewesen befreit von Leid zu sehen, erwacht zu sehen. Teilnehmer/-in: „Ungekünstelt“ ist ja am Anfang nicht möglich oder schwierig? Sagen wir doch einmal herzgefühlt, mit echtem, aufrichtigem Sehnen, Streben, oder mit Hingabe, mit einer wirklichen Inspiration im Herzen. Da werden wir dann einen Weg gehen damit, aber passen wir ein bisschen auf, dass wir uns nichts vormachen, sondern da bleiben, wo wir tatsächlich sind, und das, was wir spüren können, als eine echte Inspiration benutzen. Es geht gar nicht darum, das Gefühl haben zu müssen, die großen Retter der Menschheit oder aller Lebewesen sein zu wollen, sondern vielleicht so, wie Meister Eckhart das so schön sagt: Die wichtigste Person ist immer die, die gerade vor mir ist. Der wichtigste Moment ist das Jetzt und die wichtigste Handlung ist die Liebe. Also sich einfach dazu zu verpflichten und sich zu sagen: „Genau das, ich werde jede Situation nutzen, um das umzusetzen! Ich mache mir keine Gedanken darüber, wie viele Lebewesen es gibt, wie viele es zu retten gibt. Es ist immer einfach eine Situation nach der anderen!“ Oder wie Mutter Theresa sagte. Sie wurde darauf angesprochen, wie sie denn solch ein großartiges Werk hätte vollbringen können, und sagte: „Ja, ich habe einmal einen Menschen von

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der Straße geholt, und dann habe ich wieder einen Menschen aus der Straße geholt. Ich habe nie 40.000 Menschen von der Straße geholt, sondern immer nur einen nach dem anderen.“ Das ist doch realistisch, oder? Wir können es doch so sagen: eine Situation nach der anderen. Immer da, wo wir gerade sind, das ist der wichtige Moment. Wer sind die wichtigen Personen? Die, mit denen wir gerade zusammen sind. Und was ist das Wichtige zu tun? Die Liebe zu leben, also dieses Gewahrsein, das all dies beinhaltet. Dieser Spruch von Meister Eckhart hängt schon jahrelang in meinem Zimmer. Ich finde, er drückt das Bodhisattva-Gelübde so richtig gut aus, denn alles andere übersteigt unsere Vorstellungen. Es ist auch gut, wenn es die Vorstellungen übersteigt oder sprengt, aber eigentlich geht es immer um die, die uns in den Sinn kommen, in Hörweite sind, wo unser Blick hingeht, wo wir direkt Kontakt haben – also die Situation, die sich uns präsentiert.

Vorstellungen – Visualisation Die Vajrayana-Praxis lebt davon, dass wir uns voll und ganz einlassen, dass wir uns auf diese Vorstellungen so einlassen, als wären sie wirklich. Wir benutzen den normalen Prozess der Vorstellung und Einbildung, dem wir sonst so unterliegen, um uns diesmal auf etwas Heilsames einzulassen. Wir glauben unseren Vorstellungen die ganze Zeit, nur durchschauen wir sie nicht. Wir finden jemanden fürchterlich: „Der ist fürchterlich, basta!“ Wir lieben jemanden und der oder diejenige ist einfach fantastisch, unglaublich und kommt uns vor wie…, hat unglaubliche Qualitäten. Wir glauben, das ist so. Irgendwann wachen wir auf, wir entdecken den, den wir so fürchterlich fanden als ganz normalen, ganz netten Menschen und die, in die wir verliebt waren: „Ja, ganz normale Menschen!“ – Im besten Fall. Wir glauben unseren Vorstellungen, wir gehen unseren Vorstellungen ständig auf den Leim – ob das Vorstellungen von Wut und Ärger sind, wo wir jemanden fürchterlich finden oder Vorstellungen von Verliebtheit, wo wir jemanden wunderbar finden. Und hoffentlich korrigieren wir allmählich unsere Vorstellung und kommen zu einer realistischeren Einstellung, Einschätzung der Situation. Aber was ist realistisch? Ist es die Mitte zwischen Verliebtsein und Fürchterlich-Finden? Nein, es ist nicht so eine Grauzone. Realistisch ist, zu verstehen, dass alles, was wir uns vorstellen, nicht der Wirklichkeit entspricht, dass Vorstellungen nicht die Wirklichkeit sind; aber dass wir in Schwingung geraten durch die Art, wie wir mit Vorstellungen um gehen. Wenn wir uns so auf auf diese Visualisation einlassen, die wir gerade besprochen haben, als wäre Tschenresi wirklich vor uns, dann erleben wir all die inneren Reaktionen, als würden wir einem Buddha begegnen. Wir erleben all das in uns. Genauso, wie wenn wir in einem Traum für ganz, ganz wirklich halten, dass dieses und jenes uns gerade passiert und wir alle Reaktionen erleben. Vajrayana lebt davon, dass wir diese Fähigkeit, uns voll und ganz einzulassen, nutzen. Wir lassen uns auf etwas Heilsames ein, wodurch in uns die heilsamsten Seiten, Kräfte unseres Wesens, berührt werden, und lösen dann die Vorstellung auf – immer dann, wenn es am schönsten ist. Ja, genau darum geht‘s. Immer dann, wenn wir angeregt sind: Auflösung der ganzen Situation, verschmelzen und ruhen in dem, was dann ist, wenn alle Vorstellungen enden. Das hilft uns, den Prozess der Vorstellungen, der Projektionen mit der Zeit zu durchschauen. Wir sind ständig in Vorstellungen, wir schauen einander an und haben Vorstellungen. Wir meinen, etwas zu spüren, zu erahnen – wir haben Vorstellungen über den anderen. Naja, und wenn sich die Gelegenheit ergibt, dann können wir vielleicht mit dem anderen sprechen und hören über dessen Vorstellung über sich selbst, was er oder sie über sich selbst denkt. Wir können das mit unseren Vorstellungen irgendwie zusammen bringen, es entsteht eine neue Vorstellung, die sich aus den Vorstellungen von beiden nährt, aber was ist, das können wir eigentlich nur im offenen, direkten Sein erfahren. Wenn uns jemand erzählt, was er oder sie für eine Sichtweise über sich selber hat, glaubt ihr ihm? – Mal ist die total negativ gezeichnet, das können wir nicht glauben. Mal ist sie positiv überzeichnet, mal ist es ein so dichotomisches Denken in Gegensätzen, dass man irgendwo gar keine Mitte erspüren kann. Es ist sehr schwer, die Vorstellungen, die jemand über sich selber hat, für wahr zu halten.

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Meistens ist es so, dass Menschen sich selber gar nicht wirklich kennen. Sie sind zum Teil mit ihren Problemen so identifiziert, dass sie meinen, das Problem zu sein. Das sind sie nicht. Dann gibt es welche, die meinen, Buddhas zu sein. Das stimmt auch nicht. Sie sind auch nicht halb Buddhas und halb Problem. Sie sind mal Buddhas und mal Problem. Es wechselt, es ist ein ständiger Wandel. Wir versuchen, mit unseren Vorstellungen irgendwie so eine Linie reinzukriegen, etwas Konstantes, aber tatsächlich sind wir alle Prozess. Und in diesem Prozess des Seins geht es drum, welche Kräfte da wirken. Wirken da jetzt die heilsamen Kräfte oder die verwirrenden Kräfte, die problematisierenden Kräfte? Was springt denn an? Wir nutzen in diesem Prozess des Seins heilsame Vorstellungen, um den heilsamen Kräften in uns eine Chance zu geben. Denn wir brauchen nicht das Problem zu sein. Wir sind nicht verpflichtet dazu, wir können auch aussteigen. Wir brauchen uns auch nicht vorzustellen, Buddha zu sein, auch da steigen wir dann rechtzeitig aus. Die Vorstellung der Zuflucht, das Empfangen des Segens, Verschmelzen des Segens mit uns, das Licht, dann sehr angerührt sein und dann loslassen, hinterlässt uns in einem recht entspannten, natür lichen Zustand, dass wir ein wenig Ahnung von unserem grundlegendem Sein bekommen. Und je unge künstelter, unverfälschter wir sind, je gelöster, offener, desto mehr kommt von unserem natürlichen Sein zum Vorschein. Man könnte sagen, die-, derjenige sind wir. Aber auch das ist Prozess. Auch da ist nichts Festes, ein ständiges Wirken von Kräften. Und dieses freie, harmonische Spiel der Kräfte in uns wird freigesetzt, befreit mithilfe dieser Methoden, zu denen diese Visualisationen und die Mantrapraxis des Vajrayana gehören. Man kann auch andere Methoden nutzen, aber es geht darum, dieses natürliche Sein freizusetzen. Wir alle haben eine Ahnung von der-, demjenigen, die oder der wir sein könnten. Ich habe eine Ahnung, wie ich bin, wenn ich ganz frei bin, ganz gelöst; offen, ohne Angst. Wir haben so eine Ahnung, und diese Ahnung ist unsere Verbindung mit diesen innersten Qualitäten. Wir erinnern uns an Momente, wo wir schon einmal ungefähr so waren. Das gab‘s schon einmal. Oder zumindest waren wir in unserem freien Fließen, und das ist unsere Leitlinie, da geht‘s lang. Die Vajrayana-Praktiken sollen uns helfen, das freizusetzen. Wie mutig wir dann sind – wie gewahr, wie locker, wie humorvoll, wie kraftvoll, wie entspannt, gar keine Frage überhaupt mit Geduld, die kommt von selbst. Geduld ist einfach da, wenn Raum da ist –, es kommt drauf an, wie weit das Herz sein kann. Das sind unsere Ahnungen von unserem eigenen erwachten Sein. Die schauen wir uns im Spiegel an – Tschenresi –, holen sie wieder nach Hause, die Vorstellungen werden wieder aufgelöst, und von daher kann man überhaupt mit einem gewissen Recht sagen, dass das, was wir da sehen – Tschenresi –, wirklicher ist als alle anderen Vorstellungen über uns selbst. Es ist näher an der Wirklichkeit, weil es unsere grundlegenden Qualitäten spiegelt, die in uns immer sein werden, wenn wir uns entspannen und öffnen. Alles andere fällt ab, aber diese Qualitäten kommen zum Vorschein, die sind durch nichts erzeugt. Deswegen kann man sagen, dass diese Schau, auf die wir uns einlassen, wenn wir mit dem Vajrayana praktizieren, näher an der Wirklichkeit ist als die anderen Vorstellungen. Weil sie in die Nähe dessen kommen, was sein wird, wenn wir befreit sind, wenn wir erwacht sind.

Die drei Arten Vertrauen Inspiriertes, sehnendes und überzeugtes Vertrauen. Im Kommentar heißt es Vertrauen, Sehnen und Überzeugung. Das sind drei Aspekte des Vertrauens, mit denen wir Zuflucht nehmen. Vertrauen in das Erwachen, uns tragen und schützen zu können. Das Sehnen, voll und ganz in diesen Schutz einzutreten und die Überzeugung, dass es tatsächlich so ist. Ihr findet diese drei Aspekte des Vertrauens in allen buddhistischen Erklärungen über Vertrauen wieder – bei Gampopa im Kapitel über den kostbaren Menschenkörper. Das sind drei Aspekte des Vertrauens, die uns ausrichten. Das strebende Vertrauen entsteht dadurch, dass wir etwas erfahren, was zu einer Überzeugung führt, und es ist die Inspiration, ein Vertrauen, dass – ohne dass wir wirklich wissen, wo es herkommt – eine Inspiration in uns frei wird, ein Gefühl: Genau da geht‘s lang. Diese drei Kräfte, drei Aspekte des Vertraues sollten im Zufluchtnehmen aktiv sein, sodass es zu einem kompletten Zufluchtnehmen kommt. Wenn wir Tschenresi visualisieren oder Tara, welchen Buddha auch immer, geht davon eine Inspiration aus, die zu einem Streben führt. Dieses Streben führt uns hinein in diese Qualitäten, bis wir erfahren können, dass es zu einer Gewissheit, zu einer Überzeugung kommt, dass es so ist.

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Was das Bodhicitta angeht, so stecken in diesem Satz „Möge ich durch die Verdienste von Freigebigkeit und der anderen Paramitas zum Wohle der Wesen Buddhaschaft verwirklichen“ zwei Versprechen. Man nennt sie das Versprechen gegenüber der Frucht und das Versprechen in Bezug auf die Ursache. Das Versprechen in Bezug auf die Frucht ist: Ich werde Buddhaschaft erlangen. Das ist die Ausrichtung auf die Frucht des ganzen Weges. Und das Versprechen in Hinblick auf die Ursache ist: Ich werde praktizieren, und zwar die befreienden Qualitäten; angefangen bei Freigebigkeit, werde ich all die befreienden Qualitäten praktizieren und so die Ursache kultivieren, aus der dann zwangsläufig sich die Frucht ergibt. Es reicht nicht, sich nur auf die Ursache zu beziehen, also nur die befreienden Qualitäten zu praktizieren, man muss ihnen auch eine Ausrichtung geben; sich sagen „Okay, und da geht‘s lang!“, in Richtung auf vollständiges Erwachen. Es reicht nicht, nur zu sagen „Ich möchte Buddhaschaft verwirklichen und dazu verpflichte ich mich!“ und sich nicht den Ursachen zu verpflichten. Es ist so, wie zu sagen „Ja, ich verpflichte mich, dass ganz viele Früchte im Garten wachsen!“, aber nicht konkret zu sagen „Ja, ich werde den Spaten in die Hand nehmen, den Samen kaufen und dann alles tun, was notwendig ist.“ Ich brauche beides.

2. Die Meditation auf die Gottheit Gottheit ist im Tibetischen lha. Wir haben den Ausdruck „Gottheit“ beibehalten. Eigentlich würde ich lha lieber mit „Buddha-Aspekt“ übersetzen, „Buddha-Formen“ oder „Ausstrahlungen des erwachten Geistes“. In unserer Kultur löst das Wort „Gottheit“ direkt Assoziationen aus, wie unabhängig existierende Götter, Gottesverehrung und dergleichen. Das ist hier nicht gemeint. Tatsächlich benutzen die Tibeter das Wort lha so, wie wir das Wort „Gott“ benutzen. Aber sie verbinden damit nicht die Vorstellung, dass die Yidams eine unabhängige Existenz hätten, so wie Personen, sondern es sind diese Manifestationen des Erwachens, die immer wieder auftauchen. Wir sprechen einfach von Meditationsgottheiten und wir wissen, dass es unsere eigene Buddhanatur ist, die sich so zeigt. Und diese Buddhanatur zeigt sich in drei Aspekten desselben Seins, als Dharmakaya, Sambhogakaya, Nirmanakaya, den Körpern des Erwachens. Der Dharmakaya ist die grundlegend offene Dimension unseres Seins, das ist der Wahrheitskörper – so wie es wirklich ist, grundlegend offen und dynamisch. Den dynamischen Aspekt nennen wir Sambhogakaya, Freudenkörper. Der Sambhogakaya manifestiert sich aufgrund der Dynamik in verschiedenen Formen in der Welt als Nirmanakaya, als Ausstrahlungskörper. Und wenn wir Yidam-Praktiken mit diesen Visualisationen ausführen, haben wir im Geist immer dieses Verständnis davon, dass in der offenen Dimension unseres Geistes aufgrund der inhärenten Dynamik, der Schöpferkraft, solche Formen entstehen. Diese Formen wandeln sich, sie lösen sich auch wieder auf, dann entstehen wieder neue Formen. Es ist ein ständiges Spiel, in der Offenheit drückt sich die Dynamik aus. Offenheit – Wahrheitskörper, Dynamik – Freudenkörper, drückt sich aus – Ausstrahlungskörper. Mit diesem ständigen Prozess haben wir es zu tun. Er gestaltet sich aufgrund dieser Dynamik, dieser Kräfte, im offenen, nicht-fassbaren Sein in vielen Formen. Wir stellen uns so wie bei der Zufluchtnahme vor… … Stärke aller Buddhas. – Diese Lotusblüte ist weiß. Es gibt auch Kommentare, in denen sie als sechsblättrig beschrieben wird, das spielt keine Rolle. Wir stellen uns einfach vor, dass in die vier Richtungen vier Blütenblätter sind und dazwischen jeweils auch noch ein Blütenblatt. Über jedem von uns ist so eine weiße, voll geöffnete Lotusblüte. Stellt euch das doch gleich einmal vor! – Ihr müsst euch den Vajrayana wirklich lustig machen. Dann habt ihr richtig Spaß dran. Jetzt der nächste Schritt: Legt da noch eine Vollmondscheibe rein. – Jetzt habt ihr schon fast euren Heiligenschein! Immer gleich umsetzen, die Kreativität eures Geistes nutzen, um euch das vorzustellen. Und diese Vollmondscheibe hat zuoberst ein stehendes HRIH. Das könnt ihr euch einfach in unseren lateinischen Buchstaben vorstellen. Wer aber kann, stellt sich das tibetische H RIH vor. Dieses HRIH steht da oben drauf, genauso weiß wie Mond und Lotus. Und dieses H RIH glitzert mit Licht, es funkelt wie eine Perle. Wenn ihr die lateinischen Buchstaben visualisiert, dann hat das H RIH beim „I“ noch einen Punkt drauf, wie so ein Sternchen.

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Diese Keimsilbe HRIH stellt die vereinte Kraft und Stärke aller Buddhas dar, die Herzensstärke, die Herzenskraft, ihre Qualitäten.

Keimsilben Im Vajrayana arbeiten wir ständig mit diesen Keimsilben, die überall vorkommen, z.B. könnte man aus einem PAM den Lotus entstehen lassen, aus einem A die Mondscheibe, aus einem H RIH kommt dann Tschenresi. Immer geht eine Keimsilbe der eigentlichen Manifestation voraus. Das ist wie bei einem Samen, aus dem eine Pflanze kommt. Und das verbindet uns mit dem tiefen Verständnis, dass alles, was je entsteht – auch an Gedanken – aus einem ersten Impuls, aus einem Samen heraus entsteht. Alles hat einen Beginn. Zum Beispiel, dass wir jetzt hier sitzen, ist die Folge davon, dass wir unsere Schritte hierher gelenkt haben, mit Autos, Zug usw. angereist sind, uns irgendwann die Zeit frei gemacht haben, um hierher kommen zu können. Und was war die Keimsilbe dieser Situation? Es war der eine Moment, in dem wir sagten: „Das mache ich!“ Und es wird so einen Moment geben, wo wir hier raus gehen, zu Mittag essen wollen und sagen: „Okay, da gehe ich lang. Dort gehe ich essen. … Das bestelle ich mir.“ Oder: „Das koche ich.“ Wenn wir ein Geschenk für jemanden aussuchen: „Das könnte es sein.“ Dieser erste Impuls, diese erste Idee, aus der dann der ganze Rest folgt, das ist das Prinzip von Keimsilben. Und es hat natürlich auch damit zu tun, dass wir alle aus einer Eizelle entstanden sind. Ja, damit haben wir alle angefangen, winzig klein, funkelnd wie eine Perle. Das hat damit auch zu tun, und dass wir dieses Entstehen aus einer Keimzelle – einem Samen und einer Eizelle zusammen –, diesen Entstehungsprozess beginnen zu durchdringen mit unserem Gewahrsein. Und wenn man das beginnt zu durchdringen, dann kann man diese Entstehungsprozesse auch wieder zurück nehmen, auflösen – auch interessant. Wenn wir mitbekommen, wo der erste Impulsgedanke entsteht, wenn wir gewahr sind, dann brauchen wir ihm gar nicht unbedingt zu folgen. Wir könnten ihn wieder sich auflösen lassen. Manchmal sind wir ja am Kühlschrank gelandet, bevor wir gemerkt haben, was wir gedacht haben, oder wir haben schon etwas in den Mund gesteckt, ohne bemerkt zu haben, wo eigentlich der Impuls war. Und das üben wir: diese ersten Impulse mitzubekommen. Dort ist es, wo sich unser Handeln entscheidet, da entsteht es eigentlich. Alles andere ist nur noch die Folge davon. Und dieses Wahrnehmen der ersten Impulse, in denen eigentlich schon die ganze Kraft steckt für die Situation, die sich da entwickeln will, das schulen wir. Und im weitesten und vielleicht tiefsten Sinne üben wir damit eine gewisse Fähigkeit, Situationen zu gestalten, inklusive zukünftiger Wiedergeburt, indem wir die Keimzelle nicht mehr als bloßes Impulsgeschehen verstehen, sondern als die Geburt eines Buddha. – Das ist im übertragenen Sinn. Für diejenigen, die sich viel darauf einlassen, bringt dieses Visualisieren, das Entstehen aus einer Keimsilbe und das Zurückverschmelzen in eine Keimsilbe und das Auflösen der Keimsilbe eine unglaubliche Fähigkeit, Impulse zu nutzen oder wieder zu entspannen; in Situationen hineinzugehen oder eben nicht hineinzugehen. Auch im Bardo, in der Zeit nach unserem Tod, wo sich Körper und Geist getrennt haben und der Geist weitergeht: In welche Situation möchte ich hineingehen, welchen Keimzellen möchte ich die Chance geben, sich zu entfalten und wo nicht? Das hat alles mit dieser Keimsilben-Visualisation zu tun. Im Vajrayana üben wir ständig mit solchen Initial zündungen, die zu einer Situation führen können oder halt nicht. Teilnehmer/-in: Aber wer oder was entscheidet sich denn in diesem Moment? Zum Beispiel die Kräfte des Mitgefühls, der Liebe, der Weisheit. In dem Sinn die Samen, die ich vorher schon gelegt habe. Ja, es heißt, dass je gelöster unser Bewusstsein ist, desto weniger entscheidet da das Gefühl von einem Ich, was es will oder nicht will, sondert entscheidet die Notwendigkeit der Situation. Da, wo es gebraucht wird, dass dieser Geistesstrom hineingeht und sich manifestiert, dort wird er sich manifestieren. Es ist also nicht das „Will ich“ oder „Will ich nicht“ aus unserer Perspektive, sondern „Braucht es das?“ oder „Braucht es das nicht?“ Und das ist für einen Erwachten ein recht spontanes Geschehen. Da ist ein so klares Spüren, was eine Situation braucht, dass sich dann dieses Entstehen vollzieht. Als wir Gendün Rinpoche einmal gefragt haben,

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wo er denn wiedergeboren werden würde, was er denn vorhabe, hat er gesagt: „Ich komme dahin zurück, wo ich am meisten gebraucht werde.“ Das haben viele Lehrer so gesagt, aber bei ihm habe ich es direkt erlebt. Teilnehmer/-in: Es heißt doch immer ‚ungeboren‘ oder ‚aus der Leerheit entstanden‘, ist das die Nahtstelle? Das ist die Übergangsstelle, die erste Idee. Der erste Impuls von etwas, wo es aus dem Ungeformten in die Form hinübergeht. In der Auflösung der Keimsilbe – wenn man das in einer strukturierten Visualisation lernt – löst sich die Silbe auf, bis zum Schluss nur noch so ein kleines Zünglein übrigbleibt. Und diese Lichtzunge löst sich auch bis in die Spitze auf – in das, was wir nada nennen – und das beschreibt genau diesen Übergang vom Geformten ins Ungeformte. Alles ist Leerheit, aber es geht dann in die ungeformte Leerheit über, und wenn es aus der offen, ungeformten Leerheit Form annimmt, dann ist das zunächst die allererste Idee. Die Silbe ist dann schon verhältnismäßig wohlgeformt, was das angeht. Ja, um genau diesen Übergang geht es. Ihr könnt das in eurem eigenen Geist nachvollziehen, wenn ihr mitbekommt, wie bei euch Ideen entstehen. Die Idee für eine Reise, die Idee für ein Geschenk, die Idee, etwas zu tun. In diesem ersten Moment, wo es bewusst wird, ist eigentlich schon alles enthalten. Es wird dann nachher nur noch ausgestaltet, es formt sich noch aus. Aber die Richtung, die grundlegende Idee, das Gefühl, das damit einhergeht, die Kraft, die darin steckt, das ist alles schon in diesem ersten Impuls enthalten. Wir können es dann entspannen oder wir können es sich entfalten lassen. Teilnehmer/-in: Ist die Keimsilbe bei jedem Buddha die gleiche? Nein, für jeden Buddha werden jeweils typische Keimsilben verwendet. Bei Tschenresi ist es eigentlich immer – soweit ich weiß – dieses HRIH. Dann gibt es andere, die haben HŪṀ usw. Teilnehmer/-in: Ist das, was du gerade beschrieben hast, diese Dynamik – Sambhogakaya? Genau! Das ist da, wo der Sambhogakaya beginnt, wo er sich zeigt. Die Dynamik, die dann zum Nirmana kaya führt, zur Manifestation. Teilnehmer/-in: Ich möchte bezüglich Visualisation noch etwas klären: Ich habe das jahrelang so gemacht, wie du es beschrieben hast, dass über jedem von uns diese Lotusblüte entsteht mit dem H RIH und dem Tschenresi. Ich habe das so geübt und immer ein bisschen Schwierigkeiten gehabt, ob ich mir das spiegelverkehrt vorstelle oder so, wie ich ein Thangka sehe. Und dann hat mir aber vor ca. einem Jahr Trehor Lama gesagt: „Nein! Das ist nicht so, dass jeder einen Tschenresi über dem Kopf hat, das ist ein großer Tschenresi vor einem.“ Oh, da widerspricht er allen, die wir je dazu gefragt haben. Da hat dir Trehor Lama etwas erzählt, was so nicht stimmt. Karmapa schreibt das hier auch ausführlich. Das müsste ja so ein gewaltiger Tschenresi sein. Es hat tatsächlich jeder seinen eigenen. Du kannst wieder zu deinem ursprünglichen Verständnis zurück kehren. Und das HRIH? Das HRIH steht so, dass es von der linken Seite lesbar ist. Wir denken vielleicht, man setzt sich das H RIH so auf den Kopf, wie man es auf ein Blatt Papier schreibt. Die Silbe H RIH schaut mit der Nase nach vorne. Und das gilt für alle Keimsilben. Wir halten für vorne, was wir so platt betrachten, aber in der Visualisation sind diese Keimsilben wie lebendige Wesen. Die haben ein Vorne und ein Hinten. Die von uns aus gesehen linke Seite ist das Vorne und die von uns aus gesehen rechte Seite ist hinten. So, wie wenn wir ein Wort schreiben, z.B. HRI, dann ist das H vorne und das I hinten. Das Ganze ist dreidimensional, lebendig, vibrierend. Zusammenfassung: Wir üben mit diesen Keimsilben ein Gewahrsein davon, wie sich etwas entfaltet, wie eine Situation sich gestaltet, und auch, wie etwas Geburt annimmt. Wir haben jederzeit die Möglichkeit, das wieder in sich aufzulösen. Diese Fähigkeit beginnen wir zu nutzen, stärker zu entwickeln, um wahrzu nehmen: Wann kommt es zu einer Idee? Folge ich ihr? Lasse ich das sich ganz entfalten? Und dann auch die Fähigkeit, das wieder sich aulösen zu lassen. Das hat auch mit dem Geborenwerden zu tun. Möchte ich in die Situation hineingeboren werden? Manifestiert sich da der neue Lebensraum, entsteht da ein neuer Tschenresi in dieser Situation oder werde ich impulsiv einfach von den Ideen und Impulsen getrieben und gehe in eine

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Situation hinein, obwohl ich das vielleicht gar nicht will. Es geht also darum, die Möglichkeit der Steuerung dieses Geistesstroms zu kultivieren. Teilnehmer/-in: Und ist es auch, gleich zu üben nicht anzuhaften, indem man merkt, wie es kommt und geht? Im Nicht-Anhaften ist die Freiheit ja zu finden. Wir müssen aber auch lernen zu gestalten, ohne anzuhaften. Und jetzt üben wir mit dem Prozess des Entstehenlassens eines Buddha den Prozess eines nichthaftenden Gestaltens. Das gestaltet sich, aber wir lösen es auch wieder auf. Die Fähigkeit des Auflösens stellt uns oft vor größere Probleme als die des Gestaltens, weil wir das so nicht gewöhnt sind. Wir wollen eigentlich nie das, was wir gestaltet haben, wieder auflösen. Wir wollen es immer behalten. Und darum geht es nicht in der Praxis. In der Praxis geht es genau darum, das, was uns jetzt inspiriert, im nächsten Moment schon wieder aufzulösen – spätestens am Ende der Praxis. Teilnehmer/-in: Was ja nicht heißt, dass man es verloren hat, denn man hat es ja erlebt. Genau, und nur das Erleben zählt. Der Rest ist ja nur Vorstellung. Das Erleben zählt, die Auswirkung, die es in uns hervorgebracht hat. Teilnehmer/-in: Aber das ist ja in dem Sinn entstanden, es ist ja ein erlebtes Ding, also ich nehme die Idee dann wieder zurück, vergesse sie sozusagen? Nein, nein! Das, was entstanden ist, ist entstanden. Du kannst dich daran erinnern, aber du brauchst es nicht mehr. Du nimmst es insofern zurück, als es sich nicht weiter ausdehnt. Du kannst z.B. im Traum, wenn du Traum-Yoga machst, merken, wie ein Traum entstehen will. Da will etwas entstehen, und wenn du das in dem Moment merkst, entspannt sich das, es kommt gar nicht dazu im Traum. Das ganze Potential war spürbar und entspannt sich. Oder du hast z.B. Gedanken über Probleme, die dich wie zwanghaft bedrängen. Du merkst, „Ah, jetzt fängt das schon wieder an, dass ich darüber nachdenken möchte!“ Und sobald du das bemerkst, zeigt sich das ganze Potential des Verstricktseins. Und weil du es merkst und dein Gewahrsein reinkommt, sagst du: „Nein, da geht‘s nicht lang!“ Du hast es gemerkt, aber es entspannt sich. Das bedeutet nicht, das wegzumachen, zu vergessen, denn du hast es gemerkt und bist nicht in die Richtung weiterge gangen. Du hast es geschafft, diesen Keim, diesen Beginn, diesen Impuls loszulassen. Das ist eine Flexibilität des Geistes, die wir sehr gut brauchen können. Von der Silbe strömen wie Mondlicht… … in den Erhabenen Avalokiteśvara. Wow, die Silbe ist ganz schön aktiv, nicht? Die Silbe H RIH ist nämlich bereits in der Essenz alles, was Tschenresi darstellen wird. Da ist bereits alles drin. Es ist so, als wäre das Gewahrsein der Buddhas reduziert oder ganz einfach in dieser Keimsilbe drin. Und was macht diese Keimsilbe? Sie ist auf unserem Kopf, strahlt Licht aus, und bringt als erstes Opferungen dar; macht freudvolle Opferungen für Körper, Rede und Geist aller erwachten Mandalas in alle Richtungen des Universums. Super! … erfreuen Körper, Rede und Geist sämtlicher Mandalas der Siegreichen in den zehn Richtungen mit Opfergaben. – Die zehn Richtungen sind Osten, Süden, Westen, Norden, die Zwischen-Himmelsrichtungen, sowie oben und unten – also alle Richtungen. Wo immer im Universum Erwachte weilen, geht dieses Licht hin. Das ist einfach, weil wir nur dran zu denken brauchen. Erinnert euch an gestern, das Licht strahlt aus. Am Ende der Lichtstrahlen passiert etwas: Aus den Lichtstrahlen entstehen wunderbare Blumen, Nahrung, Musik, Opfergöttinnen, Juwelen, alles Mögliche – was euch in den Sinn kommt. Wir üben das jetzt: Übung: Opfergaben aussenden Schickt doch mal durch den Raum einen Lichtstrahl, der direkt vor dem Herzen von jemandem hier im Raum sich in eine wunderbare Rose verwandelt. Die Rosen können auch die Farben wechseln. Schickt euch Rosen durch den Raum – oder andere Blumen, wenn ihr keine Rosen mögt –, Lotusblüten, Enziane, was auch immer. Es ist wunderbar. Schickt euch einen reichen Gabenteller, da ist alles Mögliche. Die Lichtstrahlen sind ja Geist, und dort, wo der Geist hinkommt, hat er die Möglichkeit, sich zu dem zu entfalten, was wir uns vorstellen. Das braucht nicht beim Gabenteller zu bleiben. Das kann unglaublich viel werden, da kann auch

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ein Konzert stattfinden. Da findet Musik statt, da sind Düfte, da sind Geschmäcker, die sich entfalten. Da sind Substanzen, die diese Geschmäcker und Düfte in sich tragen. Da sind Opfergöttinnen – männliche und weibliche –, was den Erwachten, zu denen diese Lichtstrahlen gehen, irgendwie Ausdruck unserer Hingabe sein könnte; unserer Dankbarkeit; unserer Bitte, ihren Segen zu schicken. Ihr könnt da ganz kreativ sein. Es kann Licht sein. Es kann auch einfach Stille sein. Was auch immer ihr möchtet, was auch immer dann Ausdruck dieser Freude, dieser Hingabe und Dankbarkeit ist. Stellt euch doch mal vor, am Ende eurer Lichtstrahlen, die ihr jetzt durch den Raum schickt, ohne zu sagen, wo ihr sie hinschickt, dass da Opfergöttinnen sind. Am Ende der Lichtstrahlen entstehen einfach Opfergöttinnen. Schwupps, schon ist eine da und bringt das dar, was sich diese Person jetzt gerade wünscht. Sie tut das einfach, und sie weiß das. Merkt ihr, wie das die Flexibilität des Geistes nutzt und auch übt und trainiert? Das ist eine unglaublich schöne Fähigkeit, die wir auch im Alltag nutzen können. Ich sehe z.B. jemanden weinen, und die Situation erlaubt es mir gerade nicht, zu dieser Person zu gehen und sie in den Arm zu nehmen. Aber ich kann mir vorstellen, dass am Ende meines Gedanken-Lichtstrahls sich jemand manifestiert, der diese Person genau so in den Arm nimmt, sie genau so begleitet, wie es jetzt gerade nötig wäre, weil es mir die Situation nicht erlaubt, das zu tun. Und weil ich so visualisiere, ist mein Herz genauso gestimmt, als würde ich es tun. Und das ist schon eine Riesenhilfe. Das heißt, ich brauche mir nicht zu sagen: „Ich kann das nicht tun!“ Ich kann es tun, aber leider im Moment nur in der Vorstellung. Und weil ich es in der Vorstellung tue, ist mein Herz so angeregt, als würde ich es tatsächlich tun. Und das ist das Prinzip im Vajrayana, wir stellen uns Handlungen vor, die wir jetzt leider gar nicht ausführen können. Wer hat denn schon einen Buddha zu Hause, dem er gerade Blumen darbringen kann oder eine Mahlzeite richten oder was auch immer. Die ganze Vajrayana-Praxis zielt darauf ab, Situationen um den historischen Buddha herum und um die großen Meister herum nachzubilden. Das sind Visionen, als wären wir tatsächlich in Gegenwart der Erwachten. Wir können das alles jetzt erleben, wenn wir uns darauf ein lassen. Wir können jetzt erleben, wie Buddha Śakyamuni unter einem Baum sitzt: Wir kommen zu ihm, verbeugen uns, bringen ihm vielleicht eine Schale Joghurt dar, die wir aber in unserer Vorstellung unendlich groß machen, dass sie auf jeden Fall sättigt und für ihn und alle seine Jünger und SchülerInnen genug da ist. Das stellen wir uns vor und setzen uns hin, hören die Unterweisungen… Wir können das alles jetzt erleben. Das ist mit diesen Vajrayana-Praktiken gemeint. Wir lassen uns darauf ein, das jetzt so zu erleben, als würde es tatsächlich stattfinden. Teilnehmer/-in: Ich sehe häufig Bilder von Menschen, die unendlich leiden. Dann kann ich ihnen das auch schicken, denn es geht nicht immer, direkt was zu tun. Wenn ich z.B. diese entsetzlichen Bilder im Fernsehen sehe, dann kann ich ihnen doch wirklich meine ganze Liebe und alles, was in dem Moment im Grunde genommen nötig ist, mit diesem Licht schicken. Ja, das wäre jetzt die zweite Phase. Wir haben gelesen, dass das Licht dann auch noch zu allen Lebewesen geht. Wir waren gerade in der ersten Phase, wo es um die Erwachten geht. Wir können das vor dem Fernseher oder wo auch immer wir sind, genauso nutzen. Das ist so eine Erleichterung, weil unser Herz nicht blockiert wird von diesen schockierenden Bildern, wo wir nichts tun können. Aber wir können wenigstens die Herzenswünsche schicken, die Vorstellung, dann befreit sich diese sonst traumatisierende Energie. Sie befreit sich und wir können zumindest in der Vorstellung, mit unseren Gebeten, etwas tun, um auf die Situation zu reagieren. Wir haben also den Buddhas Gaben dargebracht, dann: Die Lichtstrahlen berühren uns und die anderen Lebewesen, wodurch wir von allen körperlichen und geistigen Krankheiten, sowie von sämtlichen schädlichen Handlungen und Schleiern gereinigt werden. – Wir werden also zu Buddhas. Wir werden jetzt schon durch das Licht, das nicht zu den Erwachten geht, sondern alle Lebewesen berührt – uns selber unter dem HRIH und alle um uns herum erfasst – alle werden von dem Licht erfasst, von allem Leid befreit, von aller Enge des Herzens; von all dem, was wir Schleier nennen, und werden zu dem, was wir eigentlich sind. Das Licht durchdringt alle Bereiche der sechs Arten Lebewesen, beseitigt ihr Leid und macht sie glücklich. – Was hier gerade beschrieben ist, nennt man „den doppelten Nutzen ausführen“, den Nutzen für uns selbst

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und den Nutzen für alle Lebewesen. Das Licht aus der Keimsilbe H RIH bewirkt, indem es den Erwachten Opfergaben darbringt und sich mit diesen Qualitäten des Erwachens verbindet, dass der Segen der Erwachten zu uns zurückkommt. Das ist ein großer Nutzen für uns selbst. Das Licht geht aus zu allen Lebewesen und befreit sie, macht sie glücklich, versetzt sie in die Dimension des Erwachens. Das ist der Nutzen für alle Lebewesen. Der gesammelte Segen aller Erhabenen kehrt in Form von Lichtstrahlen zu uns zurück, verschmilzt in die Silbe HRIH auf dem Kopf eines jeden von uns und dadurch verwandelt sie sich augenblicklich in den Erhabenen Avalokiteśvara. – Das heißt, wir sind gerade Zeugen der Geburt eines Buddha. Woraus entsteht ein Buddha? Ein Buddha entsteht dadurch, dass Respekt, Freude, Hingabe, Vertrauen gegenüber allen anderen erwachten Buddhas da sind und so die gesamte Segens-Übertragung einströmen kann, und dass unbegrenzte Liebe und unbegrenztes Mitgefühl für alle Lebewesen da sind, und das Handeln zum Wohle anderer tatsächlich da ist, dass es sich vollzieht – also Bodhicitta. Das führt dazu, dass – wenn die SegensStrahlen zurückkommen – Avalokiteśvara entsteht. Dieses doppelte Ausstrahlen von Licht bewirkt dann die Geburt eines Buddha. Und was führt dazu, dass Buddhaschaft verwirklicht wird, dass vollkommenes Erwachen verwirklicht wird? Vollkommene Offenheit gegenüber den Quellen des Dharma – da, wo hilfreiche Instruktionen herkommen, Segen inspirierende Vorbilder – und vollständige Offenheit gegenüber allen Lebewesen; echte Liebe, echtes Mitgefühl, tief aktiv werden. Tatsächlich etwas tun, um Leid zu mindern und Glück zu finden. Diese doppelte vollständige Offenheit führt dazu, dass die Bedingungen entstehen, dass sich unser Sein als Buddha manifestieren kann. Und so haben wir jetzt unseren Tschenresi auf dem Kopf. *** Nun hören wir im Kommentar die Beschreibung davon, wie Tschenresi aussieht. Ihr erinnert euch: Lotus über dem Kopf, Mondscheibe, HRIH, ausstrahlendes Licht zu allen Erwachten, ausstrahlendes Licht zu allen Lebewesen, das Licht kommt zurück und Tschenresi erscheint. Das Weiß seines Körpers… … und lässt alle wahre Freude erfahren. Wieder die gleiche Geschichte, der doppelte Nutzen. Die eine Aktivität zu den Erwachten und die andere Aktivität zu allen Lebewesen – sofort; kaum, dass Tschenresi erscheint, geht die Aktivität weiter, die wir schon in der Keimsilbe wahrgenommen haben. Voller Zuneigung betrachtet… … wie eine Mutter für ihr einziges Kind. ‚Alles Geschehen‘ bezieht sich auf die Vorgeschichte von jedem Lebewesen, alle vorhergehenden Leben, was jetzt erfahren wird, was daraus in Zukunft entstehen wird. ‚Fürsorge einer Mutter für ihr einziges Kind‘ soll die stärkste Form der Fürsorge ausdrücken, die man nur erleben kann. Eine Mutter, die vielleicht zwar gerne viele Kinder hätte, der aber nur ein einziges Kind geschenkt wurde und die all ihre Fürsorge auf dieses Kind richtet – ohne es besitzen zu wollen. Er hat vier Arme. Das bedeutet, dass an jeder Schulter zwei Arme herauskommen. Die Hände der beiden oberen – die oben aus den Schultern kommen – sind auf Höhe des Herzens… … Sein Beinkleid ist aus roter Seide. – Ihr müsst euch das so vorstellen, als wäre Tschenresi gekleidet wie ein Maharadja in Indien. Die Kleidung ist ganz leicht, weil es so heiß ist, es sind Seidengewänder, aber wunderschön verziert. Das ist dem Habitus der indischen Prinzen nachempfunden und drückt einen Reichtum an Qualitäten aus. Die Symbolik von dieser reich bestickten Kleidung – übrigens alles aus Licht, kein echter Stoff – stellt den Reichtum an erwachten Qualitäten dar. Er trägt eine Krone… … mit vielen göttlichen Juwelen verziert ist. Was hier ‚Krone‘ genannt wird, ist ein Stirnreif mit fünf großen Juwelen, die für die fünf Buddha-Familien stehen, und der mit vielen, vielen kleinen Juwelen noch verziert ist. Seinen Körper ziert… … Er vereinigt in sich die Essenz aller Quellen der Zuflucht. Diese Passage aus dem Praxistext ist eine Zusammenfassung. Der Kommentar führt das, was im Praxistext steht, etwas ausführlicher aus.

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Wir lesen diese Passage langsam und sorgfältig und visualisieren dabei deutlich die jeweiligen Aspekte seiner Erscheinung. Das hier ist die Hauptpraxis dieser kleinen Tschenresi-Praxis, über sich Tschenresi deutlich zu visualisieren. Später werden wir auch selber zu Tschenresi werden. Aber es geht jetzt darum, mit dieser Visualisation vertraut zu werden. Ein wesentlicher Teil der Übertragung besteht darin, euch die Symbolik zu erklären, die Bedeutung von all dem, was hier praktiziert wird. Das ist so wie das Herz der Erklärungen. Was ich euch jetzt gebe, sind die Worte von Gendün Rinpoche, die ich mir notiert habe. Sie sind Teil einer jeden Über tragung. Wir geben sie so weiter, wie wir sie empfangen haben.

Symbolik – Erklärungen von Gendün Rinpoche Der weiße Lotus steht für das Mitgefühl aller Buddhas. Das ist der Lotus, auf dem Tschenresi sitzt, über unserem Kopf. Da ist noch eine Mondscheibe als Kissen dazwischen. Die Mondscheibe steht für die geschickten Mittel des Mitgefühls. Das HRIH selbst ist die Essenz von Tschenresis Geist. Die Silbe H RIH verwandelt sich in Tschenresi. Die Form von Tschenresi ist völlig transparent, wie ein Regenbogen – klar und deutlich und ohne Substanz. Dieser Lichtkörper, Weisheitskörper, steht für die Einheit von Manifestation und Leerheit, Erscheinungen und Leerheit, also von Wahrnehmungen und ihrer gleichzeitigen substanzlosen Natur; dass alles, was in unserem Geist erscheint, keine Substanz hat, nicht fassbar ist. Vielleicht fragt ihr euch, was Tschenresi heißt. Das sig am Ende heißt „sehen“. Das „g“ wird im Tibetischen nicht ausgesprochen. Tschen sind die Augen; klar: mit den Augen sehen. Und wie wird gesehen? Da ist diese Silbe rä. Diese Silbe ist etymologisch zurückzuführen – jetzt seid ihr vielleicht überrascht – nicht auf „mit Mitgefühl sehen“, sondern auf „mit den Augen der Weisheit sehen“. Das bedeutet tschen-rä-sigs. Es ist diese Weisheit, die erkennt, woher das Leiden kommt und wie wahres Erwachen zu verwirklichen ist; also wie es zur Befreiung kommt. Diese Weisheit ist gemeint, und die ist mitfühlend; es ist eine mitfühlende Weisheit. Er schaut mitfühlend herab zu uns, es ist ein etwas gesenkter Blick, denn er ist ja über uns und schaut auf uns. Das ist Ausdruck dieses panoramischen Gewahrseins aller Buddhas, das das Befinden aller Lebewesen im Blick hat. Tschenresi hat nur einen Kopf, nur ein Gesicht im Unterschied zu anderen Buddha-Aspekten, die zum Teil mehrere Köpfe haben. Und dieses eine Gesicht steht für den Dharmakaya, für den Wahrheitskörper, die eine grundlegende Natur des Seins. Er hat vier Arme mit vier Händen, die stehen zusammen für die Vier Unermesslichen Qualitäten, die berühmten Brahmaviharas. Es sind diese vier Qualitäten, die der Buddha empfahl als Eintrittspforte ins Erwachen und auch so praktizierte. Das sind Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut. Diese vier werden in allen buddhistischen Traditionen intensiv praktiziert und sind die Grundlage des Bodhicittas. Der Gleichmut steht hier in diesem Zusammenhang für Weisheit; die weise Gelassenheit, kein stoischer Gleichmut, sondern eine weise Gelöstheit des Geistes. Eine andere Erklärung der vier Arme sagt, sie stehen für die vier Aktivitäten des Erwachens, dass Tschenresi mit seinen vier Armen die befriedende Aktivität, die vermehrende Aktivität ausführen kann, die ersten beiden. Die dritte ist die kontrollierende, magnetisierende, kraftvolle Aktivität und die vierte, die – man kann sagen – erbarmungslose, kraftvolle, zerstörerische Aktivität, die gnadenlos mit allem Schädlichen aufräumt. Dieses dragpo, was hier auf Tibetisch steht, bedeutet „heftig“. Das wäre eine gute Übersetzung, es ist eine heftige Aktivität, die keinen Widerstand duldet. Sie wird normalerweise nicht eingesetzt, aber es tut uns vielleicht gut zu wissen, dass Tschenresi kein „Softi“ ist. Tschenresi trägt diese geballte Ladung an Kraft. Aber die meisten Situationen brauchen nur die ersten beiden Aktivitäten, die befriedende und die Qualitäten stimulierende, die vermehrende Aktivität: Befrieden der Emotionen und Stimulieren der Qualitäten. Damit lässt sich eigentlich fast jede Situation bewältigen. Die kontrollierende ist eine Qualität der Erwachten, wo sie aufgrund ihres Samadhis eine solch starke Präsenz manifestieren können, dass sie den Geistesstrom aller anderen Anwesenden wie in ihren Bann ziehen und aus ihrer Negativität herausholen. Sie kontrollieren den momentanen Geisteszustand der Lebewesen. Das ist normalerweise nicht nötig.

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Es strahlt fünffarbiges Licht aus, das steht für die fünf Facetten des zeitlosen Gewahrseins. Da haben wir das spiegelgleiche Gewahrsein. Was ist das Charakteristikum des spiegelgleichen Gewahrseins? – dass es ungehindert alles spiegelt – Ja, ungehinderte Manifestation. Unser Geist ist wie ein Spiegel, wo das, was eben auf der einen Seite erscheint, reflektiert wird, und kaum wende ich den Spiegel, wird alles gezeigt, was auf der anderen Seite ist. Nichts von dem, was eben noch zu sehen war, stört das, was als Nächstes zu sehen ist. Diese Qualität unseres Geistes, dass nichts, was auftaucht, das Erscheinen des Nächsten behindert, das nennen wir die „spiegelgleiche“ Qualität unseres Gewahrseins. Dann haben wir das Gewahrsein der Gleichheit oder Gleichwertigkeit. Was ist damit gemeint? – unvoreingenommenes Betrachten von dem, was erscheint – Das reicht noch nicht aus. Was wird erkannt in diesem unvoreingenommenen Betrachten? Es wird die Gleichheit aller Erscheinungen in ihrer Leerheit erkannt. Alles ist nicht-fassbar. Ob es visuelle Eindrücke sind, ob es Höreindrücke sind, ob es Gedanken sind, nichts hat Substanz. In dem Moment des Entstehens vergeht es schon wieder. Nichts hat Substanz, und das nennt man die Leerheit. Darin ist sich alles Erleben gleich. Alles, was im Geist auftaucht – im Geist, Gewahrsein –, hat diese Qualität, keine Substanz zu haben. Diese substanzlose, nicht-fassbare Natur, dessen gewahr zu sein, ist der zweite Aspekt des Gewahrseins. Jetzt kommen wir zu dem all-unterscheidenden Gewahrsein. Das ist die Fähigkeit des Geistes, jede geringste Nuance unterscheiden zu können. Feinste Unterschiede trotz ihrer Gleichheit – sie sind essentiell gleich, nicht fassbar –, aber alles wird fein differenziert wahrgenommen. Dann gibt es in diesem erwachten Gewahrsein noch eine vierte Facette, das all-vollendende Gewahrsein. Das ist der all-vollendende Aspekt des erwachten Gewahrseins, weil im erwachten Gewahrsein ein tiefes Wissen davon entsteht, dass die Situation, so wie jetzt gerade ist, in sich alle Merkmale des Erwachens trägt. Sie ist vollendet, sie ist perfekt. Wir brauchen ihr nichts hinzuzufügen, wir brauchen sie nicht besser zu machen, wir brauchen nichts wegzunehmen. Dieses Wissen darum, dasss die Situation, so wie sie jetzt ist, perfekt ist, um zu erwachen, das ist der vierte Aspekt des erwachten Gewahrseins. Den fünften Aspekt nennen wir Dharmadhatu-Gewahrsein, das Gewahrsein des Raumes der Phänomene. Das ist das Gewahrsein von der Weite des Geistes, der grenzenlosen, weiten, offenen Natur des Geistes. Raum voller Potentialität, Möglichkeit des Erscheinens, aber offen, ungestaltet. Das ist das fünffarbige Licht. In der Reihenfolge der Symbolik, wie ich sie erklärt habe: weiß, gelb, rot, grün und blau. Und die anderen Farben des Regenbogens sind auch dabei, denn das Licht vermischt sich ja auch. Es mischt sich und führt zu allen Schattierungen. Aber es sind diese fünf Farben dabei als Ausdruck dieser fünf Aspekte oder Facetten des erwachten Gewahrseins. Tschenresi hat die beiden ersten Hände zusammengelegt, das ist die Gebetsmudra. Diese Gebetsmudra steht dafür, dass Tschenresi unaufhörlich für das Wohl aller Lebewesen betet oder sein Bewusstsein in diese Richtung geht. Er betet unaufhörlich. Und er hält in diesen beiden betenden Händen ein Juwel. Da schimmert so etwas Blaues zwischen den Händen durch, dieses Juwel wird das wunscherfüllende Juwel genannt und steht für unseren eigenen Geist. Es ist die Lösung, die Antwort auf unser Beten. Die Lösung besteht darin, jeden von uns, jedes Lebewesen mit der Natur des eigenen Geistes vertraut zu machen. Mit der Natur des eigenen Geistes vertraut zu werden, ist das wuscherfüllende Juwel. Darin finden wir die Erfüllung unserer Wünsche nach Glück und Freisein von Leid. Das Erwachen findet statt dank des Eintretens in die Natur des eigenen Geistes, damit vertraut zu werden. Stellt euch jetzt vor, ihr seid Tschenresi. Wir wünschen uns innig, frei zu sein von Leid und glücklich. Und wir beten. Die Symbolik ist unglaublich stark. Wir entdecken, dass wir die Erfüllung unserer Wünsche ja schon in der Hand halten. Wir haben es ja in der Hand. Der Ort, an dem die Erfüllung unserer Wünsche stattfindet, ist der eigene Geist, das eigene Gewahrsein. – Das ist unglaublich stark. Er hält in der rechten Hand eine Mala. Auf den Thangkas wird der Rosenkranz in der rechten Hand oft als eine Acht dargestellt, als eine Schleife. Diese Mala steht dafür, dass Tschenresi mit Mitgefühl aller Lebewesen gewahr ist und sie aus Samsara heraus zu sich zieht. Er dreht die Mala ständig und die Perlen, die durch seine Hand gleiten, stehen für die Lebewesen, die er aus Samsara befreit. Es ist eine ständige Aktivität zum Wohle der Lebewesen. Wundert ihr euch, warum er die Mala rechts hält? Wir halten die Mala doch meistens links. Das hat damit zu tun, dass diese Praxis zum Kriya-Tantra gehört, wo die Mala rechts gehalten wird. Und in den Praktiken, die die Geisteshaltungen im Tibetischen Buddhismus dominieren, wird die Mala links gehalten – sie stammen aus dem Anuttarayoga-Tantra. Das hat damit zu tun, dass im Anuttarayoga-

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Tantra ganz gezielt mit irrigen Vorstellungen aufgeräumt wird. Noch heute ist es in Indien unmöglich, jeman dem die linke Hand zu geben oder mit der linken Hand zu essen, weil es die linke Hand ist, mit der man sich nach der Toilette reinigt. Drum ist die linke Hand „unsauber.“ Und was machen die Vajrayana-Buddhisten? Sie nehmen mal gleich das Heiligste, was sie haben, ihre Mala, in die linke Hand. – Ich habe gerade eine Praxis-Instruktion einer anderen Praxis übersetzt, wo es heißt, dass die Adepten dieses Yidams die Mahlzeit mit der linken Hand beginnen. Das ist also völlig indiskutabel. Euren Reis mit der linken Hand zu nehmen und zu essen oder jemandem mit der linken Hand ein Geschenk anzubieten, ist eine Beleidigung; das ist heute noch so. Im Kriya-Tantra wird das noch respektiert. Das Kriya-Tantra ist nicht so stark drauf aus, mit den Tabus zu brechen, deswegen ist da die Mala noch in der rechten Hand. In der linken Hand hält er den Stiel eines Lotus. Dieser Lotus ist eigentlich weiß – auf manchen Thangkas wird er rot dargestellt – und steht für die makellose Reinheit der Motivation – die reine Bodhisattva-Motivation. Die ursprüngliche Bedeutung des Lotus spielt hier auch eine Rolle: Tschenresi manifestiert sich in Samsara, ohne befleckt zu werden; so, wie der Lotus im Schlamm wäschst, ohne Spuren des Schlammes in seiner Blüte zu zeigen. Also Tschenresi manifestiert sich in der Welt der Verstrickung, in der Welt der Verwirrung – mitten unter uns –, ohne selber verwirrt zu werden. Das ist das Symbol dieses Lotus. Das heißt für uns, wir können voll in der Welt sein und uns einlassen auf andere, ohne in dieselben Verstrickungen zu geraten. Wir brauchen uns nicht in die Verstrickungen hineinziehen zu lassen, können aber in der Welt sein. Er trägt drei Kleider – eine seidene Robe, ein weißes Obergewand und einen weißen Schal. Das entspricht hier als Kleidung eines Prinzen den drei traditionellen Roben der Mönche. Das ist also auch eine Erinnerung an die Dharmaroben, die der Buddha trug. Die Juwelenkrone mit diesen fünf Juwelen steht für die fünf Tathagatas, die fünf Buddha-Familien und das völlige Gereinigt-Sein der fünf Haupt-Emotionen. Das viele Gold, das Tschenresi an den Juwelen trägt, steht für die grundlegende Buddha-Natur, die goldene Buddha-Natur – golden, weil sie so kostbar ist. Die Juwelen stehen für die Buddha-Qualitäten. Das Gold mit den Juwelen – grundlegende Natur mit ihren Qualitäten. Der sechsfache Schmuck – Diadem, Halsketten, Ohrringe, Armreifen, Reifen an den Knöcheln, Gürtel – steht für die sechs Paramitas. Es geht hier nicht um eine spezielle Zuordnung. Gendün Rinpoche hat immer empfohlen, nicht zu versuchen, die Schmuckstücke individuell zuzuordnen. Genauso bei den Armen; es ist nicht ein Arm Liebe und der andere Mitgefühl, sie sind als Ganzes die Vier Unermesslichen. Das Fell eines Krishnasara-Rehes – gemäß einem Mythos war dieses Krishnasara-Reh dafür berühmt, beim Grasen darauf zu achten, niemals ein Lebewesen zu verschlucken – steht für diese absolute Sorgfalt und Gewaltlosigkeit, jedes Lebewesen zu respektieren. Das war also ein völlig friedliches, edles Tier. Und es ist auch nicht so, dass irgendwann ein Krishnasara-Reh geschlachtet wurde, um ein Fell für Tschenresi abzugeben, es ist nur ein Licht-Fell, das eine Verbindung herstellt mit der völlig gewaltlosen, gewaltfreien Haltung dieses Rehes, das andere Lebewesen respektiert. Eine andere Erklärung – Beitrag einer Teilnehmer/in – ist die, dass sich das Reh im Wald versteckt, damit niemand das Karma ansammelt, es zu töten. Das ist auch eine schöne Erklärung. Die Haare sind hochgebunden zu einem Scheitelknoten, was die höchste Verwirklichung eines Buddha symbolisiert, und ein anderer Teil der Haare fällt frei herab. Dieses Herabfallende steht für die Bereitschaft, stets in Samsara zu helfen; stets dort zu helfen, wo Lebewesen leiden. Die Kleidung eines Prinzen steht für den Reichtum an Ressourcen, für die unermsesslichen Fähigkeiten, die ihm zur Verfügung stehen. *** Wir machen weiter mit unserem geistigen Fitnesstraining. Immer wieder ein bisschen probieren, immer wieder ein bisschen den Geist nutzen, um etwas zu visualisieren. Ich weiß, dass es nach so einer Mittagspause nicht ganz leicht ist. Wenn mein Geist nicht dran gewöhnt ist, dann braucht es erstmals etwas Ruhe – und die wollen wir uns jetzt gönnen.

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Meditation Nehmt eine Haltung ein, in der ihr meditieren könnt. Das bedeutet übersetzt eigentlich eine Haltung, in der ihr gut präsent sein könnt. – Wie ist es, jetzt gerade hier zu sein und gewahr zu sein? Wie fühlt es sich an, gewahr zu sein, ohne den Geist speziell in eine Richtung zu lenken? – Und dann erinnern wir uns – genauso entspannt – wie von selbst an unsere Ausrichtung, warum wir hier sind. … Wir erinnern uns daran, wie verbunden wir mit allen hier im Raum sind, mit allen hier in der Straße, in der Stadt, der weiteren Umgebung. Und wir dehnen das auf alle aus, die mit uns dieselbe Luft atmen … auf alle, die mit uns dasselbe Wasser teilen, auf derselben Erde leben, unter derselben Sonne; … unter der Erde, auf der Erde, über der Erde, auf diesem Planeten oder auf anderen, auf all die Lebewesen, die glücklich sein wollen und frei von Leid. – Wir lassen vor uns die Zuflucht entstehen in Form von Tschenresi, der Verkörperung der Qualitäten des Erwachens. Wir lassen Tschenresi ganz lebendig werden, so, als wären wir in unmittelbarer Gegenwart seiner lebendigen Präsenz. … Wir sehen, wie Licht ausstrahlt zu allen Erwachten und zu allen Lebewesen, die noch im Daseinskreislauf gefangen sind. … Dieses Licht berührt uns alle und verwandelt einen jeden von uns in Tschenresi. … Mit dieser Bitte, immer wieder daran erinnert zu werden, was unsere wahre Natur ist, nehmen wir Zuflucht. Rezitation der Zufluchtsgebete Die Zuflucht vor uns – Tschenresi – löst sich in Licht auf und verschmilzt mit uns – Körper, Rede und Geist. Dann lassen wir über unserem Kopf wieder Tschenresi entstehen und ich lade euch ein, die nächste Passage im Praxistext gemeinsam zu singen. Darin wird beschrieben, was wir heute Vormittag im Kommentar gelernt haben. Rezitation:

Über den Köpfen von mir und allen Wesen des Universums … … die Essenz aller Quellen der Zuflucht. ***

Na, habt ihr ihn über dem Kopf? Ist er da? Sind Lotus und Mondscheibe da? Ihr braucht ihn nicht festzuhalten. Es reicht, wenn ihr ihn so ab und zu etwas aufleuchten seht. Dann ist Tschenresi da, und natürlich wendet sich der Geist dann auch wieder etwas anderem zu, zum Beispiel dem Lesen des Textes, und dann erinnern wir uns wieder an die Visualisation. Wenn wir die Aufmerksamkeit da drauf halten, dann wird es stabil. Wir haben jetzt eine andere Situation als bei der Zuflucht. Bei der Zuflucht war Tschenresi vor uns im Raum und schaute uns an. Jetzt ist Tschenresi über uns und schaut mit uns in dieselbe Richtung. Er ist in der Verlängerung unserer Wirbelsäule, dort, wo wir früher unsere Fontanelle hatten. Da oben drauf sitzt Tschen resi und öffnet uns für den Segen, für die Präsenz des Erwachens. Wir können ihn nicht mit unseren normalen Augen sehen; aber innerlich ist das überhaupt kein Problem. Wir können ihn von vorne sehen, von hinten, von oben und von unten, innen drin, alles. Merkt ihr den Unterschied von äußerem Sehen und innerem Sehen, dem Sehen in der Vorstellung? Testet doch mal, ob ihr Tschenresi da oben auf dem Kopf mit dem Kopf wackeln lassen könnt. Geht das? Okay. Könnt ihr ihn von hinten sehen? Teilnehmer/-in: Was ist denn der Unterschied zwischen Tschenresi vor mir und über mir? Ist das eine Zuflucht? Der Unterschied ist offenkundig. Es ist eine andere Position im Raum, und die drückt etwas aus. Und zwar hat Tschenresi oben auf dem Kopf die Funktion wie in einem Guru-Yoga. Er ist unser Lama, der auf dem Kopf sitzt. Teilnehmer/-in: Und Zuflucht wäre dann was? In der Zuflucht ist er vor uns, das ist vor allem die Ausrichtung auf die Verkörperung von Buddha, Dharma und Sangha. Und hier ist er noch sehr viel stärker der Guru, als Erinnerung an unser wahres Sein. Wir sind an dieser Stelle der Praxis noch in unserer normaler Form und visualisieren über uns den Buddha Tschenresi,

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der ein Spiegel für unser erwachtes Sein ist. Von da wird eine Aktivität ausgehen und bewirken, dass wir und alle anderen Lebewesen ebenfalls Tschenresi werden. Und dann verschmilzt der Guru, der Lama, mit uns, wie bei allen anderen Guru-Yogas. Ich habe euch heute Vormittag noch nicht ganz bis zum Ende die Erklärung zur Symbolik gegeben. Ich habe noch kein Wort über Buddha Amitabha, der über dem Kopf von Tschenresi sitzt, verloren.

Symbolik – Fortsetzung Buddha Amitabha ist das berühmte Kronjuwel. Er ist von rubinroter Farbe und wird hier in Mönchsrobe visualisiert, also dem Tuch über der linken Schulter und dem Rock, dem Shamtab. Er sitzt auch auf Lotus und Mondscheibe und hat eine Schale in der Hand, die wie eine Almosenschale ausschaut. Beide Hände liegen in Meditationshaltung im Schoß. Er sitzt im Vajrasitz. In der Schale ist der Nektar der Unsterblichkeit. Das ist aber nicht in dem Sinn zu verstehen, wie wir das meinen könnten, dass wir in diesem Körper unsterblich sein könnten, sondern damit ist das Gewahrsein jenseits von Geborenwerden und Sterben ge meint; dass wir das Sterben durchschauen und merken, dass niemand stirbt und niemand je geboren wurde. Der Nektar in der Almosenschale ist also ein Weisheitsnektar. Amitabha hat ein Gesicht und zwei Arme. Als Kronjuwel von Tschenresi symbolisiert er die Tatsache, dass alle Erwachten ihrerseits auch wiederum einen Lama, einen Lehrer oder eine Lehrerin haben. Im Vajrayana sagt man, alle Qualitäten kommen vom Lama – nicht vom menschlichen Lama, sondern von dem Bereich unseres Seins, der nicht Ich ist, der nicht vom Ich besetzt ist. Alle Qualitäten kommen aus dem Dharmakaya, der Natur unseres Geistes. Dort finden sich alle Qualitäten. Sie sind natürlicherweise in uns vorhanden. Diese Dimension, den Dharmakaya, nennen wir Lama. Lama Amitabha steht für den Dharmakaya, für die Natur des Seins. Tschenresi sitzt im Vajrasitz – Amitabha auch. Die Beine sind dabei verschränkt, wobei der rechte Fuß oben liegt. Das ist eine Haltung, in der man total stabil ist. Sie steht für den Vajra-Samadhi, das Eintreten in den Samadhi der Buddhas. Die meditative Versenkung, die in die Buddhaschaft führt, wird der unzerstörbare, nicht zu störende Samadhi genannt, der Vajra-Samadhi. Die Bedeutung von Vajra ist „unzerstörbar“, so wie der Vajra von Indra. Vajra wird oft mit Diamant übersetzt, bedeutet aber gar nicht Diamant, sondern weist auf den Vajra der indischen Mythologie hin. Der Vajra ist das Zepter von Indra, mit dem er ganze Planeten, den Berg Meru, spalten kann. In der Mythologie ist es das Symbol für die nicht zerstörbare Qualität von etwas. Wenn wir von Vajra-Geist sprechen, dann bedeutet das nicht „diamant-harter“ Geist, sondern die durch nichts zerstörbare, durch nichts zu verändernde Geistesnatur. Und der Vajra-Samadhi wird deshalb so genannt, weil keinerlei Bewegungen von Anhaften und Abneigung mehr auftauchen, die meditative Versenkung durch nichts mehr zu stören ist. Dafür ist dieser Vajrasitz das Symbol. Die Mondscheibe hinter Tschenresis Rücken berührt seinen Rücken gar nicht und ist so rund wie der Vollmond. Sie steht hier dafür, dass all seine Aktivität durch makelloses Mitgefühl und Weisheit unterstützt wird, also die Unterstützung der Aktivität durch die völlig reine, makellose Einheit von Mitgefühl und Weisheit. Dafür steht der Spiegel. Man kann auch sagen, er reflektiert alle Qualitäten von Tschenresi. Es gibt für diesen Spiegel verschiedene Erklärungen. Eine heißt auch, dass diese Mondscheibe dafür steht, dass er in grenzenlosem Glück und in höchster Freude verweilt. Das waren Erklärungen von Gendün Rinpoche, die ich mir damals notiert habe. Er sagte zu dem letzten Satz der Verse, die wir gerade noch auf Tibetisch gesungen haben und wo es im allerletzten Satz heißt „Er vereinigt in sich die Essenz aller Quellen der Zuflucht“: Deshalb denken wir, dass Tschenresi über unserm Kopf unser Wurzellama ist. Das ist für uns die Quelle des Segens. Das ist der Wurzellama, zu dem wir Bezug nehmen können. Und falls wir einen menschlichen Wurzellama haben, nimmt er oder sie in diesem Moment die Form von Tschenresi an. Von Tschenresi über uns werden all unsere erleuchteten Qualitäten empfangen oder stimuliert. Aber das Interessante ist, obwohl wir uns Tschenresi über dem Kopf vorstellen, ist er gar nicht über dem Kopf zu finden. Er ist kein Ding, kein Jemand, der irgendwo konkret im Raum zu finden wäre. Er ist kein solides Etwas. Tschenresi ist eigentlich nicht begrenzt, nicht eingrenzbar. Das sind Worte von Gendün Rinpotsche, das ist die direkte mündliche Übertragung; und ich gebe sie an euch weiter.

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Auch wenn wir ihn uns als Lichtgestalt vorstellen, ist das, zu dem wir Kontakt aufnehmen, in seiner Natur etwas nichts Begrenztes. Er umfasst und durchdringt allen Raum, alles Gewahrsein, alle Bewusstheit. Und Gendün Rinpotche sagt: Tschenresi ist eine Bewegung unseres Geistes. Oh! Ja, jedes Mal, wenn wir an Tschenresi denken, ist Tschenresi eine Bewegung unseres Geistes. Das ist wunderbar und ernüchternd zugleich. Erreicht euch das? Tschenresi ist eine Bewegung unseres Geistes, und wir lassen diese Bewegung zu. Wir lassen sie geschehen. Wir lassen sie sich vollziehen. Und wie jede Bewegung in unserem Geist, hat diese Bewegung Auswirkungen. Es sind Kräfte, die uns und die Art, wie wir den nächsten Gedanken denken, wie die nächste Bewegung stattfindet, verändern. Immer taucht als Bewe gung die Tschenresi-Bewegung auf. Und wir erlauben dieser Tschenresi-Bewegung, sich zu manifestieren. Wir sind nicht dabei, eine perfekte Bewegung zu machen, irgendwie perfekt zu visualisieren; das ist völlig uninteressant! Wir erlauben diesem liebevollen Gewahrsein, sich mit allen erwachten Qualitäten zu zeigen; immer wieder; immer wieder frisch. Und das macht Sinn. Das macht total Sinn. Die Visualisationen und das Mantra, das wir lernen werden, sind alles nur Brücken, auch geistige Bewegungen, um diese Präsenz, diese Dynamik in uns zuzulassen. Das ist noch näher dran. Wenn wir uns auf Tschenresi einlassen, lassen wir uns auf eine erwachte Dynamik ein. Wir öffnen uns dafür, wir werden dazu, wir lassen uns davon durchdringen. Das ist das Prinzip für alle diese Yidam-Praktiken, dass wir uns für die Dynamik dieses Buddha-Aspektes, dieses Aspektes des Erwachens, voll und ganz öffnen. Damit habt ihr einen weiteren Schlüssel für diese Praktiken in der Hand. Wir lassen eine Dynamik zu und wir laden sie ein, sich zu zeigen. Sie ist nicht fremd, nur vielleicht nicht so vertraut; eigentlich ist sie Ausdruck unseres innersten Seins. Es ist eine leichte, lichtvolle Dynamik, kräftig, klar, weise, mitfühlend, liebevoll. Tschenresi ist eine Bewegung unseres Geistes. Der nächste Satz von Gendün Rinpoche: Wo immer unser Geist hingeht, dort ist Tschenresi. Das geht noch ein Stückchen weiter. Wir entdecken Tschenresi dort, wo unser Geist hingeht. Wenn unser Geist in eine liebevolle Situation geht, ist es ja noch leicht, Tschenresi dort zu entdecken. Aber wie ist es, wenn unser Geist in ein Problem, in eine Schwierigkeit geht? Wenn ihr in den letzten Tagen eine gehabt habt, dann holt sie doch mal herbei. Wie wäre es denn, dort Tschenresi zu entdecken? Wie ist die Dynamik des erwachten Gewahrseins zu entdecken? Indem wir in diese zum Beispiel problematische Thematik hineingehen und dabei an Tschenresi denken, kommt eine Leichtigkeit hinein. Es wird weniger vergegenständlicht. Wir sind nicht mehr ganz so verwickelt. Wir haben vielleicht schon eine etwas andere Perspektive. Und sofort beginnt die Dynamik von Tschenresi sich in dieser – jetzt erst einmal erinnerten Situation – zu vollziehen. Wenn wir diese Dynamik in eine ganz normale Situation rein bringen – jetzt gleich in die Teepause –, dann könnte das ganz ähnlich sein. Da gehen wir in eine Teepause, lassen aber die Dynamik von Tschenresi diese Teepause gestalten. Da, wo unser Geist hingeht: zum Zucker, Kaffee, „Ach, da ist ja noch jemand, der Kaffee möchte.“ Und die Tschenresi-Dynamik kann in jeder dieser Situationen mit Gewahrsein, einer fürsorglichen Haltung, mit Klarheit, Wachheit und einem panoramischen Gewahrsein mitgehen. Sie kann in all diese verschiedenen Situationen hineingehen. Wir können Tschenresi auch noch anders entdecken: als die Natur der Emotionen. In dem Moment, wo wir nicht mehr identifiziert sind, zeigen sich unsere emotionalen Regungen als erwachter Geist, als freier Geist. Und weil nicht mehr fixiert wird, können sie sich so zeigen. Da offenbart sich ihre innewohnende Dynamik als frei. Und so entdecken wir Tschenresi in unseren Situationen. Das ist dann gar nicht mehr so, dass wir ihn mitnehmen oder hinein projizieren, sondern wir entdecken ihn. Wir legen ihn sozusagen frei, wir erlauben dieser Dimension, sich immer wieder zu zeigen. Und das ist dieses Gewahrsein, was das ermöglicht. Tschenresi ist letzten Endes ohne Bezugspunkt. Er ist nicht fassbar. Er ist nicht jemand; nicht ein Wesen oder ein Buddha, sondern er ist diese nicht-fassbare Summe aller Qualitäten des erwachten Seins, die überall mitschwingt: die meistens verdeckt ist, sich aber entdecken lässt. Und dann schließt Gendün Rinpoche ab und sagt: Wir visualisieren ihn nur deshalb über unserem Kopf, um unser Shine zu stabilisieren – um unsere Geistesruhe zu stabilisieren und unseren Geist auszurichten. Eigentlich wird diese Visualisierung über dem Kopf nur deshalb praktiziert, um uns zu stabilisieren, weil wir einen klaren Bezugspunkt brauchen. Wir könnten nicht so gut über Tschenresi sprechen, wenn wir ihm nicht irgendwo im Raum einen Ort geben würden und eine gewisse Gestalt. Dann würde er für uns immer weniger fassbar werden. Je weniger wir äußerlich mit Symbolik arbeiten – mit Licht, Farbe und Gestalt –, desto

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weniger könnten wir Tschenresi fassen. Und das ist aber seine wirkliche Natur. Im Vajrayana sagt man, die Yidams oder die Dakinis, die Dakas und Dakinis, sitzen in jeder Sinneswahrnehmung. Jeder visuelle Eindruck, jeder akustische Eindruck, alles Spüren im Körper, jeder Gedanke, all das sind Botinnen. Diese Sinneseindrücke sind die Botinnen des zeitlosen Gewahrseins. Wir entdecken den Yidam, die wahre Natur des Seins, in allen Aspekten unseres Lebens. Das hängt damit zusammen, dass jeder Sinneseindruck die Fähigkeit hat oder die Möglichkeit in sich trägt, unseren Geist zu öffnen. Jeder Sinneseindruck kann uns für die Einheit von Klang und Leerheit öffnen, für die Einheit von Erscheinung und Leerheit, von Form und Leerheit, von Gewahrsein und Bewusstheit, also für diese nicht-fassbare Dimensionen des Seins in allem. Das wohnt jedem Geisteseindruck, jeder geistigen Bewegung inne. Das ist eigentlich Tschenresi. Es tut gut zu hören, dass dies der eigentliche Tschenresi ist, dass wir ihn nicht zu vergegenständlichen brauchen. Wir brauchen uns das nicht anzutun. Aber wir dürfen visualisieren im Bewusstsein dieser nicht-fassbaren Qualität. Diese Ausrichtung tut gut. Das macht etwas mit uns. Teilnehmer/-in: Ist es denn noch wichtig, in welcher Weise und in welcher Richtung zum Beispiel das HRIH schaut, wenn es doch einfach nur um geistige Stabilisierung geht? Nein. Es ist nicht wichtig. Es ist nur eine Konvention. Es ist auch nicht wichtig, ob da ein großer Tschenresi oder viele kleine Tschenresis sind. Das ist die Übertragung einer Erklärungslinie, die auf eine Vision zurück geht. In dieser Vision hatten offenbar alle Lebewesen einen Tschenresi auf dem Kopf. Weil es eine Übertra gung ist, wird diese Übertragung immer gleich gegeben. Und es gibt in dieser Übertragung eine klare Orien tierung der Keimsilbe. Manche Dinge sind klar und andere sind offen, werden nie genauer beschrieben. Die Dinge, die klar beschrieben werden, sollten von Generation zu Generation gleich weitergegeben werden. Deswegen gibt es manchmal ein erstaunliches Maß an Präzision, aber dass es wichtig ist, kann man nicht behaupten. Versteht ihr, worum es geht? Es ist so wie in der Musik. Wenn wir ein Lied weitergeben, dann geht es darum, das Lied so weiterzugeben, wie wir es gelernt haben, sonst wird es ein neues Lied. Das ist unwichtig für diejenigen, denen es nicht wichtig ist, ein Lied klar weiterzugeben, aber sie können dann auch nicht behaupten, sie hätten dasselbe Lied. Es ist ein neues Lied. Wenn es darum geht, über die Jahrtausende eine Übertragung weiterzugeben, mit der schon viele andere vorher praktiziert haben, dann ist es wichtig, dass der Kern der Übertragung immer gleich bleibt. Das, was klar beschrieben wird, wird klar weitergegeben. Und dann gibt es die Improvisationen im Augenblick. Aber die Übertragung geht weiter und garantiert auch eine gewisse Qualität. Teilnehmer/-in: Wir praktizieren ja hier Tschenresi. Aber es gibt ja auch noch Tara und Hevajra und unglaublich viele andere. Und eigentlich braucht man doch – ehrlich gesagt – nur einen. Oder sucht man sich einen heraus, der einen am besten zusagt? Kannst du etwas dazu sagen, warum es so unheimlich viele Yidams gibt? Für verschiedene Arten von Neurosen gibt es verschiedene Yidams. Manchmal sagen Lehrer auch, man müsse mindestens vier oder fünf machen, also noch mal ein paar mehr, und das ist ein bisschen anstrengend, wenn man berufstätig ist. Ja, das ist klar. Es gibt ganz viele Yidams, ganz viele Möglichkeiten. Man merkt auch, wo wir mehr oder weniger Affinität haben und was auch für verschiedene Lebensphasen passt. Wer viel Zeit hat, kann die auch intensiv praktizieren, aber wer wenig Zeit hat, nimmt sich vielleicht eher so eine Passe-partout-Praxis wie Tschenresi. Die passt gut auf unzählige Situationen und ist eine gute Basis, um von dieser Praxis aus even tuell weiter zu gehen in andere Praktiken. Ich habe auch einen ganzen Rucksack voller Yidam-Praktiken. Ich könnte euch alle erklären. Wenn ich nur die zähle, die ich praktiziert habe, sind es doch mindestens zwei Hände voll, die kleinen mitgezählt. Konzentrieren wir uns mal auf einen Yidam. Deshalb wollte ich den Kurs auch so gestalten, dass ich anhand einer Praxis die Grundprinzipien des Vajrayana erkläre. Ich hoffe, das kommt bei euch an. Wir haben auch jetzt gerade wieder etwas ganz Grundlegendes besprochen. Denn das, was ich eben für Tschenresi gesagt habe, gilt natürlich für jeden Yidam. Keiner dieser Yidams ist irgendwo im Raum als eine Gestalt oder eine Person zu finden. Jeder dieser Buddha-Aspekte verkörpert die wahre Natur der Erscheinungen und ist eine Bewegung im Geist. Das gilt auch für Tara, für Hevajra, für Vajra yogini, für den Medizinbuddha usw.

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Teilnehmer/-in: Aber warum kann sich der Geist denn nicht so manifestieren, dass man ihn als Gegenstand anschauen kann? Da muss der Geist dann einen Stift in die Hand nehmen. Und warum macht er das nicht? Das macht er! Er macht doch solche Sachen. Das sind Hilfsmittel. Der Geist selbst hinterlässt auf einem Papier ohne Stift keine Spuren. Er bräuchte einen Stift dafür. Aber das kann er ja machen. Er kann einen Stift in die Hand nehmen. Wenn er einen Stift in die Hand nehmen kann, warum kann er das nicht so perfekt dreidimensional abbilden? Ach, das lernt er bestimmt noch! In der Vorstellung kann er das ja jetzt schon. Du kannst ja jetzt zum Beispiel ein Auto dreidimensional visualisieren, das macht uns Männern eigentlich keine Probleme. Du kannst dein Lieblingsauto, ein Segelboot oder einen Hund visualisieren. Das kann dein Geist doch! Ja, schon. Aber es geht darum, dass jeder darauf schauen und sagen kann: Das ist jetzt die materielle Form des bewegten Geistes. Ja, so einen hätte ich auch gerne mal getroffen. Habe ich aber nicht. Aber wo der Geist doch alles so aus sich heraus projiziert und macht und tut… Ich glaube, du bist da in einem kleinen Missverständnis. Es ist nicht so, dass der Geist in jedem Moment, wo er auf diese Thermoskanne schaut, diese auch produziert. Sie wurde durch das Zusammenwirken von Bedingungen produziert, die zur mechanischen Produktion dieser Thermoskanne beigetragen haben. Mein Geist braucht sich nicht damit abzugeben, diese Thermoskanne zu produzieren. So ist es nicht gemeint, sondern wie in meinem Geist die Welt mit Thermoskanne entsteht, wie dieser Geist dieses Phänomen, dieses glitzernde, schwarz-silbrige Phänomen wahrnimmt, dem eine räumliche Zuordnung gibt und was es daraus macht: „Griff“, „Thermoskanne“, „Mag ich“, „Ist wahrscheinlich mit heißem Wasser gefüllt“, „Kann ich gebrauchen“ und all das. Meine Welt der Thermoskanne entsteht dadurch, wie sich dieser Geistesstrom mit diesem visuellen und taktilen Phänomen in Beziehung setzt. Das ist mit dem Satz gemeint: „Der eigene Geist erschafft die Welt.“ Es ist nicht gemeint, dass dieser Geist, mein Geist, jetzt diese Thermoskanne erzeugt. Das war der Geist von anderen Menschen, die die Thermoskanne mit Werkzeugen hergestellt haben. Was mit Projektion gemeint ist, ist nicht das Erzeugen von materiellen Gegenständen. Das ist eine indirekte Auswirkung davon, dass es Zeichner gibt, die zum Beispiel Thermoskannen entwerfen, die Maschinen entwerfen, wo dann die Materialien herbei geschafft werden, und irgendwann hat es das Zusammenwirken dieser verschiedenen Geistesströme soweit gebracht, dass eine Thermoskanne entstanden ist. Aber es ist nicht der Geist, oder mein Geist, oder dein Geist, der das geschaffen hat. Es ist nicht so, dass wir jetzt abwechselnd die Thermoskanne produzieren. Mit „projizieren“ ist nicht gemeint, dass wir aus dem Geist etwas in die vermeintlich materielle Welt hinein projizieren, das dann dort irgendeine Stabilität hätte. Das ist nicht gemeint. Es ist gemeint, wie wir die Welt innerlich konstruieren. In meiner Welt gibt es eine Thermoskanne. Aber in der Welt eines einjährigen Kindes ist das keine Thermoskanne. Das ist für das Kind irgend etwas zum Herumrollen oder um sich drauf zu setzen. Gemeint ist damit, wie wir die Welt einschätzen, wie wir reagieren, wie wir angenehm oder unangenehm empfinden, die ganzen Unterscheidungen, die wir treffen und was wir dann damit anstellen wollen und nicht wollen. Das ist die Welt, die wir innerlich ständig erzeugen, benennen und gegeneinander abwägen usw. Das ist unser Film, der ständig produziert wird. Ich habe diese wunderschönen Blümchen nicht gemacht, sondern ich freue mich nur an ihnen. Die hat jemand anderes da hingestellt. Ich erzeuge die äußeren Blumen nicht. Aber in meinem Geist entsteht jetzt ein Bild, und da ich das angenehm finde, habe ich angenehme Gefühle. In meiner Welt sind das angenehme Blumen. Aber für jemand anderes sind das vielleicht furchtbare Blumen. Mit „Der Geist erzeugt die Welt“ ist gemeint, dass ständig diese inneren Abbilder entstehen und Reaktionen und Einschätzungen und Vergleiche und unsere Erfahrungen und diese ganzen Benennungen – das läuft ständig ab. Wir sind ständig dabei, eine Welt zu erzeugen. Zum Beispiel ist deine Welt eine andere Welt als meine Welt, obwohl wir im selben Raum sind, uns angucken, uns in die

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Augen schauen und über dasselbe sprechen, sind wir jeder in unserer eigenen Welt. Das ist die Welt, die unser Geist erzeugt. Teilnehmer/-in: In deiner, in meiner erzeugten Welt… Sollen wir versuchen, den Geist von Tschenresi da einfließen zu lassen? Oder welche Vorstellung soll ich da haben? Ja, das bedeutet zum Beispiel, dass wir es als Brücke benutzen. Wie würde es in meiner Situation aussehen, wenn jetzt hier Tschenresi sitzen, unterrichten und dir antworten würde? Wie würde es in deiner Situation aussehen, wenn du als Tschenresi dasitzt und aufnimmst und Fragen stellst? Das bewirkt etwas, wenn wir uns vorstellen, dass jetzt nicht mehr dieses verfestigende Ich aktiv ist und lehrt und fragt usw., sondern dieses wache, liebevolle Gewahrsein von Tschenresi. Wie könnte sich das anfühlen? Davon lassen wir uns ein wenig leiten. Wir erlauben uns, in diese Richtung mit zu schwingen. So ist das gemeint, dass wir unser Bewusstsein dahin einladen. Das war die Passage zur eigentlichen Bedeutung von Tschenresi.

3. Die Rezitation des Mantras Dieser Teil der Praxis beinhaltet a) Gebete, mit denen wir den Geist der Erwachten anrufen, sowie b) die Visualisationen des Ausstrahlens und Sammelns, um unsere drei Tore mit denen der Gottheit zu vereinigen.

a) Das Anrufen des Geistes der Erwachten durch Gebete Alle Lebewesen – die wir uns weiterhin um uns herum vorstellen – beten wie mit einer einzigen Stimme mit völlig ausgerichtetem Geist… … vor Dir, Avalokitesvara, verbeugen wir uns. Das ist die nächste Rezitation im Praxistext. Sie fängt mit Djowo kyön-gyi ma-gö kundog kar an. Wir wiederholen sie in der normalen Praxis drei Mal. Hier heißt es: Wiederhole sie sieben Mal, … … sich deine Wahrnehmung tatsächlich verändert. Das ist der springende Punkt für das Beten. Das Vajrayana ist außerordentlich reich an Gebeten. Und es geht immer darum, das Gebet nicht einfach auszuführen, sondern vom Herzen her zu beten, bis sich die Wahrnehmung ändert. – Einige von euch nicken wissend. Ihr kennt die Erfahrung offenbar. Es gibt ein Beten, bei dem wir nach dem Gebet immer noch so wie vorher sind; wir haben gebetet. Wir beten nochmal und sind immer noch wie vorher. Und es gibt ein Beten, das betet – es betet uns. Nach diesem Beten sind wir nicht mehr wie vorher, unsere Sichtweise hat sich geändert. Durch das Beten haben wir unsere Herzen geöffnet, wir haben uns ausgeschüttet, wir haben – was auch immer uns beschäftigt hat– ausgebreitet, alles eingestanden, haben uns geöffnet: „Tschenresi hilf, ich habe keine Ahnung, wie es weiter gehen soll!“ Wir sind völlig ehrlich und nackt in dem Gebet. Wir sind da mit unserer Hingabe und unserem Vertrauen, und es löst sich etwas. Wir kommen in eine andere Wahrnehmung hinein. Wir können unser Problem gar nicht mehr finden. Es ist, als ob etwas eingetreten wäre, es hat ein Shift stattgefunden, ein Wechsel unserer Wahr nehmung, und wir beginnen die Welt um uns herum – auch unsere Angehörigen, uns selbst – mit anderen Augen zu sehen, und zwar mit Augen, in denen kein Problem mehr ist, die unverschleiert sind. Jedenfalls viel weniger verschleiert als vorher. Bis zu diesem Punkt beten wir. Und wenn wir wissen, dass wir so beten werden, dass wir uns wirklich einlassen werden, dann geben wir uns ganz mit dem Herzen hin. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir sind nicht dabei, hundertacht Rezitationen von irgend etwas herunter zu haspeln, um dann endlich weiter machen zu können. Wir beten sozusagen mit offenem Ende. Es ist nur das Herz, das bestimmt. Das kann nach einem Gebet passieren, das kann nach tausend Gebeten passieren – wir wissen es nicht. Wir lassen uns voll und ganz mit unserem So-Sein auf diesen Prozess ein; so, wie wir halt sind, und setzen uns in Beziehung zur Zuflucht, die jetzt als Tschenresi über unserem Kopf ist. Wir lassen es fließen.

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Dieses äußere Gebet hier ist quasi nur eine Entschuldigung, eine Form, in der wir es fließen lassen können. Wir könnten dafür auch andere Worte nehmen. Wir können das auch mit OṀ MANI PADME HŪṀ machen. Es kommt nicht auf die Worte an. Es kommt darauf an, dass von unserem Herzen, von unserer Wesensmitte eine innige Verbindung zum erwachten Sein hergestellt wird. Diese Verbindung intensivieren wir und geben da ganz viel Energie rein, bis es uns erfasst und durchdringt. Und dann brauchen wir auch nicht weiter zu beten. Dann hat das stattgefunden, um was wir gebeten haben. Dieser Segen, diese Öffnung hat sich vollzogen. Wir sind dann in eine reinere Sichtweise eingetreten, wir sind in eine Sichtweise eingetreten, die wir vorher gar nicht für möglich gehalten haben. Wir haben gedacht, wir hätten ein Problem, es wäre alles sehr schwierig, wir könnten schon gar nichts machen und mit uns waren wir auch total unzufrieden. Wir haben auch gezweifelt, ob die Praxis überhaupt Sinn macht, ob es überhaupt etwas bringt zu beten. Das haben wir alles hinein gebracht. Wir waren uns überhaupt nicht sicher, völlig unsicher. Und jetzt sind wir uns auch nicht sicher, sondern offen. Es ist nicht so, dass das Ich irgendwie total sicher wäre und aufgebaut, sondern wir sind vom besorgten Sein frei geworden. Die Sorge ist weg. Offenheit ist wieder da. Das Herz ist wieder offen und fließt. Und so lange beten wir. Alles andere ist nur Ritual. Versteht ihr? Das ist der Unterschied. Ein echtes Ritual wäre so, dass wir uns als Gruppe Zeit nehmen würden, so innig und lange zu beten, bis man eine Welle spürt, die auch durch den Raum geht und wo ganz viele erfasst werden und sich unsere Wahrnehmung ändert. Wir haben oft weder die Zeit noch den Mut, uns so auf die Gruppe einzulassen. Es braucht Mut, sich so zu öffnen. Das ist etwas ganz Schönes, wenn das passiert. Wenn es dir möglich ist … … als gute Ergänzung dienen. Nach diesem Gebet, diesem Vierzeiler, kommt in unserer Praxis ein siebenteiliges Gebet 2: Pagpa tschänräsi wang dang … In Deutsch heißt es: Hingebungsvoll verbeuge ich mich vor Dir, mächtiger Tschenresi. Diesem siebenteiligen Gebet folgt dann das Gebet des Mönchs Pema Karpo 3, das hier ebenfalls eingeschoben wurde. Es berührt die sechs Daseinsbereiche. Dann heißt es in einer kurzen Überleitung: Nachdem wir so mit gesammeltem Geist gebetet haben, strömen Lichtstrahlen aus dem Körper des Edlen und reinigen unreine karmische Erscheinungen und verwirrte Wahrnehmung. All unsere Verwirrung, unsere Verstrickung und all unsere Filme werden gereinigt. Die äußere Welt – die Welt unserer Wahrnehmung – wird zum Land wahrer Freude – Dewachen. Körper, Rede und Geist aller in mir lebenden Wesen werden zu Körper, Rede und Geist des mächtigen Tschenresi. Erscheinungen, Klang und Bewusstheit werden untrennbar von der Leerheit. Diese Überleitung führt zum Mantra OṀ MANI PADME HŪṀ. Diese Überleitung war genauso im ursprünglichen Text von Thangtong Gyalpo geschrieben. Der Text von Thangtong Gyalpo ist ganz kurz. Er fängt mit der Zuflucht an, dann kommt die Visualisation, anschließend Djowo kyön-gyi…, dieser Vierzeiler mit der Preisung, dann die Überleitung, das Mantra und noch acht Verse zum Abschluss der Praxis. Das ist der sogenannte Wurzeltext, die grundlegende kurze Praxis. Und darum geht es in dem Kommentar. Der Kommentar beschreibt die beiden längeren Gebete, die noch eingeschoben sind, gar nicht. Das Mantra OṀ MANI PADME HŪṀ wird im Kommentar noch richtig ausführlich erklärt, es heißt auch „Sechs-Silben-Mantra“. Die kürzeste Erklärung von OṀ MANI PADME HŪṀ :



OṀ bedeutet die Anrufung der Weisheit aller Buddhas, aller Erwachten. Fast jedes Mantra beginnt mit der Silbe OṀ. Auch die Hindus benutzen OṀ. Es ist die heilige Silbe, sie öffnet die Welt des Erwachens.



MANI bedeutet Juwel.



PADME – die Tiberter sagen PEME – bedeutet Lotus. Tschenresi ist derjenige, der Juwel und Lotus hält. Das Mantra ist also eine Anrufung von Tschenresi, der das Juwel des eigenen Geistes, der Geis-

2 Erklärungen dazu im Anhang 3 detto 39

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tesnatur, hält und den Lotus des Bodhicitta. Es ist eine Anrufung von Avalokitesvara als derjenige mit dem Juwel und dem Lotus.



HŪṀ ist die Keimsilbe für erwachte Aktivität. Es geht hier darum, dass sich die Aktivität des liebevollen Gewahrseins in diesem Universum manifestiert.

Wir können uns das Mantra also so übersetzen: OṀ – durch die Weisheit oder Segenskraft aller Buddhas, HŪṀ – möge sich die Aktivität von Juwel und Lotus vollziehen, also von dem, der die Natur des Geistes und des Bodhicitta in dieser Welt manifestiert. Das ist eigentlich die Bedeutung von OṀ MANI PADME HŪṀ . Teilnehmer/-in: Kann man sagen: Das erleuchtete Mitgefühl? Ja! Möge sich das erleuchtete Mitgefühl überall manifestieren. Mögen alle Lebewesen Zugang zum Juwel ihres Geistes finden. Möge sich Bodhicitta überall ausbreiten. Möge erwachtes Sein alle Herzen durchdringen und die Weisheit des Erwachens überall Einzug halten. So können wir das in Form eines Gebetes formulieren. Wir können es aber auch als Ist-Ausdruck formulieren: „Ja, es ist so. OṀ, die Aktivität des Erwachens ist überall, das strahlende Juwel des Geistes leuchtet und Bodhicitta ist präsent.“ Wir brauchen es nicht als Gebet zu formulieren, wir können es auch als Beschreibung des jetzt einsetzenden Erlebens neh men. OṀ MANI PADME HŪṀ. Jedes Mal, wenn wir das Mantra aussprechen, erinnern wir uns daran, dass wir selber in dieser Schwingung von Tschenresi sind und dass alles um uns herum mitschwingt. Es heißt im Kommentar, dass selbst die Berge, Bäume, Pflanzen und Steine mitschwingen. Alle, die keine Stimme haben, schwingen trotzdem mit, sie klingen mit. Alles, das ganze Universum schwingt mit. Selbst, wenn wir alleine sind, rezitieren wir nicht alleine, sondern die Wände singen mit, die Lampen singen mit, der Teppich singt mit, der ganze Körper singt. Überall erklingt das Mantra OṀ MANI PADME HŪṀ. Wenn wir das eine Weile gemacht haben, gehen wir in die Stille und meditieren im Nachklang des Mantras, ohne weiter das Mantra zu sprechen. Das Mantra schwingt noch weiter in uns. Wir sind in einem anstrengungslosen Sosein, wo wir gar nichts zu tun brauchen. Und schließlich beenden wir die Praxis mit den Worten, die nach dem Mantra kommen. Es heißt hier in dem kleinen, kursiv gedruckten Text: Schließlich verweile in der wahren Natur des Geistes, frei von den Vorstellungen der drei Kreise Subjekt, Objekt und Handlung. – Das ist dieses natürliche Verweilen. Dann schließen wir ab: Ich und die anderen, der Körper und alle Erscheinungen, sind der Körper des Edlen – also alle sind Tschenresi – alle Laute und und Klänge sind die Melodie der sechs Silben, alle Gedanken sind die Weite des großen, ursprünglichen Gewahrseins. Das erinnert uns noch einmal daran, alles als Körper, Rede und Geist von Tschenresi in die Alltagssituation hinein zu praktizieren. Dann kommt die Widmung: Möge ich durch diese heilsame Handlung … … im Land Wahrer Freude wiedergeboren werden. Mit „unrein“ ist „karmisch bedingt“ gemeint, aufgrund von dualistischen Mustern entstanden. Es ist ein unglücklicher Begriff, es ist nicht abwertend gemeint. Es soll damit beschrieben werden, dass der Körper nicht durch reine, non-duale Sichtweise entstanden ist, sondern durch unreine, duale Sichtweise. Und mögen wir dort – im Dewachen, im Land Wahrer Freude – nach unserer Geburt unverzüglich die zehn Stufen durchqueren und mit Ausstrahlungsköpern das Wohl aller Wesen in den zehn Richtungen bewirken. Das ist bereits das Ende des Wurzeltextes. Er endet mit den kursiv gedruckten Zeilen: Diese Meditation und Rezitation des Großen Mitfühlenden, die zum Wohle der Wesen den Himmelsraum erfüllt, ist die Übertragung des Großen Verwirklichten Thangtong Gyalpo und vermittelt wahren Segen. Wenn ihr das zu Hause praktiziert, dann könnt ihr alles auf Deutsch machen. Das könnten wir auch hier in der Gruppe. Bloß können wir dann die Melodien nicht benutzen. Ich mache meine persönliche Praxis auch meistens auf Deutsch. Das ist kein Thema. Es ist nicht so, dass das Tibetische einen größeren Segen bringen würde. Es ist einfach etwas, was sich so mit der Melodie überliefert hat. Segen könnt ihr aber genau so gut in der eigenen Sprache empfangen, vielleicht sogar mehr, weil ihr es versteht.

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Teilnehmer/-in: Wäre es möglich, dass du in diesem Rahmen auch mal eine Anleitung auf Deutsch machst? Ja, klar. Wir können die Praxis auch mal zusammen auf Deutsch machen. Teilnehmer/-in: Bei dem, was da am Schluss kam, wusste ich nicht ganz genau, was das war. Das waren die Zeilen direkt nach dem Mantra. Das wird dir noch vertrauter werden, denn das machen wir noch häufiger. Das war jetzt eine halbstündige Praxis. Es ist wunderbar. Das ist der ursprüngliche Text. Es war die Intention des Autors, uns eine kurze Praxis zur Verfügung zu stellen. Man kann sie natürlich auch flotter machen. Wichtig ist aber, dass das Herz dabei ist, und welche Geschwindigkeit das Herz hat, das wissen wir nicht so genau. Teilnehmer/-in: Du hast bei der Mantraphase gemeint, dass wir in dieser Phase auch Tschenresi seien. Dann haben wir eine kleine Unterbrechung gemacht und rezitierten anschließend wieder Mantras. Sind wir dann selber Tschenresi und haben zusätzlich auch noch den Tschenresi über dem Kopf? Wie ist das dann? Wenn du jetzt dieser Übertragung folgst, dann hätten wir auch noch Tschenresi über dem Kopf. Er verschmilzt dann zum Schluss, wenn wir still werden in uns. Aber wenn du es dir etwas vereinfachen willst, dann hast du nur noch Amitabha auf dem Kopf. So kannst du es etwas einfacher machen. Diejenigen, die die Ermächtigung auf Tschenresi bereits erhalten haben, können sich selbst als Tschenresi visualisieren und auch längere Zeit dieses Gewahrsein von sich selber als Tschenresi mit Amitabha über dem Kopf kultivieren. Teilnehmer/-in: Ich habe eine Zusatzfrage dazu. Wenn man die Ermächtigung schon bekommen hat, ist dann auch während der Mantraphase dieser Wechsel von Tschenresi über dem Kopf zu Amitabha über dem Kopf ? Das kannst du schon zu Beginn der Mantraphase machen, du brauchst nicht zu warten. Ich habe das einfach gesagt, weil ich merkte, dass viele von uns noch so zwischendrin hängen. Deshalb habe ich euch ermutigt, euch selbst als Tschenresi zu praktizieren. Im Grunde genommen kann man das bereits dann anfangen, wenn man spürt, dass es kommt und man sich selber als Tschenresi sehen möchte. Was wir dann während der Mantra-Praxis so alles an innerer Arbeit noch rein holen, das erkläre ich euch in den nächsten Tagen. Gibt es zu dieser kurzen Form der Praxis noch andere Fragen? Teilnehmer/-in: Macht es einen Unterschied, ob ich das Mantra hörbar spreche oder es nur innerlich rezitiere? Ja, das macht einen Unterschied. Das laute, hörbare Sagen bewirkt gleichzeitig eine stärkere Reinigung der Kommunikation, der Rede. Wer das intensiv praktiziert, wird merken, dass da Blockaden auftauchen, die durchgearbeitet werden müssen und dass dadurch die Sprache mit der Zeit flüssiger wird und schneller zum Ausdruck der reinen Motivation wird. Teilnehmer/-in: Wenn ich da Widerstände habe, dann heißt das doch folglich, dass es da irgend etwas zu tun oder zu lösen gibt? Davon kannst du auch ausgehen, wenn du keine Widerstände hast. Aber je mehr Widerstände, desto mehr gibt es zu tun? Die Widerstände können auch daher kommen, weil es dir fremd ist. Die müssen nicht damit zu tun haben, dass du speziell etwas oder mehr als andere zu reinigen hättest, die weniger Widerstände haben. Was ich mit Blockaden meinte, ist, dass dir die Zunge schwer wird und das Gefühl entsteht, keinen Ton mehr raus zu kriegen. Das sind Blockaden, die offenbar durch Redekarma entstanden sind. Teilnehmer/-in: Ich möchte nichts fragen, aber mir geht es bei der Rezitation oft so, dass nach der Mantraphase der Ton viel freier und melodiöser fließt als bis zu dem Punkt. Das kann gut sein und hängt damit zusammen, was ich gerade erklärt habe. Aber es passiert auch Leuten, die in einen Chor gehen und da etwas singen. Da löst sich auch etwas mit der Zeit. Teilnehmer/-in: Ich habe in dieser Phase nicht unbedingt Mitgefühl oder etwas Ähnliches generieren können. Es war eher ein bisschen dumpf und es passierte gar nichts. Da habe ich zu einem Hilfsmittel gegriffen und mir irgend etwas Leidvolles vorgestellt, um ein warmes Gefühl zu generieren. Ich weiß jetzt nicht, ob das besonders sinnvoll ist.

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Doch, das ist sinnvoll. Das werden wir in den Erklärungen noch hören. Wir werden ganz bewusst in die verschiedenen emotionalen Bereiche und Erfahrungen hineingehen, um dadurch unser Mitgefühl und Ge wahrsein zu stimulieren. Das hast du völlig richtig gemacht, das ist die Intention der Praxis. Man kann ja auch irgendwie „abhängen“ beim Rezitieren des Mantras. Dem hast du etwas gegengesteuert. Du wolltest etwas mehr Herzgefühl in deiner Praxis. Mach das einfach weiter so. Teilnehmer/-in: Nur ganz kurz: Ich finde, dass das laute Rezitieren des Mantras auch eine körperliche Wirkung hat. Da ist die Vibration, die Schwingung, was ähnlich ist, wie in einem Chor zu singen. Auf jeden Fall. Das Mantra setzt uns in Schwingung, und zwar in einer Art, die klar mit den Silben des Mantras etwas zu tun hat. OṀ MANI PADME HŪṀ ist ein besonders „rundes“ Mantra. Das schwingt auf eine andere Art als zum Beispiel OṀ TĀRE TUTTĀRE TURE SVĀHA. Ihr hört, es schwingt anders. Jedes Mantra schwingt ein bisschen anders. Teilnehmer/-in: Da stand im Text: ein Gebet von Gelongma Palmo. Gelongma ist ja eine Nonne. Ist das diejenige mit der Njungne-Praxis? Es wundert mich, dass es eine Gelongma ist, weil es damals eigentlich gar keine Gelongmas in Tibet gab. Ja. Gelongma ist sowas wie ein Ehrentitel. Ich überlege gerade, wo sie gelebt hat. Ich glaube, dass sie eine Inderin war und dass sie an Lepra erkrankt war und durch die Visualisation des Tschenresi geheilt wurde. Ich glaube, dass sie deswegen Gelongma heißt, weil sie eine indische Nonnenübertragung hatte. Ich habe sicher irgendwo noch Material über Gelongma, das ich dir zukommen lassen kann. Teilnehmer/-in: Vorhin in der Belehrung hast du davon gesprochen, dass Tschenresi einköpfig ist, aber es gibt, zum Beispiel in Nepal, auch den tausendarmigen Tschenresi. Der hat doch mehrere Köpfe. Sind das verschiedene Tschenresis oder doch der gleiche oder wie habe ich das zu verstehen? Was ist denn deine Antwort? Was sagt dir dein Gespür? Es sind verschiedene Manifestationen von Mitgefühl. Super! Es sind verschiedene Manifestationen desselben erwachten Mitgefühls, denn der eigentliche Tschenresi ist eine Bewegung des Geistes. Du hast das genau gespürt. Die Frage beinhaltete fast schon die Antwort. Es gibt auch einen roten stehenden Tschenresi, einen roten Tschenresi in Vereinigung, der sitzend dargestellt ist und einen schwarzen Tschenresi.

Lung Im Lung wird der Praxis-Text auf Tibetisch laut vorlesen. Das ist dann die Erlaubnis, mit dem Text zu praktizieren. Das braucht man im Vajrayana. Es ist ein Teil der Übertragung und bedeutet, dass man die rituelle Lesung bekommen hat. Währenddessen verbindet sich der Lesende mit der Bedeutung des Gelese nen, und das ist die Übertragung des Lungs, die durch die Jahrhunderte geht, vom Autor ausgehend, der diese Übertragung seinen Schülern gegeben hat, indem er sie laut vorgelesen hat. Und laut vorlesend wurde sie durch die Jahrhunderte weiter getragen. Die Tradition, Lungs zu geben, hat mit Buddha angefangen. Zu Buddhas Zeiten wurde überhaupt nichts aufgeschrieben. Das Aufschreiben fing erst etwa 300 bis 400 Jahre nach Buddha an. Die ersten Aufzeichnun gen findet man so etwa 70 vor Christus. Es war schon zu Lebzeiten Buddhas Sitte, dass alle Lehrreden, die der Buddha gegeben hatte, aus dem Gedächtnis weitergegeben wurden. Der Buddha hatte tagsüber verschiedenen Wanderern oder Stadt- und Dorfbewohnern auf ihre Fragen geantwortet. Es war Sitte, dass abends, wenn sie nach Hause kamen, diejenigen, die mit dem Buddha unterwegs gewesen waren, die Fragen und die kompletten Antworten des Buddha, für die Mönche und Nonnen, die nicht mit dem Buddha unterwegs gewesen waren, aus dem Gedächtnis wiederholt haben. Anschließend wurde die jeweilige Lehrrede im Gedächtnis behalten und weitergegeben. Deshalb besitzen wir heute den Schatz all dieser Lehrreden. Das ist der Anfang von Lung, von dieser Übertragung durch das Hören. Das hat sich bis in unsere heutige Zeit auch im südlichen Buddhismus fortgesetzt. Anfang der fünfziger Jahre fand in Rangun, Burma, ein großes Konzil statt, wo alle Theravada-Schulen zusammenkamen und den Pali-

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Kanon überprüft haben. Sie haben den schriftlichen Pali-Kanon anhand der auswendigen, gehörten Übertragung korrigiert. Das Gedächtnis der Mönche und der Gelehrten korrigierte den Text. Sie haben sich 1956 für drei Jahre getroffen, sind den ganzen Pali-Kanon durchgegangen und haben aufgrund ihrer Übertragung all die Stellen korrigiert, in denen sich im geschriebenen Wort der Texte Fehler eingeschlichen hatten. Auch die Tibeter konnten all ihre Texte auswendig und haben vieles von dem, was sie an Papieren auf der Flucht verloren hatten, oder Texte, die verbrannt oder nicht mitgeschleppt worden waren, rekonstituiert. Sie hatten sich dazu zu zweit, zu dritt oder zu viert hingesetzt, auswendig die Texte rezitiert und sie anschließend wieder aufgeschrieben. Ich weiß selber ein konkretes Beispiel von einem meiner früheren Lehrer, Tenga Rinpoche, der einige dieser Texte auswendig konnte und der sich zusammen mit seinem Bruder hingesetzt hatte. Zusammen haben sie die Texte auswendig rezitiert und dabei aufgeschrieben. Dadurch wurden einige Texte rekonstituiert. Das ist es, was Lung bedeutet. Gleichzeitig ist das Erhalten des Lungs die Ermächtigung, die Erlaubnis, mit diesem Text zu praktizieren. Teilnehmer/-in: Was ist der Unterschied zur Ermächtigung? Eine Ermächtigung ist ein Ritual, in dem der Lehrer sich selbst als Tschenresi visualisiert, die ganze Übertragungslinie anruft, um den Segen der Übertragungslinie bittet, und die Schüler und Schülerinnen ermächtigt, sich selbst als Tschenresi zu visualisieren und sie in die Selbstvisualisation als Tschenresi ein führt. Das ist ein spezielles Ritual. Teilnehmer/-in: Muss man dazu formell Zuflucht genommen haben? Ja, dazu sollte man Zuflucht genommen haben. Traditionell wird das so gehandhabt. *** Das Mantra OṀ MANI PADME HŪṀ darf jeder rezitieren. Es gehört allen Menschen. Es ist keinen Bedingungen unterworfen. Jeder darf damit praktizieren. Das gilt für alle Mantren, die nicht geheim sind oder geheim gehalten werden. Das könnt ihr jedem und jeder weitersagen, ihr könnt es auch ins Ohr von euren Hunden und Katzen flüstern. Zur Tschenresi-Praxis kann man auch gut mal jemanden einladen, bei der Rezitation dabei zu sein. Es ist ein Segen, dabei sein zu können. Die Bedingungen für den Zugang zu dieser Praxis möchte ich auch nicht so streng halten. Es ist auch nicht so, dass ihr alle formell Zuflucht nehmen müsstet. Aber die Motivation muss stimmen. Die Motivation, wirklich zum Wohle aller zu praktizieren, den Geist zu öffnen und sich aufs Erwachen auszurichten. Wenn diese Motivation da ist, dann ist die Voraussetzung für diese Praxis gegeben. Und ob ihr irgendwann mal eine formelle Zufluchtnahme habt, das wird sich zeigen. Wir ticken da ein bisschen anders. Manchmal kommt bei uns der formelle Schritt etwas später, nachdem wir uns das Ganze ein bisschen länger angeschaut haben. Für das Empfangen dieser Erklärung gab es auch früher, bei Gendün Rinpoche, nie eine Kontrolle, ob wohl jeder Zuflucht genommen hat. Wenn ihr diese Praxis aber als tägliche, persönliche Praxis ausführen wollt, dann müsst ihr euch drum kümmern, die formelle Ermächtigung, die Initiation, zu erhalten. Das ist dann notwendig. Ob ihr das machen wollt, könnt ihr nach dem Kurs entscheiden. Dann wäre es aber gut, diese Übertragung von einem Meister auch formell zu bekommen. Das wäre dann das, was man Ermächtigung nennt. *** Meditation Bevor wir in die Puja hinein gehen, ist es wichtig, dass wir uns Zeit nehmen, überhaupt hier anzukommen. Spürt euren Körper. Das bedeutet, alle Empfindungen mit Interesse wahrzunehmen und sich den Empfindungen zuzuwenden, die jetzt gerade unser körperliches Befinden ausmachen. – Wir spüren, dass wir gut sitzen, dass wir eine angenehme Haltung gefunden haben. Wir spüren den Körper. Dann fühlen wir in unsere geistige Befindlichkeit hinein, in welcher Stimmung wir gerade sind. Wie fühle ich mich gerade? Kontemplation der vier Grundgedanken: Der erste Gedanke ist, Dankbarkeit und Wertschätzung für unser kostbares Leben zu entwickeln. Wofür kann ich jetzt gerade dankbar sein? Die wunderbaren Bedingungen,

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die jetzt zusammenkommen, um den Dharma zu praktizieren, sind ebenfalls der Vergänglichkeit, dem Wandel unterworfen, wie alles andere auch. Ich bedenke den allgegenwärtigen Wandel und stelle mir die Frage: „Was ist für mich besonders wichtig, besonders dringlich angesichts der Tatsache, dass auch ich sterblich bin und nicht weiß, wann ich sterbe. Was ist für mich heute besonders wichtig? Wo finde ich wahres Glück, wahre Freude und Freiheit?“ Jetzt lenken wir unsere Gedanken zur Zuflucht, lassen vor uns Tschenresi als Verkörperung des Erwachens entstehen. Um uns herum sind alle Lebewesen. Wir spüren das mit jeder Zelle unseres Körpers. Wir sind an einem Ort, an dem wir uns wohl fühlen. Wir fühlen unser Verbundensein mit allen und richten uns auf das aus, was uns am allerwichtigsten ist. Mit dieser inneren Haltung rezitieren wir sieben Mal die Zuflucht. Rezitation: Zuflucht und Bodhicitta Tschenresi löst sich in ein großes Strahlen auf, wie bei einem Regenbogen, verschmilzt mit uns und allen Lebewesen. Unmittelbar darauf entsteht Tschenresi wieder, diesmal direkt über unserem Kopf, auf Lotus und Mondscheibe sitzend. Wir singen zusammen die nächsten Zeilen, während wir auch die Übersetzung lesen können. Rezitation: Visualisation – Dag sog kakyab semtschän-gyi… Mit der ganzen Kraft unserer Hingabe beten wir zu Tschenresi über uns, um unser Herz voll und ganz für diese Bewegungen in unserem Geist, die wir Tschenresi nennen, zu öffnen. Rezitation: Lobpreisung – Djowo kyön-gyi ma-gö kundog kar... Rezitation: Detar tse-tschig söl tabpä… Während wir uns der Bedeutung gewahr werden und uns selbst und alle anderen als Tschenresi wahrnehmen, singen wir zusammen einige Male das Mantra und rezitieren es dann nicht gesungen weiter. Mantrareziation – OṀ MANI PADME HŪṀ Stille Und dann gehen wir aus dem stillen Verweilen im natürlichen Sein wieder in die Aktivität mit den Ermuti gungen, wie sie hier im Text stehen: Ich und die anderen, der Körper und alle Erscheinungen, sind der Körper des Edlen, alle Laute und Klänge sind die Melodie der sechs Silben, alle Gedanken sind die Weite des großen, ursprünglichen Gewahrseins. *** Diese feine Wahrnehmung der Tschenresi-Natur unseres eigenen Seins versuchen wir jetzt wachhalten, während wir zuhören, aufnehmen, andere wahrnehmen und in den Tag hinein gehen. Da wir mit der Unter weisung weitermachen, wäre es nicht angemessen, jetzt schon alles zu widmen und hier abzuschließen, denn wir sind mitten in der Praxis drin. Die geht jetzt nur anders weiter. Lasst uns mit Tschenresi-Ohren hören, mit einem Tschenresi-Mund sprechen, als Tschenresi präsent sein und lasst uns alles, was wir in unserem gewöhnlichen Sein so mitbringen – unser ganzes karmisches Gepäck – in dieses Tschenresi-Bewusstsein hinein einladen. Wir machen es so, wie wir es gestern kurz mal praktiziert haben: Wie wäre es, im normalen Sein mal so ganz und gar Tschenresi zu sein und uns auf diese Bewegung in unserem Geist einzulassen? Immer wieder erlauben wir uns, dass unser Geist in diese Bewegung geht, in diese Richtung, uns selbst wie auch andere so wahrzunehmen. Das bringt eine neue Dynamik in unsere Wahrnehmung, in unser Interpretieren und unser Reagieren hinein. Es gibt eine andere Dynamik. Wir laden sie ganz bewusst ein. Teilnehmer/-in: Sollen wir, wenn wir uns und die anderen als Tschenresi visualisieren, auch die Unterschiede wahrzunehmen? Die einen haben runde Gesichter, andere schauen etwas ernst und wieder andere sind locker drauf – alle eben ein bisschen anders.

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Es ist gut, dass du diese Frage stellst. Es geht überhaupt nicht darum, die anderen als Tschenresi mit weißem Körper und vier Armen zu sehen. Wir alle bleiben genau so, wie wir jetzt sind – also richtig schön unter schiedlich. Wenn wir alle als Tschenresi betrachten, dann betrachte ich dich als Fabienne-Tschenresi. Da braucht sich äußerlich nichts zu ändern. Das ist einfach das wunderbare Entdecken von dieser erwachten Dimension in anderen, diese Qualität, die durchschimmert. Teilnehmer/-in: Und bei sich selbst? Und bei sich selbst genauso. Immer sich selbst und andere gleich behandeln. Nicht einmal das HRIH in meinem Herzen und die richtige Ausrichtung? Nicht einmal das. Nur dann, wenn du die Ausrichtung verlierst, tut es dir vielleicht gut, das H RIH wieder in deinem Herzen zu visualisieren. Dann erinnerst du dich: „Ah ja, da ist doch diese Leuchtkraft, das Bodhicitta in meinem Innersten.“ Damit schlägst du eine Brücke in das eigentlich Sein. Wenn du aber in Kontakt bist, brauchst du das nicht. Du hast gesagt, dass wir zuerst Tschenresi über unserem Kopf visualisieren und während der Rezitation visualisieren wir uns dann selber als Tschenresi mit Amitabha über unserem Kopf. Stimmt das so? Und wann genau wechsle ich? Du hast ja schon viele Tschenresi-Ermächtigungen bekommen und praktizierst nun schon seit über dreißig Jahren. Du kannst dich in dem Moment, wo du daran denkst, sofort als Tschenresi visualisieren. Du brauchst nicht nach einem Ort in der Puja zu schauen. Spätestens solltest du dich aber dann als Tschenresi visualisieren, wenn es heißt: „Lichtstrahlen von Tschenresi gehen zu allen Lebewesen und verwandeln sie in Tschenresi.“ Und das ist ja schon bei dem Gebet mit den sechs Daseinsbereichen der Fall. Wir müssen uns immer mit einbeziehen. Es ist ein Grundprinzip von Vajrayana, dass man sich selbst und andere gleich behandelt. Wir sind immer in der „Wir-Vision“. Es geht nicht, dass wir alle anderen in Tschenresi verwandeln, wir selbst aber in gewöhnlicher Form bleiben. Genauso geht es auch nicht, dass wir uns verwandeln und die anderen nicht. Nein, immer alle. Wenn ich mich als Yidam visualisiere, dann alle anderen auch. Wenn ich mich als so etwas wahrnehme, dann alle anderen auch. Wenn ich die anderen so wahrnehme, dann mich auch. Das ist ein Grundprinzip aller Yidam-Praktiken. Denn sonst würde sich auf subtile Art wieder Trennung einschleichen. Es würde sich Dualität einschleichen und ein subtiler Stolz, anders zu sein, der agierende Teil zu sein, der etwas für die anderen tut, sich selbst aber raus hält. Das alles wären Holzwege. Von daher: Jemand, der die Ermächtigung erhalten hat, kann sich in dem Moment als Tschenresi visuali sieren, in dem es ihm ins Bewusstsein kommt. Ich weiß, dass tibetische Lehrer sehr unterschiedliche Antworten auf die eben gestellte Frage geben. Ich würde sagen, der späteste Zeitpunkt, zu dem wir uns als Tschenresi visualisieren sollten, ist dann, wo wir andere Lebewesen als Tschenresi wahrnehmen. Spätestens dann, wenn das Licht zu allen Lebewesen ausgesendet wird, sollte es uns auch erreichen. Und das ist zu Anfang, in der Mitte, oder spätestens am Ende der Mantra-Phase. Dann sollte es soweit sein. Der Text ist da eindeutig, er sagt es schon zu Beginn. Schon vor der Mantra-Phase weist er uns darauf hin, dass alle Lebewesen Tschenresi sind. Deswegen ist dort der angemessene Zeitpunkt. Dann gibt es orthodoxe Antworten von tibetischen Lehrern, die meinen, man könnte sich irgendwie zu früh als Tschenresi visualisieren. Deshalb sind sie in diesem Punkt sehr zurückhaltend. Aber das war überhaupt nicht Gendün Rinpoches Art. Er ging mit uns so um, dass er sagte: „Du warst schon Tschenresi, bevor du vom tibetischen Buddhismus gehört hast! Das bist du nicht erst, seit du von diesen Unterweisungen hörst. Das ist deine Grundnatur, und die Visualisation ist nur eine Methode. Bitte, bitte, zögere keinen einzigen Moment, mit deiner Grundnatur Kontakt aufzunehmen. Du bist es ohnehin schon. Du bist es nicht erst, wenn du eine Ermächtigung und Erklärungen bekommst.“ Wir sind es schon. Es ist unser grundlegendes Sein. Es ist nur ein fremdes Wort für das, was wir eigentlich sind. Es gibt einige Praktizierende unter uns, die stark im christlichen Glauben verwurzelt sind, und ich glaube, ihr hört das alles noch mit einem zweiten Ohr, und da ist die Übersetzung: Wir sprechen über die Christusnatur, die Gottesnatur, die in uns allen ist. Die benennen wir hier nur anders, als Tschenresi eben. Das ist überhaupt nichts anderes. Nur würden Christen da vielleicht denken, es wäre zu profan zu sagen:

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„Gott ist eine Bewegung unseres Geistes.“ Das würde ihnen wohl nicht so schmecken, weil sie immer noch etwas ganz Besonderes daraus machen wollen. Dabei ist das wunderschön. Diese Schöpferkraft, die wir Gott zusprechen, ist die Dynamik unseres Geistes. Es ist diese Dynamik, die die Welt erschafft. Durch Praktiken, wie die von Tschenresi, habe ich leicht Zugang zur Bibel und zu den Erklärungen aus dem christlichen Hintergrund gefunden. Es offenbart sich einem alles, was damit gemeint ist. Im tibetischen Buddhismus wird es etwas expliziter ausgedrückt und auch deutlicher darauf hingewiesen – auch in den Texten, die allen zugänglich sind. Das sind keine geheimen Unterweisungen, wo man sich in spezielle Kreise hineinbegeben muss, um etwas darüber zu erfahren, sondern das Wissen ist allgemein zugänglich. Wir sprechen hier über nichts anderes. Was wir Buddhanatur nennen, ist die Grundnatur des Menschen, die erwachte Natur. Es ist das, was sich im Christentum offenbart, wenn in der christlichen Sprache alle Sünden gereinigt sind. Wir nennen das: Wenn alle Schleier aufgelöst sind. Das ist nur eine andere Sprache. Auf die eine reagieren wir manchmal ein bisschen allergisch – deshalb befinden wir uns hier ja auch in einem buddhistischen Zentrum –, aber es ist dasselbe gemeint. Und wenn wir den Zugang dazu wieder finden, dann können wir auch mit der christlichen Sprache wieder etwas gelassener umgehen. Es ist nicht so verschieden, nur dass im tibetischen Buddhismus (oder überhaupt im Buddhismus) so ein tiefes Verständnis von der Non-Dualität verankert ist. Die ganze buddhistische Lehre baut auf diesem Verständnis von der Natur des Geistes auf, also auf dem, was wir śunyata oder Leerheit nennen, die nichtfassbare Natur des Seins. Die christliche Lehre, die vielleicht auch einmal darin begründet war, hat diesen Aspekt, den Weisheitsaspekt, sehr wenig betont und ist sehr stark ins Vergegenständlichen gegangen. Ein Vergegenständlichen, bei dem Christus und Gott vergegenständlicht wurden und die Darstellung des Letztendlichen gepflegt wurde, die eine Trennung von Mensch und Gott vermuten ließ oder diese Trennung sogar richtiggehend unterstrichen hat. Da hat eine Entwicklung stattgefunden, die aus meiner Sicht nicht so gesund ist. Viele Christen sind jetzt dabei, diese Trennung wieder aufzulösen, um zur Essenz zu finden. Da sind wir uns einig, und da treffen wir uns. Dabei wissen wir aber, dass wir dankbar sein können, dass das in der buddhistischen Tradition so klar benannt wird. Es geht um dieses non-duale, dynamische Gewahrsein, das alle Qualitäten bereits in sich trägt und wo es nichts zu erzeugen gibt. Es ist tatsächlich so, dass ein Ich nicht zur Erleuchtung finden kann. Es wird nie ein Ich erleuchtet werden. Man kann auch nicht aus der Ich-Kraft heraus ins Erwachen finden. Es wird den Buddhisten oft vorgeworfen, sie würden irgendwie durch eigene Anstrengung ins Erwachen finden wollen. Aber das schafft keiner. Das geht gar nicht. Und hier haben wir eine Praxis, die sehr, sehr nahe an dem dran ist, was wir vielleicht auch von früher aus der Kirche kennen – nur ist es ganz und gar von der buddhistischen Sichtweise durchdrungen. Die Vorstellung von Getrenntheit wird nicht zugelassen. Es findet immer die Auflösung und Verschmelzung statt. Es wird immer wieder nach Hause geholt, was an eigenen Projektionen, an eigenen Bildern vom Letztendlichen entsteht. Die werden alle immer wieder aufgelöst und wieder nach Hause geholt, das heißt in den eigenen Geist verschmolzen. Es bleibt nicht die Illusion von Getrenntheit übrig, sondern die Erfahrung von NichtGetrenntsein, von grundlegendem Eins-Sein, in dem die Idee von Getrenntheit gar nicht auftaucht. Mache ich mich so verständlich? Dann lasst uns doch mal in den Kommentar reinschauen. Es war nicht ganz unabsichtlich, dass ich diesen Schlenker über die christliche Sichtweise gemacht habe, denn wir kommen im Kommentar zu einer Passage, in der es ganz stark um das Reinigen von Schleiern, um das Auflösen von Negativität geht.

b) Die Visualisation des Ausstrahlend und Sammelns, um unsere drei Tore mit denen der Gottheit zu vereinigen Nachdem wir so … … so wie das Licht einer Lampe im Nu alle Dunkelheit vertreibt. Wir kommen jetzt zur Aufzählung von all dem, was da gereinigt wird. Wir werden hier mit einem Aspekt der Tschenresi-Praxis vertraut gemacht, die mit der Varjasattva-Praxis, der Dorje Sempa-Praxis, die als die große Reinigungspraxis gilt, identisch ist. Tschenresi kann man genau so praktizieren. Es geht darum, dass wir uns,

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wenn wir von diesen Lichtstrahlen erreicht werden, dafür öffnen, dass unsere Grundnatur total rein ist. Es geht also darum, dass wir uns nicht mehr mit dem „Sündigen“, dem „Verschleierten“ identifizieren, sondern durch diese Schicht unserer Verwirrung und Verstrickung hindurch entspannen und uns dafür öffnen, dass wir in der Tiefe vollkommen rein und gut sind. Das ist das All-Gute in uns. Auch das ist wieder so eine Brücke zum Christlichen. Küntu Sangpo, Samantabhadra, heißt der oder das „All-Gute“ und ist eine andere Bezeichnung für unsere Buddhanatur. Das All-Gute und Gott haben dann etymologisch wieder dieselben Wurzeln. Es ist das, was in uns total heil ist. Wenn wir uns da hinein fühlen, dann verstehen wir, was mit Sündenvergebung im Christentum gemeint ist. Das ist ein ganz wesentlicher Aspekt. Da wird gesagt: Jemand hat am Kreuz alle Negativität der Welt auf sich genommen. Das ist, wie in einer intensiven, völlig offenen Tonglen-Praxis: Sich für all das, was an Belastendem in der Welt ist, zu öffnen, in sich hinein zu nehmen und im Verbundensein mit allen Lebewesen in sich aufzulösen. Im Grunde genommen ist das Beispiel von Christus einem großen Bodhi sattva, der Tongeln praktiziert und sich für das Verbundensein mit allen Lebewesen öffnet, sehr ähnlich. Auch er lässt sich darauf ein, dass alle Negativität, alles Schwierige, alle Schleier, in sein eigenes Herz strömen, aber da wird nicht vergegenständlicht, sondern in der Liebe, im Nichthaften befreit. Wir werden eingeladen, das in unserer Visualisation genauso zu machen. Genau so, wie es die Bodhisattvas machen. Wir sind uns unserer Verstrickungen, unserer Negativität, der Übertretungen von Gelübden, der nicht eingehaltenen Versprechen usw. bewusst, also all dessen, was wir im Leben an Murks gemacht haben. Wir sind uns dessen bewusst, identifizieren uns aber nicht mehr damit. Dadurch ist es möglich, dass sich unsere heile, gesunde Grundnatur jetzt gerade offenbart, und es braucht keine Verzögerung. Es ist nicht notwendig, dass wir da länger dran hängen bleiben und uns den Weg durch Identifikation mit Schwierigem in uns verbauen lassen. Der 15. Karmapa zählt hier auf, was alles aufgelöst wird: Zu diesen Vergehen gehören die „fünf Vergehen mit unmittelbaren Folgen“… Das sind schlimmste Vergehen, die uns normalerweise im Moment des Todes, beziehungsweise unmittelbar nach dem Tod, in schlimmste geistige Zustände befördern würden, wenn wir da nicht aufgeräumt hätten. Durch derartige Handlungen wird eine sehr starke karmische Kraft aktiv, durch die wir aufgrund der z.B. nicht gereinigten Beziehung zu unseren Eltern in tiefste Verzweiflung geschleudert werden. Aber all das kann sich auflösen. Es ist unglaublich, welche Möglichkeiten unser Geist hat. Entweder greifen wir, wir halten daran fest, jemand zu sein, der sich schwer vergangen hat, und unser ganzes Leben geht den Bach runter, weil diese schlimme Tat in unserem Leben war. Es gibt tatsächlich Menschen, die entweder Mutter oder Vater umgebracht haben. Ich hatte indirekten Kontakt zu einem jungen Mann, der mit 18 Jahren im Alkoholrausch seinen Vater, der ebenfalls im Alkoholrausch war, mit der Axt erschlagen hatte. Im Gefängnis fand er dann Zugang zur buddhistischen Lehre und bat darum, Zuflucht nehmen zu dürfen. Solch berührende Geschichten zeigen, dass Heilung stattfinden kann, wenn Zugang zu einer neuen Sichtweise gefunden wird und Kontakt zur eigenen heilen, gesunden Grundnatur aufgenommen werden kann. So muss man sich nicht ständig mit dem Schlimmen, das passiert ist, identifizieren. So jemandem wird natürlich Zuflucht gegeben, er kann den Weg gehen und sogar ins Erwachen finden. Zur Zeit des Buddha lebte der Serienmörder Angulimala. Von ihm heißt es, dass er 999 Menschen umbrachte und auch den Buddha selber noch umbringen wollte. Eigentlich wollte er seine eigene Mutter töten, aber der Buddha ging dazwischen, und dann versuchte Angulimala, den Buddha umzubringen. In der Begegnung mit dem Buddha hatte er einen Spiegel vor sich und fand dadurch zu seiner Grundnatur. Er brach zusammen, nahm Zuflucht und konnte seinen Weg gehen. Er erlangte noch in diesem Leben völlige Befreiung. Milarepa ist ein anderes Beispiel. Milarepa hatte nicht direkt durch seine eigene Hand andere umgebracht, aber offenbar fanden durch seine Schwarzmagie 23 Menschen den Tod. Verheißungsvoll für uns ist, dass es einen Weg gibt, da auszusteigen – was auch immer uns belastet. Ich erinnere mich noch, wie Gendün Rinpoche anlässlich der Vajrasattva-Praxis bei uns im Häuschen saß und sagte: „Eine Mala, voll bewusst mit ganzer Hingabe praktiziert, und den Segen einladen, und du kannst am

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Ende der Mala völlig frei sein von allem, was dich belastet. Wenn du mit Hingabe für kurze Zeit intensiv praktizierst, kannst du alles hinter dir lassen. Du musst nur irgendwie den Weg zu dieser Öffnung für deine eigene Grundnatur finden.“ Nichts hindert uns wirklich daran, außer vielleicht, dass wir uns nicht so ganz einlassen, dass wir uns diesen inneren Hemmnissen nicht ganz und gar zuwenden und alles offenlegen. Und dann müssen wir aber auch loslassen und den Segen einladen. Das geht eben auch mit OṀ MANI PADME HŪṀ und mit jeder Praxis, die unser Herz in diesem Maße für unsere erwachte Natur öffnet. … und die „zehn nichtheilsamen Handlungen“. Die drei nicht-heilsamen Handlungen des Körpers sind:   

töten, [Menschen oder andere Lebewesen ihres Lebens zu berauben], stehlen oder genauer: „Nehmen, was uns nicht gegeben wurde“ und sexuelles Fehlverhalten.

Das sind die drei nicht-heilsamen Handlungen mit dem Körper. Sexuelles Fehlverhalten ist immer das Verhalten, wo bestehende Beziehungen nicht respektiert werden, bestehende Gelübde nicht respektiert wer den, wo Leid für einen der Beteiligten oder für mehrere entsteht. Die vier nicht-heilsamen Handlungen der Rede sind:

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schwerwiegende Lügen, die unserem Lehrer oder anderen schaden, – dazu gehören auch Lügen über unsere eigene Verwirklichung, mit denen wir uns ein spirituelles Mäntelchen umlegen. verleumdende Rede, die zu Zwietracht führt, – wo wir jemanden Drittes verleumden und damit zur Entzweiung zwischen Freunden beitragen, sodass Menschen sich Feind werden. harsche Worte, die andere verletzen – all die Verletzungen und Beleidigungen und schlimmen Dinge, die wir vielleicht im Streit mit anderen gesagt haben. sinnloses Geschwätz, mit dem wir die Zeit killen. Im Grunde genommen heißt das, dem anderen die Zeit zu stehlen, die mit Besserem, mit Sinnvollerem hätte gefüllt werden können; müßiges Geschwätz, das überhaupt nichts bringt.

Tatsächlich sammeln wir in diesem Bereich der Rede am meisten Karma an, hier lassen wir uns am meisten von Unachtsamkeit hinreißen. In der einen oder anderen Weise ungut zu sprechen, ist oft der Bereich, in dem unsere Beziehungskonflikte entstehen. All das holen wir in unser Bewusstsein hinein, während wir Tschen resi praktizieren. Die drei nicht-heilsamen Handlungen des Geistes sind:

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habsüchtige oder begehrende Gedanken wie: „Wäre der Besitz des anderen doch meiner“, böswillige Gedanken wie: Wie kann ich dem anderen schaden?" – Schadensabsichten. Es ist ja selten, dass jemand sich richtig überlegt, wie er dem anderen schaden kann. Aber manchmal haben wir den Impuls, ein Wort zu sagen oder etwas zu tun, was dem anderen schadet wie etwa: „Soll er doch selber sehen, wie er damit zurechtkommt.“ Dem anderen schaden also in dem Sinn, dass wir etwas, was dem anderen zum Schaden gereicht, vielleicht nicht beheben, es nicht ansprechen und damit den anderen einfach so reinlaufen lassen. Das gehört alles mit in diesen Bereich. falsche Ansichten zu hegen wie: „Die Qualitäten der Befreiung sind nicht wahr“. – Beispiel: Es gibt keinen Weg der Befreiung, es gibt kein Erwachen. – oder: „Schädliche Handlungen haben keine Folgen.“ Das würde heißen, dass man sich verhalten kann, wie man will und es Karma nicht gibt, also Ursache- und Wirkungsbeziehungen zwischen Handlung und dem, was wir erleben, werden abgestritten. Damit haben wir einen Freibrief für ein Verhalten, das wir einzig nach unserem Belieben gestalten. All das sind Beispiele für nicht-heilsame Einstellungen in unserem Geist.

Im Grunde genommen geht es immer darum, aus einer starken Form von Ich-Bezogenheit heraus gehandelt zu haben und sich selbst über das Wohl des „Wir“ zu stellen. Eigentlich geht es darum, den oder die anderen vergessen zu haben, also das „Wir“, das allen so gut täte. Natürlich sind wir da alle betroffen und brauchen

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Wege, wie wir damit nicht nur zurechtkommen können, sondern wie wir das auf gute Art und Weise auflösen können. Ich werde über dieses „auf gute Art und Weise auflösen“ noch mehr sagen. Es geht ja darum, dass alles, was im Gewahrsein auftaucht, angenommen wird, offen gelegt wird, bereut wird und eine Neuorientierung stattfindet. Es ist wichtig zu wissen, mit welchen Mustern wir es zu tun haben, damit uns die Muster nicht wieder unvorbereitet erwischen. Wir brauchen also eine klare Ausrichtung und eine Bekräftigung, denn die Muster sind stark, das wissen wir. Die sind heftig. Das heißt, unsere Praxis muss noch stärker sein. Unser Gewahrsein muss die Punkte nicht nur streifen, sondern in den Bereich, in dem diese Muster aktiv sind, neue Verankerungen setzen, die stark genug sind, um allmählich diese Kehrtwende zu vollziehen – mit Rückschlägen, aber die Kehrtwende geht weiter. Wir richten unser Leben neu aus. Wenn die TschenresiPraxis zur Erleuchtung führen soll, dann muss sie diese Kraft entwickeln. Das ist also kein Hobby, um sich an Weihnachten oder so mal ein bisschen gut zu fühlen. Wenn diese Praxis oder irgendeine Praxis zum Erwachen führen soll, dann muss sie die Kraft in uns freisetzen, die emotionalen und die kognitiven Schleier aufzulösen. Nur dann führt sie zum Erwachen. Deshalb steuert der Karmapa mit seinem Kommentar hier auch direkt in die unangenehmen Bereiche hinein. Es geht in der Praxis darum, sich mit all seiner Verstrickung und Negativität auseinanderzusetzen. Diese zehn nicht heilsamen Handlungen und ähnliches Tun … … [die mit dem Nehmen der Gelübde begonnen wurde,] … Ihr fragt euch jetzt: „Wir haben doch keine Gelübde genommen?“ – Eigentlich nehmen wir das Gelübde jedes Mal, wenn wir den Vierzeiler „Sangye tschö dang …“ rezitieren. Das ist das Bodhisattva-Gelübde. Es beinhaltet, dass wir schädliches Handeln aufgeben und heilsames Handeln kultivieren. Denn, wie sonst wollen wir selber und andere zum Erwachen kommen? Wenn wir sagen: ‚Freigebigkeit und die anderen Paramitas‘, dann ist Freigebigkeit heilsames Verhalten und damit sind auch Disziplin, Geduld und freudige Ausdauer gemeint. Das ist unser Versprechen, wir versprechen uns immer wieder, zum Wohle aller zu handeln, und das beinhaltet, schädliche Handlungen zu unterlassen. Es ist gut, sich daran zu erinnern, dass dies eigentlich unsere Grundausrichtung ist. Wenn wir zusätzlich noch formelle Gelübde genommen haben, z.B. die fünf Laiengelübde oder die monastischen Gelübde oder Keuschheitsgelübde usw., dann wird es natürlich noch intensiver. Dann haben wir das noch expliziter ausgedrückt. Aber eigentlich ist alles bereits in dieser grundlegenden Bodhicitta-Ausrichtung enthalten. Es macht ja keinen Sinn, Bodhicitta zu praktizieren und weiterhin schädlich zu handeln. Das leuchtet euch doch ein? Teilnehmer/-in: Einleuchten schon. Das geht ja jedem von uns so! Es leuchtet uns ein und dann wird trotzdem anders gehandelt. Das kenne ich auch. Das kenne ich sehr, sehr gut. … und auch für Handlungen, die [im monastischen Umfeld] zwar keine Strafe nach sich ziehen, aber dennoch eine Gelübde-Verletzung darstellen, … Das sind geringere Übertretungen. Es gibt ganz viele Regeln, z.B. darf sich ein Mönch oder eine Nonne nicht mit übereinander geschlagenen Beinen hinsetzen oder er darf nicht mit jemandem vom anderen Geschlecht alleine in einem Raum sein usw. Diese Regeln waren dafür gedacht, ein Verhalten in Indien zu ermöglichen, wo der Kernbereich der Gelübde gut geschützt war. Das sind zusätzliche Regeln, die im monastischen Bereich keine Strafe nach sich ziehen, aber doch Übertretungen sind. All das, meint der Karmapa, gehört auch mit dazu. Auch das muss aufgelöst werden, es muss ins Bewusstsein kommen. … wie auch die zum Teil unbemerkten natürlicherweise schädlichen Gelübde-Übertretungen. Das sind Übertretungen, die gar nicht aufgezählt werden können. Es gibt so viele zunächst unbemerkte Geistesregungen und Handlungen, bei denen wir gar nicht merken, dass wir etwas tun, was anderen schadet oder wo Impulse durch unseren Geist gehen, die wir vor uns selber gar nicht wahrhaben wollen und direkt wieder verdrängen und nicht mitbekommen. All das zählt auch zu dieser ganzen Masse von Verwirrung und Verstrickung, mit der wir in der Welt unterwegs sind. Man will es oft nicht wahrhaben, aber es sind diese kleinen Dinge, die wir zu unserem eigenen persönlichen Vorteil noch schnell ergattern – noch schnell die Parklücke erwischen oder uns das größere Stück Kuchen schnappen. Oder wir wollen gar nicht wahrhaben,

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dass wir zwar bemerkt haben, dass uns die Kassiererin zu viel Geld herausgegeben hat, wir aber nicht darauf reagiert haben. Das passt nicht ganz zu unserem Selbstbild. Das kriegen wir oft mit, manchmal kriegen wir es aber auch nicht mit. Manchmal kriegen wir auch gar nicht mit, wie abfällig wir jemandem gegenüber, der uns nahe steht, im Tonfall geworden sind. Es ist da etwas Abschätziges im Ton. Auch das kriegen wir nicht mit. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, dass wir das, was für den anderen verletzend und distanzierend wirkt, gar nicht in unserem Bewusstsein haben. Das alles gehört in dieses Paket rein, um das es hier geht, dieser ganze Haufen, den wir Negativität und Verstrickung nennen, all unsere emotionalen Schleier. Teilnehmer/-in: Ist da mehr der persönliche Bereich gemeint und nicht der übergreifende? Dass wir z.B. preiswerte Nahrung aus anderen Ländern importieren? Da ist doch auch eine Verstrickung vorhanden. Die Verstrickung ist dort, wo wir zwar merken, dass da etwas Unrechtes abläuft, wir aber doch einen Nutzen daraus ziehen. Wir wissen es. Das gehört alles dazu. Alles, wo wir merken: „He, Mist!“ Unsere ganze Unvollkommenheit, das ist alles mit drin. Dass wir nicht hinkriegen, so ganz klar unseren eigenen Prinzipien, unserem eigenen besseren Wissen gemäß zu leben. Und da können wir einander die Hand reichen. Da sind wir wirklich unausgereift, noch nicht ganz in unserer tiefsten Grundnatur verankert. Teilnehmer/-in: Könntest du noch etwas zu dem fünften Punkt der schwerwiegenden Handlungen, dem Entzweien der Sangha, sagen? Als ich das gelesen habe, dachte ich: Das hat wenig mit mir zu tun. Aber dann bekam ich doch Zweifel. Es fängt ja auch irgendwo an. Es geht um das Entzweien der Sangha. Darüber wurde das erste Mal gesprochen, als der Vetter von Buddha, Devadatta, es geschafft hatte, einen größeren Teil der Sangha auf seine Seite zu ziehen und damit begann, Irrlehren zu verbreiten. Er war motiviert von Eifersucht und Stolz. Śariputra und Maha Maudgalyana haben diese Spaltung aufheben können, indem sie zu Devadatta gingen und ihm Fragen gestellt haben und dann auch Unterweisungen an seine Anhänger gegeben haben. Schwerwiegend daran ist, dass jemand, der die Sangha spaltet, genau dort, wo der Weg der Befreiung stattfinden könnte, wo also echtes Vertrauen ist, unberechtigtes Misstrauen sät. Dadurch wird der Weg zum Erwachen für diejenigen, die sich davon beein flussen lassen, gekappt. Das ist eigentlich das Schlimmste, was passieren kann. Deshalb ist es in der Liste von diesen fünf, weil damit der eigentliche Sinn des Lebens, den Weg des Erwachens zu gehen, unmöglich gemacht wird. Spaltung in der Sangha ist etwas, was immense Folgen hat. Deswegen steht es hier in der Liste. Teilnehmer/-in: Ich habe von einem Khenpo einmal die Erklärung bekommen, dass es diese Handlung in voller Schwere eigentlich nur dann wirklich gibt, wenn man zur Zeit Buddhas lebt. Sie bezieht sich auf eine Situation, wo ein voll erwachter Buddha lehrt und wir mehrere Schüler von ihm davon abbringen würden, ihm zu folgen. Er meinte, dass der Segen von Buddha so stark sei, dass seine Schüler in einem Leben Erleuchtung erlangen könnten. Und diesen Einfluss abzuschneiden, wäre schlimm. In unserem Umfeld ist das nicht so schlimm – so jedenfalls habe ich das verstanden. Danke. Das gilt für alle schwerwiegenden Handlungen, außer dem Vergehen, Mutter oder Vater zu töten, dass sich die Vergehen auf die damalige Situation mit Buddha Śakyamuni beziehen. Teilnehmer/-in: Du hast viel darüber geredet, was nicht sein soll. Das sind die unheilsamen Handlungen. In der Bibel ist das auch so. Da stehen die zehn Gebote drin. Auch da steht, was wir nicht tun sollen, z.B. nicht die Ehe brechen. In der Tschenresi-Praxis müssten wir doch eher schauen, was sein soll, was wir tun sollen. Das kommt jetzt. Das ist der Rest des Kommentars. Gut. Ich habe mal die zehn heilsamen Handlungen für mich zusammengestellt. Das ist befreiend, weil es mir sagt, was ich tun kann: Ich bin freigebig, ich sage die Wahrheit usw. Dadurch ist nicht ständig die Negation in meinem Geist drin. Ich verstehe dein Anliegen absolut. Wir sind so geschwächt in unserem Selbstbewusstsein, dass wir dieses Herumreiten auf der Negativität nicht wirklich gebrauchen können. Nun muss ich immer, wenn ich diesen Kommentar unterrichte, durch diese schwierige Passage hindurch. Ich tue uns allen jetzt den Gefallen, die heilsame Seite nochmals in Worte zu fassen, die hier nicht beschrieben wird, in anderen Texten aber zu finden ist, was wir tatsächlich tun können.

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Teilnehmer/-in: Ich sehe das genau so. Aber trotzdem ist es manchmal leichter, Sachen einfach zu lassen, als extra noch etwas Positives drauf zu setzen. Z.B. diese Entzweiung der Sangha, die ich in der wechselhaften Geschichte hier am Ort durchaus selber miterleben durfte. Ich finde, es ist manchmal viel, viel leichter die Klappe zu halten, als noch etwas Positives einzufügen. Es ist oft wirksamer, auf Dinge zu verzichten, weil ein kleiner, blöder Satz eine hässliche Wirkung haben kann. Es ist oft so, dass man dann viele, viele gute Sätze bräuchte, um den gleichen Effekt zu erzielen. Da bin ich für die Effizienz. Sage ich lieber was Positives oder verzichte ich einfach auf so einen kleinen, negativen Satz? Ja, wir wissen ganz gut, wie sich andere verhalten sollten! Jetzt will ich aber mit euch die positive Seite durchgehen, denn eigentlich braucht es das. Jemand, der auf dem Weg ist, Tschenresi praktiziert oder eine verwandte Dharmapraxis ausführt, bemüht sich darum, Leben zu erhalten, zu schützen, zu pflegen, Kranke zu pflegen, Gesundheit zu unterstützen und körperlich Bedingungen zu schaffen, die nährend wirken. Wir pflegen also das Positive wirklich in jeder Form und wirken fürsorglich, lebenserhaltend, lebensfördernd, wo immer wir das können. Wir üben Freigebigkeit. Wir teilen das, was wir miteinander haben – nicht nur das, was überflüssig ist, sondern auch das, was wir selber brauchen. Auch das teilen wir mit anderen und stellen es dem „Wir“ zur Verfügung. Wir tun das, was der Situation dient und allen hilft, den Weg der inneren Öffnung zu gehen. In der Sexualität schauen wir, dass unsere Beziehungen heilsam sind, dass sie die Liebe fördern, den Fluss zwischen Menschen stärken. Es ist wichtig, dass sie Verständnis hervorbringt, alte Wunden geheilt werden und tiefes Vertrauen entsteht, dass sich jeder gegenseitig wertgeschätzt fühlt – all das, was gesunde, wache, lebendige, mitfühlende und liebevolle Sexualität ist. Sie kann kraftvoll, auch wild sein, aber immer respektvoll. In unserem Redeverhalten sprechen wir aufrichtig. Wir kaschieren nichts, was für den anderen wichtig ist zu wissen. Was hilfreich ist, sagen wir, wir sprechen so unterstützend, dass Beziehungen zusammenfinden. Bei Menschen, die sich aufgrund von Missverständnissen getrennt haben, da klären wir die Missverständnisse. Wir wirken klärend, hilfreich und unterstützend und nutzen unsere wertvolle Zeit für heilsame Kommuni kation. Die klassischen Beispiele über nicht-heilsame Kommunikation brauchen wir uns nicht rein zu ziehen. Es kann heilsam sein, über Politik zu sprechen. Wir können auch auf gute Weise über gesellschaftliche Entwicklungen, über soziale Dinge und über das Tagesgeschehen sprechen. Aber lasst es uns ein Anliegen sein, das wirklich so zu tun, dass wir die Kraft finden, uns den Herausforderungen zu stellen und dass wir den Humor und den Witz zulassen. Aber nicht den Witz auf Kosten anderer, sondern den Humor, der wirklich im „Wir“ stattfindet, wo wir alle lachen können, weil wir uns alle wiedererkennen und wo wir uns einfach entspannen können, weil auch ernste Buddhisten endlich mal ganz gelöst und völlig sinnbefreit schwätzen können. Das ist auch schön und das ist auch heilsam. Aber dies tun wir nicht einfach, um die Zeit verstreichen zu lassen. Es ist nicht dieses Schwätzen, um den Raum zu füllen und um sich selber zu bestätigen, sondern wir sind im Wir-Modus. Der Wir-Modus ist immer eine gute Lösung, denn sobald wir „wir“ denken, ist die Sache, um die es geht, eigentlich klar. Was die heilsamen Handlungen des Geistes angeht, so geht es um ein Kultivieren dessen, was unser Herz öffnet und uns in ein gutes Kommunizieren und ein gutes Sein mit uns selbst, mit anderen und mit der Natur hineinführt. Es geht um all die Qualitäten der Freigebigkeit, der Liebe, des Mitgefühls, des weisen Beden kens, des gelassenen und gelösten Seins, der Offenheit für andere Anschauungen und den nicht-sektiererischen Umgang mit anderen, der wirkliches Interesse für andere Richtungen zeigt und sich nicht abschottet, sondern wirklich offen drauf zugeht und fragt. Denn fragen und verstehen wollen ist das, was wir kultivieren wollen. Wo wir Scheuklappen bemerken, da versuchen wir, sie aufzuklappen. Wenn wir Hem mungen haben, uns überhaupt einzulassen und zu interessieren oder wenn wir innerlich die Meinung haben, dass das irgendwie nicht sein sollte, dann entwickeln wir Interesse und gehen in dieses „Wir“ hinein: Wie kann man das verstehen? Was meint der/ die Andere? Wie kommt jemand zu solchen Anschauungen? Auf welchen Erfahrungen baut es auf? – Entwickelt den Forschergeist, also den Wunsch, das menschliche Sein zu erforschen. Entwickelt diese grundlegende Offenheit, immer wieder die eigene Überzeugung in Frage zu stellen. Immer und immer wieder, auch wenn wir das ganze Leben gebraucht haben, um zu der Überzeugung zu gelangen. Und doch lassen wir auch die immer wieder auf den Prüfstand kommen. Ist sie noch die heil samste Ansicht oder gibt es noch etwas Heilsameres? Bis wir merken: Alle Standpunkte müssen verlassen

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werden, denn es sind lediglich Standpunkte für wen? Für mich! Dieses Ich ist es, das Standpunkte hält. Die anderen bieten hilfreiche Sichtweisen an. Hilfreiche Sichtweisen anzubieten, ist etwas Wunderbares. Und dann probieren wir so lange, bis wir die Sichtweise finden, die demjenigen, mit dem wir zusammen sind, angemessen und hilfreich ist. Das ist eine Beweglichkeit des Denkens, in der wir tatsächlich Tschenresi manifestieren in dieser Welt. Was auch immer für Gelübde … … den Fall in niedere Daseinsbereiche bewirken [können]. Da müsste man nach „bewirken“ das Wort „können" anfügen, denn alles kann gereinigt und aufgelöst werden und hat dann überhaupt keine Folgen mehr. Das steht zwar so nicht im tibetischen Text, ist aber so gemeint. Der Ausdruck „Geheimes Mantra“ – Tib.: sang ngak – bedeutet nicht, dass das Mantra hier geheim wäre, sondern das ist ein Überbegriff für Mantrayana – der Weg des Geheimen Mantras. Es hat also nichts damit zu tun, dass die jeweils besprochene Praxis ein Mantra enthält, das geheim wäre. Was wir Vajrayana nennen, wurde in Tibet meistens sang ngak genannt, also Geheimes Mantra. Das ist gut zu wissen, um nicht zu denken, dass diese Praxis streng geheim wäre. Sie ist so geheim, wie sie schwierig zu erklären ist. Sie ist nicht so offenkundig, nicht so ganz leicht zu verstehen, kann aber im Grunde mit jedem geteilt werden, der offen und interessiert ist. Als Ansammlung von Vergehen … … Verwirklichen der Erleuchtung. Was sind denn eigentlich Vergehen? Eigentlich findet Vergehen immer dann statt, wenn wir nicht in unserer Grundnatur sind. Dann vergehen wir uns ein bisschen gegen uns selber, weil wir nicht wirklich unseren tiefsten Impulsen und eigenen Wertvorstellungen folgen. Das ist aber nicht als ein schlimmer und starker Begriff zu verstehen, sondern eher so, dass wir nicht auf der Spur sind. Wir haben uns ein wenig verlaufen. Und nicht wirklich das zu leben, was unser eigenes Potential, unser eigenes Anliegen ist, ist besonders schmerzhaft. Es ist genau das, was uns so zusetzt und was dazu führt, dass wir uns in so einem Fall uneins mit uns selber fühlen und merken: „Verflixt noch mal! Ich war wieder nicht in dem, was ich eigentlich leben möchte. Es tut mir leid und ich würde ja gerne wissen, wie ich dran bleiben kann.“ Ein Teil der Antwort, die uns in so einer Situation helfen kann, ist diese Praxis. Dass wir leider nicht das leben, was wir bereits erkannt haben, was wir möchten und was unser Potential ist. Es ist ein allgemein-menschliches Erleben. Und diesem Erleben stellen wir uns auf eine gute Weise. Wir bekommen gleich ganz konkrete Hilfestellungen dafür. Die visualisierten Lichtstrahlen … … emotionaler Verblendung – Verstrickung – entstanden sind. Immer, wenn diese belastenden und verwirrenden Emotionen in uns aktiv sind, fallen wir aus unserer Grundnatur heraus, wir verlieren den Kontakt dazu. Wir sind in dem Moment verschleiert. Wenn Emotionen wie Verlangen, Abneigung, subtiler Stolz, Vergleichen und Rivalität aktiv sind, dann sind wir nicht mehr im Vollbesitz unserer Kräfte. Wir haben nicht mehr die Freiheit, wirklich frei zu handeln, zu entscheiden und zu sprechen. Wir sind unter einem Einfluss von Kräften und Mustern, die jetzt gerade in uns aktiv sind. So etwas erlebe ich als sehr, sehr schmerzhaft. Es macht mich besonders traurig, weil da die Praxis noch nicht greift und ich noch keine Möglichkeiten entwickelt habe, direkt auszusteigen. Dabei wäre das so schön! Aber eben: Mühsam nährt sich das Eichhörnchen. Geduldig gehen wir unseren Weg. Das ist der Punkt, wo der Weg sich eigentlich entscheidet: Wenn ich diesen inneren Schmerz berühre, nicht ganz da zu sein oder nicht derjenige zu sein, der ich eigentlich bin. Hier ist die Konsequenz gefordert, zu mir zu sagen: Genau hier beginnt jetzt meine Praxis, genau hier. Da richte ich jetzt all meine Kraft drauf aus, wieder in Kontakt mit meinem authentischen Sein zu kommen. Das ist der Punkt, wo die Praxis ansetzt. Wie man so schön sagt, den inneren Schweinehund überwinden. Da gibt es offenbar Widerstände. Teil von jedem emotionalen Muster ist, dass dieses Muster uns in der Situation eigentlich das Vertrauteste ist. So emotional zu reagieren, ist für uns das automatisch Stattfindende. Wir finden uns wieder, getrennt zwar von unserer Grundnatur, aber in etwas, was uns vertraut ist. So haben wir schon viele Male reagiert. Darin liegt eine Masseträgheit und da braucht es eine starke Kraft, um sich erstens nicht fortreißen zu lassen, innezuhalten und dann eine andere Richtung einzuschlagen. Diese andere Richtung einzuschlagen, im Bewusstsein dessen, was gerade los ist, das ist echte Dharmapraxis. Und das ist anstrengend. Da braucht es eine große innere Motivation. „Nein, und ich sage es jetzt nicht! Ich lasse mich jetzt nicht weiter in diese Gedanken verwickeln!“ Ich nehme diese Gedanken wahr, es ist okay. Aber ich sehe, dass sie nicht angemessen sind. Das ist der springende Punkt. Wir erleben unser eigenes emotionales Reagieren mit gerade

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noch ausreichendem Abstand, um zu merken: „Ups, ich verliere mich gerade selber, ich verliere den inneren Freiraum und eigentlich ist mein Verhalten in der Situation nicht wirklich angemessen und hilfreich.“ Ich würde gerne etwas größeren Freiraum haben um zu denken, zu sprechen und zu handeln. Das ist der Einstig, wo ich sage: „Okay, und jetzt, was mach ich?“ Und dann nehme ich das, was mir als erstes einfällt. Was mir als meine Praxis einfällt, das mache ich dann. Wenn wir uns üben, dann können wir in dieser Bresche, die da entsteht, schon mal innerlich OṀ MANI PADME HŪṀ rezitieren. Das ist das, was viele Tibeter machen. Sie schlüpfen mit einem Mantra in diese kleine Lücke und erinnern sich mit einem Mantra an die ganzen Motivationen, die eigentlichen inneren Verständnisse, die schon entstanden sind, an all den Dharma, der schon im eigenen Geist aktiv ist, also eigentlich schon in uns da ist. Das ist das Eigentliche, das wir mit der Zuflucht verbinden. Wir können natürlich auch die Zuflucht sprechen, wir können Mantren sprechen, oder wir können einfach sagen: „Okay, wo ist jetzt das Heilsame in mir?“ Oder: „Ist es mir jetzt möglich, das direkt loszulassen?“ Es gibt natürlich noch andere Möglichkeiten. Es geht einfach darum, am Ball zu bleiben. Zum Beispiel könnten wir jetzt, wo wir über Tschenresi sprechen, OṀ MANI PADME HŪṀ nehmen, das wir innerlich und, wenn es geht auch äußerlich, rezitieren. Wir geben wirklich Herzensenergie in dieses Bewusstsein hinein. Wenn wir dabei bleiben, dann merken wir, wie innerlich etwas in uns nachgibt, denn unsere mentale Energie geht in eine andere Richtung. Unsere Herzensenergie strömt in das OṀ MANI PADME HŪṀ, und obwohl es sich im emotional verstrickten Bereich noch zäh anfühlt, geht unsere emotionale Ausrichtung schon in Richtung von etwas Heilsamem. Aber wir müssen dran bleiben. Wir bleiben dran, ohne das andere zu verleugnen, sondern sagen: „Nein, das nähre ich jetzt nicht“. Nur darum geht es. Den Rest besorgt der Geist von selbst, denn alles löst sich doch von selber auf. Wir brauchen es nicht zu verdrängen. Wir haben es im Bewusstsein, aber wir nähren es nicht weiter. Wir nähren jetzt etwas Heilsames. Und da steht jetzt stellvertretend für alles Heilsame OṀ MANI PADME HŪṀ. Und während wir das sagen, wird uns bewusst: „Eigentlich mag ich doch diese Person. Eigentlich will ich dieser Person doch gar nichts Übles – OṀ MANI PADME HŪṀ.“ Wir bleiben am Ball. „Und eigentlich ist es okay, dass ich so reagiere, aber es passt gerade nicht. Es stammt wohl eher aus meiner Kindheit – OṀ MANI PADME HŪṀ.“ Während wir unsere Energie ins OṀ MANI PADME HŪṀ hineinbringen, kommen innerlich einige Gedanken, die uns helfen, noch weiter loszulassen. Das Verstehen, auch wenn wir noch so berührt sind und festhängen, das läuft natürlich weiter. Ein inneres Verhandeln findet statt: „Wie würde das aussehen, sich jetzt als Tschenresi vorzustellen?“ – „Komm mir jetzt nur nicht mit Tschenresi!“ – „Doch: OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ.“ – „Doch, doch. – Auch jetzt. Ich weiß, wie schnell sich die Dinge auflösen können.“ – „Willst du es nun oder willst du es nicht? Willst du nun festhalten oder nicht?“ So etwa wird innerlich verhandelt. Da findet innerlich ein Dialog statt. Es wird innerlich zwischen einer WeisheitsInstanz in uns und einer emotionalen Rechthaber-Instanz verhandelt. Und diese Verhandlung findet mit OṀ MANI PADME HŪṀ statt. Wir machen weiter. Wir geben weiter Energie da hinein und es ist unsere Praxis, diese Energie da rein zugeben und dran zu bleiben. Dadurch, dass wir das andere nicht mehr nähren, neigt sich die Verhandlung tatsächlich: „Okay, ich bin bereit, auch diesmal nachzugeben – auch diesmal. Schon wieder! Ja, ja. OṀ MANI PADME HŪṀ.“ Dann aber kommt eine Weisheitsstimme und sagt: „Glaub nur nicht, du tust das für die anderen! Du selber hast großen Nutzen davon.“ Dann kommen andere Weisheitsstimmen und der Dialog geht weiter und wir holen uns raus aus all diesen Fallstricken und Schlingen, aus all dem, was da so ist und auch unsere spirituelle Praxis vereinnahmen möchte. „Und glaube nur nicht, du machst hier irgend etwas Wunderbares.“ Irgendwann kommt die Weisheit und sagt: „Du befreist dich hier doch nur aus einem Irrtum. Das, was hier gerade als emotionaler Film abläuft, das ist ein Film, egal, wie er aussieht: „Finde mal zurück zu einer etwas ruhigeren Atmung – OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ. … Spüre deinen Körper – OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ. … Schau mal, da ist noch ganz viel Raum und andere Menschen haben viel größere Probleme als du – OṀ MANI PADME HŪṀ. … Andere Menschen haben noch nicht einmal etwas zu essen – OṀ MANI PADME HŪṀ OṀ MANI PADME HŪṀ. … Andere Menschen leben ihr Leben in Kriegsgebieten – OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ. … Und weißt du, wie viele Paare jetzt gerade Schwierigkeiten haben? – OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ.“ Allmählich öffnet sich das, während wir weiter am Ball bleiben, immer mit

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dieser Tschenresi-Energie, die natürlich zuerst ganz schwach war, aber die jetzt stärker wird und dabei ist, unsere Schleier aufzulösen. Und dann kommen wir allmählich in die Lage, wo wir merken können: „Hey! Die schmunzeln ja da oben. Die schmunzeln und sind froh, dass ich mich allmählich wieder an diese Tschenresi-Energie erinnere und eigentlich könntest du dich ganz öffnen, so, als würdest du in den Arm genommen werden. Tschenresi ist da, und ist bereit, dich in den Arm zu nehmen.“ – Das wird symbolisch durch die Lichtstrahlen ausgedrückt, die von Tschenresi ausgehen. Wir können uns vorstellen, dass die uns in den Arm nehmen. Manche stellen sich vor, richtig von Tara oder von Tschenresi in den Arm genommen zu werden, und das tut gut. Das können wir auch machen, aber traditionell wird das alles durch Licht kommuniziert. Und wir machen weiter: OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ. Allmählich braucht es kaum noch Kraft, um dieses OṀ MANI PADME HŪṀ weiter fließen zu lassen und zu nähren, denn wir beginnen, uns zu entspannen und werden natürlich. Die emotionale Verstrickung interessiert uns dann gar nicht mehr. Wie lange das braucht, hängt von der Zähigkeit unserer emotionalen Identifikation ab. Es kann sein, dass wir eine Viertelstunde dran bleiben müssen – oder auch länger oder kürzer. Es kann aber auch sein, dass es wirklich nur eine Minute braucht oder auch, dass wir uns tatsächlich aus der Situation rausnehmen müssen und nur sagen können: „Puh! Tut mir leid. Ich gehe mal einen Spaziergang machen. Ich komme dann wieder, aber ich bin erst mal etwa eine oder zwei Stunden unterwegs. Ich muss einfach mal draußen frische Luft schnappen.“ Dabei mache ich weiter mit OṀ MANI PADME HŪṀ. Jeder Schritt – OṀ MANI PADME HŪṀ, jeder Atemzug – OṀ MANI PADME HŪṀ. Ich mache diese Arbeit weiter, weiß aber auch, dass ich Abstand brauche. Ich muss raus aus der Situation. Ich brauche auch die Natur, ich brauche den Wind, die Luft, den Regen, die Nacht, die mich umfängt, oder was auch immer gerade ist. Das tut mir einfach gut. Ich ziehe mich raus, aber ich komme wieder. Ich bereite mich darauf vor, auf gute Art wiederzukommen. Das ist alles gemeint, wenn hier steht: „Die visualisierten Lichtstrahlen reinigen in einem einzigen Moment sämtliche schädlichen Handlungen und Schleier“ – In einem einzigen Moment, wenn wir bereit sind, uns dafür zu öffnen. Es liegt nicht an Tschenresi oder den Buddhas. Wenn die könnten, dann würden sie uns die ganze Zeit Licht schicken und uns umarmen. Aber nimm mal jemanden in den Arm, der sich noch sträubt, und versuche ihm zu vermitteln: „Nun lass doch mal los, es ist doch alles bestens.“ – Das geht doch nicht. Es ist unser Widerstand, der das hinauszögert. Möglich ist es, in einem Moment loszulassen. Die Geschwindigkeit des Loslassens ist der Fortschritt des Praktizierenden. Daran sieht man das. Nicht, dass es nicht mehr auftaucht, sondern dass wir immer schneller bereit sind, einzugestehen: „Ja, ich bin wieder einmal im Film gelandet und ich bin meinen emotionalen Reaktionen auf den Leim gegangen. Und ich habe wieder reagiert, als wäre ich noch der kleine Bub oder das kleine Mädchen, das von den Eltern so und so behandelt wird. Ja, ich bin wieder eingestiegen.“ Ich sehe das Muster, das ist in Ordnung, aber es ist jetzt nicht mehr ange messen, und ich habe neue Möglichkeiten. Die Möglichkeit, die wir jetzt besprechen, ist, mit einem Mantra alles zu machen: Das Eingeständnis, das Offenlegen, den Entschluss, anders zu sein und das Andocken an den heilsamen Qualitäten. Mit OṀ MANI PADME HŪṀ kann man alles machen. All das ist möglich. Das tut so gut, denn das Denken fällt in solchen Situationen manchmal so schwer. Es ist, als ob wir nicht mehr klar denken könnten. Wenn wir dann so einfache sechs Silben haben, die uns an all das erinnern, was wir schon in uns verankert haben, dann tut das so gut und es macht es einfacher. Teilnehmer/-in: Ist es das Gleiche wie das, was du uns vorhin mit der einen Mala gesagt hast? Wo man alles bereinigt? Das kann man machen und dann ist man in einem anderen Zustand? Aber kurze Zeit später kommen die alten Schienen schon wieder. Sie kommen später wieder, aber nicht mehr auf genau dieselbe Art. Denn jedes Mal, wenn wir den Film durchschauen, schwächt das unseren Glauben in das nächste Mal, wenn sich diese Art von Film wieder auf bauen möchte. Das ist der Unterschied. Die Muster kommen wieder, bis wir sie so gründlich durchschauen, dass sie schon in dem Moment, wo sie auftauchen, durchschaut werden. Bei einigen Mustern habe ich schon so gründlich dran arbeiten können, dass sie schon im Moment des Auftauchens durchschaut werden und nicht mehr greifen. Das braucht auch keine spezielle Praxis. Andere Muster sind nicht durchgearbeitet. Da hatte ich noch nicht die Gelegenheit. Und diese Muster greifen noch. Sie greifen aber immer weniger, je häufiger ich sie durchgegangen bin. Das geht dann rasant. Die ersten Male sind immer die schwierigsten. Dann geht es rasant vorwärts, es geht immer schneller. Natürlich gibt es noch Rückfälle zwischendurch –

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krasse Rückfälle. Aber es geht tendenziell doch schneller und es ist eine Frage der Motivation. Letztendlich ist es gar nicht so sehr eine Frage der Weisheit, obwohl hinter der Motivation eine Weisheit steht, aber es ist nicht die Frage, wie viel wir schon verstanden haben, sondern ob wir motiviert sind, unser Verständnis auch anzuwenden. Bin ich wirklich motiviert auszusteigen oder möchte ich meine Emotionen behalten? Das ist die Frage. Dieses: „Ich will meine Emotionen“ ist das größte Hindernis. Ich will sie ja. Ich finde sie klasse. Ich habe recht. Der andere ist blöd, er tut mir Unrecht usw. Deswegen brauchen wir Motivation. Das ist das Entscheidende. Da muss ich mich auch am Ohr ziehen und sagen: „Komm Junge, wo ist deine Motivation? Recht haben oder nachgeben?“ Wenn ich auf meinem Rechthaben bestehe, habe ich ja meistens unrecht. Teilnehmer/-in: Ist das Faszinierende an der Emotion, dass sie das Ich verstärkt? Ja. Wir fühlen uns in der Emotion eigentlich stärker. Aber welch ein Irrtum! Das ist faszinierend. Wir fühlen uns in der Emotion auch so lebendig, selbst wenn es eine traurige, depressive Emotion ist. Wir sind dann ganz stark wir selbst. Das ist wahrscheinlich das, was du meinst? Es ist nur eine Frage. Es kann ja vieles sein. Aber auf jeden Fall sind wir da in unserem Territorium. In diesem Territorium herrscht meine Logik, die Ich-Logik. Das ist mein Reich, mein Königreich. Will ich da jemanden reinlassen? Will ich vom Thron steigen? Solange wir in der Emotion sind, ist alles okay. Da sind wir im Ding drin. Wenn wir aber richtig aussteigen – wahrscheinlich hast du den springenden Punkt angesprochen –, dann sind wir gar niemand mehr. Wenn wir nachgeben, wer sind wir denn dann eigentlich noch? Wir sind dann die Kräfte der Liebe, des Nachgebens, der Offenheit. Wir haben keinen Triumph. Alles, mit dem wir uns vorher so toll identifizieren konnten, ist nicht mehr da. Wir sind dann wieder fließendes Sein, und das ist vom EgoStandpunkt aus wenig beglückend oder lohnend. Für das Ego gibt es wenig her. Teilnehmer/-in: Wenn ich schon im Heilsamen wäre, dann wäre es doch okay, wenn ich die Emotion loslasse. Aber, wenn es mir gelingt, die Emotion loszulassen, falle ich in einen luftleeren Raum. Und das tut weh, nicht? Genau, und da wäre es jetzt toll, diesen Raum wirklich zu füllen. Dafür ist das Mantra OṀ MANI PADME HŪṀ oder auch ein anderes sehr gut geeignet. Wir sind sofort wieder mit den Qualitäten in Verbindung. All die Qualitäten, die beim Mantra mitschwingen, helfen uns, aus der Emotion herauszukommen, sie zu lassen. Wir haben eine neue Identität, die Identität als Tschenresi. Wir haben ein Sein, das zwar nicht fassbar ist, und wir haben auch keine Identität, wie sie in unserem Pass dokumentiert ist. Das Vajrayana bietet uns ein neues Selbstbild an, das wir von Anfang an als nicht fassbar, als leer, als Vorstellung begreifen. Aber es ist eine heilsame Vorstellung. Wir sind in einem Sein als Buddha, und das hilft. Es ist unglaublich, was ich da auch in der Beziehung alles entdecke! Meine Selbst-Visualisationen als Yidam helfen mir, in der Beziehung einfach zu sein, ohne im Ich sein zu müssen. Das ist eine unschätzbare Hilfe. Wir können Tschenresi oder Tara oder ein anderer Yidam sein und in Beziehung zu anderen treten, ohne dass wir im Greifen landen, in dieser normalen Identifikation. Wir kennen das auch aus anderen Unterweisungen. Wir nennen es den „Stolz der Gottheit“. Im Tantra wird mit den Begriffen gespielt, man setzt Begriffe ein, die man normalerweise vermeiden würde. Wer will schon stolz sein? Aber „Stolz der Gottheit“ bedeutet, ein klares Selbstbewusstsein und eine Freude zu entwickeln, Tschenresi zu sein. „Ja, ich bin Tschenresi.“, „Ja, ich bin Buddha.“ Das ist schon nicht mehr Stolz, sondern ein gesundes Selbstbewusstsein, ein gesundes Wissen um die Qualitäten, die in uns wirken. Teilnehmer/-in: Du hattest zu Beginn des Kurses von der starken Energie gesprochen, die in der Emotion enthalten ist. Diese starke Energie ist ja eigentlich etwas sehr Positives. In dem Prozess, der jetzt dargestellt wurde, wird diese Energie dann erhalten. Sie wird nicht verdrängt. Eine andere Möglichkeit wäre, diese Emotion als etwas Unangenehmes zu empfinden und dann unter den Teppich zu bugsieren. Damit wäre aber auch die ganze positive Energie weg. Ja, und wie sieht dann so jemand aus? Das kommt an irgend einer anderen Stelle wieder raus. Wenn es mir gelingt, diese Energie in den heilsamen Prozess hineinzubringen, dann entsteht ja gerade das, was du eben als Stolz bezeichnet hast. Da ist das drin.

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Im Grunde genommen ist das eine selbstbewusste Lebensfreude, eine Würde. Wir finden damit in unsere menschliche Würde hinein, und es ist ganz viel Energie da. Immer dann, wenn Verdrängung stattfindet, verschwindet die Lebensenergie. Solche Menschen wirken fahl und fade. Sie haben nicht ihre volle Energie zur Verfügung. Das kennen wir auch bei uns. Wir wissen, wie wir in solchen Momenten oder Phasen drauf sind. Alles wird uns zu viel, wir sind müde, wir können auch nicht mehr richtig schlafen und der Schlaf ist auch nicht mehr erholsam. Es ist so, als ob wir bloß mit fünfzig Prozent unserer Energie funktionieren wür den. Das Ja-Sagen ist ein Ja-Sagen zu der Emotion, aber ich lasse mich nicht davontragen, sondern nehme die Energie in den heilsamen Prozess hinein. Auf den Film steige ich nicht ein, aber zu der Lebenskraft, die da drin steckt, sage ich „ja“, die nehme ich, die lebe ich. Es gibt auch kraftvollere Visualisationen von Tschenresi. Da steht er, ist kraftvoll und tanzt. Das sind andere Formen, die diese Energie ausdrücken. Es gibt auch Yidams, die etwas zornvoll und verführerisch und kraftvoll aussehen, die also diese Energie in sich haben. Das müsst ihr wissen. All das steckt in Tschenresi drin. Wie gesagt: Tschenresi ist nicht einfach nur so ein Lächel-Buddha, sondern der hat all diesen Saft, diesen Lebenssaft, diese Kraft in sich. Und mit dem Mantra OṀ MANI PADME HŪṀ verbinden wir uns damit. Auch die seit anfangsloser Zeit … … Gewahrseinsschleiern bereinigt. Im ersten Satz dieses Absatzes – Die visualisierten Lichtstrahlen … … entstanden sind. – ging es um die emotionalen Schleier. Hier, im zweiten Satz, geht es um die Gewahrseinsschleier. Man spricht im Dharma vom Auflösen der beiden Schleier – emotionale Schleier und Gewahrseinsschleier. Wir kriegen immer mit, wenn eine Emotion in uns ist, denn das macht spürbar eng. – Wir sprechen hier von den belastenden Emotionen. Freude und Liebe werden in unserem Sprachgebrauch auch Emotionen genannt, das sind aber öffnende Gefühlsregungen und finden auch in einem Erwachten statt. Die sind hier aber nicht gemeint, genauso wie Dankbarkeit, Güte usw. Wir sprechen jetzt nur von den belastenden, verstrickenden Emotionen. Die spüren wir, wir kriegen sie mit, weil wir einen Sensor dafür haben, wie weit und wie offen wir sind – oder auch wie verschlossen. Wenn es sich in uns verschließt, dann merken wir, dass so eine emotionale Belastung einsetzt, dass ein Muster aktiv ist. Bei den kognitiven Schleiern merken wir das nicht im selben Maße. Während wir hier miteinander im Raum sitzen, sind kognitive Schleier, also Gewahrseinsschleier, aktiv, die bewirken, dass wir mit einem Gefühl von „Ich nehme wahr, was hier passiert. Ich höre den Tilmann und ich sehe die anderen.“ hier sitzen. Das ist eine Annahme über die Wirklichkeit, die besagt, dass es da ein Ich gibt, getrennt von anderen. Diese Annahme leben wir ungeprüft, wir sind mit dieser Annahme so innigst vertraut, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen. Wir kennen den Kontrast nicht. Wir haben keine oder nur minimale Kontrast-Erfahrungen. Wir haben kaum Erfahrungen, wo wir völlig frei von dieser dualistischen Wahrnehmung sind. Wenn wir ausreichend Kontrast-Erfahrungen hätten, dann würde uns schmerzhaft bewusst, wie trennend wir wahrnehmen. Erst wenn diese Kontrast-Erfahrungen stark werden, wenn wir sie häufiger im Rahmen der Dharma-Praxis oder durch andere Auslöser erfahren – Momente non-dualer Wahrnehmung –, dann werden uns diese Gewahrseinsschleier genauso bewusst wie die emotionalen Schleier. Ich kann euch ein Beispiel dafür geben: Wenn wir einen Film anschauen – egal ob im Fernsehen oder im Kino –, kennen wir, unabhängig vom Inhalt des Filmes, den Unterschied zwischen den beiden Haltungen, den Film für wirklich zu halten und sich gleichzeitig bewusst zu sein, dass es Bilder, Worte und Klänge sind, die so verdichtet werden, dass sie ein emotionales Erleben in uns auslösen. Das ist eine ganz andere Art, den Film zu erleben, als wenn wir meinen, das sei alles wirklich. Bei einem Film, der uns irgendetwas vor gaukelt, entstehen viele Emotionen. – Wir weinen, lachen, ärgern uns, gehen mit den Helden und Heldinnen mit. Irgendwann zwischendurch sagt unser Begleiter im Kino etwas und bringt uns völlig raus! Wir reagieren mit: „Nun halt doch mal die Klappe, ich will doch den Film anschauen!“ Und schon sind wir draußen aus dem Film und brauchen Zeit, um wieder reinzukommen. Wir sind für einen Moment draußen gewesen. Oder jemand sitzt neben uns, der schon sehr viele Filme gesehen hat und sagt dann vielleicht: „Hast du gesehen, wie er das gespielt hat? Oh Mensch, diese Hintergrundmusik! Wie kann man nur so eine Musik an der Stelle einspielen?“ Diese Bemerkungen zur Regie und zum Schauspielerverhalten schaffen eine Distanz, ein NichtVerwickeltsein mit dem Film, was von uns als sehr krass erlebt wird, weil wir eigentlich gerne verwickelt sein möchten. Dabei erleben wir aber, wie es ist, nicht verwickelt zu sein. Wir merken auch das Sehnen nach der Verwicklung.

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Da könnt ihr sehen, was die Aktivität der kognitiven Schleier ist. Die Gewahrseinsschleier sind immer aktiv in diesem Vergegenständlichen, Subjekt – Objekt. Sie sind die Grundlagen für die emotionalen Schleier. Das ist die Basis, aufgrund derer wir in Begriffen wie Ich und Du, Ich und Andere, mir, mein, dein usw. denken. Dieses Denken erscheint uns aber so selbstverständlich, dass wir diese Grundlage kaum je in Frage stellen. Wir kultivieren sie sogar, wir verteidigen sie und sind überzeugt, dass das die richtige Art und Weise ist, die Welt zu sehen. „Hör doch auf damit, mir den Film kaputt zu reden.“ Ich will meine Träume richtig leben. Und ich will voll einsteigen. Da merken wir, dass die Basis, wie wir die Welt betrachten, nicht in Frage gestellt werden soll. Teilnehmer/-in: Wenn du sagst, dass die Gewahrseinsschleier Basis für die emotionalen Schleier sind, macht es dann Sinn, zuerst die Gewahrseinsschleier zu reinigen, weil dann die emotionalen Schleier wegfallen? Ja, das wäre ein toller Weg. Wenn es nur so leicht wäre. Die Gewahrseinsschleier lösen sich zum ersten Mal auf, wenn wir eine Erfahrung der Natur des Geistes gemacht haben. Die Erfahrung der Natur des Geistes klar gemacht zu haben, zieht wirklich den Teppich unter den emotionalen Projektionen weg. Und zwar so lange, wie diese Erfahrung in uns nachhaltig aktiv ist. Das wäre ein super Weg. Man könnte sagen, dass man durch die Lhaktong-Erfahrung, die Erfahrung intuitiver Einsicht, am besten mit den Emotionen aufräumen kann. Nur ist es nicht so leicht, diese Erfahrung zu machen, wenn die Emotionen sehr stark sind, weil wir gar nicht an diese Basis rankommen. Deshalb ist es normalerweise so, dass der erste Teil des Weges darin besteht, fast ausschließlich mit den Emotionen zu arbeiten, gleichzeitig aber auch Unterweisungen zu bekommen, die helfen, diese Filme zu durchschauen und darauf vorbereitet zu werden, dass das mit Subjekt und Objekt nicht ganz so der wahre Tobak ist. So arbeiten wir uns da heran und wir erleben so Momente der Öffnung, die wir dann auch besser einordnen können. Sie erleichtern uns die weitere Arbeit an den emotionalen Schleiern. Indem ich mit euch über beides spreche, bereite ich euch auch auf beides vor. Es kann sein, dass Verschiedene von euch sofort etwas damit anfangen können, wenn ich über dieses andere, das non-duale Erleben, spreche und das auch nutzbringend in die Arbeit mit den Emotionen hinein nehmen können. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer das ist. Und obwohl solche Erfahrungen in meinem Leben durchaus aufgetaucht sind: Wenn ich verfangen und verstrickt bin, dann hängt es eigentlich nur von meiner Motivation ab, ob ich wirklich an die Erkenntnisse, die schon da waren, andocken möchte und damit zulasse, dass sie mir meine Emotion klauen. Denn genau so fühlt sich das an. Verstrickt zu sein, heißt, dass ich meine Emotio nen will. Das möchtet ihr euch vielleicht nicht ganz eingestehen. Aber wir wollen unsere Angst. Wir wollen unseren Ärger. Wir wollen unser Verlangen. Das ist ganz, ganz tief in uns drin. Ohne das wissen wir ja gar nicht, wer wir sind. Bin ich dann der Spielball von anderen? Bin ich dann jemand, der nur den Wünschen der anderen gerecht wird? Wo bleibt dann mein Selbstbewusstsein? Wo ist meine Freiheit, wenn ich meine Emotionen loslasse? Dann dominieren ja die Emotionen der andern! – So komme ich mir dann vor, solche Dinge laufen in uns ab. Da brauche ich ein Selbstbewusstsein im freien Fließen der Qualitäten, das sich eben nicht in die Emotionen der anderen hineinziehen lässt, sich nicht dominieren lässt, sich aber auch nicht in den abgrenzenden und in den greifenden Emotionen verstrickt. Das ist gar nicht so einfach. Teilnehmer/-in: Das Bild mit dem Film fand ich gerade sehr spannend. Wenn mein Nachbar mich von meinem Im-Film-Sein ablenkt, wie wäre die Reaktion, wenn ich im Gewahrsein wäre? Würde ich dann einfach beides merken? Na ja, klar. Du würdest dich überhaupt nicht gestört fühlen. Aber kann ich dann trotzdem in meinem Gefühl bleiben? Ja. Du kannst. Die modernen Erwachten, die ich kenne, schauen sehr gerne Filme an. Der Genuss an den Sinneserfahrungen wird dadurch weniger gefährlich, weil gleichzeitig ein bisschen mitläuft, was für wunder bare Projektionen das sind. Es ist wie beim Visualisieren. Das Visualisieren der Lichtstrahlen von Tschenresi hat zur Grundlage, dass wir ja wissen, dass wir visualisieren. Wir wissen, dass wir uns auf einen heilsamen Film einlassen. Und so ist es auch mit denen, die aus der Erfahrung des Erwachens heraus einen Film an schauen. Da ist immer das Gewahrsein dabei, dass es sich um sich gestaltende Welten handelt, die sich im Bewusstsein gestalten. Man kann sie genießen, ohne sich darin zu verstricken.

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Teilnehmer/-in: Das ist, wie wenn ich aus Sinnenfreude ein Eis genieße, jemand nimmt es mir weg und ich sage einfach: „Okay“. Ja, das ist ein gutes Beispiel. Da ist so eine Gelöstheit, eine Gelassenheit dabei. Teilnehmer/-in: Um es für mich nochmals ganz klar zu machen: Die Gewahrseinsschleier, über die wir eben gesprochen haben, erreiche ich mit dem Reinigungsprozess doch erst von dem Augenblick an, wo mir wenigstens ein klein wenig bewusst ist, dass hier ein Gewahrseinsschleier besteht. Solange ich überhaupt nicht weiß, dass alles voller Gewahrseinsschleier ist, wie kann ich es dann reinigen? Das ist doch ein Prozess meines eigenen Geistes. Hier hast du völlig recht. Deshalb sprechen wir darüber. Jetzt, wo wir darüber gesprochen haben, entwischt hier keiner aus dem Saal, ohne dass es schon mal ein bisschen angekratzt worden ist. Wir entwickeln gerade ein Bewusstsein über diese Gewahrseinsschleier. Ihr alle habt jetzt eine Ahnung darüber entwickeln können. Und darum geht es! Das geht nicht mehr weg. Man hat etwas gespürt, es ein bisschen verstanden, und das wirkt weiter. Das hilft. Ein Teil der Unterweisung über das, was wir die letztendliche Wirklichkeit und die Gewahrseinsschleier nennen, ist ganz wichtig. Es ist wichtig, nicht nur über die Emotionen, sondern über die Grundlagen zu reden. Es ist Grundlagenarbeit. Teilnehmer/-in: Sind die Gewahrseinsschleier identisch mit der dritten Art von Leiden? Ja. Es geht um die dritte Art des Leidens, das Leiden durch Bedingtheit, durch dualistische Wahrnehmung. Im Dharma wird von drei Arten von Leiden gesprochen. Die erste Art ist das offenkundige Leid durch Schwieriges und Unangenehmes. Die zweite Art Leid erfahren wir, wenn sich Angenehmes aufgrund von Wandel verändert. Das dritte ist das Leid durch bedingte Existenz, das Leiden durch ein Funktionieren in Mustern, bedingt durch dualistische Wahrnehmung: Subjekt – Objekt, Ich-Identifikation, Identifikation mit den Skandhas, den Aggregaten – Wahrnehmen, Empfinden, Unterscheiden, Gestalten, Bewusstsein. All das bin Ich. Das sind die grundlegenden Gewahrseinsschleier. Hierdurch werden wir in der spielerischen Dynamik gesegnet… … nicht fassbar – leer. An dieser Stelle werden wir eigentlich zu Tschenresi. Wir nehmen die Präsenz von Tschenresi an – von Körper, Rede und Geist – und werden in der spielerischen Dynamik gesegnet. Das Spielerische weist darauf hin, dass wir mit dem Tanz der Erscheinungen vertraut werden. Da sind wir wieder bei der Frage, ob die Erleuchteten die Filme genießen können. Da ist eine spielerische Dynamik am Wirken, und diese Dynamik ist freudvoll. Es ist die grundlegende Freude, gewahr zu sein, und diesen Tanz der Erscheinungen zu erleben. In dieser grundlegend offenen und freudigen Haltung, dem Spiel der Erscheinungen, werden wir gesegnet. Trungpa Rinpoche war dafür ein sehr gutes Beispiel. Er schreckte vor keiner Emotion zurück und sah in allem dieses Spiel und den Tanz der Erscheinungen. Egal, was man von seinem Lebensbeispiel halten mag, sicher ist, dass er innerlich frei war. Er tanzte mit den verschiedenen Erscheinungen und dem spielerischen Ausdruck des Geistes. Er hat so kurz gelebt und hat trotzdem so unglaublich viel bewegt, weil er diese Kreativität zugelassen hat und einfach nichts in sich ausgebremst hatte. Diese Haltung ist gemeint: Nichts im eigenen Geist auszubremsen, alles sich zeigen zu lassen, alles darf sein. Wir brauchen an nichts festzuhalten. Es darf sich auch gleich wieder auflösen. Und darin werden wir durch die Lichtstrahlen gesegnet. Das ist es, was in uns stattfindet. Teilnehmer/-in: Dann löst diese dritte Form von Leiden, die aufgelöst wird, die erste und die zweite auch gleich mit auf. Denn wenn ich nicht daran festhalte, wenn ich mein Eis einfach loslasse, dann erlebe ich das Leiden, dass etwas schön ist und jetzt aufhört, nicht. Aber dafür muss ich erst das dritte haben. Wenn du auf der dritten, dieser tiefen Ebene, gelöst bist, dann kommt es nicht zu den anderen beiden Formen von Leid. In dem Moment, wo du es erlebst, ist es auch wunderbar. Du wirst es erleben. Du hast diese Situa tion mit dem Eis erzählt: Jemand schleckt sein Eis und ist dabei nicht mit sich selbst identifiziert. Der erlebt es nicht so, dass Ärger in ihm aufkommt, wenn ihm jemand das Eis wegnimmt. Das war in der Biografie von Gendün Rinpoche genau der Punkt, wo er merkte, dass er wirklich befreit war. Es geschah, als er mit anderen Flüchtlingen in einer langen Schlange auf die Essensausgabe wartete. Er war, wie die anderen tibetischen Flüchtlinge in Sikkim auch, zum Straßenbau eingeteilt worden. Er stand, hungrig

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wie alle anderen, mit seiner Schale in der Schlange und kriegte endlich seine Suppe eingefüllt. Endlich etwas zu essen. Er dreht sich um – und jemand schnappt ihm die Schale aus der Hand. In dem Moment erlebte er nicht die geringste Spur von Ärger, da war keine Identifikation. Da wusste er, dass er von Ärger und Wut befreit war. So hat er uns die Geschichte erzählt. Ärger und Wut hatten in ihm keinen Platz mehr. Man kann ja nicht wissen, ob man frei von Ärger und Wut ist. Man braucht dazu Testsituationen. Wenn man richtig hungrig ist und endlich etwas zu essen kriegt und das schnappt einem jemand weg – und da ist auch keine Chance, einen Nachschlag zu kriegen –, dann merkt man es. Teilnehmer/-in: Ich habe noch eine Frage zur Übersetzung: Dieser Satz ist wunderschön, er spricht mich so an – diese spielerische Dynamik, gesegnet und so. Ist das wirklich die authentische Übersetzung oder wie viel spielerische Freiheit ist da eingeflossen? Das ist die authentische Übersetzung. Ich schlage gerade mal das Tibetische auf. Das ist meine Übersetzung und ich habe mir da ganz viel Mühe gegeben. Aber ich habe die spielerische Freiheit nicht ausgenutzt. Es steht hier “rölpa“. Das ist dieses Spiel, diese spielerische Dynamik. Es ist tatsächlich dieses Tanzen und Spielen. Es ist schon sehr eindrücklich, wie zeitlos diese Sprache ist. Für mich ist es auch besonders beglückend, wenn wir mit diesen alten Texten arbeiten und dabei dem Sinn, dem, was eigentlich gemeint ist, immer näher und näher kommen. Es ist einfach wunderbar und bedeutet eine Ermutigung für unsere Praxis, wenn wir Zugang zu diesem Weisheitsschatz finden. Darum geht es eigentlich in der Tschenresi-Praxis: Segen für ein spielerisches Sein in diese Welt. „Rölpa“ hat viele Bedeutungen. Es bedeutet auch „Genuss“, es bedeutet „Spiel“. Und da merkt man, worum es eigentlich geht. Es geht nicht darum, gute Buddhisten zu werden, sondern darum, freie Menschen zu sein. Ganz freie Menschen, die unbefangen mit allen Sinneseindrücken umgehen können, in jede Situation hineingehen können, deren Herz frei ist und die dieses Spielerische verkörpern. Das Tolle ist, dass wir lebende Vorbilder für dieses Sein haben. Das hat für mich Gendün Rinpoche verkörpert. Darum ist es ganz einfach, die Umsetzung davon zu machen und dem Glauben zu schenken. Jetzt sehen wir auch bei Karmapa, wie er immer spielerischer wird, und wir haben es bei Shamar Rinpoche und bei vielen anderen Meistern auch erlebt. Einfach wunderbar; Leichtigkeit. *** Anmerkung zur Rezitation der Zuflucht Die Gebete, die wir in der Puja rezitieren, kann man auch etwas flotter singen. Die langsame Version wurde von Kalu Rinpoche und seinen Lamas eingeführt, als sie in den Westen kamen. Es ist eine Version, die damals in Frankreich praktiziert wurde und danach in Deutschland Wurzeln gefasst hat. Aber eigentlich wird sie viel schneller und auch mit einer etwas anderen Melodie rezitiert. Teilnehmer/-in: Diese Melodie ist fröhlicher. Ja, die kommt einem vielleicht fröhlicher vor. Wollt ihr das einmal versuchen? Wenn ihr dazu gleichzeitig noch eine Visualisation hinkriegt, dann ist das natürlich super. Ihr könntet euch zum Beispiel vorstellen, dass Tschenresi hier im Raum gerade vor euch ist. Die gesammelte Zuflucht in Form von Tschenresi ist im Raum vor uns. Lasst uns die Zuflucht ruhig öfter als drei Mal singen, damit sich diese Version etwas verankert und die flotte Melodie für uns leichter wird und wir uns auch diese Version angewöhnen. Beim Rezitieren tut es natürlich gut, wenn man weiß, was es bedeutet, denn gleichzeitig zu rezitieren und dabei auf Deutsch mitzulesen, ist bei dieser Geschwindigkeit schon schwieriger. Beim langsamen Singen ist es bei diesen Texten ja so schön, dass man direkt darunter noch mitlesen kann. Wer Tibetisch lernen möchte, könnte natürlich noch extra einen Tibetisch-Kurs einschieben. Teilnehmer/-in: Ich habe eine Frage zur Geschwindigkeit des Mantra-Sprechens. Ich merke, dass mich das Mantra-Sprechen unruhig macht.

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Dann verlangsame das Tempo. Mantra-Sprechen regt an, das ist ganz klar, und wenn du es langsamer machst, dann hast du da eine gewisse Steuermöglichkeit. Du kannst auch sehr langsam werden, dann ist es nicht mehr so aufwühlend. Es wird auch mit dem Atem schwierig. Ja, dann pass es deinen Bedürfnissen an. Dann habe ich auch die Angewohnheit, die Mantras zu zählen. Willst du das machen? Nein, eher nicht. Gut. Dann bringe das Thema gar nicht erst ein. Nein, das Zählen brauchen wir nicht. Es geht für uns darum, ausreichend tief in die Praxis einzutauchen, sodass sie transformierend wirkt. Das Zählen der Mantras ist nur ein äußerer Anhaltspunkt dafür, wie viel Zeit man mit der Praxis verbracht hat. Es sagt aber nichts über die Tiefe und Intensität aus. Es gibt da so Aussagen, dass man das Mantra hunderttausend Mal rezitieren sollte. Ich würde sagen, das ist sowieso zu wenig. Mach lieber dreihunderttausend. Das Zählen ist für manche ein Anreiz, es gibt eine gewisse Motivation. Aber unser Leben ist schon so voller Termine und Zählen und dieses und jenes! Da brauchen wir in unserer spirituellen Praxis eher mal Freiräume. Wenn wir die ausreichende Tiefe herstellen können, ohne dabei zu zählen, dann ist das eigentlich der bessere Weg. Im Tibetischen gibt es drei verschiedene Formen, eine Praxis auszuführen. Man macht sie erstens, bis man eine gewisse Zahl erreicht hat, z.B. eine Million Tschenresi-Mantras. Das ist so ein Standard. Oder man macht zweitens ein Retreat oder eine Praxis für einen festgelegten Zeitraum. Ich sage dann: Okay, ich mache jetzt drei Jahre lang täglich Tschenresi. Das ist ein Zeitraum. Oder man macht drittens die Praxis so lange, bis die Zeichen der Praxis entstehen, das heißt, bis die innere Transformation spürbar und sichtbar wird. Man orientiert sich also an den Zeichen, egal wie lange es dauert. Ich finde das einen wahrhaftigeren Weg, wenn man auf die Zeichen achtet. Ich finde das auch. Der Weg mit den Zeichen hat nämlich die Vorlage für die anderen beiden Methoden gegeben. Die Zahlen sind so gewählt worden, dass man relativ sicher sein kann, dass achtzig Prozent der Praktizierenden innerhalb dieser Anzahl oder Zeit die Zeichen hervorbringt. So nämlich sind die Zahlen entstanden, aber eigentlich geht es um die Zeichen. Ich möchte bei euch eigentlich fast nur noch auf die Zeichen achten. Zahlen sind vielleicht eine Orientierung und helfen dem einen oder dem anderen. Über Zeiträume kann man ebenfalls sprechen, aber es geht darum, dass diese Zeichen auftauchen. Es geht darum, dass das Wir-Gefühl stärker auftaucht, oder dass der Geist tatsächlich fließender und gelöster wird, dass wir leichter in ein panoramisches Gewahrsein hineinfinden, dass unser Vertrauen zunimmt, ein Wissen über die Natur des Seins entsteht und dass wir in unsere eigene Grundnatur vertrauen. Das kann man spüren. Ein Lama kann im Gespräch mit Praktizierenden recht schnell herausfinden, ob da schon etwas beginnt, ob die Zeichen sich zu zeigen beginnen. Kommentar Seite 11: Was wir hier gerade besprechen, ist das, was während der Mantraphase stattfindet, während wir das Mantra OṀ MANI PADME HŪṀ rezitieren. Der erste Teil war das Bewusstwerden der eigenen Beschränkungen, Schleier usw. und das Einladen des Segens in diese Bewusstheit unserer eigenen Muster. Das hörte damit auf, dass wir durch diesen Segen, den wir in uns erfahren, in der spielerischen Dynamik gesegnet sind, die nicht von Körper, Rede und Geist des Edlen Avalokiteśvara zu trennen sind. Und wir werden dann zu Tschenresi, wir nehmen den regenbogengleichen, leuchtenden Körper des Edlen an: erscheinend und zugleich nicht fassbar – leer. Und nun, gleichzeitig oder nacheinander, kommt der nächste Aspekt der Praxis: Die Lichtstrahlen – aus dem HRIH und aus dem Körper von Tschenresi über uns – durchdringen alle Bereiche … … Regenbögen, Lichtstrahlen und leuchtenden Sphären.

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Was damit im tibetischen Kommentar ausgedrückt werden soll: Die Tibeter hatten sich ihr ganzes Leben lang mit Felsen, Steinen, Bergen, Erdrutschen und dergleichen herumzuschlagen. In der Vorstellung von einem reinen Land, wo sie wiedergeboren werden möchten, sollte das möglichst kein Thema mehr sein. Wir würden in unserer Beschreibung von Dewachen etwa lesen: Da gibt es keine Staus, keinen Smog usw. So müsst ihr euch das übersetzen. Aber wir wollen natürlich Berge und Erde und das ist dann natürlich auch alles da – aber aus Licht. Wir haben es mit Welten der Vorstellung zu tun, mit Bereichen der reinen Wahrnehmung, in denen wir geboren werden. Dort hat alles die Natur von Regenbögen, Lichtstrahlen und leuchtenden Sphären. Es gab auch schon Praktizierende, die beunruhigt waren, weil sie dachten, alle Bäume wären in Dewachen aus Juwelen. Sie möchten richtige Bäume, Bäume zum Anfassen und nicht so kalte Juwelen. – Alles ist aus Licht, von geistiger Natur. Diese Beschreibungen sind nicht wörtlich zu nehmen. Wir werden in einem Samadhi-Bereich, einem Bereich stabiler geistiger Versenkung, wiedergeboren. Das ist Dewachen. Und unter dem Einfluss von Amitabha ist es möglich, dass selbst Menschen, die einen so unruhigen Geist haben wie wir, dort eine relative Stabilität erfahren. Der „Inhalt“ dieser Welt … … sechs Silben des geheimen Mantras. – Wir ersetzen „geheimes Mantra“ einfach durch „Mantra“, also der Einheit von Klang und Leerheit. – Die Konzepte, der verwirrte Aspekt des Geistes, … … Untrennbarkeit von Bewusstheit und Leerheit. Was passiert also in der Mantra-Rezitation? Die Vorstellung ist, dass wir selbst, wie auch alle anderen, zu Tschenresi werden und unsere Welt darum herum zum reinen Land der höchsten Freude wird. Wir brauchen da nichts darüber zu tünchen. Wir können uns vorstellen, dass all diejenigen, die wir jetzt nicht bewusst vor uns haben, in der Form von Tschenresi sind, und bei denen, die wir – z.B. in einer Gruppensituation – bewusst sehen, entdecken wir Tschenresi wie von innen her. Wir richten uns darauf aus, in jedem von uns Tschenresi zu entdecken, ohne dass sich jemand äußerlich ändern müsste. Damit auch diese Räume und die Straße da draußen zu Dewachen werden, braucht sich ebenfalls nichts zu ändern. Es ist unsere Einstellung, die sich ändert. Dewachen, dieser Bereich höchster Freude, ist hier, sobald wir nicht mehr im Greifen sind. Weil wir nicht mehr im Anhaften sind, sondern in den Modus des Seins wechseln, vom Wollen ins Sein gefunden haben. In diesem So-Sein ist diese jetzige Erfahrung, so wie sie ist, vollkommen. Sie ist vollkommen in Ordnung. Und wir sind sehr überrascht, dass dieselbe Situation, die wir vorher vielleicht als beengend empfanden, wie z.B. der graue Himmel, der nun schon tagelang da ist, gar keine Rolle mehr spielt. Der Geist geht völlig auf und wird empfänglich für die feineren Qualitäten des Seins und erlebt ein wie von Licht durchflutetes Sein. Es ist diese Erfahrung, die Dewachen genannt wird. Dewachen ist nicht Richtung Westen hinter siebenhundert Millionen Universen usw. irgendwo als ein Ort zu finden, sondern ist eine Dimension des Seins, in die wir auch aufgrund von Vertrauen und Gelöstheit eintauchen können. Das ist es, was sich offenbart, wenn wir in der non-dualen Seins-Erfahrung sind. Darin ist es dann so – wie im Kommentar beschrieben wird –, dass alle Geräusche, auch die Geräusche der Natur, die durch Erde, Wasser Feuer, Wind usw. hervorgerufen werden, und all die Klänge und Geräusche von Menschen und Tieren wie der Klang der sechs Silben wahrgenommen werden. Natürlich ist es nicht so, dass ich dann, wenn ihr eine Frage stellt, nur noch OṀ MANI PADME HŪṀ höre. Aber da es mit diesem gelösten Geist wahrgenommen wird, ist es so, als ob ihr OṀ MANI PADME HŪṀ sagen würdet. Die Klänge sind, als ob sie der Klang des Mantras wären. Die Einheit von Klang und Leerheit ist direkt erfahrbar in allem, was an Klängen auftaucht. Deswegen ähnelt es dem Mantra, denn im Mantra ist es uns möglich, relativ leicht zu der Erfahrung dieser nicht-fassbaren Natur des Klanges zu kommen, der Grundnatur von Geräuschen. Die Natur von Geräuschen ist, dass sie keine Substanz haben. Dieses Erfahren der nichtfassbaren Natur der Klänge und Geräusche führt dazu, dass wir das Greifen nach den Klängen und Geräuschen lassen. Wir hören sie und sie lösen nicht mehr dieses Greifen und Vergegenständlichen aus. Wenn wir Sprache und Geräusche in diesem Bewusstsein hören, dann ist es ein Hören, als ob es Mantras wären. Dabei können es auch vorbeifahrende Busse sein oder ein Presslufthammer oder Disco-Musik oder einfach nette Worte oder böse Worte. Aber sie werden in diesem offenen, nicht greifenden Gewahrsein wahrgenommen. Dadurch verändert sich die Qualität. Das, was wir hören, ist dann anders, obwohl eigentlich gar nichts anders ist.

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So ist es auch mit den Gedanken, mit dem verwirrten Aspekt des Geistes. Verwirrte Gedanken, auch emotionale Gedanken, die in uns während der Mantra-Phase auftauchen, werden als kleine Filme oder als Filmfetzen erlebt. Sie werden nicht ergriffen und vergegenständlicht. Dadurch befreien sie sich von selbst und werden als Erfahrungen und als Erscheinungen im Geist von Tschenresi erlebt. Das ist damit gemeint. Es ist nicht so, dass die ausbleiben sollten, sondern sie werden anders erlebt. Stell dir vor, dass eine Sorge von dir auftauchen könnte und die würde sorgenfrei erlebt. Das ist gemeint. Eine Emotion taucht auf und wird ohne emotionale Reaktion erlebt. Ein emotionaler Gedanke geht durch den Kopf, eine heiße Situation schießt ein, bei der wir normalerweise ins Reagieren kommen würden, aber – OṀ MANI PADME HŪṀ – der Geist bleibt weit. Und was passiert? Es löst sich auf. Es geht also nicht darum, dass sich die Impulse verändern, dass die Filme nicht mehr sein dürfen, dass sie innerlich nicht mehr auftauchen dürfen, sondern wie wir damit umgehen, verändert sich zutiefst. Es ist eine ziemlich radikale Veränderung. Teilnehmer/-in: An dieser Stelle kommt immer die Frage: Wenn ich bei den Emotionen selber ruhig bleibe, dann habe ich ja eigentlich die Emotionen nicht mehr. Sie haben dich nicht mehr und du hast sie nicht mehr. Was mir noch nicht richtig klar ist. Wenn ich jemanden sehe, der sich freut, also die Emotion Freude ausdrückt… Nimm doch lieber eine belastende Emotion. Ich finde es angenehmer, keine belastenden Emotionen zu haben. Wenn du Freude über Freude erlebst, dann brauchst du die Praxis nicht, es sei denn, du greifst und haftest an der Freude an. Dann brauchst du diese entspannte Haltung. Aber ansonsten ist das mit der Freude doch kein Thema. Wir sprechen mit einer etwas verkürzten Sprache, wenn von Emotionen die Rede ist. Es ist immer von den belastenden und verstrickenden Emotionen die Rede. Und da ist es wichtig, in eine gelöstere Haltung zu finden. Aber was diese heilsamen Emotionen wie Freude, Liebe, Dankbarkeit, Wertschätzung usw. betrifft, da geht es darum, in diesen heilsamen Geistesregungen auch frei von Greifen zu bleiben. Auch dort spielt das eine Rolle, aber es ist weniger offensichtlich. Teilnehmer/-in: Ist dieses Wahrnehmen einer Emotion, dabei aber nicht in die Identifikation reinzugehen, das, was oft als „selbstbefreit“ beschrieben wird? Ja. Dann findet die Selbstbefreiung statt, genau. Dann verpufft es einfach, weil es niemanden gibt, der es weiter nährt. Wenn kein emotionales Interesse an der Wahrnehmung da ist, dann löst sie sich auf. Und das Wahrnehmen ist Freude und das Nicht-Greifen-Müssen ist ebenfalls Freude? Genau. Der letzte Satzteil dieses Absatzes – … der erwachte Geisteszustand der Untrennbarkeit von Bewusstheit und Leerheit. – beschreibt die Grundlinie, in der wir uns in der Praxis von OṀ MANI PADME HŪṀ wiederfinden. Grundlegend bleibt die Erfahrung, gewahr zu sein. Das nennen wir hier Bewusstheit. Und dieses Gewahrsein, dieses Bewusstsein wird auch wieder nicht vergegenständlicht. Wir lassen auch das einfach ein frei fließendes Gewahrsein im Bewusstsein der nicht fassbaren Natur des Gewahrseins sein. Das nennt man Bewusstheit und Leerheit. Das Wort, das hier mit Bewusstsein übersetzt wird, ist „rigpa“. Es ist das Wort, nach dem Sogyal Rinpoche seine ganze Organisation benannt hat. Rigpa bedeutet Gewahrsein und marigpa ist Unwissenheit, mangelndes Gewahrsein. Gewahr zu sein, kann für manche Praktizierende geradezu zu einem Objekt der Besessenheit werden: „Ich muss gewahr sein … oh, jetzt bin ich gewahr!“ Auch da müssen wir die Praxis rein bringen und entspannen. Der Geist ist von sich aus gewahr. Er kann im Gewahrsein ruhen, in diesem nicht-fassbar strömenden, gewahren Sein können wir einfach sein. Darin praktizieren wir OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ. Wir brauchen nicht ständig Emotionen zu haben, wir brauchen nur in diesem gelösten Gewahrsein von Bewusstheit und Leerheit aufzugehen. Das ist die Grundlinie der Praxis. Wenn sonst weiter nichts passiert, dann ist es das. Es ist auch das, was ihr erlebt, wenn ihr nachts aufwacht oder wach werdet und noch nicht im begrifflichen Denken seid. Dann ist der Geist manchmal in so einer grundlegenden Bewusstheit, wo sich noch gar nichts groß tut – einfach nur bewusst, wach, da sein. Das ist gemeint. Es geht darum, da hinein zu entspannen, wach zu sein, ohne etwas daraus zu

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machen – einfach nur sein. Da wird gar nichts an Klängen und sonstigen Erscheinungen wahrgenommen, sondern es ist einfach nur Sein. Und dieses grundlegende Sein ist auch die Grundlinie für unsere Meditationspraxis. Teilnehmer/-in: Ist es das Gleiche wie das „ungeborene Bewusstsein?“ Ja genau. Es ist das Gleiche. Das ist doch das, was sich jedes Mal einstellt, wenn ich einen Gedanken wahrnehme und er sich auflöst. Ja, das ist diese Grundlinie, und du wirst dann entdecken, dass schon während das Denken stattfindet, diese ungeborene Bewusstheit im Denken ebenfalls zu finden ist. Die kommt nicht erst dann zum Vorschein, wenn du den Gedanken losgelassen hast, sondern ist immer dann da, wenn kein Greifen stattfindet. Es ist spürbar, auch wenn gerade Denken, Wahrnehmen, Empfinden usw. stattfindet. Es ist die grundlegende Qualität unse res Seins, das, was immer da ist und durch nichts bedingt ist. Selbst, wenn wir es wollten, könnten wir es nicht abstellen. Auf diese Weise … … Weite jenseits des Intellekts. Das ist es, worauf wir uns in der Mantra-Praxis ausrichten. Lest es nochmals ganz langsam: So zeigt sich, dass der Aspekt der reinen Erscheinungen, das, was wir da als Buddha-Körper und reines Land und Mantra meditieren und auch diese nackte, unmittelbare Bewusstheit-Leerheit des erwachten Geistes, gar nicht wo anders zu suchen sind als in unserem eigenen Körper, unserer Rede und unserem Geist. Merkt ihr? Der fünfzehnte Karmapa weist uns darauf hin, dass wir Tschenresi visualisieren, dass wir uns Dewachen vorstellen und ein Mantra benutzen, und auf diese Weise verstehen wir, dass das alles schon die Natur unseres Seins ist, dass wir nicht woanders hingehen müssen, um das zu erfahren. Das ist der eigentliche Punkt. Dazu rezitieren wir die Passage, die wir jeweils vor dem Mantra im Puja-Text sprechen: Nachdem wir so mit gesammeltem Geist … … untrennbar von der Leerheit. Das ist Teil der Puja und führt über in das OṀ MANI PADME HŪṀ, in die Hauptmantraphase, in der dann all das stattfindet, was wir jetzt gerade besprochen haben. Während der Rezitation … … Hauptpraxis der Meditationssitzung. Damit haben wir die Essenz von dem, was zu praktizieren ist, schon mal erklärt. Es gibt jetzt viele zusätzliche Übungen, die wir während der Mantraphase machen und wie wir mit dem Geist umgehen. Das werde ich euch etwas später erklären. Aber jetzt möchte ich, dass wir einfach die Mala nehmen, um eine Weile Mantra-Praxis miteinander zu machen. Erklärungen zur Mala Eine Mala mit 108 Perlen steht für die befriedende Aktivität. Andere Aktivitätsformen haben eine andere Anzahl von Perlen. 108 steht auch für die zornvollen und friedvollen Gottheiten des Bardo, des Nachtodzustandes. 108 ist in Indien aber auch einfach eine glücksverheißende Zahl gewesen. Deshalb haben wir diese Anzahl Perlen. In unserer Praxis von Tschenresi stellen wir uns vor, dass jede Perle weich oder einfühlsam mit dem Daumen umkreist wird. Mit der Umkreisung wird die Perle zu uns gezogen. Wir stellen uns dabei vor, dass das eine Öffnung für all die Lebewesen ist, die Unterstützung brauchen. Ihr erinnert euch noch an die Erklärung: Tschenresi zieht die Lebewesen aus Samsara. Wir ziehen zwar keine Lebewesen aus Samsara, aber wir können uns vorstellen, dass das unsere Öffnung ist und dass wir mit dieser Handbewegung alle einladen, in diesen offenen Geisteszustand hineinzukommen. Einige werden folgen, vielleicht sogar viele. Eine der Perlen nennt man Guru-Perle. Sie ist größer als die anderen und bei ihr geht der Faden, die Malaschnur raus, welche die Perlen miteinander verbindet. Oben darauf ist nochmals eine kleine Stupa. Es ist die Stupa der Erleuchtung. Sie steht aber auch für Buddha Amitabha über dem Kopf von Tschenresi. Bei manchen Tibetern werdet ihr hören, dass man mit dem Finger nicht über die Guru-Perle geht, sondern rasch umdreht und weiter

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macht. Aber darauf braucht ihr keine Rücksicht zu nehmen. Es ist auch alles nur Geist. Aber ich wollte euch sagen, dass es diese Unterweisung gibt und dass das eine symbolische Verbindung zu unserer Praxis herstellt. Wir haben hier also die Guru-Perle und oben darauf den Guru des Gurus, also den Wurzellama von Tschenresi. Die einzelnen Perlen der Mala werden auch Dakas und Dakinis genannt. Mit dem Einladen dieser Perlen ziehen wir nicht unbedingt Lebewesen zu uns ran, um sie aus Samsara zu befreien, sondern jede Perle steht für eine Sinneserfahrung, einen Gedanken, ein Geräusch, das auftaucht, eine Körperempfin dung, einen Geruch, oder was auch immer für geistige Bewegungen in der Praxis auftauchen. Jede Sinnes wahrnehmung aller sechs Sinne, wie auch die rein geistigen Bewegungen, sind eine willkommene Dakini, eine Weisheitsbotin. Eine Botin, die uns an das reine Gewahrsein von Tschenresi erinnert. Die Gedanken kommen, und gleichzeitig drehen wir die Mala. Ich öffne mich für das, was gerade da ist und lasse es in seinem So-Sein. Ich mache nichts weiter daraus. Ich öffne mich dem So-Sein der jetzigen Erfahrung. OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ. Immer die jetzige Erfahrung, völlige Offenheit im jetzigen Erleben. OṀ MANI PADME HŪṀ, völliges Offen-Sein – jetzt – ganz offen. So erinnern wir uns mithilfe der körperlichen Bewegung an die Essenz des Dharma. Der absolute Knackpunkt ist das nicht fixierende, das nicht greifende Sein, einfach so. Jede Handbewegung ist eine Erinnerung – liebevolles Gewahrsein mit jeder Perle. Was dadurch stattfindet, ist eine Synchronisation von Körper, Rede und Geist. Das ist eines der wichtigen Grundprinzipien des Vajrayana, völlige Synchronisation von Körper, Rede und Geist. Wir machen das mit der Handbewegung nicht geistesabwesend, sondern vielleicht eher bewusst langsam, damit es wirklich synchronisiert ist. OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ. Dann kommen wir innerlich in ein fließendes Gewahrsein. In diesem Fließen lassen wir es auch zu, dass die Rede fließt und dass der Körper fließt. Aber ein Mantra entspricht immer einer Perle. Die fließen nicht dissoziiert. Sie fließen synchron. OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ. Also zusammen, Rede und Perlenbewegung gehen zusammen, und im Geist haben wir gleichzeitig die entsprechende Geisteshaltung. So lernen wir, Körper, Rede und Geist zu synchronisieren. Das brauchen wir auch. Wenn ich euch zum Beispiel unterrichte, dann merkt ihr sofort, wenn die Handbewegung mit dem, was ich geistig und verbal ausdrücke, synchronisiert ist. Es wirkt dann stimmig und die Botschaft kommt besser rüber. Wenn es aber nicht synchronisiert ist, dann fehlt etwas. Bei einer erwachten Person kommt es zu einer natürlichen Synchronisation von Körper, Rede und Geist. Das ist die Würde, die wir spüren, diese Einheit des Seins, wenn wir solchen Menschen begegnen. Körper, Rede und Geist sind wirklich voll geeint. Und das üben wir – auch in dieser Praxis. Wir lassen uns darauf ein, diese Synchronisation herzustellen. Aus der Hirnforschung wissen wir, dass es eine unglaubliche Wirkung auf die Vernetzung in unserem Gehirn hat, wenn wir eine Handlung, eine geistige Regung verbal ausdrücken und durch eine Körperbewegung noch unterstreichen und verstärken. Das ergibt eine viel stärkere Wirkung auf unsere innere Koordination, unsere Muster, wenn wir auf allen Ebenen gleichzeitig aktiv sind. Wenn ich zu dir zum Beispiel sage: „Hier, nimm!“, dann sind das nur Worte. Ich habe mir innerlich vorgestellt, dass ich dir eine Blume überreiche. Wenn ich den kurzen Satz zusammen mit einer Geste mache, dann ist das auch für meinen eigenen Geist viel stärker. Wir müssen darauf achten, dass wir diese Bewegungen mit Inhalt füllen, damit sie nicht bedeutungsleer werden. *** Zusätzliche Erklärung zur Mantra-Rezitation So wie wir es bisher im Kommentar erklärt bekommen haben, vollzieht sich die Aktivität Tschenresis in dieser Praxis spontan. Wir brauchen dafür nicht unbedingt im Herzen von Tschenresi über uns Lotus, Mondscheibe, Mantra usw. visualisieren, sondern können in das Vertrauen entspannen, dass sie sich durch das Rezitieren des Mantras, durch die Verbindung mit Tschenresi, einfach vollzieht. Dann gibt es aber in jeder Vajrayana-Praxis weitere Methoden, um den Geist zu stabilisieren und noch feiner hineinzukommen in das, was da gerade passiert. Die erste Stufe wäre, dass wir uns im Herzen von Tschenresi über uns einen weißen, sechsblättrigen Lotus mit einer flachliegenden Mondscheibe vorstellen. Auf diesem Mondmandala steht die Silbe H RIH – mit der Nase nach vorne. Dieses H RIH ist die Essenz von Tschenresis Geist, und während wir das Mantra der sechs

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Silben rezitieren, stellen wir uns vor, dass dadurch Tschenresi angeregt wird. Das H RIH beginnt auf unsere Rezitation zu reagieren. Es beginnt stärker zu leuchten, zu vibrieren und Licht in allen Farben auszustrahlen. Genauer gesagt ist es fünffarbiges Licht, das für die fünf Facetten des zeitlosen Gewahrseins steht: spiegelgleiches Gewahrsein, Gewahrsein der Gleichwertigkeit, unterscheidendes Gewahrsein, all-vollendendes Gewahrsein und das Gewahrsein des Raumes der Phänomene. Die Farben stehen dafür, wir brauchen uns das innerlich nicht so aufzuzählen. Dieses fünffarbige Licht strahlt vom HRIH ins ganze Universum aus und transformiert alles, uns selbst inbegriffen, in Dewachen und lauter Tschenresis. Also alle werden von dem Licht berührt und werden selber zu Buddhas. In dieser Praxis nennen wir Tschenresi immer einen Buddha. Ihr werdet Geschichten über den Bodhisattva Tschenresi lesen, als ob er eine Biografie hätte. Aber hier in der Yidam-Praxis betrachten wir ihn als das vereinte Mitgefühl und die Weisheit aller Buddhas. Er ist die Verkörperung der Buddha-Qualitäten. Wir nennen ihn deshalb Buddha Tschenresi. Alle Lebewesen, die vom Licht dieser Silbe H RIH berührt werden, werden also auch selber zu Buddhas. Das ist die einfache Visualisation mit der Silbe H RIH. Visualisationsübung Seid ihr bereit, euch einen Lotus aufzusetzen? Hier ist also der weiße Lotus, darin die Mondscheibe und darauf Tschenresi. Wir visualisieren den vierarmigen Tschenresi über uns, strahlend. Und jetzt stellt euch einmal vor, dass Tschenresi, inklusive Lotus und Mondscheibe, ganz groß wird. Er ist nur aus Licht. Er ist ganz, ganz groß, so groß wie das Haus. Und dann wird er wieder ganz, ganz klein, wie eine Erbse. Ein MiniTschenresi und dann wieder ein ganz großer Tschenresi, ganz, ganz groß. – Ist das okay, könnt ihr euch das vorstellen? Jetzt gehen wir hinein in das Herz von Tschenresi, der von beliebiger Größe ist, gerade so, wie er jetzt spontan über eurem Kopf erscheint. Und im Herzen von Tschen resi sehen wir: Da ist ja noch ein weißer, sechsblättriger Lotus. Da liegt auch eine Mondscheibe drauf und da steht die leuchtend weiße Silbe HRIH wie eine Sonne. – Diese Sonne, dieses HRIH, strahlt regenbogenfarbiges Licht aus. Da sind rote Nuancen, blaue Nuancen, gelbe, grüne und weiße Nuancen zu sehen. Das sind wirbelnde Lichtgirlanden. Ihr braucht sie nicht als Strahlen zu sehen. Sie sind wie Lichtschleifen, die in alle Richtungen gehen und alle Formen annehmen können. Von dem HRIH gehen dann diese Lichtstrahlen und Schleifen und Bänder zuerst mal zu uns allen. Um das zu üben, könnt ihr euch vorstellen, dass sie tatsächlich zu allen hier im Raum gehen. Vom H RIH auf unserem Kopf gehen Lichtbänder aus. Wir brauchen gar nicht zu überprüfen, ob sie wirklich zu allen gehen, denn das machen sie automatisch. Sie berühren jeden Einzelnen von uns, inklusive uns selbst, und wir werden zu Tschenresi. Und dann strahlt dieses Licht weiter aus und geht zu allen Lebewesen, an die wir denken. Wenn ich zum Beispiel denke, dass es zu allen Katzen in der Welt geht, dann hat es die Fähigkeit, in diesem Moment alle Katzen der Welt zu erreichen und ihre Buddhanatur freizulegen. … Oder zu allen Mäusen, oder zu allen Regenwürmern und zu allen Ameisen, bis hin zu den kleinsten Lebewesen und zu den größten Lebewesen. Während wir dieses Licht ausströmen lassen, kontemplieren wir, wie wir uns normalerweise alle immer wieder verstricken, und wie befreiend es ist, in dieses Tschenresi-Gewahrsein hineinzutauchen. Falls es zu anstrengend wird, lassen wir es grade wieder sein. Die Visualisation löst sich auf, wird einfach zu Licht, und dieses Licht verschmilzt mit uns. – ***

Bevor wir jetzt in die Praxis gehen, möchte ich gerne hören, ob Schwierigkeiten aufgetaucht sind, um eventuell Hilfestellungen geben zu können. Teilnehmer/-in: Ich finde es so schwierig, diese Herzenergie über dem Kopf zu generieren. Ich finde das bei der Tara-Praxis viel leichter, wo man es im Herzen machen kann. Ja, das kann ich dir gut nachempfinden, dass es über dem Kopf etwas schwieriger ist. Es ist eine Frage der Vorstellung, klar. Hast du schon die Tschenresi-Ermächtigung bekommen? Ich glaube ja, weiß es aber nicht genau.

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In dem Fall könnte ich einfach sagen: Dann mach es doch im Herzen. Du wirst dann selber zu Tschenresi und lässt es von dort ausstrahlen. Du würdest es dann als eine richtiggehende Yidam-Praxis machen. Solange wir es noch über dem Scheitel visualisieren, ist es wie ein Guru-Yoga. Wir stellen uns Buddha Tschenresi auf dem Kopf vor. Von ihm geht die Aktivität aus und er verschmilzt dann mit uns bzw. wir werden dann auch zu Tschenresi. Aber der Hauptort der Aktivität ist da oben. Guck mal, ob du das hinbekommst. Sonst darfst du das auch gerne in deinem eigenen Herzen visualisieren. Wenn ich es jetzt vom Herzen aus mache, die Strahlen vom HRIH, also vom Herzen her, ausstrahlen lasse, ist es dann trotzdem noch sinnvoll, die Visualisierung von oben her weiter beizubehalten? Dann wäre wenigstens noch Buddha Amitabha auf deinem Kopf. Das ist ein Hinweis von Shamar Rinpoche, dass wir dann vereinfacht nur noch Amitabha über unserem Kopf lassen und nicht Tschenresi und Amitabha visualisieren. Teilnehmer/-in: Manchmal verliere ich die Visualisation, weil ich an irgend etwas anderes denke. Muss ich dann wieder ganz zurück? Ist es sinnvoll, das wieder ganz neu aufzubauen oder gehe ich dann zum Beispiel wieder zu dieser leuchtenden HRIH-Silbe zurück? Du gehst zurück, und in einem Moment ist alles wieder da, was du vergessen hattest. Du brauchst es nicht extra aufzubauen. Es ist einfach da, wo du aufgehört hast. Das passiert jedem und wir können uns daran gewöhnen, so zu visualisieren, dass wir die Visualisation nicht so festhalten, sondern so wie die Tibeter sagen: „Kye tchig kye tchig“, von Moment zu Moment. „Kye“ heißt Augenblick, „tchig“ heißt eins. Das bedeutet, die Situation in einem Augenblick entstehen lassen. Sie wirkt und sie löst sich aber auch wieder auf. Ein nächster Geistesmoment – irgendwann entsteht sie wieder neu. Gut, denn ich erlebe darin fast so etwas wie einen Zwang. Ja, das ist so etwas, was die Tibeter eine Thangka-Meditation nennen. Man ist dann innerlich dabei, ein Foto nachzubilden und entwickelt dadurch eigentlich ein Fixieren. Und darum geht es nicht beim Visualisieren, sondern man richtet den Geist möglichst anstrengungslos auf die Visualisation aus, und wenn der Geist stabil darin bleibt, dann hält es eine Weile an. Und wenn etwas anderes dazwischen war, dann kann es im nächsten Moment wieder neu entstehen. Dieser Prozess darf und sollte auch lebendig sein, es braucht nicht jedes Mal dasselbe zu sein. Teilnehmer/-in: Als ich mir „alle Katzen“vorgestellt habe, da bin ich in der Fixierung über den Weltball gerast und wollte jede Katze erreichen. Mein zweiter Impuls war dann: Ich sende diesen Wunsch einfach los und dann erreicht es schon alle Katzen, ohne dass ich mir alle Katzen vorstelle. Genau! Da gibt es eine anstrengende Variante und eine anstrengungslose. Es ist mühsam, wenn wir meinen, wir müssten immer kontrollieren, ob es so klappt, oder ob wir vielleicht eine Katze übersehen haben. Das war auch der Sinn, warum ich das so gesagt habe und ihr diesen Unterschied erleben könnt. In dem Moment, wo wir daran denken, vollzieht sich das. Wir lassen das Kontrollieren sein. Wir können es uns natürlich im Detail vorstellen. Das ist manchmal ganz schön, muss aber nicht sein. Teilnehmer/-in: Der Aspekt mit der Ermächtigung irritiert mich. Als ich zum Beispiel versucht habe, Tschenresi, die Silben usw. zu visualisieren, war ich im Herzen von Tschenresi. Dann ist die Trennung von mir selber als Tschenresi und Tschenresi gar nicht mehr da. Aber die Frage mit der Ermächtigung irritiert mich. Ja, das ist dieser formelle Aspekt des Vajrayana, der uns alle ein bisschen irritiert, denn sobald du im Herzen von Tschenresi bist, bist du auch in deinem Herzen. Das hast du völlig richtig beschrieben. Ich erlebe es auch so und die Trennung ist dann ein bisschen künstlich. Ich gebe euch einfach auch das Traditionelle wieder. Aber schaut, was da für euch möglich ist. Ich finde es auch nach so vielen Jahren, wo ich so viel im Herzen oder im Bauch visualisiert habe, immer noch etwas anstrengender, oben über dem Kopf zu visualisieren. Aber letzten Endes – kaum bin ich im Herzzentrum drin – spielt es keine Rolle mehr. Es gibt einen wichtigen energetischen Unterschied: Ohne dass es weiter erklärt wird, geht es darum, das Scheitel-Chakra zu öffnen, und deswegen wird über dem Kopf, über dem Scheitel, visualisiert. Die Verbindung vom eigenen Herzen zum Scheitel soll dadurch geöffnet werden, sodass wir hier durchlässiger werden. Darum geht es energetisch.

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Und das ist der Unterschied zum Guru-Yoga, wo der Lama über dem Scheitel visualisiert wird. Das schafft eine Durchlässigkeit. Wenn wir aber merken, dass wir zu stark nach oben konzentriert sind und uns das nicht gut tut, dann ist es sinnvoll, die Visualisation ins eigene Herz zu holen. Teilnehmer/-in: Ich habe das Gefühl, ich kriege das hier oben gar nicht mehr los. Ich halte es zu sehr fest. Was mache ich denn? Was du erlebst, kann eine energetische Nachwirkung sein. Und zwar kann man das manchmal so intensiv erleben, dass hier oben alles zu kribbeln beginnt, so wie wenn man eine Weile einen Hut getragen hat. Den Hut hat man schon längst abgenommen, aber man spürt ihn immer noch. So ein Gefühl ist das. Das ist diese energetische Nachwirkung. Du warst sehr stark mit der Bewusstheit oben, es hat da oben etwas bewirkt und obwohl du jetzt aufgehört hast, daran zu denken, ist da noch eine Nachwirkung zu spüren. Das löst sich dann von selber nach einer Weile auf. Teilnehmer/-in: Ich kann kaum Bilder sehen, aber ich spüre innerlich viel Schwingung. Ich lasse mich von dir leiten, aber ich kann mir nichts vorstellen. Und das seit Jahren. Okay. Es kann ja sein, dass es wirklich so ist. Es reicht auch völlig aus, diese Schwingung zu spüren. Das würde für deine Praxis ausreichen. Jetzt möchte ich dir aber helfen, das etwas klarer zu sehen, stellvertretend für alle anderen, die sich nicht trauen, das anzusprechen, obwohl es ihnen ähnlich geht. Wollen wir doch mal versuchen herauszufinden, ob du das mit der bildhaften Vorstellung wirklich gar nicht zu Verfügung hast: Wo wohnst du? In Bad Hennef, genau. Kannst du das Haus sehen, in dem du wohnst? … Kannst du den Eingang sehen? Kannst du sehen, wie du ins Haus reinkommst? … Kannst du dir vorstellen, ob es dort ein paar Stufen hoch geht? Wie viele ungefähr? Zwölf Stufen. Okay. Und wenn du innen reinkommst, gehst du rechts oder links oder geradeaus? Kannst du den Weg bis zu deiner Wohnungstür innerlich sehen? Sehen? Ja, siehst du? Du denkst nämlich – und das ist der Irrtum bei all diesen Menschen, die sagen, sie könnten nicht visualisieren –, du müsstest sehen. Aber darum geht es gar nicht. Wenn ich dich jetzt frage: Wie sieht es in deinem Wohnzimmer aus? Dann sagst du: „Okay, rechts steht der Ofen und da ist der Tisch und da sind die Stühle.“ Du siehst nicht mit den Augen. Aber es ist trotzdem ein Bild da. Und wenn ich dich bitten würde, dass du mir das Ganze aufzeichnen würdest, dann könntest du das so ungefähr zeichnen, wie es ist. Du hast voll die Fähigkeit zur visuellen innerlichen Repräsentation. Du könntest mir die Farben von den Einrichtungsgegenständen sagen, und ich könnte dich weiter und weiter über Details befragen. Die würden alle in deinem Geist auftauchen. Es ist alles da. Du hast die Fähigkeit, das zu sehen. Fährst du eigentlich Auto? Ja. Kannst du dein Auto mal gerade so sehen? Ja. Ja, siehst du: Das ist eine Visualisation. Du kannst das also. Du hast nur nach etwas viel Konkreterem gesucht als was gemeint ist. Es soll gar nicht so konkret sein. Es ist dieser leichte innere Eindruck im visuellen Kortex. Aber das ist nicht so, wie das Sehen mit den Augen. Es ist anders. Es ist eine visuelle Vorstellung. Die ist zunächst mal viel flüchtiger, aber es ist alles da. Du kannst vielleicht auch mal noch etwas Größeres versuchen: Machst du gerne Strandurlaub? Kannst du dich an Situationen am Strand erinnern? So an Wellen, Strand, Leute, die rum liegen und so? Ja, es ist doch da. Es taucht auf. Und diese Fähigkeit haben wir alle in uns. Bloß machen wir es uns manch mal so kompliziert. Wir suchen nach etwas anderem. Und dann denke ich, ich kann nicht visualisieren. Dabei ist es etwas ganz Natürliches, was wir zum Beispiel immer dann einsetzen, wenn wir jemand anderem beschreiben wollen, wie er von hier aufs Klo findet. Wir schaffen das. Und was machen wir dabei? Wir

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haben nicht irgendwo die Sätze aufgeschrieben, wie das aussieht. Wir gehen da noch mal kurz hin und beschreiben, was wir sehen. Und das ist visualisieren. So einfach ist das. Mich hat gestört, dass die Anweisungen so konkret sind. Da habe ich gedacht: Das schaffe ich nicht. Das ist eine Frage, wie lange du dabei bleibst. Wenn ich dich jetzt frage: Dein Wohnzimmer, wie sieht es denn in der Ecke aus? Dann brauchst du ein bisschen Zeit und sagst: „Ja, okay, stimmt. Da ist das Fenster brett. Da stehen die Blumentöpfe drauf. Darunter ist der Heizkörper und daneben ist der Schrank.“ Und so allmählich setzt sich das zusammen. Es ist vielleicht nicht direkt als Ganzes da. Kann sein. Aber man braucht ein bisschen Zeit, um zu verweilen und dann kommen die Details. Man muss darauf ruhen bleiben. Dann könntest du zum Beispiel eine der Blumen auf der Fensterbank sehen – vielleicht einen Weihnachtsstern? Dabei bleibst du innerlich mit deiner Vorstellung stehen und schaust dir an, wie der Weihnachtsstern aussieht, und dann kannst du anfangen zu spielen. Wie sieht der Weihnachtsstern aus, wenn ich ihn fünf Tage nicht gegossen habe? Dann merkst du: In deiner Vorstellung kannst du dem die Blätter hängen lassen. Und dann kannst du dir etwas anderes vorstellen: Wie sieht er aus, wenn er wieder gegossen wird? Das geht doch, oder? Und das ist visualisieren. Das ist nur eine Frage, wie lange wir bei etwas verweilen und genug Interesse dafür haben, und dann kommt es. Dann entsteht es! Und jeder von uns kann das. Bloß dürfen wir nicht meinen, wir würden das so konkret sehen, wie mit den äußeren Augen. Das ist zwar sehr, sehr ähnlich, aber es besteht doch ein Unterschied zu dem, was wir mit den äußeren Augen sehen: Wenn ich zum Beispiel den Christian anschaue, dann ist er, selbst wenn ich ihn nicht mehr sehe, immer noch da. Ich sehe ihn trotzdem. Ich kann ihn nicht weg denken. Mein äußeres Sehen hat ja etwas Stabiles und ist nicht nur von meiner Kreativität abhängig, sondern die äußeren Eindrücke von euch allen sind da und haben eine Konstanz aus sich heraus, während die inneren Bilder genauso intensiv sein können, aber nicht diese Konstanz aus sich heraus haben. Die sind nur so lange da, wie Interesse da ist. Das ist der Unterschied. Teilnehmer/-in: Wenn wir hier recht viel visualisieren und darüber sprechen, visualisiert man dann manchmal ja auch außerhalb der Praxis, ohne dass man das absichtlich tut. Dann denkt man an Tschenresi und schon ist er da. Was machen wir im Alltag damit? Zum Beispiel kannst du sagen: „Hallo! Grüß dich!“ Wir leben auch im Alltag viel kreativer und die Leute strengen sich so an, ein wunderbares Graffiti an die Hauswände zu malen; und wir brauchen bloß einen Moment und erfreuen uns jeden Tag über ein anderes Graffiti vor unserem inneren Auge. Wir haben einfach eine Kreativität, die uns begleitet, und die wird durch diese Visualisation angeregt. Es tauchen die vertrauten Visualisationen von Tschenresi auf, aber auch andere Vorstellungen kommen ins Bewusstsein und wir lernen mit Hilfe dieser Vorstellungen, unseren Geist zu lenken. Das kann unglaublich hilfreich sein. Wenn wir nicht direkt den Zugang zu den Qualitäten einer Situation finden, dann können wir uns tatsächlich einmal vorstellen, dass über dem Scheitel eines jeden Beteiligten ein Buddha sitzt. Allein dadurch, dass wir diese Vorstellung in unserem Geist haben, verändert uns in dieser Situation und führt dazu, dass sich etwas anders entwickelt. Wir nehmen da Kontakt mit etwas auf; wir können diese Kreativität nutzen. Ich habe mir auch überlegt, wie ich damit umgehen soll. Soll ich ihn verschmelzen lassen, wenn er da ist oder … Es ist immer gut, dann zu sagen: Ja, eine Vorstellung, Licht – verschmelzen lassen und die Projektion wieder nach Hause holen. Das ist immer eine gute Lösung. Nicht, dass sie eine getrennte Existenz bekommen. Schließlich entsteht das ja in meinem Geist. Okay. Teilnehmer/-in: Ich habe heute Nacht von zwei Katzen geträumt, diese Katzen kriegten unzählige Katzen junge und heute Morgen war ich so erleichtert, dass Tschenresi sich um die Katzen kümmert, weil ich nicht wusste, wie ich mit der Situation umgehen soll. Teilnehmer/-in: Ich habe das so erlebt, dass die Visualisation da war, das Herz von Tschenresi und das Strahlen, und dann habe ich meinen Körper gespürt. Er war total zu. Dann hast du den Hinweis gegeben, dass die Strahlen auch mich selber berühren und das war unglaublich schön. Das habe ich gemacht und ich wurde ganz, ganz weit. Das möchte ich gerne mit euch teilen. Ich merke, dass es gut tut, wenn ich bewusster damit konfrontiert bin. Jetzt habe ich wieder so ein kleines bisschen davon gefunden.

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Ja, du hast über die Körperempfindungen gemerkt, wie dieser Kontakt mit dem erwachten Bewusstsein innerlich alles ausrichtet, klärt und weitet. Du hast eine klare körperliche Erfahrung gemacht. Teilnehmer/-in: Ich hatte noch nie die Fähigkeit, die meine Frau hat: Wenn sie ein Kleid in einer bestimmten Farbe sieht, zum Beispiel in rot, dann kann sie es sich in grün, in blau und in allen anderen Farben vorstellen. Da werde ich etwas üben. Heute gelang es mir zum ersten Mal. Das berührt mich sehr stark. Das ist ja wunderschön. Das ist ganz wunderschön. Sollen wir noch eine Übung machen, die so ähnlich ist, wie die mit dem Kleid von deiner Frau? Visualisationsübung Du siehst die Lotusblüte, eventuell mit dem HRIH drauf und die leuchtet auf und ist strahlend weiß. – Und dann verschwindet das Leuchten und anschließend leuchtet es wieder auf und ist strahlend rot. – Jetzt verschwindet dieses Leuchten und es wird strahlend gelb. – Und so weiter und so fort. – Diese Fähigkeit haben wir in unserem Geist. Wir können in jedem Moment die Farbe wechseln. Ihr könnt euch auch gleitende Farbwechsel vorstellen: Nochmals das weiße H RIH und dann beginnt zum Beispiel vom Fuß des HRIHs, also von unten, die Farbe rot da hinein aufzusteigen. Und allmählich wird von unten nach oben die ganze Silbe HRIH rot. Okay. Ich danke euch. *** Wie war es mit den Farben? Es ging! Es ging! Ist doch wunderbar. Das ist die Kreativität unseres Geistes. Und die erzeugt nachts unsere Träume. Diese Kreativität ist es, die unsere Träume hervorbringt. Und all unsere Vorstellungen, die wir uns ausmalen – wo wir hingehen wollen, was wir hören wollen, was wir riechen wollen, was wir essen wollen –, basieren auf dieser Fähigkeit des Geistes. Die wird im Vajrayana genutzt, um die Kräfte des Erwachens in uns zu stimulieren. Wir alle haben diese Fähigkeit und brauchen nichts dafür zu tun. Wir brauchen sie nur für unseren Weg einzusetzen. Teilnehmer/-in: Kann auch ein Blinder, der die Farben noch nicht gesehen hat, diese Vorstellungen haben? Du meinst jetzt jemanden, der blind geboren wurde? Das weiß ich nicht. Da habe ich noch nicht gefragt, wie es bei so jemandem ist. Aber jemand, der schon Farben gesehen hat und später erblindet ist, kann das. Ich habe schon häufiger Kontakt gehabt mit Menschen, die das Augenlicht verloren haben. *** Wir kommen jetzt zu einer Passage im Kommentar, die sehr dicht mit Informationen angereichert ist. Es geht um die Erklärung der sechs Silben. Dazu gibt es zum Nachlesen eine Übersicht mit einer schematischen Darstellung dieser Informationen. Ich würde empfehlen, euch innerlich ein wenig zurückzulehnen und so zuzuhören, als ob ihr alles schon wüsstet; so mit der Haltung: Worauf kommt es denn wohl an? Was ist hier das Wichtigste? Aber bleibt nicht zu sehr an den Details kleben. Das ist eine gute innere Einstellung, um etwas aufzunehmen, ohne dass sich unser Geist verknotet.

Erläuterungen zu den sechs Silben Das Mantra der sechs Silben … … und all seiner erwachten Aktivität: Da könnten wir schon einen Punkt machen und sagen: Okay, das ist es. Das ist es, worum es bei dem Mantra OṀ MANI PADME HŪṀ geht. – Jetzt wird es aber im Detail erklärt: Die Silbe OṀ ist weiß. … … Buddha „Juwelenquelle“ (Ratnasambhava) erlangen. – Das alles macht die Silbe OṀ aus.

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Mit demselben Schema werden auch noch die anderen Silben erklärt. Und eigentlich ist der Kontrast interessant, wie die sechs Silben die Gesamtheit der Erfahrung aller Lebewesen abdecken; den neurotischen, verstrickten Aspekt genauso wie den erwachten. Und sie bewirken, dass wir uns aus der Verstrickung lösen und ins erwachte Gewahrten hinein finden. Wir hatten es doch mit einem sechsblättrigen Lotus zu tun, nicht wahr? Stellt euch vor: Auf diesen sechs Blütenblättern des Lotus stehen diese Silben OṀ – MA – NI – PAD – ME – HŪṀ und sie nehmen jetzt diese verschiedenen Farben an. OṀ ist weiß, MA ist grün, NI ist gelb, PAD ist blau, ME ist rot und HŪṀ ist schwarzblau. Also weiß, grün, gelb, blau, rot und schwarzblau. Und die stehen auch für die verschiedenen Daseinsbereiche. Bei OṀ geht es um die Götter, bei M A um die Halbgötter, bei NI um die Menschen, bei PAD um die Tiere, bei M E um die Hungergeister und bei HŪṀ geht es um die, die in den höllischen Qualen leben. Diese Daseinsbereiche sind ein ganz grobes Raster für das, was Lebewesen erfahren können. Aber in jedem dieser Bereiche haben sie etwas gemeinsam. Das gemeinsame Problem in den sogenannten Götterbereichen ist ein Gefühl von Selbstüberhöhung, was wir Stolz oder Hochmut nennen. Es geht ihnen zu gut. Stolz/Hochmut ist das am meisten in die Augen springende Problem im Götterbereich. Was ist das Hautproblem der Wesen im Bereich der Halbgötter mit dem grünen M A? – Neid und Eifersucht, weil sie es noch nicht ganz so toll haben wie die Götter. Sie haben zwar auch alle anderen Emotionen, aber Neid, Eifersucht und Rivalitäten sind vordergründig schon das Stärkste. Dann der Menschenbereich mit der gelben Silbe N I, hier wissen wir nicht recht, welche Emotion denn da die stärkste ist. Es ist eine satte Mischung aller Emotionen! Wir könnten vielleicht sagen: Verlangen, Gier und Begierde sind sehr stark. Aber auch die anderen sind ziemlich stark. Man könnte auch sagen: sehr geschäftig, immer unterwegs. Diese Geschäftigkeit und Rastlosigkeit der Menschen wird aus dem Verlangen geboren, es immer noch besser haben zu wollen, es besser machen zu wollen. Man könnte auch sagen: Stolz und Riva lität! Alle Emotionen sind da, auch viel Angst. Deswegen wird dieser Menschenbereich beschrieben als durchwirkt von Verlangen mit fast gleich starken Emotionen aus all diesen verschieden Bereichen. Dann kommen wir in den Tierbereich mit dem blauen P AD. Im Tierreich dominiert die Angst. Angst ist Ausdruck von Unwissenheit; Nicht-Kennen, mangelndes Gewahrsein. Die Tiere haben immer Angst vor dem Nächsten, der sie auffrisst oder Angst, nicht genug Futter zu finden, oder Angst vor Kälte, oder Angst vor Hitze. Immer ist es die Angst vor Feinden. Ihr braucht nur mal die Tiere etwas zu beobachten. Bei den Vögeln ist es ganz offenkundig, wie unruhig die sind. Oder beobachtet mal die Käfer im Garten. Sobald die merken, dass da jemand anders ist, werden die unruhig. Überall ist diese Angst als Ausdruck von mangeln dem Gewahrsein zu spüren. Da, wo die Tiere sich auskennen, können sie sich entspannen, so wie alle anderen auch: Immer, wenn wir uns auskennen, wenn Gewahrsein eintritt, können wir uns auch entspannen. Es heißt oft, Dummheit wäre das Kennzeichen des Tierbereiches. Aber eigentlich ist es dieses mangelnde Gewahrsein, das sie ständig in Angst versetzt. Das ist mit Dummheit gemeint, falls ihr das in irgendwelchen Texten noch lest. Da ist natürlich auch eine gewisse Stumpfheit da. Viele Tiere verbringen ihr Leben mit äußerst repetitiven Handlungen. Da ist wenig Variation. Viele schlafen auch lange, lange Zeit. Ja, da ähneln wir Menschen auch den Tieren. Ich sage ja: Alles ist auch beim Menschen da. Teilnehmer/-in: Du hast gerade gesagt: Wenn die Tiere sich in einem Raum vertraut fühlen und gewahr sind, dann entspannen sie sich. Jetzt hatten wir gestern davon gesprochen, dass, wenn ich in einem Raum vertraut bin, die Gefahr entsteht, dass ich dumpf werde. Genau. Und das machen die Tiere auch sofort. Sobald sich ein Hund auskennt, entspannt er und schläft ein. Es ist nicht dieses wache, helle Gewahrsein, sondern nur einfach sich ausreichend auszukennen, um endlich mal loszulassen. Dann kommen wir zum Bereich der Hungergeister mit dem M E, der roten Silbe. Na ja, ist ja klar: Deren Hauptproblem ist natürlich das Haben-Wollen. Deshalb spricht man da von Habsucht. Ständig ist da ein verzweifeltes Verlangen, das zu kriegen, was man nicht hat, weil sie ja hungrig und durstig sind und so weiter. Aber es gibt auch ganz viel Angst und natürlich Aggressivität und so weiter. Aber dominant ist dieses ganz, ganz starke Haben-Wollen.

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Dann der Bereich der Höllenwesen, die in Aggressivität und Paranoia leben. Da gibt es Ärger, Hass und Wut. Aggressivität ist da das dominante Merkmal, aber alle anderen Emotionen sind auch da. Das ist so die Beschreibung der sechs Daseinsbereiche in Verbindung mit den sechs Silben. Nun rezitieren wir diese sechs Silben OṀ MANI PADME HŪṀ ja nicht, um diese Daseinsbereiche in ihrem Leid zu verstärken, sondern um aus dem Leid herauszufinden. Da finden wir, dass bestimmte Aspekte des erwachten Gewahrseins sich einstellen, wenn sich diese Emotionen, die ich gerade beschrieben habe, aufgelöst haben. Wenn sich zum Beispiel die Emotion Stolz auflöst: OṀ – Götterbereich, dann kommt es dazu, dass dieses Gewahrsein der Gleichwertigkeit spürbar wird. Denn Stolz beruht darauf, ständig Unterschiede zu sehen; sich für besonders halten, andere für weniger wichtig halten. Oder der umgekehrte Stolz, sich für den Niedrigsten von allen zu halten, für den letzen Wurm. Das ist auch nur eine Form von Stolz. Man fühlt sich zwar unfähig, aber besonders; immer im Vergleich. Und diese Facette des erwachten Gewahrseins, zu bemerken, „Hey! Alles, sowohl ich und andere, aber auch alle Erfahrungen haben den Geschmack der Gleichwertigkeit in ihrer Leerheit, in ihrer nicht fassbaren Natur.“, kommt zum Vorschein, wenn Stolz sich reinigt. Und so hat OṀ eine ganz starke Beziehung mit dieser Facette des zeitlosen Gewahrseins. Rivalität – MA, grün, hat einen ganz starken Bezug zu dem Gefühl: Es ist nie gut genug. Die Halbgötter leiden darunter, dass ihre Situation ihnen nicht gut genug ist. Es geht ihnen super gut, aber es ist nie gut genug. Und wenn sich das reinigt, auflöst, dann kommt eine Facette des erwachten Gewahrseins zum Vorschein, die sagt: Ja, die jetzige Situation ist in sich eigentlich perfekt! Wir sehen die natürliche Vollendung des Seins. So, wie es jetzt gerade ist, ein Moment gewahren Seins, das ist in sich perfekt. Nicht, dass es äußerlich perfekt wäre! Die Natur des Erlebens ist perfekt. Es geht nicht um die Inhalte. Es ist perfekt, weniger Geld zu haben als jemand anderes. Das, was ich jetzt gerade esse, ist in sich ein vollendeter Geschmack, mit allen Qualitäten des Erwachens, egal, ob es woanders noch einen anderen Geschmack hat, der noch besser schmecken könnte. Das Vergleichen hat ein Ende. Wir sind ganz in der Erfahrung des Jetzt. In dieser Erfahrung des Jetzt findet kein Vergleichen statt. Das wäre also eine andere Facette des Gewahrseins, man nennt es das all-vollendende Gewahrsein, das jede Situation in ihrer essentiellen Vollkom menheit erkennt. Bei den Menschen mit der Durchmischung all dieser verschiedenen Emotionen kommt es natürlich nicht zu einer dieser Facetten des zeitlosen Gewahrseins, von denen wir ja nur fünf haben. – Wir bräuchten davon sechs, um die Liste vollständig zu machen. – Aber es heißt, dass es bei den Menschen durch das Auflösen all dieser Emotionen, die im Menschenbereich aktiv sind, zum zeitlosen, spontanen Gewahrsein kommt. Das ist das spontane, zeitlose Gewahrsein der Buddhas. Unwissenheit, mangelndes Gewahrsein ist bei den Tieren vorherrschend. Das ist der blaue Bereich mit dem PAD. Wenn sich diese Dumpfheit, dieses mangelnde Gewahrsein lichtet, dann kommt die Facette der raumgleichen Weite des zeitlosen Gewahrseins zum Vorschein, das Dharmadhatu-Gewahrsein. – Was ich jetzt erklärt habe, kommt im Kommentar noch. Ich gebe euch jetzt nur einen Vorgeschmack, damit ihr nachher, wenn ich das vorlese, nicht so überwältigt seid. – Wenn sich die Enge, die für den Tierbereich so charakteristisch ist – Enge aus Angst, aus Nicht-Wissen geboren, aus dem Sich-nicht-Auskennen, aber auch die dumpfe Enge – auflöst, dann ist das Gewahrsein des Raumes der Phänomene zu spüren. Wir sind jetzt im roten Bereich mit dem M E. Wenn sich das Verlangen der Hungergeister und natürlich auch unser Verlangen auflöst, dann zeigt sich die Facette des unterschei denden Gewahrseins. Denn worauf beruht Verlangen? Auf Unterscheiden. Verlangen, egal nach welchem Objekt – Autos, Wein, Blumen, Kleider oder was auch immer –, überall, wo der Mensch unterscheiden kann, beginnt er an den Unterscheidungen zu haften und versucht, nach dem vermeintlich Besseren zu greifen. Dann tut es nicht mehr nur ein guter Bordeaux, es muss ein bestimmter Jahrgang sein, von einer bestimmten Hanglage, aus einem bestimmten Weingut. Je feiner die Unterschiede festgestellt werden können, desto mehr wird dann für den letzten Unterschied auch noch gezahlt. Das führt zu diesem ständigen Verlangen, dieser ständigen Unruhe, die durch Verlangen, Gier, und Haben-Wollen ausgelöst wird. Diese Facette des zeitlosen Gewahrseins, die sich zeigt, wenn sich das Verlangen auflöst, ist das all-unter scheidende Gewahrsein, das sowohl unterscheidet, als auch gewahr ist, dass diese Unterschiede nicht fassbar sind, dass sie leer von Substanz sind. Wenn ihr jetzt euren Blick durch den Raum gleiten lasst, könnt ihr z.B.

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alle Farben unterscheiden. Es sind ganz viele verschiedene Farben hier im Raum zu sehen. Es braucht aufgrund dieser Fähigkeit, Farben unterscheiden zu können, nicht zu emotionalen Reaktionen des Habenwollens und Nicht-Habenwollens zu kommen. „Dein Blau, das gefällt mir gut, das will ich haben. Das Grün, das gefällt mir auch, das will ich auch haben.“ Oder: „Diese Farbe mag ich nicht, da schaue ich nicht hin.“ Dieses all-unterscheidende Gewahrsein ist die Fähigkeit, ganz fein unterscheiden zu können. Das kann man bei Erwachten, bei Menschen, die einen freien Geist haben, beobachten. Sie nehmen extrem fein wahr, extrem fein. Sie können ganz, ganz viel wahrnehmen, was uns entgeht. Aber es haftet sich kein Greifen daran, kein Verlangen, keine Ablehnung. Die emotionalen Reaktionen bleiben aus. Und das ist eine Facette, die man das unterscheidende Gewahrsein nennt. Die Unterscheidungen werden immer feiner und freier. Teilnehmer: Ich stolpere gerade, wenn ich die Motivation habe, hier zu sitzen, ertappe ich mich dabei, etwas haben zu wollen. Ja, du willst zum Beispiel hierher kommen. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder sagt deine Frau: „Du kannst nicht gehen, denn ich brauche dich zu Hause.“ Oder du musst noch für die Tsok-Puja einkaufen gehen. Wenn in dem Moment, weil du hier sitzen möchtest, Leid entstanden ist, dann warst du, weil es nicht möglich war, diesen Wunsch umzusetzen, bereits in einem Greifen. Aber dass du hier sein möchtest und alles tust, was es in deinen Möglichkeiten ist, um deine Schritte hierher zu lenken, ist völlig in Ordnung. Da entsteht kein Leid. Entsteht Leid dann durch Wertung? Leid entsteht dadurch, dass das Verlangen nicht mehr realistisch ist und man in Diskrepanz kommt zu dem, was in unserer jetzigen Situation möglich ist. Es ist z.B. wunderbar, sich an einem guten Wein zu erfreuen. Wenn jemand nun aber jeden Tag seinen guten Wein auf dem Tisch stehen hat und an irgendeinem Tag nur Wasser dasteht und deshalb Leid entsteht, so ist das ein Zeichen dafür, dass sich ein Anhaften, ein Verlangen aufgebaut hat. Und schon ist das Leid spürbar. Teilnehmer/-in: Das wäre, wenn ich nicht mehr den Unterschied wahrnehme, sondern dem eine Bedeutung gebe? Genau. Und das haben will und abhängig werde. Ich brauche es. Teilnehmer/-in: Wenn es mir mit dem Erwachen zu langsam geht, dann ist das natürlich auch ein HabenWollen. Ja, dieselbe Geschichte. Wenn du da im Greifen bist, entsteht Leid. Dann entsteht durch den Wunsch nach Erwachen Leid. Es fehlt nur noch ein Daseinsbereich. Wir haben es mit der Aggressivität und dem Hass zu tun und ich glaube, dass es keine stärkere Fixierung, keine stärkere Blockade im Geist gibt als Wut, Ärger und Hass. Da findet das allerstärkste Greifen statt, da werden die stärksten Energien bei uns losgetreten. Wenn sich diese Muster des Ablehnens, Abwehrens und Zerstören-Wollens befreien, dann entsteht das spiegelgleiche zeitlose Gewahrsein. Dieser Aspekt wird deutlich und zeigt, wie frei und unbehindert, wie flexibel der Geist eigent lich ist. Die Befreiung aus den Blockaden führt dazu, dass die ungehinderte Dynamik des Geistes spürbar wird. Die Befreiung aus dem, was bindet und verstrickt, führt dazu, dass sich ein weiterer Aspekt des Erwachens enthüllt. Wenn wir wütend sind, sind wir völlig fixiert. Von Flexibilität ist keine Spur mehr, besonders klar ist unser Geist auch nicht. – Das ist er aber auch bei den anderen Emotionen nicht. – Und wenn sich unsere Wut auflöst und noch mehr, wenn sich unser Hass auflöst, dann finden wir wieder in eine innere Beweglichkeit zurück. Es ist manchmal ganz erstaunlich. Wenn ich selber diese Erfahrung mache, ist es so, wie wenn ich vorher in einer Zwangsjacke gesteckt wäre. Wenn die Wut vorbei ist, kann ich plötzlich wieder alles tun. Irgendwie stehen mir wieder ganz viele Möglichkeiten offen, die vorher gar nicht zur Verfügung gestanden hatten.

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Teilnehmer/-in: Mit den Erklärungen kann ich total viel anfangen. Aber ich verstehe nicht, warum es spiegelgleich heißt? Ich sage es nochmals: Schau her, hier ist mein Spiegelchen [hält die Handfläche als Spiegel hoch]. Wenn ich den Spiegel im Raum herumführe, zeigt er völlig ungehindert immer gerade das, was sich vor ihm präsentiert. Ohne im mindesten an dem festzuhalten, was gerade noch vor einem Augenblick zu sehen war, zeigt er gerade das, was vor ihm ist, da ist keine Behinderung. – Wenn du wütend bist, dann hast du da was gesehen. Das macht dich sauer. Dann schaust du dort hin, und du hast immer noch das Bild von vorhin. Du kriegst es nicht los. Es kann passieren, was will. Der ganze Tag ist versaut. Es hängt am Spiegel. Es hängt – ja. Das neue Erleben ist richtig behindert. Es kann Wunderschönes passieren. Es kann passieren, dass dir jemand noch einen Blumenstrauß schenkt, denn du hast vielleicht Geburtstag, du wirst eingeladen – aber da war was, und das war und das ist und es begleitet mich und vermiest mir den ganzen Tag. Das ist die Qualität von Wut, Ärger, Ablehnung, Hass und so weiter. Es vermiest alles. Teilnehmer/-in: Vielleicht sollte man das mit den Farben nicht so ernst nehmen, aber ich habe ein klitze kleines Problem, weil ich andere Zuordnungen aus anderen Praktiken habe. Die Farbe passt nicht und auch die Gottheit passt nicht. Ja, das ist vor allem in Hevajra der Fall. Das ist eine andere Kategorie. Vergiss es. Tantras entstehen durch Visionen. Und die verschiedenen Visionen haben sich nicht miteinander abgesprochen. Teilnehmer/-in: Das erklärt, warum zum Beispiel der Vajroyana sich da in rot darstellt. Das ist so erschienen und so genannt worden. Aber versucht nicht, daraus ein System zu machen. Die Farben, die Zuordnung usw. sind einfach innerhalb dieser Vision, die entstanden ist, so. Da war die Zuord nung so und macht auch ihren Sinn. Andere Visionen, anderes Tantra, etwas andere Zuordnung. Teilnehmer/-in: In diesem spiegelgleichen Gewahrsein, da ist doch auch irgendwas, was so ganz fokussiert und ganz scharf ist. Nein. Da habt ihr etwas hinein interpretiert. Es ist einfach klar – nichts Scharfes. Aber es ist eine Weisheits kraft, und die ist bei den anderen genau so stark, eine Klarheit. Es ist eine Präzision, aber es ist das unter scheidende Gewahrsein, was diese Präzision einbringt. Da habt ihr bei der Unterweisung wahrscheinlich gedacht: Was bleibt denn von der Wut übrig? Die Wut hat doch eine Kraft, um Situationen zu klären. Und deshalb stellst du dir die Frage. Doch jede Spur von Aggressivität löst sich auf. Da ist nichts mehr von Härte und Schärfe, sondern nur noch die nötige Klarheit, um das zu tun, was nötig ist. Das ist dann auch mitfühlende Klarheit, eine Klarheit, die aus dem WIR kommt. Eine Fähigkeit, so zu handeln, wie es die Situa tion braucht. Wenn die Situation es braucht, dass man kraftvoll auftritt, dann ist das nicht speziell das spiegelgleiche Gewahrsein, was das macht, es ist ja das Zusammenwirken. Es ist ja ein Gewahrsein. Wir haben es mit einem erwachten Gewahrsein zu tun, und je nachdem, wie man die Situation betrachtet hat, ist es diese unbehinderte spiegelgleiche Qualität, und es besteht die Gleichwertigkeit aller Situationen, allen Erlebens. Es kann ganz fein unterscheiden. Dieses Unterscheiden führt aber nicht dazu, dass irgendwie die Situation als nicht mehr gut genug erlebt wird, sondern es ist so, dass sie gleichzeitig in ihrer Vollendung erlebt wird. Das ist eine große Weite, deshalb nennen wir sie Raum der Phänomene. Das sind alles Aspekte desselben Gewahrseins, es sind nicht fünf verschiedene. Ist es so wie einmal rumgucken? Einmal rumgucken. Aber es ist wirklich nicht so, dass die Facetten irgendwo in den Ecken zu finden wären, sondern so, wie du sagen kannst: Feuer ist hell und es ist heiß. Du kannst diese nicht voneinander trennen. Und so ist das Gewahrsein: Es ist unbehindert, es ist nicht-fassbar, es ist gewahr des einen Geschmackes, es kann unterscheiden, es ist weit und es sieht die Dinge in ihrer natürlichen Vollkommenheit. Das war jetzt eine kleine Einführung und jetzt lesen wir noch mal ein bisschen weiter.

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Die Silbe MA ist … … steht für erwachte Aktivität. – Da wird noch mehr hinein gewoben. Und zwar entstehen diese sechs Silben aus den vier Unermesslichen – Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut –, sowie aus spontaner Schöpferkraft. Sie stehen für verschiedene Aspekte des Erwachens. Zum Beispiel die erste Silbe steht für die erwachten Qualitäten. Die zweite Silbe steht für die erwachten Aktivitäten, und so wird es Körper, Rede und Geist geben und so wird alles zugeordnet. Alles findet seinen Platz in diesen sechs Silben. Die Silbe MA steht für erwachte Aktivität. Das hat auch einen Grund. Rivalisierende Menschen, die in Konkurrenz zueinander stehen, sind unglaublich aktiv und bauen ganze Städte und Raumschiffe und dergleichen. Diese Aktivität ist aus Profitdenken, Rivalisieren, Konkurrenz geboren. Erwachte Aktivität ist eine spontane Aktivität, die frei ist von Konkurrenz. Dieser Aspekt, wirklich aktiv sein zu können, ohne zu meinen, man müsse die äußere Welt verändern, damit man glücklicher wird, zeigt sich erst, wenn wirklich die Emotionen von Habsucht, Neid und Rivalität aufgelöst sind. Sonst denken wir immer, wir müssten alles noch besser machen. Aber Erwachte wissen ja: Wir werden nicht glücklicher, wenn wir die äußere Welt ver ändern. Wenn von erwachter Aktivität die Rede ist, geht es darum, innerlich und äußerlich Bedingungen zu schaffen, in denen alle Lebewesen herausfinden können, dass es ja ihr eigener Geist ist, der sie glücklich macht. Es ist entscheidend, wie wir sind in der Welt, nicht wie die Welt ist. Wisst ihr, welche Länder ganz oben bei den glücklichsten Ländern der Welt rangieren? – Bangladesh und Bhutan. Bangladesh! Teilnehmer/-in: Es gibt mehrere Glücksumfragen! Ja, es gibt viele. Aber es sind nie Länder wie die Schweiz oder dergleichen. Es ist nicht Deutschland. Es sind nicht die Länder, die reich sind, die oben rangieren. Man kann ja Glücksgefühle verschieden messen. Aber vielleicht habt ihr auch persönliche Begegnungen mit Menschen gehabt, die sehr glücklich waren, und ihr wart überrascht, unter welch kärglichen Bedingungen die gelebt haben. Und es ist Teil der erwachten Aktivität, zutiefst zu wissen, dass Glück aus dem eigenen Herzen kommt. Wir können hier sehr glücklich sein, aber nur, wenn wir innerlich in Frieden sind. Wenn wir unsere Situation, so wie sie ist, auch nehmen können und tief akzeptieren können. Wenn wir nicht akzeptieren, wenn wir gegen unser Erleben in Auflehnung sind, dann verziehen sich das Glück und der innere Frieden, da kann es um uns herum noch so toll aussehen. Wir wundern uns manchmal, wenn wir Freunde besuchen, die eine schwere Krankheit haben, die vielleicht schon länger schwer krank sind, vielleicht eine fürchterliche Krankheit wie schlimmen Krebs haben. Sie haben ihren Weg damit gemacht und zu einer tiefen, inneren Annahme gefunden. Und wir als Außenstehende sind dann so überrascht, wie glücklich jemand in den Tagen vor dem Tod sein kann, im Abschied von all den lieben Menschen um ihn herum. Es ist berührend, und wir wissen: Offenbar hat glücklich bzw. unglücklich zu sein nicht so sehr mit Krankheit oder mit dem Tod oder dem sich abzeichnen den Sterben zu tun. Es hat mit der inneren Haltung zu tun. Das ist also ganz wichtig, um diesen Punkt mit der Aktivität zu verstehen. Die Silbe M A steht für die befreiende Qualität der Geduld. Es ist das tiefe Annehmen-Können. Das macht alles Sinn. Das passt alles gut zusammen. Das ist die Qualität, die am ehesten verloren geht, wenn wir in Eifersucht, Neid, Rivalität usw. kommen. Dann geht die Geduld voll flöten. Sie reinigt die Emotion der Eifersucht … … „Unfehlbare Verwirklichung“ (Amoghasiddhi) erlangen. Wir merken bei den Schlusssätzen bei jeder Silbe, dass jetzt auch noch ein reines Land zugeordnet wird. Nehmt das nicht zu wörtlich. Wenn ihr jetzt immer M A, MA, MA, MA rezitieren würdet, landet ihr wahrscheinlich im reinen Land der Mama. Es ist nicht so, dass das Rezitieren dieser Silbe uns irgendwie in den reinen Bereich von Amoghasiddhi katapultiert, sondern die reinen Länder stehen hier stellvertretend für die Sicht eines Buddha. Amoghasiddhi ist der Buddha der Karma-Familie. Dieser Familie wird die Farbe grün zugeordnet und steht für die Auflösung von Eifersucht, Neid, Profitdenken usw. Und deswegen eröffnet sich uns mit dem Reinigen, dem vollständigen Auflösen dieser Emotionen der Eintritt, die Pforte in das Reine Land von Amoghasiddhi. Das bedeutet aber nicht, dass wir irgendwo in einem Land ankommen, sondern dass wir in einer Schau des Seins ankommen. Und man kann diese reinen Länder alle gleichzeitig erleben; man braucht nicht in getrennte Länder: „Ich will aber dorthin und nicht dahin.“ Die Silbe NI ist … … das Vajra-Gewahrsein … Was den Menschenbereich angeht, wird es einfach VajraGewahrsein genannt, das unzerstörbare Gewahrsein. …, die Einheit von Körper, Rede Geist, Qualitäten

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und Aktivitäten des Erwachens. – Die anderen Silben bekommen jeweils eine von diesen Aspekten zugeordnet, entweder Körper oder Rede oder Geist oder Qualitäten oder Aktivitäten. Hier aber steht es für die Einheit von allen. Es ist auch ganz wichtig, dass wir nicht meinen, bloß durch diese Zuordnung würden wir irgendwie separate Aspekte der Erleuchtung verwirklichen. Wenn das eine da ist, ist auch das andere da. Sie versetzt den … … befreiende Qualität heilsamen Verhaltens. – Oft auch Disziplin genannt. – Sie reinigt die Bewusstseinsmakel dualistischen Haftens… Es ist die gemeinsame Wurzel aller Emotionen, die hier benannt wird. Es wird nicht eine Emotion genannt, sondern es wird die Wurzel genannt, das dualistische Haften. … als Ursache mit den sich daraus ergebenden allgemeinen und besonderen Folgen, wie den vier großen Strömen menschlichen Leidens: Geburt, Alter, Krankheit und Tod. – Kummer und Klagen, all das, was dazugehört. – Sie ist untrennbar … … Dimension der Wahrheit“ – nach oben hin: Akanishta – und bewirkt, dass sie den Körper des „Vajra-Halters“ (Vajradhara), dem Buddha der sechsten Familie, erlangen. Wir haben normalerweise in dieser Tantra-Übertragung ein Fünfer-Mandala: Im Osten ist Akśobhya oder manchmal Vajrasattva – Vajra-Familie. Im Süden Ratnasambhava – Ratna- oder Juwelenfamilie. Im Westen Amitabha – Padma-Familie und im Norden Amoghasiddhi – Karma-Familie. Im Zentrum Vairocana – Buddha-Familie – weiß. Und darüber thront Vajradhara und wird der sechste Buddha genannt. Vajradhara steht für die Einheit von allen fünf Familien und ist nicht zu verstehen als nochmals ein anderer Buddha, sondern wir beschreiben eine Einheit mit verschiedenen Facetten. So, wie wenn wir in einen Juwel schauen, das in verschiedenen Farben leuchtet, je nach Lichtbrechung. Wenn ich meinen Kopf etwas bewege, dann sehe ich in diesem Kristall-Luster, dass mal grün, mal rot, mal gelb auftaucht – und so ist das auch mit dem Erwachen. Je nachdem, wie man das Erwachen beschreibt, zeigt es mal mehr die eine und mal mehr die andere Facette. So wie ein Juwel mal blaues Licht aus den Spektralfarben spiegelt, mal gelbes, mal grünes. Auf die Art können wir uns das vorstellen. Trotz dieser Aufzählung sollten wir immer daran denken, dass sie eine Einheit sind. Aber tatsächlich gibt es da etwas verschiedene Geschmäcker. Man merkt, dass durch das Freiwerden von der einen oder anderen Emotion sich ein bestimmter Geschmack des Erwachens immer deutlicher herauskristallisiert. Wir merken, dass wir, wenn wir uns aus Verlangen befreien, die Fähigkeit zu unterscheiden zwar beibehalten, aber dann innerlich merken: „Das ist doch gar nicht so wichtig.“ Das, was wir da unterscheiden können, hat nicht mehr diese Relevanz, dass es eine emotionale Reaktion auslöst. Wenn wir uns aus Ärger befreien, dann merken wir: „Ja, jetzt kommt die Flexibilität des Geistes zurück, dieses Ungehinderte.“ Wenn wir uns aus Stolz befreien, merken wir: „Ach, wir sind doch eigentlich alle gleich. Wir sitzen doch alle im selben Boot. Ich bin nicht besser und nicht schlechter als andere.“ Wenn wir uns aus dieser Eifersucht, dem Verbessern-Wollen befreien – „Ich muss machen. Ich muss machen, dass die Situation besser wird.“ –, und sich das auflöst, dann entsteht dieses Gefühl von: „Ach, ist doch eigentlich alles in Ordnung.“ Es ist eigentlich, in der Tiefe, alles in Ordnung. Man könnte es besser machen, aber es braucht es nicht. Wenn wir uns aus der Dumpfheit befreien, aus der Enge des Geistes, merken wir: „Ah, wie weit ist doch das Gewahrsein, wie unendlich weit, unbegrenzt.“ So könnt ihr diese verschiedenen Facetten persönlich schon nachvollziehen und dann geht es nur noch drum, dass es komplett stattfindet, dass es vollständig, hundertprozentig stattfindet. Es gibt da noch eine größere Tiefe und Klarheit. Śakyamuni ist natürlich der Buddha unter den Menschen, und die Silbe N I verkörpert die Stahlkraft des spontanen, zeitlosen Gewahrseins. Sie geleitet die sechs Arten Lebewesen in die Dimension der Wahrheit und bewirkt, dass sie den Körper des Vajra-Halters, Dordje Chang, den Buddha der sechsten Familie annehmen. Die Silbe PAD ist blau. … … Buddha „Erleuchter“ (Vairocana), erlangen. Die Silbe ME ist rot. … … Buddha „Grenzenloses Licht“ (Amitabha), erlangen. Die Silbe HŪṀ ist schwarz – blauschwarz, tiefblau –. Sie entsteht … … (Akśobhya), erlangen. So vereinen die sechs Silben die gesamte Kraft und Macht der unermesslichen Aktivität, die den Daseinskreislauf mit den sechs Arten Lebewesen in seinen Abgründen erschüttert. – Das ist ein Name von Tschenresi: Derjenige, der die Tiefen, die Abgründe Samsaras erschüttert, tib.: Korwai tongdrub. –

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Rezitiere als Hauptpraxis deiner Meditationssitzung diesen „König der geheimen Mantras“ so oft du kannst. Das war der Überblick über die sechs Silben. Es gibt dazu ein Diagramm mit den Silben und all den Zuordnungen.4 Teilnehmer/-in: Man kann auch die Gefühle den Chakren zuordnen. Zu welchem Chakra gehört die Silbe NI? In dieser Übertragung gibt es diese Zuordnung nicht. Da müsste man N I tatsächlich der Gesamtheit zuordnen. Du beziehst dich mit deiner Frage auf eine allgemeine Praxis, wo man sagt: Stirnchakra steht für Körper, Kehlchakra steht für Rede, Herzchakra für Geist, Nabelchakra für Qualitäten und das geheime Chakra für Aktivitäten des Erwachens. Dementsprechend könnte man OṀ ĀḤ HŪṀ zuordnen. Und dann kommen die gelbe und die grüne Silbe. Aber das sollte man nicht den sechs Silben von Tschenresi zuordnen. Das kommt aus anderen Erklärungsströmungen. Das kannst du abhaken.

Verbindung der Sechs Silben mit den Vier Unermesslichen Teilnehmer/-in: Noch eine Frage zu der Zuordnung der vier Unermesslichen. Du hast erwähnt, dass sie zuzuordnen sind und wenn ich es richtig verstanden habe, fängt es mit der Silbe M A an? Ja, gehen wir es noch einmal durch. Die Silbe M A ist Liebe, PAD ist Gleichmut, ME ist die grenzenlose Freude, die Mitfreude. Alle entstehen aus dem Mitgefühl und der Schöpferkraft, speziell die Silbe HŪṀ auch noch mal aus dem Mitgefühl als solchem. Weil wir vier Grenzenlose Qualitäten haben, habe ich gesagt, dass alle aus diesen Vieren entstehen. Aber speziell werden die so zugeordnet: Die erste Silbe OṀ entsteht aus der Schöpferkraft und da wird das Mitgefühl nicht speziell erwähnt. Aber bei allen anderen wird immer auch das Mitgefühl erwähnt. Das erste Mal bei MA. Die ganze Tschenresi-Praxis beruht auf Mitgefühl. Die Qualität des grenzenlosen Mitgefühls wird der Silbe HŪṀ zugeordnet. Das ist jetzt aber, glaube ich, gar nicht mehr so hilfreich. Wichtig ist es, die Einheit der vier Qualitäten zu praktizieren. Wenn ich OṀ MANI PADME HŪṀ rezitiere, dann überlege ich nicht, welche dieser Silben für welche Qualität der Unermesslichen steht. Das fließt so ineinander. Es ist aber gut, diese grundlegende Zuordnung mal zu haben. Wir werden während der Praxis mehr oder weniger auch mit den einzelnen Silben praktizieren, weil wir sie uns dann vorstellen. OṀ MANI PADME HŪṀ und dann gehen in diese Bereiche der Emotionen diese Lichtstrahlen und transformieren unsere Themen und unsere Muster, die damit zu tun haben. Teilnehmer/-in: Ist das spontane, zeitlose Gewahrsein das Oberbegriff-Gewahrsein für die anderen fünf? Ja, so kannst du es sagen. Zusammenfassung Während ich OṀ MANI PADME HŪṀ praktiziere, bin ich mit allen Daseinsbereichen und mit allen Emotionen in mir verbunden – in mir, alles in mir, und natürlich in jedem anderen Lebewesen auch. Ich bin verbunden mit allen Paramitas, mit allen befreienden Qualitäten, die ihre gemeinsame Wurzel im Mitgefühl haben. Ich meditiere, während ich OṀ MANI PADME HŪṀ praktiziere, die vier Grenzenlosen Qualitäten: Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut. Ich trete ins zeitlose Gewahrsein ein. Das zeitlose Gewahrsein hat ganz natürlicherweise die angesprochenen unterschiedlichen Facetten. Und darin gibt es keine Emotionen, keine emotionalen Muster mehr, die eben noch in mir aktiv waren. Wenn ich wirklich da hinein eintrete, dann sind sie nicht mehr aktiv, sie sind gereinigt. Damit trete ich in eine andere Vision des Seins ein, in eine reine Sichtweise. Ich trete ein in die Reinen Länder der Erwachten. Ich bin mit allen Reinen Ländern der Erwachten verbunden, ich habe Zugang dazu. Ich bin mit den verschiedenen Manifestationen der Buddhas in den verschiedenen Daseinsbereichen verbunden. Das ist das, was unter dem Strich bleibt.

4 Siehe Anhang 76

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Dann kann ich detaillierter arbeiten. Ich werde euch wahrscheinlich morgen beibringen, wie man mit den einzelnen Silben in der Visualisation arbeiten kann. Am Fluss des Mantras ändert sich nie etwas. Es bleibt immer OṀ MANI PADME HŪṀ und fließt und fließt in der Einheit aller sechs. Wir üben damit eine Gleichzeitigkeit, die Gleichzeitigkeit des Bewusstseins. Wir können uns gleichzeitig unserer emotionalen Bedingtheit bewusst sein und den Geist öffnen für die erwachte Dimension. Wir brauchen nichts zu leugnen. Es ist nicht so, dass wir irgendeine Emotion nicht haben sollten, sondern wir durchschauen sie, wir erkennen sie in ihrer wahren Natur. Wir praktizieren die Natur des Geistes von allem, was auftaucht, die wahre Natur allen Erlebens. Das OṀ MANI PADME HŪṀ ist eine phantastische Brücke dafür. Es regt uns im Herzen an, weil die Kraft des Mitgefühls so stark ist und es regt die Weisheitskräfte an. Mit dem Mitgefühl verbinden wir uns mit dem Leid in uns und anderen und die Weisheitskräfte bewirken, dass wir uns nicht darin verfangen, dass sie sich lösen können, dass es fließen kann, dass es sich öffnen kann für das, was es wirklich ist. Ich rate euch geradezu davon ab, die Liste von diesen sechs Silben auswendig zu lernen. Bitte tut euch das nicht an. Ihr könnt sie studieren, ihr könnt sie euch mit neugierigem Interesse anschauen, aber das Erwachen ist dort nicht zu finden. Teilnehmer/-in: Soll ich sie denn jetzt kopieren? Was ich hoffe, ist, dass ihr die Fotokopie für einen Überblick habt, sie dann aber beiseite legt. Dann braucht ihr nicht so arg diese Passagen im Kommentar zu studieren. Also nochmals: Ihr könnt euch damit befassen. Wichtig ist nur die Spur, die es hinterlässt; die Spur, mit all dem verbunden zu sein, nicht das Wissen. Darauf kommt es an; dass all das in unsere Praxis hinein schwingt, dass wir alle Parameter gleichzeitig praktizieren – wie das in der Mantrapraxis geht, erkläre ich noch –, dass wir mit dem Gewahrsein der Buddhas tatsächlich in Kontakt sind, dass es sich in uns manifestieren kann, während wir ganz realistisch mit unserem eigenen Leid und dem Leid aller andern verbunden sind, ohne irgend etwas ausklammern zu müssen. Das ist doch wunderbar. Das ist eine Praxis, die alles einschließt, alles beinhaltet. Wir müssen uns nicht woanders hinbeamen, um glücklich zu sein. In unserem Sosein, da ist die Praxis. Die Silben auf der Fotokopie sind auf Tibetisch so geschrieben, dass sie von innen lesbar sind. Das P AD z.B. steht auf dem Kopf, weil es nach innen schaut. Es ist wie vom Inneren des Lotus aus zu lesen. Teilnehmer/-in: Wie ist das nun mit dem HŪṀ und HUNG? HŪṀ und HUNG? Unter HŪṀ gehört noch ein Punkt drunter, dann ist es ein H UNG. Wenn im Sanskrit unter dem M ein Punkt steht, dann wird es NG ausgesprochen. P AD ist wie Padma, ihr kennt doch Teesorten, die Padma heißen, das heißt Lotus. Die etwas andere Aussprache des Sanskrit kommt übrigens nicht durch mangelnde Schulbildung der Tibeter, sondern dadurch, dass die Tibeter ihr Sanskrit in Nepal gelernt haben. Damals war Sanskrit zum Teil noch gesprochen, und die Tibeter haben den nepalesischen Dialekt in der Sanskritaussprache übernommen. Dadurch kommen diese ganzen Verschiebungen. *** Kommentar Seite 15, Beschreibung der Auflösungsphase:

Auflösung Schließlich löst sich durch das Licht … … verschmilzt in Guru Avalokiteśvara. – Könnt ihr euch das vorstellen? Wir haben Tschenresi über dem Kopf und hatten jetzt während der Mantraphase alles um uns herum als Dewachen visualisiert, all die vielen Tschenresis um uns herum. Jetzt strahlt noch einmal mächtig Licht aus von Tschenresi und löst all diese Vorstellung auf. Alles wird zu Licht. Dieses Licht kommt zurück und sammelt sich in Tschenresi. Die äußere Welt ist aufgelöst. Alles ist Licht, und dieses Licht ist jetzt Tschenresi, der einzige Bezugspunkt. Teilnehmer/-in: Wenn wir jetzt uns selber als Tschenresi visualisiert haben und Amitabha über dem Kopf?

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Dann geht es von Amitahba aus. Oder du kannst es auch von dir ausgehen lassen, dann sammelt es sich erst in Amitabha und dann Amitabha in dich. Tschenresi über uns, löst sich ebenfalls in Licht auf und verschmilzt in uns. – All das, was wir für Tschenresi über uns visualisiert haben, all das ist nur noch Regenbogenlicht und tritt durch den Scheitel in uns ein. Es bleibt noch ein Gefühl von uns selber als Bezugspunkt, auch das gilt es jetzt aufzulösen. Vielleicht haben wir uns ja auch visualisiert als Tschenresi. Auch diese Vorstellung, alles, was wir denken, selber zu sein, löst sich in Licht auf. Nachdem auch wir uns in Licht aufgelöst haben, weilen wir frei den Fixierungen der drei Kreise … – Ihr seht, diese Fußnote zu den drei Kreisen, das ist das Fixieren, das Festhalten an der Idee von einem Subjekt, einem Objekt und von etwas, das zwischen den beiden stattfindet, was man Handlung nennt. Also im Grunde genommen bedeutet das Freisein von den drei Kreisen, frei zu sein von den Fixierungen auf Subjekt, Objekt und Handlung. – … und frei vom Festhalten an uns selbst, an anderen, als Gottheit und Mantra in nicht fassbarer (leerer) Erhellender Klarheit. Wir ziehen in dem Moment alle Aufmerksamkeit ab von uns. Das Licht, zu dem wir selber werden, erstrahlt einfach und wir bleiben danach in einem offenen Gewahrsein, wo gar nichts mehr als Bezugspunkt herbei genommen wird. Die Erhellende Klarheit oder das klare Licht, von dem hier gesprochen wird, ist die Natur des Geistes, das So-Sein. Dabei geben wir sämtliche Bezugspunkte komplizierender Vorstellungen völlig auf: Ausgeglichen weilen wir jenseits von allen Vorstellungen wie „existiert – existiert nicht; ist – ist nicht, leer – nicht leer.“ Wir kultivieren keinerlei Vorstellung mehr, dass es etwas gibt oder nicht gibt, ob die Meditation richtig ist oder falsch, ob es so ist oder anders, all das lassen wir los und gehen in das einfachste So-Sein, das wir innerlich zulassen können. Wir geben die Kontrolle auf, das Beobachten, das Benennen. – Dieses allereinfachste Sein. Glaubt nicht, dass ihr irgendwo hingehen müsstest, wo es keine Geräusche gibt oder keine visuellen Eindrücke, keine Körperwahrnehmungen. Das geht natürlich alles weiter, das Leben geht weiter. Aber es wird nicht mehr als Bezugspunkt genommen für Ich und anderes. Ich und mein Körper, Ich und die Geräusche, die ich höre, Ich und das, was meine Augen sehen. All diese Bezugspunkte für das Fühlen, Denken in Subjekt und Objekt lösen sich auf und das Leben selbst geht weiter. Wir ruhen im Geist des Edlen, der Untrennbarkeit von Erscheinung, Klang, Bewusstheit und Leerheit, … „Untrennbarkeit von Erscheinung, Klang, Bewusstheit und Leerheit“ bedeutet: Ja, es gibt Erscheinungen, es gibt visuelle Eindrücke, es wird wahrgenommen. Da ist Körperempfindung, es gibt auch Klänge. Ja, es gibt Bewusstheit, wir werden nicht unbewusst, bewusstlos. Aber alles wird in seiner leeren, nicht-fassbaren Natur erfahren. … frei von Sehen und Zu-Sehendem, … Wir schaffen keine Begriffsbildung mehr von „Ich sehe etwas“, „Es findet ein Sehen statt“, „Das ist zu sehen“, es ist bloßes Erleben ohne Aufspaltung der Wirklichkeit. Teilnehmer/-in: Im optimalen Fall [lachen]? Im optimalen Fall. Wenn es suboptimal läuft, dann verzeihen wir uns das jetzt schon. Es wird immer suboptimal, wenn wir meinen, wir müssten jetzt beobachten, ob es optimal läuft. Diesen Zwang, dieses Kontrollieren „Findet jetzt die Auflösung voll und ganz statt?“, das lassen wir. Wir übergeben uns dem Sein und basta. Ich hab schon Zigtausende von suboptimalen Auflösungen erlebt, irgendwann kümmert man sich nicht mehr darum … einfach sein. Das ist kein spiritueller Drahtseilakt, den wir hier ausführen. Das ist nur einfach Loslassen und Sosein. Endlich mal normal sein, ohne all diese Komplikationen. Das ist so, wie wenn wir all dieses Angespannte, die ganze Anspannung endlich mal lassen. Es gibt da nichts zu tun. … in der spontanen großen Weite des Raumes der Phänomene, so, wie es ist.

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Das war die Auflösungsphase. Damit hat uns der 15. Karmapa so das Wesentliche zur Verfügung gestellt, was es braucht, um die Meditation selbst auszuführen. Der Rest des Kommentars sind dann zusätzliche Instruktionen. Teilnehmer/-in: Wie ist das mit den Chakren? Vorhin ging es ja darum, die Chakren zu öffnen, das Herzchakra. Ist es eigentlich das Ziel, die Chakren immer offen zu halten oder gehen die einfach auch wieder zu? Ist das jetzt ne blöde Frage? Mhm [lachen]. Du, ich hab keine Ahnung. Ich hab noch nie ein Chakra gesehen. Aber wenn sie sich zeigen, arbeite ich damit. Ja, super. [lachen]. Würde ich auch so machen. Teilnehmer/-in: Ich hab nochmal eine Verständnisfrage mit dem Verschmelzen: Mit dem Verbleiben in dem offenen Gewahrsein ist die Meditation dann beendet. Da ist die Meditation beendet. Dann merkst du ja so nach einer Weile, es kommen wieder Bewegungen, es taucht wieder einiges auf. Das ist das Wieder-Hineingehen in die Aktivität, und du erinnerst dich kurz – „Ah“ –, da entsteht Tschenresi wieder, ohne viel visualisieren zu müssen. Dann gehst du wieder als Tara, als Tschenresi in die Aktivität. Notwendigkeit der Auflösungsphase Die Auflösungsphase ist Teil jeder Vajrayana-Praxis und stellt einen Unterschied dar zu vielen anderen Richtungen – auch spirituellen Richtungen –, in denen die Visualisationen nicht bewusst aufgelöst werden. Da gibt es tatsächlich auch Instruktionen, als würde man dann so eine Visualisation ständig beibehalten und dauerhaft pflegen, bis hin geradezu – ich hab das in Japan erlebt, als ich dort im Umfeld von AmitabhaPraxis unterwegs war –, dass es fast als Blasphemie oder Zumutung erlebt wird, wenn man fragt, ob sich Amitabha am Ende der Praxis wieder auflöst. Damit kommen wir in einen ganz gefährlichen Bereich. Wenn wir unsere Vorstellungen sich nicht auflösen lassen, dann werden sie sehr gegenständlich. Wir beginnen, unsere Vorstellungen für eine existierende Realität zu halten. Als wäre es wie eine Beleidigung für Amitabha oder Tschenresi, sich wieder in Licht aufzulösen. Das kann sehr weit gehen. Plötzlich vergegenständlicht man etwas und sagt: „Das ist wirklich und alles andere ist unwirklich“. Diese Welt wird als Illusion betrachtet, aber die Vorstellung des Göttlichen oder des Buddha ist dann die Ausnahme, das darf sich nicht auflösen. Alles andere ist dem Wandel unterworfen. Das ist nicht ein bewährter Weg des Erwachens. Es bewährt sich, tatsächlich alles, was entsteht, sich auch wieder auflösen zu lassen. Denn da können wir wirklich lernen, dass alles im Geist stattfindet, dass Amitabha im Geist stattfindet, dass Tschenresi im Geist stattfindet, dass das alles Bewegungen dieses kreativen Geistes sind. Das ist also etwas ganz Entscheidendes. Wir durchschauen dank der Auflösungsphase, dieser Vollendungsphase, die wahre Natur dieser geistigen Bewegung; essenziell. Egal, in welchem Bereich ihr arbeitet – einige von euch sind ja Psychotherapeuten –, ihr solltet alle Vorstellungen, mit denen ihr arbeitet, immer wieder sich auflösen lassen; immer wieder. Sie können auch wieder entstehen, aber sie sollten sich auch auflösen. Wenn wir bemerken, dass ein Haften an diesen Vorstellungen stattfindet, sind wir in einem neuen Greifen. In der spirituellen Welt sind wir dann in einem spirituellen Materialismus gelandet. Das ist etwas, was mit Gottesvorstellung passieren kann, mit Buddha-Vorstellung, mit Vorstellung von Gottheiten. Auch mit Vorstellung von Chakren kann das passieren, von Energieflüssen, … Teilnehmer/-in: Ist das ähnlich zu verstehen, wie sich in der christlichen Tradition kein Bild zu machen? Es ist ein bisschen anders: Wenn man sich erstmal kein Bild macht, braucht man auch nichts aufzulösen. Wenn wir uns kein Bild vom Letztendlichen machen, brauchen wir auch nichts wieder aufzulösen. Das ist wunderbar. Also schon ähnlich.

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Wenn wir uns aber eine Brücke schaffen, ein Bild machen, dann ist es wichtig, diese Brücke wieder aufzu lösen und sie nicht für etwas Wirkliches, Solides zu halten. Wir verbinden diese beiden Phasen – die schöpferische Phase des Visualisierens und die Vollendungsphase mit dem Auflösen der Visualisation – mit den beiden Praktiken von Shine und Lhaktong, mit Geistesruhe und Einsicht. Ein pädagogischer Ansatz ist, dass die kreative Phase, die Entstehungsphase, der Geistesruhe entspricht, und die Auflösungsphase der Einsichts-Meditation. Das kann man erst einmal so nehmen. Ich werde euch heute oder morgen noch die ausführliche Visualisation erklären mit dem Lotus und den Silben. Wenn man auf die Silben visualisiert, das H RIH in der Mitte und dann dabei bleibt, ganz fein und ruhig zu visualisieren, dann sammeln wir damit unseren Geist. Diese Entstehungsphase mit den Visualisationen ist wie ein Meditationsobjekt. Wir können uns z.B. geistig sammeln auf dem HRIH oder OṀ MANI PADME HŪṀ. Wir können das visualisieren und den Geist damit stabilisieren. Das ist ein visualisiertes Meditationsobjekt. Damit sammeln wir den Geist und finden in die Geistesruhe. Solange wir uns auf diese Visualisation ausrichten, mag es sein, dass wir der Illusion, der Täuschung erliegen, da wäre wirklich etwas. Das Auflösen dieser Visualisation beseitigt diesen Trugschluss: Alles geht wieder zurück, dahin, wo es hergekommen ist, in die offene Natur des Geistes. Das nennt man dann Einsichts-Meditation. Wir kommen dann zu der Einsicht, dass es auch keine Substanz hat; dass es sich auch wandelt; dass es durch Bedingungen entstanden ist und durch andere Bedingungen sich wieder auflöst. Soviel zu der Erklärung, wo das Visualisieren mit Geistesruhe verbunden wird, und das Auflösen mit der intuitiven Einsicht. In der Kagyü-Tradition ist es aber so, dass wir die beiden gleichzeitig praktizieren. Lasst einfach mal Tschenresi entstehen oder einen Regenbogen. – Während wir diesen Regenbogen visualisieren, sind wir schon gewahr, dass er substanzlos ist. Wir können ihn jederzeit verschwinden lassen, ihn jederzeit wieder neu sehen, jederzeit ihn wieder verschwinden lassen und neu sehen: Das nennt man die Transparenz unserer Visualisation. Sie muss durch und durch transparent sein, mit dem Wissen verbunden, dass sie keine Substanz hat; nichts Solides ist; keinerlei eigenständige Existenz hat. Der Regenbogen bleibt nicht da oben, wenn ich nicht daran denke. Er hat keine eigene Existenz. Es ist etwas, das durch Bedingungen entsteht. Dieses Zusammenkommen von Entstehungs- und Vollendungsphase bedeutet, dass wir im Entstehen der Visualisationen bereits gewahr sind, dass sie sich wandeln, dass sie dynamisch sind, dass sie sich auflösen werden, dass sie nichts Greifbares in sich haben. Das ist wunderbar. Stellt euch vor, ihr übertragt das jetzt auf das Sprechen. Ich benutze Worte. Worte lösen etwas aus: Assoziationen, Verständnis. Diese Worte, diese Begriffe sind nur wie Visualisationen, sie sind nur Klang und Leerheit, lösen aber etwas aus. Sie sind, ohne substanziell zu sein. Wenn wir das in all unserem Erleben umsetzen und das, was wir denken, was wir sagen, was wir fühlen, als die natürliche Schöpferphase oder Entstehungsphase – Kyerim – betrachten und den Wandel dieser Erfahrung im Denken, im Sprechen, im Hören, in Körperempfindungen als die Vollendungsphase – Dzogrim –, dann haben wir den Punkt der Meditation verstanden. Alles hat dieselbe Natur wie unsere Visualisationen: Es entsteht durch Bedingungen und löst sich auf, wenn die Bedingungen sich verändern, es wandelt sich unter dem Einfluss von Bedingungen. Das Verständnis, das jetzt gerade entsteht in meinem Intellekt, in meinem Geist – Jetzt verstehe ich gerade: „Ah, das ist mit der Einheit von Entstehungs- und Vollendungsphase gemeint.“ – hat keine Substanz, aber es wirkt. Erleben wirkt und bewirkt, ohne solide zu sein. Verständnis entsteht, ohne solide zu sein. Mitgefühl entsteht, ohne solide zu sein. Liebe ist da, ohne ein Ding zu sein. Es sind Kräfte, die wirken. Sie bringen etwas hervor, ein Gefühl von Liebe, von Offenheit, von Resonanz – und keine Substanz. Niemand da. Das entspricht Kyerim und Dzogrim, Entstehungsphase und Vollendungsphase, in der täglichen Anwendung. Alles wird entdeckt, wird gelebt in diesem Prozess des Entstehens und Sich-wieder-Auflösens. Ihr erinnert euch an den Begriff Shardröl in den Mahamudra-Retreats: Shar heißt „entstehen“ und dröl „sich befreien“; sich befreien im Entstehen. Alles wandelt sich, befreit sich, löst sich auf, während es noch entsteht; und schon folgt das Nächste.

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Irgend jemand sagte mal, die sogenannten Momente sind so, als wenn der eine Moment sagt „Ich bin da“, schwupps der andere schon hinterher „Nein, ich bin dran“ – „Nein ich bin dran“, da kommt schon der nächste. Das Erleben geht so rasant, wandelt sich so, dass man nur von shardröl, von Befreiung im Entstehen sprechen kann. Es löst sich im Entstehen und immer entsteht das Neue schon wieder. Wir landen durch diese Auflösung nicht in einem Nichts, sondern das, was dann danach kommt, ist auch schon wieder und ist auch schon wieder und ist auch schon wieder. Und nichts hat Substanz. Deswegen: Sucht nicht in der Auflösungsphase nach so etwas wie einem schwarzen Loch, in dem ihr kurzzeitig mal verschwinden könntet, wo nichts mehr ist. Ein Ausstieg aus dem Erleben ist nicht möglich. Auch in der Auflösungsphase geht das Erleben weiter. Wie sollte es denn anders sein? Geist ist dynamisch und bleibt dynamisch. Das heißt, das Erleben geht weiter. Aber es geht ohne Greifen weiter, ohne Anhaften. Teilnehmer/-in: Ohne dass man etwas dazu tun muss. Und es gibt nichts zu tun. Ja, endlich! Endlich mal nichts zu tun [lachen]. Die Vollendungsphase ist für die Faulenzer. Tiefes Ausatmen und nichts mehr zu tun. Aber verflixt nochmal, einschlafen geht auch nicht, weil schon entsteht das Nächste. Versteht ihr? Das ist Dynamik ohne Komplikationen. In der Entstehungsphase beim Visualisieren, da wird noch etwas eingeladen, da wird bewusst etwas geformt, mitgestaltet. Wir richten unseren Geist aus, um ihn im Heilsamen zu sammeln. Das ist der Sinn der Visualisation. Wir sammeln den Geist im Heilsamen. Da ist eine gewisse Absicht am Werke: Wir laden ein bestimmtes Erleben ein, wir richten uns aus und sammeln den Geist im Heilsamen. Wenn wir ihn dort gesammelt haben und genau dann, wenn es am besten ist, dann lassen wir los und überlassen den Geist sich selbst. Dann haben wir die beste Chance, dass der Geist sich völlig löst und wir natürliches Sein kontaktieren können, denn wir kommen aus dem Heilsamen. Das Heilsame ist schon eine größere Lösung und Offenheit des Geistes, als wenn wir in starker Verstrickung stecken. Das ist, was die tibetischen Lehrer, Gendün Rinpotsche und andere, sagen: Es ist schwer, aus einem Albtraum direkt ins Erwachen zu finden, in das non-duale Sein. Es ist besser, aus dem Albtraum erst einen guten Traum zu machen, und aus dem guten Traum ins Erwachen zu finden. Teilnehmer/-in: Wieso? Weil der Geist in unserem Albtraum so eng, so voller Sorgen und Angst und sonst was ist, so unter Stress, dass es ganz schwierig ist, den Übergang zu finden. Wenn wir ihn weiten können, uns an die Sichtweise des Erwachens, der Buddhas, annähern können, so sein können wie ein Buddha, und dann darin die verbleiben de, geringe Anspannung auch noch lösen, dann haben wir es viel leichter. Viel, viel leichter. Teilnehmer/-in: Was passiert dann, wenn wir diesen Geist losgelassen haben? Du sagst, zum Höhepunkt lässt man diesen Geist grundsätzlich nochmal los und dann? Und dann erzählst du mir, was dann passiert ist. Da kann dann alles Mögliche passieren. Passiert dann in dem Sinn das, was nicht passiert? Ja, wahrscheinlich. Du sagst es mir, was in deinem Geist dann passiert. Du machst es einfach mal. Lass einfach mal so los und dann schau mal, was da wohl passiert. Aber wenn da jetzt nichts mehr kommt… Ja, ja, wenn da jetzt nichts mehr kommt, nicht? Wir begegnen in dem Moment, wo wir dieser Aufforderung, ganz loszulassen, begegnen, unserer Angst: „Verflixt nochmal. Ich weiß ja gar nicht, was da passiert. Keine Ahnung, was da kommt.“ Das ist die Angst vor dem Unbekannten; die Angst vor dem, wo wir nicht mehr kontrollieren. Was du ausdrückst, ist die Angst von allen: Wenn wir an die Schwelle kommen, wo eigentlich ein Loslassen möglich wäre, kontrollieren wir doch. Wenigstens ein bisschen beobachten, wenigstens ein bisschen da sein und mir selbst bei der Erleuchtung zuschauen. Einfach nur, um sicher zu gehen, dass ich nicht ausraste, verrückt werde oder dass niemand mit den Fähnchen weht, wenn ich dann die Erleuchtung

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erlangt habe. Wir sind immer mit der Kontrolle dabei. Genau darum geht es. Deswegen sage ich dir auch nicht, was danach kommt. Ich hab ja auch keine Ahnung. Ich war ja auch noch nie da, wenn es dann so war. Ich muss ja auch abtreten, ich hab ja auch keine Möglichkeit, mit meinem kleinen Ich, mit meinem Beobachter irgendwie in das Non-Duale noch den Beobachter mit rüber zu ziehen. Geht nicht. Man kann sich nicht beim Erwachen, bei der Erleuchtung zuschauen. Geht nicht. Okay. Deshalb heißt es dann: Wenn der Geist dann loslässt, ruht er in sich selbst. Zum Beispiel. Das ist dann so eine gängige Formulierung. Aber es geht nicht ohne mich selbst. Es geht nicht mit dir selbst. Es geht nur ohne dich selbst. Teilnehmer/-in: Alle anderen ja, aber du nicht [lachen]. Dieses Auflösen, dieses Loslassen kann man ja öfters in der Praxis machen. Am ersten Tag hast du auch gesagt, es wechselt immer zwischen dem Tschenresi-Gefühl oder -Dasein und dem eigenen Bewusstsein, so wie wir halt normal drauf sind. Die beiden Wechsel haben jetzt aber nichts miteinander zu tun. Das sind etwas verschiedene Wechsel, ja. Ich möchte euch aber an eine ganz einfache Auflösungsphase heranführen. Das machen wir jetzt einmal miteinander. Wir machen mal einfach einen Spaß. Jetzt machen wir eine Übung mit dem Atem, ein paar Experimente. Was so wunderbar ist, ist, dass der Atem uns jede Möglichkeit für solche Experimente gibt. Experiment mit dem Atem Wir fangen mit dem Ausatem an, der Ausatem ist unsere Vollendungsphase. Wir gehen mit dem Ausatem in die tiefe Gelöstheit. … Irgendwann kommt der Einatem, das ist unsere Entstehungsphase. … Und wieder atmen wir tief aus und lassen alles los. … Und immer, wenn ihr euch dazu bereit fühlt, geht ihr mit dem Ausatem in die völlige Natürlichkeit; in das einfache, unkomplizierte Sosein. Auflösung aller Vorstellungen und Konzepte. – Jetzt kehren wir das mal um – nicht ganz Umkehrung, wir betonen es anders. Wir gehen jetzt mit dem Einatem mal ganz bewusst in die Entstehungsphase, das heißt, wir atmen ein und gehen in das Gefühl: „Wow, ich lebe. Ich werde geboren“. … Und mit dem Ausatem vergessen wir wieder und mit dem Einatem gehen wir wieder in die Wertschätzung der Erscheinungswelt. – Mit dem Einatem gehen wir in das leuchtende, strahlende Gewahrsein der jetzigen Sinnesempfindung und mit dem Ausatem lassen wir alles wieder los. – Ich merke, während ihr das tut, beginnen sich die beiden Phasen schon zu durchmischen: Während wir in die völlige Lebendigkeit gehen, bleiben wir so entspannt wie im Loslassen. Wir gehen in die völlige Lebendigkeit und bleiben dabei so offen und gelöst, wie beim völligen Loslassen. – Manchmal akzentuieren wir das Loslassen etwas stärker mit dem Ausatem, weil wir merken, dass sich Spannung aufbaut, und manchmal betonen wir stärker die Lebendigkeit, das wache Wahrnehmen. – Frische und Gelöstheit. – *** Das war jetzt als Hilfe gedacht. Ich weiß aber nicht, ob euch das wirklich geholfen hat. Konntet ihr beim Ausatem merken, wie euch das vertiefte Ausatmen hilft loszulassen? Teilnehmer/-in: Das geht dann über, ist in dem anderen auch. Genau. Das geht dann ins Einatmem über. Deswegen begannen sich auch die Phasen zu vermischen. Man könnte ja auch mit dem Einatmen voll und ganz loslassen. Teilnehmer/-in: Ich fand’s sehr lebendig. Ja, sehr lebendig. Wenn man so losgelassen hat mit dem tiefen Ausatem, dann merkt man, wenn der Einatem kommt, dass Lebensenergie einströmt. Das ist auch wie ein „Ja“ zum Leben mit dem Einatem. Teilnehmer/-in: Ich hab’ richtig wahrnehmen können, dass es auch ohne Festhalten verbunden ist.

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Genau. Das ist die Vermischung der beiden. Wenn wir „Ja“ zum Leben sagen können, ohne festzuhalten, dann verbindet sich da beides miteinander. Du hast es offenbar auch so erlebt, dass das gelöste Sein, die gelöste Erfahrung, aus dem Ausatem weitergeht in den Einatem hinein, in die Bejahung der Sinneserfahrung, dass diese Frische nicht unbedingt ein Greifen auslösen muss. Das muss nicht sein – manchmal tut sie es aber. Manchmal lösen die Erfahrungen dann ein Greifen aus, und dann ist es gut, sich wieder zu erinnern, alles zu lösen, zu lockern. Das machen wir in den Visualisations-Praktiken im Vajrayana. Wir lassen ganz lebendig etwas entstehen. Wir lassen uns ein auf diesen wunderbaren Film des erwachten Mitgefühls mit Licht, das zu alle Lebewesen geht – dahin, wo Probleme, Krisen, Kriege, Krankheit usw. sind – und zu uns selbst, und vergegenständlichen nicht. Wir bleiben gelöst und entspannt dabei. Dadurch kommt es zu einer wirklichen tiefen, inneren Gelöstheit. Die wirkt heilend. Das ist anders, als wenn wir einen Sorgenfilm einfach durch einen Glücksfilm ersetzen. – Alles darf sein, ganz lebendig, so ist das Leben halt, und da ist dieses Wahrnehmen der mitfühlenden, liebevollen Dimension, und darin werden wir ganz gelöst: Wir lassen es entstehen, es kann sich darin auflösen und es entsteht wieder Neues und das kann sich darin wieder auflösen. Das ist diese Fluidität, diese Gelöstheit des erwachten Geistes, die wir damit allmählich kontaktieren. Wo wir mit allen Schatten in uns vertraut werden, wir vor nichts mehr Angst zu haben brauchen. Teilnehmer/-in: Es gibt bei mir manchmal sehr eindrückliche Erlebnisse. Ich merke dann, dass ich, um wirklich ganz loszulassen, ganz viel Vertrauen brauche. Die Frage ist, braucht es da Vertrauen? Nein, braucht es nicht. Du brauchst sie gar nicht loszulassen, wirklich nicht. Du musst sie gar nicht loslassen, du brauchst sie nur zu durchschauen. Durchschau diese starken Erfahrungen, die du hast, einfach. Durchschau sie! Wie sind sie denn? Sind sie noch da? Höchstens noch als Erinnerungsspuren. Aber sie sind nicht mehr da als solche. Also, durchschaue sie. Du brauchst sie nicht loszulassen, sie sind schon gegangen. Durchschaue sie einfach in ihrer substanzlosen Natur. Als ob du einen wunderbaren Sonnenaufgang gesehen hättest, phantastisch, so schön, wie noch nie in deinem Leben, und du möchtest allen davon erzählen, aber … die Sonne ist schon weitergewandert. So ist es auch im Leben. Die stärksten Erfahrungen, wir brauchen sie nicht loszulassen, wir brauchen sie nur zu durchschauen. Teilnehmer/-in: Du sagst „durchschauen“. Ist das ein Durchschauen durch Anschauen? Es ist ein Erkennen, ein Wahrnehmen ihrer tatsächlichen Natur. Durchschauen im Sinne von sehen, dass sie ohne Substanz sind, dass das, was für mich so wichtig erscheint, tatsächlich Schnee von gestern ist. Das meine ich mit Durchschauen. Dieses ganze Ding mit dem Loslassen ist reiner Humbug. Wir brauchen gar nichts loszulassen. Teilnehmer/-in: Es ist das Gefühl, als hätte dieser starke Sonnenuntergang uns einen Sonnenbrand beschert. Man fühlt noch dieses Brennen auf der Haut. Hast du jetzt echt gesagt, dass ein starker Sonnenuntergang uns … Sonnenaufgang hatte ich gesagt… Teilnehmer/-in: Bei mir war’s der Untergang. Diese Erfahrungen, die sind ja bei uns drin wie ins Hirn reingebrannt, v.a. die schlechten Erfahrungen, und du sagst, sie sind eigentlich ja schon vergangen. Aber wir spüren sie ja noch, wir können sie ja manchmal richtig hervorholen, wie so einen Sonnenbrand, den ich dann davon hab. Wir haben unsere Erinnerungsspuren. Jedes Mal, wenn die Erinnerung in uns aktiv wird, taucht eine neue Erfahrung auf. Es ist gar nicht mehr die alte Erfahrung, die auftaucht, sondern etwas Ähnliches, was durch die Erinnerung jetzt ausgelöst wird. Es ist wieder ein neues Erleben, und es verändert sich ja auch. Im Laufe unseres Lebens können wir die scheinbar selbe Erinnerung mehrfach machen, und jedes Mal ist sie ein bisschen anders. Es ist nicht mehr die alte Erfahrung, die auftaucht. Wir können mit der neuen Erfahrung so umgehen, wie wir mit jeder anderen Erfahrung auch umgehen: Sie lassen, wie sie ist. Schauen, wie sie ist. Sprühendes Feuerwerk, sich ständig verändernd. Jede Erfahrung ist so. Auch die, die durch Erinnerungsspuren mit dem Vergangenen so verbunden sind und etwas Ähnliches haben – Kindheitstraumata –, alles stellt sich uns so dar, wie wir es jetzt erleben. Es ist nicht mehr das, was es früher war. Das wissen alle Therapeuten; jeder weiß, dass die Bearbeitung dessen, was wir ein Trauma

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nennen, im Jetzt stattfindet. Wir bearbeiten nicht die Vergangenheit. Wir arbeiten im Jetzt mit dem, was dieses Erleben, das da auftaucht, für uns für eine emotionale Bedeutung hat. Das kommt durch die Kräfte des Festhaltens: Die Kräfte des Greifens und emotionales Interpretieren machen aus dieser Situation etwas Traumatisierendes, etwas Schwieriges. Wenn da Gewahrsein hineinkommt, beginnt es sich zu lösen und weiter zu entwickeln. So können wir uns daraus befreien – im Jetzt, nicht in der Vergangenheit.

Kontemplation zum Jahresende mit „Manis“ Morgen ist der erste Tag des nächsten Jahres. Bedeutet das etwas für euch? Ich möchte euch einladen, jetzt eine Weile auf eine besondere Art zu praktizieren, ein wenig kontemplierend. Ich lade euch ein zu einer endlosen OṀ MANI PADME HŪṀ-Praxis. Macht es euch bequem und legt einen Zettel neben euch, wo ihr – wenn ihr wollt – auf die eine Seite schreiben könnt, was ihr in diesem sich beendenden Jahr wichtig fandet, wofür ihr auch Wertschätzung erlebt. Was euch im nächsten Jahr wichtig ist, worauf ihr euch besonders konzentrieren möchtet, schreibt ihr auf die andere Seite. Zum Beispiel: „Da hab ich bei mir ein paar Muster entdeckt, da werde ich darauf achten. Da gibt es Qualitäten, die ich besonders in den Vordergrund rücken möchte.“ Es geht darum, auf dem Blatt, wo es um 2014 geht, rückblickend zu sagen: „Was war da eigentlich wichtig? Was habe ich kapiert dieses Jahr? Was waren so die Herausforderungen, wie bin ich damit umgegangen?“ Und für 2015: „Wie geht es weiter für mich? Worauf möchte ich jetzt achten?“ Klar ist 2015 eigentlich wichtiger. Es ist wichtig, sich gut auszurichten, aber auf der Basis eines Bedenkens von dem, was jetzt ist und was war. Es wäre ja dumm, in 2015 dieselben Fehler zu wiederholen wie in 2014. Aber 2014 war ein super Jahr, da gibt es einiges wertzuschätzen. Dank, wir haben einiges gelernt in diesem Jahr. Sonst wären wir ja nicht an dem Punkt, wo wir rückblickend vielleicht sagen würden: „Ah, daran möchte ich arbeiten.“ Das haben wir ja gelernt, das ist wunderbar. Wertschätzung ist eine wichtige Voraussetzung, um das Jahr abschließen zu können. Dann schauen wir voraus: „Ja, was kommt an Herausforderungen auf mich zu, und wie möchte ich damit umgehen? Was möchte ich stärken in mir, was sind die Qualitäten, denen ich besonderen Raum geben möchte.“ Alle, die überhaupt keinen Bock auf diese Art von Arbeit haben, rezitieren einfach OṀ MANI PADME HŪṀ. Wenn uns etwas einfällt, dann können wir es ja immer noch aufschreiben. Wir brauchen uns nämlich keinen Stress zu machen. Das ist eine kontemplierende, endlose OṀ MANI PADME HŪṀ-Praxis. Wir schenken OṀ MANI PADME HŪṀ in diese Welt, wir können mit OṀ MANI PADME HŪṀ alles abschließen, was es in diesem Jahr abzuschließen gibt; alles wertschätzen, was es wertzuschätzen gibt, und uns damit auf die Zuflucht ausrichten, auf das, was wir im neuen Jahr kontemplieren möchten. Es braucht nicht unbedingt Worte auf Papier, die machen das nur etwas klarer, dass wir nicht so in einem diffusen Gewabber sind, wo wir eigentlich gar nicht wissen, worauf wir uns ausrichten. OṀ MANI PADME HŪṀ OṀ MANI PADME HŪṀ OṀ MANI PADME HŪṀ Während wir so OṀ MANI PADME HŪṀ rezitieren: Schaut mal, in welche eurer emotionalen Muster ihr besonders Gewahrsein hineinbringen möchtet. Welches sind die emotionalen Muster, die wirklich meine Aufmerksamkeit brauchen? Genau dort möchte ich mein Gewahrsein, mit dem Gewahrsein von Tschenresi, mit dem erwachten Gewahrsein hineinwirken und sie durchdringen. Bemerken, wenn dieses Muster anspringt, und dann tatsächlich mit der Praxis präsent sein. Welche sind denn die Muster in mir, die diese besondere Aufmerksamkeit brauchen? Es sind die Muster, von denen ich mich normalerweise erwischen lassen, denen ich oft auf den Leim gehe und in die ich mich leicht verstricke. Welche sind es denn, welche habe ich denn schon erkannt? OṀ MANI PADME HŪṀ OṀ MANI PADME HŪṀ OṀ MANI PADME HŪṀ Und dann fragen wir uns: Wo brauche ich es besonders, angenommen zu werden, umarmt zu werden, dass ich liebevolle Annahme von mir selber oder durch andere brauche? Wo bin ich besonders verletzlich? Wo brauche ich diese liebevolle Zuwendung, die auch durch Tschenresi zum Ausdruck kommt?

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Kommentar zur Meditation auf Avalokiteśvara

Lama Tilmann, Neujahr 2014/15

OṀ MANI PADME HŪṀ OṀ MANI PADME HŪṀ OṀ MANI PADME HŪṀ Wo brauchen es die Menschen um mich herum, dass ich liebevoller mit ihnen umgehe? Wo brauchen sie meine Herzensumarmung oder meine Annahme? Wo kann ich ihnen das schenken? OṀ MANI PADME HŪṀ OṀ MANI PADME HŪṀ OṀ MANI PADME HŪṀ Vielleicht nehmen wir uns noch ein wenig Zeit, uns jemandem anderen hier im Raum zuzuwenden und vielleicht ca. fünf Minuten darüber zu sprechen, was uns am Herzen liegt für das nächste Jahr. Was uns wichtig ist, das, was wir teilen möchten mit der anderen Person. Das, was uns nicht zu intim ist, um es sagen zu können. Das ist Sangha. Wir sind in einer Sangha-Situation und wir können uns so, wie wir Mantra gesprochen haben, auch Mantra-ähnlich miteinander sprechen, vom Herzen kommend, vom Herzen her zuhören, einfach ganz entspannt miteinander sein: „Und du, was ist dir wichtig im kommenden Jahr?“ Ganz ein fach, so. Ohne groß etwas daraus zu machen. Dazu lade ich euch ein, mit irgend einem Menschen hier im Raum. *** Wie wir uns jetzt gerade unterhalten haben, gibt eine Idee, wie wir uns auch heute Abend beim Tsog, einem Festopfer, unterhalten werden. Traditionell war es so, dass diese Festopfer im Rahmen des Vajrayana die Höhepunkte des Jahres oder des Monats waren. Da trafen sich die Praktizierenden, teilten solch eine Praxis miteinander, ein Festmahl – aus ganz einfachen Dingen normalerweise, nicht so üppig, wie es wahrscheinlich bei uns sein wird… Aber wir nehmen es, wie’s kommt [lachen]. –, dann war Zeit sich zu unterhalten und man unterhielt sich über seine Erfahrungen, über seine Herzensanliegen, über das, was wesentlich war. Von Herz zu Herz. Das ist diese Qualität von Austausch, wie ihr es offenbar jetzt auch gerade erfahren habt: Entspannt, von Herz zu Herz, so am Wesentlichen entlang. Irgendwann ist gut und dann schließt man ab, geht wieder in seine Höhle zurück und praktiziert weiter. *** Heute morgen, als ich praktizierte, kamen mir die Gedanken: „Was ist eigentlich wichtig? Worum geht es eigentlich wirklich? Was war wichtig in 2014 und womit möchte ich weitermachen in 2015?“ Und dann habe ich alles, was ich vom Dharma weiß und was wir miteinander teilen, wie entkleidet. Ich habe alles wegfallen lassen, was nicht so wichtig ist und was eher Methoden und Brücken sind. – Was bleibt denn nun wirklich? Was bleibt – erscheint mir –, sind diese ganz grundlegenden Qualitäten des Seins, die immer da sind, die oft nicht gelebt werden, sich oft nicht zeigen können. Sie kommen dann zum Vorschein, wenn alles Künstliche in uns wegfällt, wenn alles Verdrehte, all das, was verschleiernd wirkt, sich löst. Das ist das Einzige, was einen gewissen Anspruch auf Wirklichkeit erhebt, weil es einfach immer zum Vorschein kommt und nicht künstlich ist; nicht erzeugt ist von irgendwelchen Bedingungen. Es macht keinen Sinn, sich auf etwas auszurichten, was künstlich ist, was durch Wollen erzeugt wird. Trifft das auch auf Menschen zu, die in Hungergebieten leben oder unter anderen schwierigen Bedingungen? Ja! Und überall geht es darum, zu dem zu werden, was wir wirklich sind. Wir nennen das die Buddha-Natur. Das ist wieder nur ein Begriff, der wie so ein spirituelles Mäntelchen gelegt wird um das, was eigentlich nur Menschennatur ist; grundlegendstes Sein von jedem. Niemand hat das gepachtet, es ist einfach nur da. Immer, wenn unser Geist aufgeht, unser Herz sich löst, sich aus der Enge befreit, dann kommen diese Qualitäten zum Vorschein. Dann kommt ein Lächeln in unser Gesicht, dann ist natürliche Dankbarkeit da und wir fühlen uns verbunden. Die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich überhaupt nicht, es fragt gar niemand danach, weil es offenkundig ist. Es lebt sich aus sich selbst heraus. Liebe ist da, Mitgefühl, weil ja nichts mehr unser Mitgefühl verstellt. Wir sind in Resonanz, wir schwingen mit dem, was ist. Und da ist es völlig egal, in welcher äußeren Umgebung wir sind! Wenn wir uns natürlich in Sorgen und Ängsten verlieren, oder in Ansprüchen, oder in Bewertungen von uns selbst und anderen, dann zieht sich das wieder zu.

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So ist mein Wunsch für dieses Jahr – genau wie für alle anderen Jahre –, in dieses natürliche, authentische Sein hinein zu finden. Mit allen, dass jeder dort hinein findet; dass wir darin dieses Verbundensein leben; dass wir uns nicht der Illusion hingeben, wir müssten jemand sein, und wir könnten das alles alleine und bräuchten keine Freunde. Es geht darum, dass wir wirklich wissen, es geht um dieses Verbundensein, in dem wir alle in Wechselwirkung miteinander sind. Jeder von uns ist nur Treffpunkt von Wechselwirkungen und nicht das große Ich. Die Freude, die ich kenne und die immer da ist, ist die Freude, die sich zeigt, wenn diese mächtige Ich bezogenheit abtritt. Dann zeigt sie sich ganz von selbst. Sie ist einfach da. Und dann fühlen wir uns nicht als jemand Besonderes, weder im Leid, noch in der Freude; einfach nur so. Und das ist dann echte Freude. Die ist immer da. Wir können es als unseren inneren Leitfaden nehmen, darauf zu achten: „Ist Freude da? Ist der Geist natürlich? Bin ich einfach so, wie ich bin?“ Wenn ich traurig bin, dann bin ich auch natürlich, dann bin ich eben traurig. Aber dann bin ich freudig traurig, denn in der Trauer bin ich ganz lebendig. Und ich kann so verbunden sein mit anderen, die Ähnliches erleben, die sich nach Ähnlichem sehnen. Ich kann ganz lebendig sein in meinem schwierigen Erleben. Und darum geht es. Es geht nicht darum, besonders freudig zu sein, es geht darum, vollkommen lebendig zu sein. Das wünsche ich uns allen. Und das ist das, was von allem Dharma übrig bleibt: Das Sich-Auflösen, das Hineinfinden in unser natürliches Sein, wo jeder von uns anders ist, und doch sind wir so gleich. Wir sind völlig anders, denn jeder bringt seine speziellen, persönlich gewachsenen Qualitäten mit, die durch Karma gereift sind. Und dann haben wir eine grundlegende Leichtigkeit, Gelöstheit in uns, etwas Fließendes und Offenes in uns, das wir alle miteinander teilen. Dharma unter dem Strich ist das! Das ist das, was bleibt. In Indien wurde das damals ausgedrückt mit Begriffen, wie „Tathagata“ – diejenigen, die in die Soheit gegangen sind, die so gegangen sind, in jenseits von Leid und Verstrickungen. Man nennt sie auch „Sugata“ – diejenigen, die in die Freude gegangen sind, in diese nicht bedingte Freude. Das ist, was bleibt. Das größte Hilfsmittel dabei sind nicht die Visualisationen, die Mantren, die Gebete, das Dharma-Wissen. Das größte Hilfsmittel ist Freundschaft, echte Freundschaft; und zwar genau die Freundschaft, die uns hilft, diejenige/derjenige zu sein, die/der wir wirklich sind. Wir nennen dies auch spirituelle Freundschaft, aber das Wort „spirituell“ können wir auch weglassen, es ist einfach echte Freundschaft. In Tibet wurde dies früher „gewai shenyen“ – gewa ist das Heilsame – und in Indien „kayana mitra“ genannt, und das heißt „Freund des Heilsamen“; Freund in dem, was gut tut. So wird der Dharma ganz, ganz einfach. Das ist es, worum es geht. Da gibt es überhaupt keine Religion in dem Dharma. Da gibt es nicht die Spur von Buddhismus, da gibt es kein Christentum, keinen Islam, da gibt es keine Theorie, keine Philosophie, das ist einfach Erfahrung. Und dann gibt es die Erfahrungswissenschaft: Wie findet man da hinein. Daraus haben sich verschiedene Wege gebildet. Dies sind unterschiedliche Eintrittspforten. Man kann über die Liebe hinein finden, über die Weisheit, über das Mitgefühl, über die Dankbarkeit, über Freundschaft, über Entspannung, über Kreativität, über Sich-Vergessen, auf die ein oder andere Art. Wir beschäftigen uns in diesem Kurs mit einer dieser wunderbaren Eintrittspforten: Tschenresi; eine Praxis, die uns verbindet mit unserem natürlichen Sein. Die uns da hinein führt, die uns ein Tor öffnet. Wenn wir Tschenresi visualisieren, oder wir uns selbst als Tschenresi visualisieren, oder Tschenresi über unseren Kopf, dann beginnen wir, mit den Qualitäten zu schwingen, für die Tschenresi steht: Liebe, Mitgefühl, Freude, Weisheit, Gleichmut. Er ist der spirituelle Freund, der Freund des Heilsamen per se, also die Inkarnation dessen, was Freundschaft bedeutet: Sich wirklich einlassen, sich kümmern um alle, denen wir begegnen und in sich die Liebe zu tragen, die Freude, dieses wunscherfüllende Juwel des eigenen Geistes wirklich zu halten und es strahlen zu lassen für alle Lebewesen. Tschenresi steht genau für die Essenz des Dharma und ist nicht irgendwie ein Trip, etwas Exotisches, sondern unsere eigene wahre Natur. Man nennt das Ressourcen-orientierte Therapie. Was ist unsere größte Ressource? Nicht so eine kleine, wie Erdölvorkommen unter der Erde, sondern die unerschöpfliche Ressource: Unser Sosein, die Natur des Seins. Das ist unsere allergrößte, weil

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unerschöpfliche Ressource. Und damit verbindet uns Tschenresi, mit unserem Sosein, mit dem, was immer ist, jenseits aller Schleier, aller Verstrickungen, aller Hoffnungen und Befürchtungen. Es ist der eigentliche Sinn unserer Praxis, dass wir uns mit etwas verbinden, dass wir also eine Brücke nutzen – Tschenresi über dem Kopf – und dass wir die Symbolik benutzen. Und alles in der Symbolik führt uns in den Reichtum unseres eigenen inneren Seins. Das gilt für alle Yidams, nicht nur für Tschenresi. Tschenresi ist also nicht mal etwas Besonderes. Was ich gerade erklärt habe, gilt für Tara, Manjuśri und für alle anderen. Es sind nur leicht unterschiedliche Eintrittspforten, weil sie sich etwas anders in der Welt manifestieren. Ich hab keine Ahnung, wie sich diese Tschenresis und Taras usw. manifestieren, wo sie genau herkommen. Über die Jahrtausende zeigen sich immer wieder inspirierende Lichtgestalten und jeder wüsste gerne, wo die herkommen. Sie scheinen keine eigene Existenz zu haben, in dem Sinne, dass man sie an einem geographischen Ort finden könnte. Es gibt eine Geistesdimension, in der sie gehäuft auftreten. Je näher wir zu unserem Sosein kommen, je mehr wir mit unserem Sosein verbunden sind, dann tauchen die auf. Man nennt diese Begegnung mit dem Yidam in Form einer solch klaren Vision das „Sehen des Gesichtes der Gottheit“. Man nennt es aber auch das „Sehen des eigenen Gesichtes“. Und je offener wir für unser eigenes Sosein sind, desto mehr zeigen sich diese Yidams. Es ist das Zeichen par excellance für das Verwirklichen einer Yidam-Praxis, dass sich der Yidam irgendwann zeigt. Tschenresi würde uns also erscheinen, Tara würde uns erscheinen. Das nennt man auf Tibetisch rangshal: das Begegnen des eigenen Gesichtes; als würden wir in einen Spiegel schauen. Aber ich weiß immer noch nicht, wo sie herkommen. Ich habe die Vermutung, dass der Schlüssel dazu in diesen Sätzen liegt, wo es heißt, dass alle diese Manifestationen aus dem Dharmakaya entstehen. D.h. dass sie aus der Natur des Geistes entstehen. Das steht überall geschrieben, nur kann man es sich sehr schwer vorstellen, wie das ist. Gibt es da eine eigene Dynamik, oder ist das unsere Dynamik, oder wie geht denn das… ? Im Grunde ist es egal. Sollen sie sich doch ruhig manifestieren, soviel, wie sie wollen. Je öfter, je besser. Und wenn sie sich zwischendurch als etwas anderes manifestieren, z.B. Maria, Jesus, dann ist das auch wunderbar. In allen Formen, die dazu in der Lage sind, Menschen in ihr Sosein hinein zu führen, an ihr Sosein, ihr natürliches Sein zu erinnern, waches, unbeschwertes Sein völlig frei von Schleiern. Durch irgendwelche Umstände kommen wir in Kontakt mit einer dieser Brücken ins Sosein. Eine dieser Brücken inspiriert uns. Oder unsere Schritte führen uns in ein Seminar, wo es um Tschenresi geht – Zufall, hätte auch etwas anderes sein können. Wenn es uns inspiriert, dann funktioniert es auch. Und das ist alles, worauf es ankommt. Hauptsache, es führt uns in unser Sosein, es hilft uns. Mein einziger Wunsch ist, dass ihr nach diesem Kurs dieses innere Bild, dieses Gefühl für Tschenresi nutzen könnt als eine Brücke ins eigene Sosein – keine Verfremdung, nichts versuchen zu sein, sondern nur eine Erinnerung für die Ressourcen –, dass die Ressourcen, die ohnehin in uns sind, stimuliert werden. Das ist auch mit Mantra-Praxis gemeint, wenn wir z.B. OṀ MANI PADME HŪṀ rezitieren, dann ist es dafür gedacht, dass in uns diese Qualitäten vibrieren, in uns zu schwingen beginnen. Das war gestern ganz stark für mich, als wir um diese Festtafel herum saßen. Nachdem wir die Puja gemacht haben, war dieser Moment, in dem wir melodiös das Mantra rezitiert haben. Da hat es mir die Härchen aufgestellt. Das war so stark für mich, weil wir – in meinem Erleben – ganz intensiv mit unseren Qualitäten verbunden waren. Und darum geht es, um dieses Verbundensein mit den eigenen Qualitäten. Es ist völlig egal, auf welcher Seite die Mala gehalten wird, oder wie dieser Lotus ist mit den Farben usw. Hauptsache, es erinnert uns an das, was wir wirklich sind, und dass wir eine Möglichkeit haben, dies auszudrücken. OṀ MANI PADME HŪṀ ist eine Möglichkeit, das auszudrücken, ohne uns Knoten ins Hirn machen zu müssen. Sechs Silben, die alles ausdrücken, was wir ausdrücken möchten, und die uns ins Schwingen versetzen können, sodass wir erahnen, was für Qualitäten damit gemeint sind. Da macht die Praxis Sinn. Wenn wir die Praxis nur noch äußerlich machen und dabei gar keine Verbindung mit unseren Qualitäten herstellen oder spüren, dann ist es besser, für einen Moment still zu werden und in uns hinein zu gehen und erneut einen Zugang zu finden – vielleicht auf eine andere Art dann – in unser Sosein. Achtet darauf, dass ihr die Praxis nie so ausführt, dass sie abstumpfend wirkt. Sie sollte immer anregend wirken, stimulierend in dieser inneren Dimension. Dann ist sie zutiefst heilsam, weil sie uns mit den inneren Qualitäten verbindet. Nicht aus sich heraus, sondern weil sie etwas bewirkt, weil sie uns in eine andere Sichtweise hinein führt.

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Teilnehmer/-in: Kann so ein Yidam auch nicht-körperlich sein? Kann das auch einfach ein Lichtbild sein, wie z.B. ein Mandala, welches leuchtet? Ja, das kann es auch sein, eindeutig. Teilnehmer/-in: Ich habe sehr viele Jahre auf Tara praktiziert und merke aber, dass Tschenresi mich viel mehr berührt. Wo würdest du die unterschiedlichen Qualitäten zwischen den beiden sehen? Es kann gut sein, dass dich jetzt gerade Tschenresi besonders inspiriert, dass es eine neue Lebensphase ist, oder gerade ein Moment in deinem Leben. Das hängt auch oft damit zusammen, was wir gerade an Erklärungen erhalten. Es gibt kleine Unterschiede zwischen Tara und Tschenresi. Tara ist sehr aktiv und verkörpert diese Art von Freundschaft und Fürsorge, die sich um jedes winzige Detail unseres Lebens kümmert. Sie hat eine besondere Beziehung zur Auflösung von Ängsten, zur Furchtlosigkeit, ist unglaublich schnell und kraftvoll. Das sind Taras Spezialitäten. Eigentlich sind die beiden eins. Und die Legende verwebt die beiden Gestalten miteinander. Einmal schaut Tschenresi nach langer, langer Zeit, in der er die Wesen aus Samsara herausgeführt hat, sich gekümmert und in die Befreiung geführt hat, zurück. Er hält inne, schaut zurück und denkt: „Meine Güte, so viele sind wieder zurückgefallen in die alten Muster der Verstrickung.“ Er bricht in Tränen aus, weint und weint, so wie nur ein großer Bodhisattva weinen kann. Es entsteht ein großer See von Tränen. In diesem See von Tränen – Tschenresi traut seinen Augen nicht – entsteht Tara und sagt: „Nicht verzagen, Tara fragen :-)!“ Gemeint ist: „Ich werde dir helfen!“ Wir werden uns jetzt gemeinsam um das Wohl der Wesen kümmern. Die Legende drückt aus, dass sie auf etwas unterschiedliche Art für dasselbe wirken. Es wird viel zu viel Bedeutung dem weiblichen oder männlichen Aspekt zugemessen. Als die TschenresiPraxis nach China und Japan gewandert ist, hat die äußere Erscheinung von Tschenresi sich gewandelt, und Quannin wird oft als weibliche Gottheit dargestellt. So ganz klar ist das also nicht und es ist auch unwichtig. Ihr braucht euch nicht als Frau Tara und als Mann Tschenresi zuzuwenden, es geht um diese Qualitäten. In diesem Sinne wünsche ich euch allen ein richtig gutes Neues Jahr 2015, dass wir alle in dieses Sosein finden und es sich immer mehr zeigt. Dass wir alle eine Überhöhung der Spiritualität aufheben und einen ganz natürlichen Weg gehen, immer mehr wir selber zu sein, ohne dass wir uns von irgend jemand oder irgend etwas abspalten müssten, dass wir verbunden bleiben mit allem, mit jedem. ***

Ausführliche Visualisation während der Mantraphase – Lama Gendün Wir kommen jetzt zu einer detaillierten Visualisation, die wir während der Mantra-Phase machen können. Diese Unterweisung steht nicht im Kommentar, sie ist Teil der mündlichen Übertragung. Im Herzen von Tschenresi ist ein sechsblättriger Lotus. Ihr könnt jeweils ein Blütenblatt nach vorne und hinten visualisieren und dann zwei noch zu den Seiten, dann habt ihr sechs. Versucht, die sechs Blütenblätter des Lotus‘ zu sehen. Dann stehen auf den Blütenblättern die sechs Silben, die nach innen schauen, d.h. von innen lesbar sind: OṀ MA NI PAD ME HŪṀ. Wir tauchen dort auf, wo das H RIH ist. Wir sind das U-Boot, das während der Visualisation dort auftaucht und schauen uns von dort aus zu den Silben hin um: OṀ MA NI PAD ME HŪṀ. Die Silben sind weiß, grün, gelb, blau, rot und schwarz-blau, wie auf der Darstellung im Anhang. Die Silben stehen genau so, wie sie dort aufgezeichnet sind. Zunächst widmen wir während der Visualisation unsere Aufmerksamkeit der Silbe HRIH im Zentrum auf unserem Kopf. Wir lassen den Geist auf dem H RIH ruhen, bis es ganz klar wird. Ihr müsst euch entscheiden, wie ihr das H RIH visualisieren möchtet, tibetisch oder westlich, denn sonst gibt es keine Visualisation.

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Schreibt doch einfach mal das HRIH auf Lateinisch im Geiste auf eurem Kopf hin: H – R – I. Das reicht auch, man braucht nicht noch ein H anhängen, man kann es aber. Das H am Ende in der lateinischen Schreibweise ist die Verlängerung des Vokals mit einem kleinen Abschluss, so wie im Sanskrit auch. Vorne ist das H, dann das R, dann das I, wie ein Hahnenkamm. Ganz fein geschrieben mit weißem Licht. Teilnehmer/-in: Ich dachte es würde Shri geschrieben? Das ist ein ganz anderes Wort und bedeutet „glorreich“. In Indien heißt es „Shri soundso“, das „Shri“ steht für „Mister“, bedeutet aber eigentlich glorreich, segensreich, strahlend. Es hat auch nichts mit dem Amitabha-Mantra zu tun. Teilnehmer/-in: Das tibetische HRIH hat so zwei Kringel? Die gehören zu dem Wort dazu. Was unter dem Zeichen ist, verlängert den Vokal, und diese beiden Kringel bewirken, dass der Vokal I ein Ende hat. Das ist das mitgeschriebene Abbrechen eines Vokals durch einen Verschluss in der Kehle, das sogenannte Visarga. Die beiden Kringel schauen nach hinten. Man schreibt Sanskrit wie das Tibetische von links nach rechts. Deswegen steht das, was vorne ist, vorne in der Zeile, und das, was hinten steht, steht hinten in der Zeile. Das HRIH ist also auf unseren Köpfen. Vibriert es? Leuchtet es wie frischer Schnee im Sonnenlicht? Ganz hell, ganz, ganz hell. Habt ihr den Lichthof um das H RIH herum? In diesem Lichthof werden die anderen fünf Farben sichtbar; ein fünf-farbiger Lichthof um das weiße H RIH herum. Und dann sendet dieses H RIH fünffarbiges Licht zum weißen OṀ auf dem vorderen Lotusblatt. Das OṀ wird dadurch total angeregt und sendet ganz viele OṀ-Buchstaben in alle Universen, in alle Richtungen; wie ein OṀ-Regen, oder ein Ausstrahlen von unzähligen OṀS, die überall hingehen, wo es Stolz gibt – speziell im Götterbereich, aber überall sonst auch. Stolz und seine Folgen werden gereinigt in allen Daseinsbereichen, und das Gewahrsein der Gleichwertigkeit entsteht. Dann kommt dieses Licht von den OṀS, von dieser unglaublich befreienden Aktivität, wieder zurück in die zentrale Keimsilbe H RIH. Wir lassen den Geist wieder auf dem H RIH ruhen und bleiben für einen Moment in diesem offenen Gewahrsein, während wir weiter das Mantra OṀ MANI PADME HŪṀ rezitieren. – Mit Gleichwertigkeit ist gemeint, dass es in der Natur der Leerheit keine Unterschiede von wichtiger und weniger wichtig, besser oder schlechter gibt. Dasselbe wiederholt sich dann mit der nächsten Silbe: Das fünffarbige Licht geht zum Blütenblatt rechts vorne, zum grünen MA. Es berührt das grüne MA und stimuliert es. Ganz viele grüne M As gehen daraufhin überall hin, wo Neid, Eifersucht, Rivalität und Konkurrenzdenken sind. Und so weiter und so fort. In dieser Praxis ruhen wir immer wieder in tiefer Versenkung auf der Silbe H RIH, und dann kommt die nächste Aktivität MA, viele MAs gehen überall hin und lösen Neid und Eifersucht auf, und es entsteht das all-vollendende Gewahrsein, der all-vollendende Aspekt des zeitlosen Gewahrseins. Überall dort, wo vorher Neid und Eifersucht waren, bei uns und bei allen Lebewesen. Dann kommt das Licht zurück und verschmilzt in die zentrale Keimsilbe HRIH. Wir ruhen wieder für eine Weile. – Wir dürfen uns etwas ausruhen. Dann geht das fünffarbige Licht zum gelben N I nach hinten, seitlich rechts auf dem Lotusblatt. Das gelbe N I geht überall hin, wo diese seltsame Mischung an Emotionen ist, die den Menschenbereich auszeichnet. Und wo diese Mischung aus Geschäftigkeit, Hoffnung, Furcht, Stolz, Verlangen und dergleichen gereinigt wird, da entsteht das spontane, zeitlose Gewahrsein. Das ist einfach die Reinigung dieser typischen Mischung aus menschlichen Verstrickungen. Teilnehmer/-in: Ist es dann das Gleiche wie das grundlegende, spontane Gewahrsein oder ist das zeitlose Gewahrsein noch einmal ein spezielles? Die sind alle nur Gewahrsein. Es ist immer nur dasselbe Gewahrsein, nur eine andere Eintrittspforte. – Alle Antworten bzgl. des Gewahrseins stehen im Kommentar. – Es steht auch auf dem Blatt im Anhang. Das Licht vom NI ist nun zurück gekommen, und wir ruhen in der zentralen Silbe H RIH. Als Nächstes geht das Licht vom HRIH zum blauen PAD. Das PAD strahlt mit lauter blauen PAD-SILBEN in alle Universen, sie reinigen Dumpfheit, Unwissenheit, Angst, die ganze Enge, dieses mangelnde Gewahrsein. Es entsteht nun

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das Gewahrsein des Raumes der Phänomene, die Weite des Geistes zeigt sich. Dann kommt von dieser Aktivität das Licht zurück und verschmilzt ins HRIH. Kleine Meditationspause. Wieder strahlt das Licht aus und geht in die Silbe M E. Vom ME gehen ganz viele MEs aus und reinigen Begierde, Habsucht, das Gefühl, nie genug zu haben, die Angst, nicht das zu bekommen, was ich möchte. Also alles, was hinter Gier und Habsucht steht, dieses Gefühl von Mangel. Es entsteht das unterscheidende Gewahrsein. Das Licht kommt zurück und verschmilzt in die zentrale Silbe HRIH. Dann ruhen wir eine Weile in dem weißen H RIH mit dem fünffarbigen Lichthof. Und das Licht strahlt erneut aus zur Silbe HŪṀ. Es wird Hass gereinigt und entsprechende Gefühle von Aggressivität, Zerstören-Wollen, die damit verbundene Panik, das Sich-bedroht-Fühlen usw. Das ganze Paket von dem, was uns oft in höllische Verzweiflung stürzt. Wo überall das zu finden ist, da gehen die Silben HŪṀ hin, die blau-schwarz sind, wie die Nacht, und das spiegelgleiche, zeitlose Gewahrsein zeigt sich. Das Licht kommt zurück und verschmilzt in die Silbe HRIH – Es kommt immer nur Licht zurück, nie eine Silbe. Wir verbleiben in der Silbe H RIH. Wir rezitieren weiter OṀ MANI PADME HŪṀ und ruhen in dem Bewusstsein, dass, ohne etwas weiter zu stimulieren, überall dort, wo sich noch einmal ein solches emotionales Muster zeigt, es sich sofort auflöst in zeitloses Gewahrsein. Die Muster zeigen sich ja in uns, d.h. sie werden sich nicht woanders zeigen. Wo wir wieder im Greifen landen, rezitieren wir weiter OṀ MANI PADME HŪṀ und gehen immer wieder hinein in die möglichst größte Gelöstheit und Offenheit des Geistes. Teilnehmer/-in: Also zurück kommt nicht die Silbe, sondern dieses farbige Licht in die Mitte des Lotus? In die zentrale Silbe HRIH, direkt ins Herz des Ganzen; da, wo die Initiative herkommt. Der zentrale Impuls geht immer vom HRIH aus, und dort hinein kommt dann auch das zurückkehrende Licht. Und das ist über dem Kopf und nicht im Herzen? Das kannst du auch im Herzen machen. Wenn du die Tschenresi-Einweihung erhalten hast, dann kannst du es sowieso im Herzen ausführen. Vom Kommentar her ist es vorgesehen, es sich über dem Kopf zu visualisieren, und zwar im Herzen von unserem Lama, der Tschenresi heißt. Das ist Lama Tschenresi auf unserem Scheitel, von dem diese Aktivität ausgeht. Wir sind im Moment Nutznießer/-in dieser Aktivität zum Nutzen aller Lebewesen. Wir werden selber gleichzeitig mit allen Lebewesen von diesen Schleiern befreit. D.h. wir werden in diesen verschiedenen Facetten des zeitlosen Gewahrseins angeregt. Teilnehmer/-in: Ich bin nun unsicher, wie sagt man: HŪṀ? Oder ist es das HUNG? Es ist das H-U-M mit dem Punkt drunter, was H UNG ausgesprochen wird. Und es ist das PADME, das die Tibeter PEME aussprechen. Teilnehmer/-in: Man kann also PADME oder PEME sagen? Genau! Was ist dir vertrauter? Wenn du bisher P EME verwendet hast, dann bleib dabei; keine zusätzlichen Schwierigkeiten. Teilnehmer/-in: Wann mache ich das während der Mantra-Phase? Dann, wenn dein Geist frisch genug dafür ist. *** Wir fahren fort mit dem Kommentar – also nicht mit der mündlichen Übertragung, sondern der schriftlichen.

4. Abschluss: Alles als Weg nutzen Nach Abschluss dieser Meditation … … was aus den fünf Grundelementen zusammengesetzt ist, … Damit sind all die bedingten Erscheinungen gemeint: Alles, was stabil wirkt aufgrund des Erdelementes; alles, was eine Kohäsion hat, aufgrund des Wassserelementes; alles, was eine Temperatur hat, aufgrund des

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Feuerelementes; alles, was in Bewegung ist, aufgrund des Windelementes und alles was im Raum stattfindet, aufgrund des Raumelementes. … wie wir selbst … … des edlen Großen Mitfühlenden. Wir betrachten also alles als Ausdruck der ursprünglichen Seins-Dimension, der Geistesdimension in Form von visuellen, taktilen usw. Wahrnehmungen. Wir sind uns bewusst, dass all das ein sich vollziehendes Erscheinungsspiel im Geist ist. Wir betrachten alle zu hörenden Laute … … Klang der Rede des Edlen. – Wenn wir jetzt ein vorbeifahrendes Auto hören, brauchen wir nicht zu denken „ich höre OṀ MANI PADME HŪṀ“, sondern, es ist, als ob wir OṀ MANI PADME HŪṀ hören würden. Es hat dieselbe grundlegende Qualität, entsteht und vergeht, ist nicht fassbar. Es stimuliert die Sinneswahrnehmung, macht wach und ist schon vorbei. Diese Qualität ist gemeint. Wir haben kein OṀ MANI PADME HŪṀ gehört, aber wir sind durch die Sinneswahrnehmung wieder an das grundlegende Gewahrsein erinnert worden. Alle Klänge, alle Geräusche haben diese Möglich keit in sich, dass sie uns an die Einheit von Klang und Leerheit erinnern, an die nicht-fassbare Natur aller Geräusche. Zu dieser nicht-fassbaren Natur aller Klänge und Geräusche finden wir Zugang durch die Mantra-Praxis. Da entsteht was. Wir merken, dass wir dem Klang Sinn geben, den wir geben wollen. In sich sind da einfach Schallwellen, es ist Klang. Es entsteht und vergeht, man braucht nicht zu reagieren. Wir üben mit dem Mantra das Gewahrsein der vergänglichen Natur von Klängen und Geräuschen. Das ist ganz wichtig, weil so viel von unserem Leid ausgelöst ist durch das, was wir hören, was uns gesagt wird, was in der Kommunikation stattfindet. Wir haben nicht nur die Möglichkeit, die Worte so zu nehmen wie sie sind und dann zu interpretieren und zu reagieren, sondern wir können uns auch manchmal daran erinnern „Ich muss gar nicht reagieren.“ Als Beispiel der Klang der Kirchenglocken [Läuten]. Es ist doch völlig egal, ob ich Kirchenglocken mag oder nicht. – Der Klang entsteht, und dann ist er wieder vorbei. Wenn ich emotional darauf reagiere, dann ist das meine Kiste. Die emotionale Reaktion ist nicht im Geräusch, sie ist nachgeordnet. Immer, wenn wir denken, etwas wäre so und wir müssten doch reagieren, dann sind wir im Vergegenständlichen. Wenn z.B. jemand sagt „So ein Mist, schon wieder dieses Läuten und die können es nicht sein lassen. Da kann doch keiner entspannen“, dann ist derjenige in seinem Film, ausgelöst durch den Klang. Dabei ist das Läuten von heute noch ein harmloses Beispiel, manchmal ist das Läuten so laut, dass ich den Unterricht unterbrechen muss. Aber es ist kein Grund, sich aufzuregen! Ein anderes Beispiel: Wir machen gerade unseren Mittagsschlaf und jemand anders macht Lärm. Er kocht sich vielleicht einen Kaffee. Dann haben wir die Möglichkeit, die Einheit von Klang und Leerheit zu praktizieren, oder wir sehen den Lärm als Attacke auf unser Selbstwertgefühl: „Niemand respektiert mich. Und ich habe doch gesagt, ich mach jetzt mal ein Nickerchen“. Das ist es, wo die praktische Anwendung ist. Wenn wir diese Einheit von Klang und Leerheit praktizieren, dann haben wir eine grundlegende zusätzliche Möglichkeit, keine Reaktionen anzuheften an das Gehörte. Das Gleiche haben wir mit visuellen Eindrücken als Einheit von Erscheinungen und Leerheit. Wir haben es mit Gerüchen, mit allen Sinneserfahrungen. Bei Gedanken nennt man es die Einheit von Bewusstheit und Leerheit. Die geistige Bewegung – Emotionales, was auftaucht – kann gesehen werden als eine Erfahrung im Geiste Tschenresis. Und das bedeutet immer, Tschenresi wird der nicht-fassbaren, der leeren Natur gewahr. Wenn wir sagen, etwas ist Tschenresi – die Rede, der Körper, der Geist von Tschenresi –, dann bedeutet das, mit diesem zeitlosen Gewahrsein der Natur des Seins. Wenn wir das nur durchschauen könnten, dass die auftauchenden geistigen Eindrücke, diese Bewegung, diese Gedanken, diese Gefühle substanzlos sind und zu keiner Reaktion veranlassen! Sie haben keine Macht in sich. Diese Macht geben wir ihnen in dem Moment, wo wir sie für dinglich halten. Drum ist es wichtig, jetzt an dieser Stelle erinnert zu werden, dass wir alle Klänge, alle Laute als die sechs Silben praktizieren. Zugleich sehen wir sämtliche Gedanken als den Geist des Edlen, [die untrennbare Einheit von] Bewusstheit und Leerheit, frei von Projektionen – ohne dass sich weitere Projektionen dranhängen –, in ihrer wahren Natur der Wahrheitskörper (Dharmakaya). Das ist die grundlegende Instruktion für die Aktivität. Wenn wir die meditative Versenkung verlassen und in die Aktivität, ins Handeln gehen, was begegnet uns? Wir sehen, wir hören, wir riechen, wir schmecken, wir

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spüren den Körper und es tauchen lauter Gedanken auf; viele, viele, viele Gedanken. Und darin gelöst und offen zu bleiben, das ist unsere Aufgabe als kleine Tschenresis, die wir so in die Welt hinausgehen. Realistischerweise ist es wohl so, dass – wenn wir uns in den Aktivitäten ein bisschen an den Yidam erinnern – es dann auch dazu führt, dass wir ein bisschen weniger reagieren, ein bisschen weniger auf den Leim gehen. Wir brauchen von uns nicht zu erwarten, dass wir das alles durchschauen, es sich im Nu auflöst. Wir sollten dieses Bisschen wertschätzen. Dieses Bisschen, dass wir uns erinnern, was zu einer etwas anderen, oder auch ein bisschen verzögerten Reaktion führt, oder auch die Reaktion ein bisschen mildert, das macht den Unterschied schon aus. Das ist anders als vorher. So bleiben wir am Ball – immer ein bisschen. Wir bleiben am Ball und wir nutzen diese Möglichkeit, etwas anders mit den Erfahrungen umzugehen als bisher. Das braucht unsere volle Motivation, für dieses Bisschen, ein klein wenig anders. Jemand nervt mich, ich schaffe es gerade noch, den Fuß zwischen die Tür zu kriegen und sage meinen Vorwurf ein bisschen anders, wo ich in meinem Vorwurf die Tür nicht ganz zuknalle. Wo ich mich selbst noch ein bisschen in Frage stelle und ein Interesse für den anderen aufbringe, wie es wohl ihm dabei geht. – Obwohl ich ja eigentlich sicher bin, emotional. Das sind diese wesentlichen Unterschiede. Um diese kleinen Unterschiede zu produzieren, brauchen wir ein hohes Maß an Motivation. Es ist so leicht, sich gehen zu lassen. Das geht von selbst. Die normale emotionale Reaktion braucht keine Anstrengung. Sie ist anstrengend, aber sie braucht keine; hinterher ist sie anstrengend. Die etwas andere Umgehensweise mit emotional herausfordernden Situationen braucht Anstrengung währenddessen und ist nachher weniger anstrengend. Am Ende des Tages fühlen wir uns dadurch frischer und in der Situation auch. Wir vermeiden so viel Stress und Ärger, es läuft etwas runder. Und wir haben dadurch tatsächlich mehr Energie. Aber anstrengend ist es genau dann, wenn die Automatismen uns packen wollen und wir da alle Kraft aufbringen müssen, um es anders zu machen. Und da hilft es dann auch, sich mal richtig an der Mala festzuhalten – OṀ MANI PADME HŪṀ – oder auch innerlich wiederholen, oder auch dieses Einatmen und Ausatmen. SOS an die Tschenresis und Buddhas: Helft, helft, helft! Ich kann nicht weiter, ich könnte ihn umbringen… ich halte an: OṀ MANI PADME HŪṀ… Das ist da, wo wir innehalten und die Praxis beginnt. Aber meistens fühlt sich die Praxis in dem Moment so an, als würden wir versuchen, ein Riesenschiff, das die Größe von einem Containerfrachter hat, auf einen anderen Kurs zu bringen. Wir sind das Schiff. Es fühlt sich so megamäßig schwierig an. Innerlich gehen die Emotionen noch voll weiter, während wir äußerlich mit dem Rest unserer Energie schon unsere Praxis machen. Aber der Frachter scheint irgendwie fast unaufhaltsam ins Verderben zu steuern. Und dann passiert etwas: Wenn wir zäh genug sind, dann nimmt der Frachter doch noch einen anderen Kurs. Aber wir müssen dran bleiben. Und diese Phase, wo wir einen anderen Kurs nehmen, das ist es, wo es Energie braucht. Das ist da, wo die Praxis anstrengend ist. Danach werden wir belohnt. Diese erste Phase ist nur Schadensreduktion. Einfach aufpassen und raus aus der Gefahrenzone. Teilnehmer/-in: Wenn es um die schwierige Rede geht, die uns begegnet und ich tatsächlich in der Lage bin, dass zunächst einmal wie von einer Ölhaut abtropfen zu lassen, also nicht emotional zu reagieren und das nicht aufzunehmen, dann besteht doch erst mal die Gefahr, dass ich in eine total ignorante Haltung herein komme… Das wäre die Verdrängung der Haltung, wenn du dich dem nicht stellst… … ich muss das heilsame Element, das aus der Praxis vielleicht noch zusätzlich greifbar ist, damit verbinden. Genau! Sonst bist du einfach jemand, der auf Durchzug schaltet, der erleuchtet tut. Das sind diese ungenießbaren spirituellen Leute, mit denen man sich nicht einmal richtig streiten kann. Die sind nicht fassbar. Während derjenige, der wirklich praktiziert, die innere Reaktion merkt. Er bemerkt, wie verletzt er ist und schlägt im Gewahrsein der eigenen Betroffenheit eine andere Richtung ein. Das ist keine Verdrängung. Mit so jemandem kannst du dann sprechen. Er würde sagen: „Ja, es war richtig schwierig, da jetzt nicht direkt zu reagieren…“ Das ist jemand, wo man authentisches, inneres Arbeiten mit der nicht verleugneten Emotion bemerkt, die auf die eine oder andere Weise in ihre Lösung gebracht wird. Und die Kommunikation hilft

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dann auch noch dabei. Wir verzichten nicht auf das Kommunizieren mit dem anderen, sondern fangen damit an, wenn die Bedingungen hierfür etwas günstiger sind. Teilnehmer/-in: Mir geht es so, dass, wenn ich in eine Situation komme, wo es mir gelingt, die Tür nicht zu zuklatschen, ich dann z.B. OṀ MANI PADME HŪṀ wiederhole. Dann habe ich das Gefühl, „Ah, geschafft.“ Aber dann reitet mich doch noch was so etwa eine Minute später, und zack, geht die Türe doch noch zu. Habe ich den richtigen Zeitpunkt nicht erwischt oder zu früh aufgehört? Dann hast du zu früh aufgehört und teilweise verdrängt. Du hast dich hinüber gerettet in die Praxis und den Blick auf das, was dich beschäftigt, vergessen. Es geht darum, im Praktizieren mit der eigenen Wunde, der Verletztheit in uns, in Berührung zu bleiben, aber gut verankert z.B. in der Tschenresi Praxis. Und das ist die Kunst. Das ist der Grund, weshalb so viele Praktizierende, die schon Jahrzehnte auf dem spirituellen Weg sind, zum Teil nicht wirklich große Fortschritte in ihren emotionalen Mustern verzeichnen können. Weil sie nur rüber gehen in eine andere Welt, aber das sind wie zwei getrennte Welten. Wir müssen die Fähigkeit entwickeln, in der Verankerung, z.B. der Tschenresi Praxis, dann beim Schwierigen zu bleiben und das zu durchwirken und da nach Lösungen zu suchen. Dann vernetzt sich das. Die Praxis muss richtig eingehen auf unsere emotionale Situation, auf unsere Ängste, auf unseren Ärger, unsere Wünsche… Da müssen Antworten entstehen. Das muss sich so innig miteinander verbinden, dass unsere Praxis nicht mehr woanders zu suchen ist als im emotionalen Erleben. Da drin ist die Praxis! Nicht woanders. Es geht nicht darum, sich nach Dewachen rüber zu beamen, wenn wir gerade ärgerlich sind. Das ist genau das, was wir versucht sind zu machen, weil es ist ja höchst lästig, was wir gerade erleben. Es ist ja nervig: „Schon wieder habe ich diese Gefühle, es reicht jetzt… OṀ MANI PADME HŪṀ…“ Und endlich in Dewachen, endlich wieder Licht, ein bisschen kann man ja atmen, aber Hauptsache die Zimmertüre geht nicht auf. Und wenn die Zimmertüre aufgeht und die Herausforderung steht immer noch im Raum, wo ist dann noch Dewachen? Wenn wir wieder dort anfangen, wo wir vorhin aufgehört haben – wir haben nichts aufgelöst, wir haben uns nur wegbewegt –, dann sind wir wieder genau an demselben emotionalen Punkt wie vorher. Und das ist das Problem mit einer spirituellen Praxis, die nicht nach dieser Verzahnung strebt, die innere Arbeit, die Gewahrseinsarbeit ins emotionale Erleben hinein zu holen. Also: Gut verankert in den Ressourcen, das ist das Erinnern an Tschenresi, an unsere Grundnatur, die Natur des Seins, den Dharma. Diese Verankerung brauchen wir, denn sonst schaffen wir es nicht, zu einer Lösung zu kommen. Wir brauchen den Zugang zu den allerbesten, allerkräftigsten unserer Ressourcen. Wo finde ich diese Liebe, dieses Mitgefühl, diese Weisheit, diese Gelassenheit? Wo finde ich ein Beispiel, wie es sein könnte? Teilnehmer/-in: Man muss sich ja alles vorher überlegen. Wenn jetzt die Tür aufgeht, dann ist da ja nicht nur das Problem, das herein kommt, sondern da ist die Anklage, da ist das Reagieren darauf. Dann musst du bekennen und wirst gefordert. Du musst dich darauf vorbereiten. D.h. ein Teil der Praxis ist immer das Bewältigen und das Nachbereiten der Situation, die gerade war. Also z.B. Streit mit deiner Frau. Sie will was von dir, du willst aber nicht, und es hakelt. Du rennst raus, knallst die Tür zu, sitzt bei dir im Zimmer: „Okay, was war? Was ist in mir? Ärger, Nicht-verstanden-worden-Sein?“ Du arbeitest damit, findest vielleicht in eine gewisse Gelöstheit hinein und kannst dich damit annehmen und sagen: „War jetzt blöd. Klar, hätte eher dran denken können, ein bisschen offener sein können“. Du merkst deinen Teil, was du in der Situation beigetragen hast – und das ist auch das Wichtigste –, und dann stellst du dir die nächste Begegnung vor: „Wie möchte ich in die nächste Begegnung reingehen?“ Und diese nächste Begegnung muss vorbereitet werden. Wir müssen die schon vorher bahnen. D.h. wir müssen uns schon vorher vorstellen: Und jetzt reißt sie die Tür auf und schreit: „Und du sitzt hier immer noch, während ich …“ Wie gehe ich damit um? Dann überlegst du dir: „Ja stimmt, ich brauche gerade ein bisschen Zeit. Tut mir leid, aber jetzt bin ich wieder da. Sprechen wir heute Abend über das, was war, oder wollen wir es jetzt durchsprechen?“ Du strukturierst das innerlich schon vor und bist in der nächsten Situation nicht unvorbereitet. Du hast schon eine innere Haltung und weißt, es geht um Öffnung, es geht darum, ihr zu signalisieren, dass da ein gewisses Verständnis ist. Du bleibst aber auch bei dir, und sagst: „Ja, okay, ich brauchte das, war nicht super.“ Anerkennung der eigenen Beteiligung an der schief gelaufenen Situation, also nicht einfach alles dem anderen rüber schieben. So bereiten wir uns darauf vor. Und das ist

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ganz wichtig. Wir müssen einen Teil unserer Praxis darauf verwenden, die Herausforderungen, die wir schon kommen sehen, vorzubereiten. Teilnehmer/-in: Ich habe Schwierigkeiten, die Energie hineinzubringen in die Aktivität. Ich kann mich sehr gut herausnehmen aus dem Gespräch, den Schwierigkeiten, aber das Hineinbringen „hier ist mein Ende“ oder immer dieses Abwarten… Bereite es vor. Du kommst bald nach Hause und kannst dir vorstellen: „Wie gehe ich rein in die Situation?“ Nicht, wie gehe ich raus, sondern wie gehe ich rein! „Wie gestalte ich sie?“ Du übernimmst die gestaltende Verantwortung. Wir sind Gestalter unserer Welt. Dafür übernehmen wir die Verantwortung. Wie möchtest du gestalten, wenn du nach Hause kommst? Teilnehmer/-in: Ohne an der Vorstellung festzuhalten. Ja, das ist einfach nur eine Vorlage und gibt dir ein Gefühl von deinem Gestalten. Das ist auch nicht ganz konkret, aber mit „Mit welcher Energie, mit welchem Gefühl möchte ich präsent sein?“ kannst du schon was Heilsames bahnen. Teilnehmer/-in: Inwieweit kann man sich denn überhaupt ändern? Es gibt ja auch so was wie den Charakter. Du kannst dich ganz schön ändern. Der Buddha [Name] sieht immer noch aus wie du, hat aber seine Muster aufgelöst. Das ist unsere Ausrichtung, und Schritte dahin sind möglich. Man kann innerhalb von Stunden, Tagen und Wochen enorme Fortschritte machen in den allerschwierigsten Mustern, die uns belasten. Das hängt von der Energie ab, von der Motivation, mit der wir uns diesen Mustern stellen, sowie von der geeigneten Methode, die wir zur Anwendung zu bringen. Wir können bei dem, wo wir ein Leben lang verzagt haben, innerhalb kürzester Zeit erstaunliche Fortschritte machen. Aber es braucht die volle Kraft unserer Motivation. Und wir können auch wieder rückfällig werden. Aber wir bringen die Motivation wieder auf, bis unser „Gewohnheitsmuster“ nachgibt und wir viel vertrauter werden mit der neuen Art, mit der Situation umzugehen, als mit der alten. Teilnehmer/-in: Wenn ich sehr stark verletzt werde, dann ist es für mich wichtig zu erkennen, dass ich verletzt wurde und dass ich das auch äußere. Ich muss es äußern, sonst bleibt ein Rest übrig, und dann wird es weggeschoben. Ich muss dazu stehen, ich darf nicht mehr so schwach sein, es nicht zu äußern, dass ich verletzt wurde. Es ist wichtig, dass ich ausdrücke, was ich spüre. Ich komme zu demselben Schluss, dass so manches sich wirklich erst dann auflösen kann, wenn ich den Mut hatte, damit in den Austausch zu gehen. Ich drücke meine Betroffenheit aus und sage, dass mich das und das verletzt hat. Und ich sage es in einer Art und Weise, mit der ich den anderen nicht angreife. Wenn daraus dann noch eine gute Antwort kommt, dann kann es sich richtig auflösen. Das ist der zwischenmenschliche Anteil, den es auch braucht. Der wird manchmal etwas zu wenig erwähnt in den Dharma-Unterweisungen, als könnten wir alles immer alleine machen. Viel von dieser neuen Gelöstheit, die wir spüren, kommt durch eine gute Kommunikation, wo unsere Schwächen, unsere Verletztheit auch ihren Platz haben. Ich bin auch zu dem Schluss gekommen, nachdem ich zunächst jahrelang meinte, alles mit mir selbst ausmachen zu können. Da bleiben Reste übrig. Das kommt einem zunächst nicht so wesentlich vor. Aber diese Reste, die da bleiben, kumulieren, bauen sich auf und führen dann irgendwann mal zu einer ganz blöden Reaktion, z.B. zu einem Ausbruch. Teilnehmer/-in: Ich möchte gerne etwas teilen. Ich hatte auch Riesenschwierigkeiten, wenn ich nach außen gegangen bin und dabei die Sachen aber noch nicht mit mir bereinigt hatte. Bei nächster Gelegenheit kam bei mir dann auch der dicke Zorn raus oder ich habe den anderen angepflaumt. Ich hatte dann eine schwere berufliche Situation mit Kollegen, die „sehr gute Lehrmeister“ waren. Und ich habe gesagt: „Die ändern sich nie!“ Und so habe ich festgestellt, dass ich an mir selber arbeiten muss. Und dann bin ich losgegangen und habe das große Glück gehabt, dass ich eine tolle Lehrerin in Gewaltfreier Kommunikation gefunden habe. Es war erst mal schwierig, sich überhaupt diese vier Schritte zu merken: Erst mal beobachten und dann auch noch: „Wo ist mein Gefühl?“ Ich habe dann gemerkt, dass ich meine Gefühle gar nicht mehr finde, weil ich immer alles abdecke. Und dann: „Wo ist überhaupt mein Bedürfnis? Hilfe, ich weiß eigentlich

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gar nicht, was ich wirklich will.“ Und das dann auch noch zu formulieren in einer Frage-Bitte. Das war wahnsinnig schwer. Ich habe jetzt zwei Jahre daran gearbeitet und erahne langsam, wie es geht. Es gibt tolle Methoden, man muss sie sich nur suchen. Und das kann man wunderbar mit dem Dharma verbinden. Es geht auch weiter. Ich selbst bin ganz scheußlich in der Kommunikation und mache immer noch die dicksten Fehler. Aber immerhin merke ich es jetzt ab und zu und sage „Hilfe!“ und bin dankbar für „einmal ein- und ausatmen“, das Mantra, usw., all das funktioniert jetzt auch schon. Aber es ist auch super, wenn man sich Methoden zusätzlich besorgt, die einem zusagen, die einem helfen. Es muss jetzt nicht die GFK sein, es kann ja auch etwas anderes sein, und so ist es eine tolle Sache, sich außerhalb des Dharma die Methoden zu suchen, die einem noch ein bisschen was dazu geben können. Danke! Du sprichst mir aus dem Herzen. Denn wir sollten überall um uns herum schauen, wo wir zusätzlich noch Methoden kennenlernen dürfen, lernen dürfen, die uns gerade im Kommunizieren unterstützen. Teilnehmer/-in: Ich würde noch gerne ergänzen, „ohne die Freundschaft zu vergessen“. Die Methoden sind wunderbar, aber die Herzöffnung zu einem Freund/einer Freundin sind für mich das Allerwichtigste. Ja, Freundschaften zu kultivieren, ist ganz, ganz wichtig. Teilnehmer/-in: Ich hatte kürzlich eine Situation, wo ich einen heftigen Ärger hatte und erst mal auf das Kissen bin. Mitten drin dachte ich, „Nee, es geht ja jetzt nicht darum, dass ich das mit mir jetzt ausmache.“ Ich bin dann wieder in die Situation hinein und habe das mitgeteilt – möglichst friedlich. Die Situation wurde dann nicht so schön, aber mir war es wichtig, das auch zu teilen. Das Wunder, das dann geschehen ist, war, dass dann Tage später der Andere kam und sich auch öffnen konnte. Das war gar nicht meine Absicht, aber das ist vermutlich dadurch entstanden, dass ich mich geöffnet habe. Dann konnte sich auch der andere öffnen. Selbstverständlich, so geht das. Man kann nicht immer erwarten, dass der Andere sich dann öffnen kann, wenn wir bereit sind. Manchmal braucht das einfach etwas Zeit. Dann sollten wir nicht verzagen, sondern sagen: „Okay, warten wir noch ein bisschen, aber ich bleibe dabei.“ Ich bleibe bei diesem Angebot der Öffnung und des Verständnisses. Ich bleibe in meiner heilsamen Richtung. Mein Frachter hat seine Kurve hingekriegt, und jetzt lenke ich ihn nicht wieder auf den schwierigen Kurs zurück, sondern ich stabilisiere ihn, auch wenn der Andere jetzt gerade noch nicht kann. Und das ist dann auch wieder anstrengend, weil in dem Moment, wo wir beim Anderen nicht so die Resonanz finden – die andere Person ist noch nicht so weit –, neigen wir wieder dazu, zurückzukippen: „Ich habe es doch gewusst. Bringt doch alles nichts.“ Und schon sind wir wieder auf der alten Spur. Das geht erstaunlich schnell. Aber wir stabilisieren das. Das tut uns gut, und das tut dem anderen auch gut. Was immer unsere Aktivität … … drei Anwendungen [der reinen Sicht]. Diese drei Anwendungen beziehen sich auf Körper, Rede und Geist, das Gewahrsein auf Körper, Rede und Geist anzuwenden. Und das kommt in diesem Satz in der Sadhana zum Ausdruck: „Ich und die anderen, der Körper und alle Erscheinungen, sind der Körper des Edlen, alle Laute und Klänge sind die Melodie der sechs Silben, alle Gedanken sind die Weite des großen, zeitlosen Gewahrseins.“ Nach all dem, was ich schon erklärt habe, steht vor allen Dingen der Satzteil heraus: Wir betrachten nichts als etwas Gewöhnliches. Wir halten nichts, was wir tun, für etwas Gewöhnliches. „Gewöhnlich“ ist nicht im Sinne einer Abwertung gemeint. Um es anders herum auszudrücken: Alles, was wir tun, verdient unsere Herzensbeteiligung. Jede Handlung verdient es, voll und ganz erlebt zu werden, ausgeführt zu werden. Ob wir Auto fahren, ob wir irgendwo hingehen, egal was es ist, ob wir uns gerade am Kopf kratzen, alles verdient unsere Aufmerksamkeit. Von da ist dann der Sprung nicht mehr weit in ein Erleben von unserem Alltag als Dewachen. Wenn alles unsere Herzensaufmerksamkeit bekommt, dann sind wir in einem ständigen Feld der Praxis, wo alle Sinnes eindrücke zu Helferinnen des sich ausweitenden Gewahrseins werden. Am Kopf kratzen mit Gewahrsein. Es

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ist zutiefst befriedigend, wenn wir den kleinen Dingen in unserem Alltag auch unsere Herzensaufmerksamkeit schenken. Dann gibt es gar keinen Alltag mehr.

5. Das Widmen der Wurzeln des Heilsamen und Sprechen von Wunschgebeten Dem Erwachen aller Lebewesen … … reine Absicht zum Ausdruck bringen. Ich möchte an dieser Stelle ein paar Sätze über das Widmen sagen.

Widmung Das Widmen ist eine wesentliche Praxis zum Abschluss einer heilsamen Handlung. Zu Anfang der heilsamen Handlung ist die Motivation die Ausrichtung, dann führen wir die Handlung aus und zum Schluss identifizieren wir uns damit. Das passiert normalerweise. Alles war gut, und zum Schluss verleiben wir uns das Wunderbare, was entstanden ist, in unsere ich-bezogene Sicht von uns selber ein. Es wird plötzlich zu einem Bestandteil der oder des spirituell Praktizierenden, der jetzt wieder etwas super gemacht hat, sich auf die Schulter klopft und bei nächster Gelegenheit auch seinen Freunden davon erzählt, um sicher zu sein, dass andere auch merken, wie besonders man ist. Das ist mangelnde Widmung. „Widmung“ ist ein seltsamer Ausdruck, aber wir werden sofort verstehen, warum das Widmen so wichtig ist. Was ich jetzt beschrieben habe, das kennen wir alle. Es wird auf einer relativen und auf einer letztendlichen Ebene gewidmet, d.h. es wird enteignet. Relativ gesehen dient das Heilsame, das da entstanden ist, dem Erwachen aller Lebewesen. Es wird dem größten Wohl aller gewidmet – inklusive meiner selbst –, und es soll eben nicht die alten emotionalen Strickmuster nähren, sondern dem Erwachen dienen. Das ist die Ausrichtung. Und was immer Gutes daraus entstanden ist, möge es weiter wirken zum Wohle aller, mögen sich alle daran nähren können, mögen alle Lebewesen ohne Ausnahme Nutzen daraus haben, unabhängig von mir. Möge es weiter wirken und Gutes tun. Das sind Gedankengänge, Herzensregungen, die uns helfen zu sagen: Was immer ich dir Gutes getan habe, gib es einfach weiter, teile es mit anderen und möge der Schneeball weitergehen, mögen die Energien weiter gehen, es hat nichts mehr mit mir zu tun. Ich bin auch nur einfach jemand, der aus dem Fluss des Seins heraus gehandelt hat, vielleicht etwas weitergegeben hat, was ich auch schon von anderen erfahren habe. Es hat also gar nicht viel mit mir zu tun. Ich war einfach in dem Moment Instrument in der Situation und möge es weiter wirken. Das in sich ist schon ganz gut. Das ist schon sehr kraftvoll. Damit haben wir einen Großteil der emotionalen Identifikationen aufgelöst, aber es bleibt noch ein subtiler Bereich. Wir erinnern uns daran, dass wir da etwas Gutes getan haben. Ich hatte das Gefühl beim Handeln, dass ich etwas Gutes tue und danach war ich auch ziemlich froh, das Gute getan zu haben. Auch wenn ich mich gar nicht selber lobe und auch gelernt habe, es anderen nicht zu sagen, wie zufrieden ich bin, ist da aber noch ein Gefühl von jemandem, der gehandelt hat, von jemandem, der gut war. – Das war er/ sie ja auch. Bloß: War da wirklich jemand? Jetzt kommt die letztendliche Ebene der Widmung. Wir schauen hinein: Hat da überhaupt jemand gehandelt? War da ein Ich in der Interaktion aktiv, ein Ich, das sich identifizieren könnte, brüsten könnte? Das ist die letztendliche Widmung, ein echter Moment der Meditation, wo wir innehalten und merken: Da ist gar kein Wesenskern zu finden, den ich die Handelnde oder den Handelnden nennen könnte. Da war nie jemand, der gehandelt hat. Und der vermeintlich Andere, dem ich etwas Gutes getan habe, auch der ist nur Prozess und da wirken Kräfte. Und Kräfte in diesem Geistesstrom haben mit Kräften im Geistesstrom des Anderen zusammengewirkt, es ist etwas Heilsames entstanden, wunderbar! Aber da war gar niemand. Und so widmen wir frei von den drei Kreisen: Widmung frei von den drei Kreisen  

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frei von der Illusion eines Subjektes, der Identifizierung mit einem vermeintlichen Subjekt frei von der Illusion eines Objekts, eines Gegenübers, eines Gegenstandes der Handlung

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frei von der Illusion, eine tatsächliche Handlung hätte stattgefunden. Auch das Vergegenständlichen des Handelns wird aufgelöst.

Das sind ja nur Begriffe, die dem Strom des Handelns nachträglich aufgesetzt werden. „Ich habe dir ein Geschenk gemacht“. Ich – dir – Geschenk; eine Handlung des Schenkens. Tatsächlich ist einfach in diesem Geistesstrom der Impuls entstanden, einem anderen Geistesstrom ein sich wandelndes Objekt zu geben. Und kein solides Ich hat einem soliden Gegenüber einen soliden Gegenstand in einer soliden Handlung gegeben – alles Illusion. In diesem prozesshaften Geschehen durfte dieser Geistesstrom sich ein wenig öffnen und etwas teilen von dem Überfluss und Reichtum des Seins, der nie jemandem gehört hat. Was ist denn das für ein Irrtum, zu denken, dieses Ding hätte mir gehört? Das ist alles Illusion. Wenn wir die letztendliche Widmung vollziehen, ist das ein Moment des Einkehrens in dieses nicht beschreibbare Offensein, in dem es gar niemanden gibt. Wenn wir widmen, können wir eine innere Bewusstheit kultivieren: Ich lasse jetzt alles ganz los. Das Heilsame, das war, sei allen Lebewesen gewidmet. Niemand hat je unterrichtet, niemand hat je zugehört, es hat sich vollzogen. Die Worte sind nicht meine Worte. Es sind Worte, die sich gebildet haben, Worte, die die Situation hervorgebracht hat. Und dann soll es auch so bleiben, wie es ist. Wir brauchen daraus nichts zu machen. Und das ist die letztendliche Widmung, ganz loszulassen und dann aufzustehen wie jemand, der alle Anhaftungen abschüttelt und sagt: „Und wo geht es weiter? Wo geht es jetzt lang?“ Offen für das Neue. Da ist nichts mehr in dem, was war, mit dem sich der Geist identifiziert, an dem wir festhängen. Das sind die zwei Phasen von Widmung: Ganz bewusst dem Erwachen aller Lebewesen zur Verfügung zu stellen und dann diese Handlung mit einem Moment des erwachten Gewahrseins zu segnen. Also alle verbleibende Identifikation aufzulösen. Teilnehmer/-in: Wenn man das quasi abschüttelt, stört es dann nicht, dass man dann gewisse Dinge aus der Meditation in die Nach-Meditation mitnimmt? Nein. Tatsächlich hat es die Wirkung eines noch tieferen Verankerns im Heilsamen. Ohne Widmung würde es sich wieder in unseren neurotischen Strukturen verankern. Ich meine jetzt nicht die Praxis in ihrer Auswirkung als solches, sondern dass wir eben eine bestimmte Haltung aus der Meditation mit in den darauf folgenden Alltag mitnehmen… Nein, nein, das Schütteln war ein Bild, das ich verwendet habe, um auszudrücken, dass wir alle diese Identifikationen abfallen lassen; wir gehen in das Nicht-identifiziert-Sein hinein, und aus dem heraus gehen wir in die Aktivität. Das ist der beste Start in die Aktivität, den wir haben können. Man muss sich aber gewahr sein, dass man nicht die ganze Meditation abschüttelt. Du hast mich damit an etwas erinnert, das ich noch nicht so deutlich gesagt habe: Dem relativen Widmen geht eine wirkliche Freude voraus. Wir freuen uns an dem Heilsamen, das entstanden ist. Wir erfreuen uns daran. Teilnehmer/-in: Aber es ist doch nicht entstanden… Auf der relativen Ebene schon. Auf der relativen Ebene ist es super, dass du freigiebig hast handeln können; super, dass die Kommunikation so gut gelaufen ist; toll, dass da der Moment von Praxis stattgefunden hat; klasse, dass ich meinen inneren Schweinehund überwunden habe. Diese Wertschätzung, diese Freude für das Heilsame geht dem Widmen voraus: „Ich freue mich an all dem und möchte, dass es als Strom der Freude anderen zur Verfügung steht.“ Und dann kommt diese relative Widmung. – Ich sage das deshalb, weil der Teilnehmer vorhin von Verankern sprach. Und diese Freude am Heilsamen verankert das nochmal in der Freude. Das ist nicht etwas, das man sich selbst einverleibt, sondern man freut sich einfach daran. Und da machen die traditionellen Texte und Lehren noch einen Schwenk und sagen: Und gleichzeitig freue ich mich an all dem Heilsamen, das all die Erwachten und alle Lebewesen jetzt gerade, in der Vergangenheit und in der Zukunft ausführen. Daran freue ich mich auch noch. Und das gesamte Paket von all dem, was an Heilsamem war, ist und sein wird, das widmen wir. Also da ist dann extra noch einmal eine kontemplative Schlaufe eingebaut, um die Freude an dem, was wir selber erlebt haben, auszuweiten und mit allem Heilsamen in allen Zeiten und Universen zu verbinden.

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Du hast ein bisschen Sorge, dass das nicht ganz der letztendlichen Wirklichkeit entspricht? Teilnehmer/-in: Ich bin nicht so optimistisch… Woran ich was finden kann, ist, mich daran zu freuen, dass das passiert. – Na gut, wenn alle das kriegen würden, was sie verdienen, dann würden wir alle in der Hölle sitzen. Ich meine, Gott sei Dank gibt es da Kräfte, die wirken, und daran kann ich mich schon freuen, nicht? Das ist super. Aber ich hab mir das eher so zurecht gelegt, über diese Betrachtungsweise des Absoluten, dass das sozusagen auch eine Funktion so als Stütze und als Erinnerung hat, warum ich das so genau gemacht habe – Ah, ich komm noch einmal dazu, ich nehm ein Ressort für mich mit … die Wirksamkeit, das würde ich mir wünschen… Deine Zweifel sind in Bezug auf die Wirksamkeit? Das Widmen ist einfach nur, dass wir eine Haltung tiefster Freigiebigkeit entwickeln zu sagen: „Was immer an Impulsen von mir ausgegangen ist, gehört gar nicht mir.“ Das ist jetzt in der Welt und soll auch in der Welt weitergehen. Ich mache nicht noch Haken hinterher: „Aber ich habe das gesagt. Aber das Geschenk kommt von mir. Und die Idee, das war meine Idee. Und dieses Gebet, das habe ich gemacht, weil wenn es dir besser geht, hat das vielleicht mit dem Gebet zu tun.“ Das schicken wir in die Welt. Und ich kenne dich ja als jemand, der sich sehr freut, wenn Heilsames passiert. Das ist ja eine tiefe Freude. Es ging um diese Freude, dass wir diese Freude zulassen und sie nicht abwerten und denken: „Oh, das ist ja jetzt schon wieder das nächste Anhaften, was da angeschlichen kommt, wenn ich mich am Heilsamen freue“. Die Freude am Heilsamen ist geradezu das, was uns auch die Kraft gibt, dann freudig zu widmen und dazu sagen: „Ja, und letztendlich gab es ja wohl gar niemanden, der das je erfahren hat, gemacht hat.“ Von daher gibt es auch keinen Grund zur Identifikation.

Die Kurzform der Praxis Wenn wir nicht in der Lage sind, … … über unserem Kopf weilt. – D.h. wir nehmen Zuflucht, entwickeln Bodhicitta und Tschenresi entsteht sofort über unserem Kopf. Während wir uns ganz mit den verschiedenen Inhalten verbinden – uns mit den verschiedenen Symbolen verbinden, mit dem, was Tschenresi verkörpert –, sprechen wir die Gebete und denken dabei: „Lama Avalokiteśvara, bitte denke an uns!“ – „Ich brauche Hilfe. Bitte denke an uns. Bitte, bitte, bitte!“ Wir machen es ganz einfach. Tschenresi ist da und wir sagen: „Denk an mich, ich brauche gerade massiv Unterstützung.“ Und dann rezitieren wir das Mantra: OṀ MANI PADME HŪṀ – direkt. Kurz gesagt: OṀ ist die Silbe, die das zeitlose Gewahrsein der fünf Körper des Erwachens in sich vereint. OṀ wird abgekürzt erklärt als die Weisheit aller Buddhas. Präzise ausgedrückt, ist es das zeitlose Gewahrsein aller Buddhas, in dem die fünf Körper des Erwachens zum Ausdruck kommen, die fünf Kayas:

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Dharmakaya: die grundlegend offene Dimension des Gewahrseins Sambhogakaya: Freudenkörper, Dynamik Nirmanakaya: Ausstrahlungskörper; das, was durch die Dynamik entsteht – Manifestationen, Erfahrungen, Erleben Svabhavikakaya: Essenzkörper, die Einheit der drei; sie sind untrennbar eins, sie sind immer gleichzeitig, zusammen zu finden. Das Wesen – svabhava – von all dem ist nicht fassbar, ist Leerheit. Mahasukhakaya: Sukha bedeutet Glück, das Gegenteil von dukkha. Das große Glück, die große Freude, dass die Erfahrung des Gewahrseins, so wie es ist – offen, dynamisch, voller Manifestation – in seiner Einheit, in seiner Gesamtheit, freudvoll ist.

Das sind die fünf Aspekte des zeitlosen Gewahrseins als Kayas beschrieben, als stabile, immer wieder zu findende Qualitäten des Seins. Das ist die Bedeutung der Silbe OṀ. MANI bedeutet: Juwel, und PADME … … Lebewesen vor Leid beschützt. – Während wir OṀ MANI PADME HŪṀ rezitieren, erinnern wir uns an diese Bedeutung. – Das Mantra bedeutet also: „Du, der Du die fünf Körper des Erwachens … … sechs Daseinsbereiche.“

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Das ist die kurze Erklärung der Bedeutung des Mantras. Im Bewusstsein dieser gebetsgleichen Bedeutung rezitieren wir die sechs Silben so viel wir können. Schließlich löst sich der Lama über meinem Kopf hocherfreut in Licht auf – hocherfreut, dass ich mich an die eigentliche Bedeutung des Dharma erinnere, dass ich Zugang finde zu dem eigenen Sosein. Das ist der Grund der Freude der Buddhas – und verschmilzt mit uns, wodurch in unserem Geist das zeitlose Gewahrsein des Edlen zum Vorschein kommt. Praktiziere mit großem Sehnen, frei von Zweifeln. Zum Abschluss widme … … Hingabe und Enthusiasmus praktizierst. Das war also die Kurzversion der Praxis, sie ist extrem kurz. Wenn wir es uns übersetzen, dann besteht sie aus Zuflucht und Bodhicitta – der erste Vierzeiler –, OṀ MANI PADME HŪṀ mit Visualisation von Tschenresi und Gewahrsein der Bedeutung des Mantras, und einem Widmungsgebet. Das geht ruck-zuck. Teilnehmer/-in: Es hieß eben „frei von Zweifeln“. Wo gehen die Zweifel dann hin? Wenn ich Zweifel habe, dann denke ich „frei von Zweifeln“ – schön wär's. Was für Zweifel? Zweifel über die Wirksamkeit, dass es mich wirklich aus meinen gewohnten Mustern rausholt, weil, die sind ja dieser fette Tanker. Also, du sitzt in deinem fetten Tanker und praktizierst und hast Zweifel. Du sagst: „Tschenresi, bitte sei bei mir, OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI… ich tue mein Bestes. Jetzt mach Du auch dein Bestes… OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ, ...“ und du gehst wirklich von Herzen rein. Und dann schau mal, was passiert. Dieser Zweifel ist völlig okay, aber zweifle nicht an deiner Grundnatur. In dir ist Tschenresi bereits. Die Qualitäten sind in dir bereits. Da habe keine Zweifel. Du weißt nur nicht, wie du wieder in deine Grundnatur hinein findest, wie die sich dir wieder offenbaren kann, wenn jetzt in dieser verstrickten Situation dieser fette Tanker mit Volldampf in die falsche Richtung geht. Du weißt nicht, wie du da jetzt wieder in diese innere Freiheit rein findest. Das zeigt die Praxis dann. Da braucht es deine volle Energie, und der Rest kommt dann schon. Den Rest steuert deine Grundnatur bei. Das ist jetzt kein externer Tschenresi oder das Anrufen externer Kräfte, die es vermutlich auch gibt – da gibt es unsichtbare Wesen um uns herum, die extrem unterstützend wirken. Die wirkliche Unterstützung kommt aus unserer eigenen grundlegenden Natur. Es wäre schade, wenn du da Zweifel nähren würdest. Das braucht nicht zu sein. Ob Methoden wirksam sind, daran kann man immer zweifeln, bis zum Beweis des Gegenteils. Teilnehmer/-in: Ich wollte nur noch sagen, dass ich mich freue und sehr dankbar bin über deine Erklärung zur Widmung. Ich hatte bisher nur gehört, man solle da noch eine Zeit im Gewahrsein sein und es sollen auch keine neuen Störgefühle auftauchen, bis die Widmung vollendet wäre. Du hast jetzt das Gefühl mit dem Inhalt dieser relativen Seite und der Mitfreude und dann auch noch der letztendlichen Dimension frei von den drei Kreisen beschrieben. So habe ich es erklärt bekommen. Und es scheint zu funktionieren. Immer wenn ich es praktiziere, dann funktioniert es.

Praxis des Gebetes des Mönchs Padma Karpo5 Wir machen jetzt das Gebet von Padma Karpo. Und jedes Mal, wenn OṀ MANI PADME HŪṀ kommt, halten wir inne und widmen uns intensiv diesem Daseinsbereich. Und wenn ihr wollt, könnt ihr an der Stelle die Visualisation mit der Silbe, die mit dem entsprechenden Daseinsbereich zu tun hat – OṀ – Götterbereich, MA – Halbgötterbereich usw., ausführen und euch vorstellen, dass die Silben in die Bereiche gehen, wo die dazu gehörenden Emotionen sind z.B. Eifersucht… Teilnehmer/-in: Da geht es aber umgekehrt? Also es fängt mit den Höllenbereich an. Dann richten wir uns danach. Wir fangen mit dem HŪṀ an und dann geht es so weiter die Leiter hoch.

5 Erklärungen zum Gebet des Mönches Padma Karpo im Anhang 99

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Wir machen das, so wie das Gebet geschrieben ist, und nehmen uns jeweils einige Malas Zeit, um viele OṀ MANI PADME HŪṀS für diese emotionale Thematik zu machen. Es geht nicht nur darum, die Thematik woanders zu sehen, sondern auch in uns selber zu suchen. Also wir empfangen gleichzeitig den Segen selber in unsere eigene Aggressivität hinein, in unsere eigenen Gefühle von Mangel, Armut, Habenwollen hinein usw. Sölwa debso lama tschänräsi… *** Das war jetzt eine Praxis, die in sich schon eine vollständige Praxis darstellt. Austausch über die Praxis – Arbeit mit Emotionen Lasst uns schauen, wie wir die sechs Stationen praktisch mit uns selbst in Anwendung gebracht haben. 

Höllenbereiche – Hass, Aggression

Da haben wir, wie beschrieben, die Visualisation zur Silbe HŪṀ gemacht: Das Licht, viele HŪṀs und dann alle Lebewesen frei von Aggressivität usw. Aber wir selber, was haben wir mit uns selbst gemacht? Wie haben wir das mit uns selbst in Beziehung gesetzt? Ich möchte gerne Beispiele von euch hören! Teilnehmer/-in: Ich schaue nach Momenten, wo ich es bei mir nachvollziehen kann, wo das bei mir auftritt. Genau. Du hast also bei dir nach Momenten geschaut, wo du aggressiv wirst. Was hast du gemacht, um das mit der Tschenresi-Praxis in Beziehung zu setzen? Du hast also eine Situation erinnert. Und dann, wie ging es weiter? Wie hast du da eine Wirkung spüren können? Für mich ist das jetzt nicht neu. Ich arbeite schon lange damit. Ich merke, dass diese Situationen nicht mehr so fest sind, dass sie sich nicht mehr so massiv anfühlen. Neu war, dass diese Lichtqualitäten einen anderen Charakter bekommen haben; dass ich einen völlig anderen Zugang bekommen habe, was Lichtgestalt ist und das wirkt sich auch auf die Praxis aus; dieses Weichere. Deine Erklärung, dass diese Lichtstrahlen auch eine Strahlenform haben, war ganz essentiell. Für mich hatte das bisher einen härteren Charakter, und dadurch, dass das so Schwaden sind, bekommt es auch im Gefühl was Weicheres. Also, ich sitze da und habe meine Situation, in der ich dazu neige, aggressiv zu werden – etwas Typisches für mich. Ich denke an Tschenresi über meinen Kopf, und da ist dieses Licht. In diesem Fall dieses dunkelblaue Licht bzw. die Ausstrahlung von dunkelblauen HŪṀs. Wie bringe ich das jetzt mit mir in Beziehung? Wie habt ihr das gemacht? Habt ihr euch auch eine Situation ausgesucht, habt ihr euch auch an eine Situation erinnert? Teilnehmer/-in: Für mich ist es bei allen diesen sechs Bereichen und Emotionen so, dass – wenn ich mehr Liebe und mehr Klarheit, mehr Weisheit darin versuche einzumischen oder einzuführen – dann alles verschwindet. Für mich kommt alles auf diese zwei Grundqualitäten an: mehr und mehr Liebe und mehr und mehr Weisheit. Dann ist alles weg. Jetzt bin ich aber z.B. sauer. Und wenn man richtig sauer ist, dann hat man nicht so Bock auf Liebe und Weisheit. Wie geht das? Teilnehmer/-in: Ich merke, dass ich ganz froh bin, wenn ich Wut empfinden kann. Auch gerade Menschen gegenüber, die ich mag, weil ich habe mich über viele Jahre gar nicht getraut, Wut zuzulassen. Die war bei mir ziemlich abgespalten, und ich bin jetzt ganz froh, dass ich die erleben kann. Und erlebe sie auch als Energie, mit Schwitzen, mit Heiß-Werden. Wenn ich dann damit versuche, heilsam mit einer Praxis umzu gehen, dann eher so, dass ich weiß, ich bin da jetzt eine Weile drin und irgendwann ist die Wut erschöpft. Aber ich konnte sie erleben. Das ist jetzt nicht die Praxis hier. Das ist etwas, was du für dich herausgefunden hast. Hier geht es um Aggressivität. Hier geht es darum, Impulse zu zerstören: Hass. Es geht um destruktive Impulse. Und jetzt

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geht es darum, wie erreicht mich das in meiner Aggressivität und wie kann mir diese Praxis konkret helfen. Ihr seid alle noch so ein bisschen im Allgemeinen. Wie kriegen wir die Beziehung zu uns her? Teilnehmer/-in: Ich habe eine Situation mit einer Freundin herausgesucht, wo ich aggressiv wurde. Und ich habe mich in diesem Gefühl dem dunkelblauen Licht ausgesetzt und habe innerlich nach dem Ort gesucht, wo ich verletzt worden war. Da, wo es für mich geschmerzt hat. Und da hinein in Kontakt mit dem Ort, wo es schmerzt, wo eigentlich der Auslöser für die Aggressivität ist, da habe ich das Licht eingeladen und habe dort Heilung und Unterstützung erfahren. Da wird es jetzt konkret. Du bist an den Punkt gegangen, wo es richtig weh tut und wo die Aggressivität ausgeht. Jetzt haben wir das Prinzip. So wollen wir das jetzt mit allen Emotionen machen. 

Bereich der Hungergeister – Habsucht, Gier, Habenwollen

Hungergeister-Mentalität. Wie habt ihr das da gemacht? Teilnehmer/-in: Ich habe das selber in mir gefühlt, dieses Hungergefühl. Und das hat dann richtig weh getan. Ich habe dann eine kleine Übung mit mir gemacht, indem ich mich in den Arm genommen habe und habe mir Zuwendung gegeben: Ich darf sein, wie mein Kind. Dann erst konnte ich Licht reinbringen. Dann hat sich mein Körper so ausgebreitet und ich habe mich dann erwachsener gefühlt. Dann hab ich geschaut, wo ich diese Habgier und dieses Hungergefühl außen wahrnehme und verurteile. Da konnte ich das Licht dann ausbreiten und ich habe verstanden, wie weh es tut. Ich habe dann gedacht, wenn es mir so weh tut, dann tut es den anderen ja auch weh. Dann konnte ich eine schöne Verbindung eingehen. Du bist also auch an den Ort gegangen, wo es weh tut, wo diese Enge spürbar ist, dieses Gefühl, vielleicht nicht genug zu haben. Und auch da laden wir wieder das Licht ein, bis da innerlich diese Sorge, diese Angst, das, was der Auslöser ist für das Habenwollen, das Greifen auf dieser tiefen Ebene beginnt nachzulassen. Und dann geht es noch weiter: Wenn wir das spüren, dann ist es wichtig, das für längere Zeit zu spüren, vielleicht fünfzehn Sekunden lang, und zu verankern, wie es ist, so offen, so sorglos zu sein in diesem Bereich. Das sind diese Phasen, in denen wir eine Ahnung entwickeln von den verschiedenen Formen des Gewahrseins, die im Kommentar beschrieben sind. Beim Hass wäre es dieses spiegelgleiche, völlig fluide, nicht behinderte Gewahrsein. Oder das all-unterscheidende Gewahrsein bei Gier. Es geht darum, das zuzulassen in der Frische des Seins; Öffnung, da weich werden, wo die grundlegende Angst dieser Emotion herkommt. Teilnehmer/-in: Ich habe versucht, mich auf die Vibration des Mantras zu konzentrieren, was das auslöst, und da das Licht hinein zu leiten in Verbindung mit der Situation, die mich sehr schmerzte. Die Erfahrung war, dass es sich zersetzt und ein Gefühl ist, näher bei mir zu sein. Also mir nahe zu sein und mich durch diesen Ton der Vibration nochmal zu spüren. Das ist auch ein schöner Zugang. Denn, wenn du sagst Vibration, dann spürst du die Vibration des Mantras im Körper. Das ist nochmal ein anderer Zugang als über das Licht. Manche von uns können ja mit Licht nicht so viel anfangen, sie sind eher Körperspür-Typen. Und dann ist es gut, das Mantra und das, was wir sonst Licht nennen, als eine Vibration im Körper zu spüren. Dazu können wir auch Zugang finden und dann in den Ort der Verletzlichkeit, diese Vibration fließen lassen; dort hin, wo wir die Enge spüren, die Symptome dieser Emotion. So können wir es konkret machen. So kann diese Praxis richtig konkret werden. 

Tierbereich – Dumpfheit, mangelndes Gewahrsein, Schläfrigkeit

Ich war gerade so schläfrig, als diese Stelle kam, so müde. Wie habt ihr das gemacht? Wie habt ihr das in euer Erleben reingeholt? Teilnehmer/-in: Bei mir war es die Angst. Für mich kamen dann Tiere, die ständig in Angst leben. Also ein Hase, ein Reh, also Tiere die einfach Opfer sind. Ich konnte das nicht auflösen. Ich finde die Beispiele total gut und würde am liebsten diese Übung nochmal machen. Für mich war das sehr diese Erfahrung – so lebe ich auch manchmal – wie so ein Hase, der dauernd wartet, dass der Vogel oben kommt. Jetzt spürst du gerade deine Hasennatur, deine Vogelnatur in dir. In diese Angst hinein laden wir dann das Tschenresi-Bewusstsein ein, über Licht, über Vibrationen, OṀ MANI PADME HŪṀ… und dann spüren wir,

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wie sich das weiten kann. Oder wir laden in die Dumpfheit, Schläfrigkeit die blauen P AD-Silben ein, wie so einen Regen. Die lösen ganz konkret eine Klarheit aus. Und diese Klarheit gilt es zu spüren und zuzulassen, sich dafür zu öffnen, ganz konkret – reinholen ins persönliche Erleben. Und dann können wir das auf alle Hasen und Rehe ausweiten, weil wir es innerlich vollzogen, innerlich gespürt haben. 

Menschenbereich – Geschäftigkeit, Begierde, Armut

Habt ihr das mit euch persönlich in Beziehung setzen können? Ihr kenn das nicht? … Also ich habe mich in meiner Geschäftigkeit wiedererkannt. Begierde kenne ich auch, und Armut ist ja nur ein Vergleich. Armut ist ein Gefühl von Armut. Man kann sich arm fühlen und ganz viel haben! Armut ist kein absoluter Wert. Armut ist immer im Vergleich. Merkt ihr? Wenn wir da den Segen und das Bewusstsein der Praxis einladen, wo müssen wir hingehen? In diese Gefühle in uns, aus denen die Geschäftigkeit entsteht; in die Rastlosigkeit, immer zu meinen, noch was tun zu müssen. Bis wir merken, da, wo dieses Geschäftige ist, gibt es nach, es öffnet sich dem gelben Licht der NI-Silbe. Und da entsteht Ruhe, da entsteht Frieden. Dann bleiben wir in diesem Frieden; da, wo wir das Gefühl kriegen für dieses all-vollendende Gewahrsein; dass innerlich aufgrund der Entspannung dieser Bereiche wirklich wie ein Gefühl entsteht: „Die Situation ist doch okay. Ich brauch ja gar nicht geschäftig zu sein.“ Oder wir laden das Gewahrsein in die sexuelle Begierde ein. Dort, wo der unglaubliche Drang zu spüren ist, wie Sucht, wie ich mich gefangen fühle; da hinein laden wir das Licht oder das Vibrieren, das Spüren von Tschenresi ein, bis sich da drin etwas entspannt. Es kann sich immer etwas entspannen. Bei all diesen Gefühlen gibt es etwas zum Entspannen. Bis sich das öffnet und darin dieses weitere Gewahrsein auftaucht. Und wir bleiben verbunden mit der Situation oder mit dem Gefühl, das normalerweise diese Emotion hervorruft und da hinein laden wir die Praxis ein. Jetzt beginnt ihr allmählich das Prinzip zu verstehen. Ihr merkt allmählich, wie wir diese Verzahnung praktizieren. Und wenn nicht hier in der Praxis, wo denn dann? Darum geht es doch, genau diese Arbeit mit unseren emotionalen Situationen zu machen, und nicht abstrakt Lichter zu schicken irgendwohin, wo es Begierde gibt, und irgendwohin, wo es Geschäftigkeit gibt. Armutsgefühle haben ja mit Geschäftigkeit zu tun. Immer das Gefühl zu haben, es reicht noch nicht. Ich bin nicht gut genug. Mein Leben, meine Gegenstände, meine Ausstattung, mein Beruf, es reicht alles immer noch nicht. Teilnehmer/-in: Ich habe mich in diesem Bereich mit meinem Kontrollbedürfnis beschäftigt, mit meinem Wunsch, alles unter Kontrolle zu halten. Dieses Bedürfnis, ständig alles zu kontrollieren, wirkt auch bedrückend. Ich habe da hinein die Praxis eingeladen. Und dann kamen so Gedanken wie: Es hängt doch gar nicht alles von mir ab. Ich brauch doch gar nicht alles zu kontrollieren. Dann kamen Gefühle von Vertrauen, und die haben sich dann allmählich ausgeweitet. Deine Praxis hat diesmal noch einen stärkeren begrifflichen Geschmack. Du hast ja gute Gedanken gesagt. Es geht noch mehr darum, wenn wir uns in dem Moment mit dem Mantra OṀ MANI PADME HŪṀ und den Lichtstrahlen mit Tschenresi verbinden, dass wir echten Zugang zu unseren inneren Ressourcen finden. Und dass diese Ressourcen – und nicht irgendwelche positiven Sätze –, unser Tschenresi-Sein, mit dem wir jetzt wieder in Kontakt kommen, von innen heraus diese Anspannung auflöst, dieses Kontrollbedürfnis, dieses „Ich muss“. Teilnehmer/-in: Mir ist es in so einem Durchgang nicht möglich, zu jedem dieser Aspekte ein authentisches Gefühl aufzubauen. Wo ich merke, irgendetwas ist authentisch da, aber durch diesen Wechsel konnte ich das nicht. Ja, das kann ich mir auch vorstellen. Das braucht eine große Übung und Flexibilität des Geistes, und so ist es ja auch nicht im Alltag. Wir haben ja normalerweise eine Situation, die gerade die schwierigste an diesem Tag ist, und mit der arbeiten wir. Da fragen wir diese Situation innerlich ab, was für Emotionen da eine Rolle spielen. Ist da Aggressivität drin, ist da Stolz drin, Wollen, Kontrollbedürfnis, Verleugnen, eine Dumpfheit? Mit der einen Situation arbeiten wir. Und in der Situation nehmen wir wahr, dass es eine Mischung von Emotionen ist und laden den Segen der Praxis ein. Wir stärken unser Tschenresi-Bewusstsein innerhalb dieser Situation. Dann ist es auch einfacher.

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Teilnehmer/-in: Wenn wir das alleine für uns praktizieren und einen ganzen Durchgang üben, sollten wir uns Zeit nehmen bis etwas kommt und dann weiter zu machen? Manchmal reicht es aus, einfach nur OṀ MANI PADME HŪṀ zu machen, wir brauchen nicht immer emotional zu arbeiten. Wir können auch einfach das OṀ MANI PADME HŪṀ als Geschenk in die Welt senden und uns nähren lassen von dieser wunderbaren Schwingung. Aber wenn du ein Thema hast, dann wirst du es sofort merken. Und dann geht die Praxis dahin. Manchmal können wir ein bisschen kratzen und schauen, was jetzt unter der Oberfläche ist, damit etwas zum Vorschein kommt, aber du brauchst keine Schwerarbeiterin zu werden. Die Themen kommen von selber. Wenn wir das Eine, was im Vordergrund steht in unserem Leben, gut bearbeiten, profitieren alle anderen davon. Wenn ihr bei dieser Praxis dann merkt, dass da etwas ist, dann könnt ihr euch mehr Zeit dafür nehmen. Das ist immer gut. Aber ihr könnt das Mantra auch einfach mal als Geschenk für diese Daseinsbereiche singen und rezitieren; einfach in der Freigiebigkeit sein. 

Bereich der Halbgötter – Eifersucht, Neid, Kampf, Streit

Machtgebaren, Machtkämpfe – kennen wir nicht… schon gar nicht in Beziehungen…, nie gehört. Wir sind im Halbgötterbereich, das schmerzt. Es schmerzt zu sehen, wie gut es anderen geht: „Und ich selber, und ich?…“ Und jetzt da hinein den Segen einladen! Viele grüne M A-Silben sind ganz nett, aber es geht darum, dass wir uns öffnen und mit dem Schmerz da hinein dieses liebevolle Gewahrsein einladen. Und dass wir von innen merken: „Hey, was vergleiche ich mich denn ständig mit anderen?“ Ich brauche das nicht. Aus mir heraus zu sein, ist völlig ausreichend. Ich brauche mich nicht zu vergleichen mit anderen, die scheinbar mehr Qualitäten haben, mehr dieses, mehr jenes, besser dieses. So komme ich in eine innere Dimension, wo die Dinge so sein können, wie sie sind; wo ich so sein kann, wie ich bin und kann mich darin entspannen, annehmen. Und das ist wieder das Entstehen von Tschenresi innerhalb dieser emotionalen Dimension. Innerhalb des Halbgötterbereiches kommt Tschenresi zum Vorschein, und dann gibt es keine Halbgötterthematik mehr. Dann löst sich das, es tritt Frieden ein, wo vorher Streit war und vergleichen. So könnt ihr im Grunde genommen jedes Thema eures Lebens mit dieser Praxis in Beziehung setzen. – Über die Vibration, über das Licht, über das Denken an Tschenresi, über die Visualisation wird allmählich was anderes in uns aktiv. Diese Tschenresi-Dimension in uns wird angeregt, wird genährt wird aktiver, und dieses Gewahrsein beginnt, unsere Situation zu durchdringen. Da macht es dann auch „klick“ innerlich. Ich habe meine schwierige Situation, vielleicht im Beruf, vielleicht im Paar-Bereich, vielleicht mit meinen Kindern, was auch immer gerade ansteht, und ich bin innerlich damit beschäftigt und praktiziere Tschenresi. Und dann kommen plötzlich Lösungen: „Ach, so könnte ich es ja sagen!“ oder „Ach, so könnte ich mich verhalten, wenn das wieder auftritt.“ Das ist dann gar nicht so sehr die Folge eines logischen Überlegens, sondern weil das Gewahrsein beginnt, das Erleben dieser Situation zu durchwirken, kommt es zu solchen – man würde fast sagen – Eingebungen. Aber es sind auch die Konsequenzen davon, dass eine neue Sicht der Situation sich mit dieser Situation befasst und zu neuen Lösungen führt. Das ist einfach so. Wir müssen einfach lange genug dabei bleiben, wenn uns etwas sehr beschäftigt. Das braucht intensive Zeit und Arbeit, aber die Praxis hat die Fähigkeit. Unsere Knoten können aufgehen, aber man muss dranbleiben. Wenn man ein Thema hat, das einem richtig zusetzt, dann muss man sich auch die Zeit nehmen, das mit Gewahrsein zu durchwalken, zu durchkneten. Und manchmal fehlt einem die Motivation, die Methode anzuwenden, da will man nicht so ganz. Aber wenn man die Motivation hat, dann sollte man sich auch die Zeit nehmen. Man kann seinem Partner/seiner Partnerin auch mal das Geschenk machen und sagen, „Du, ich ziehe mich mal zurück. Ich kriege das gerade in der Kommunikation nicht gelöst.“ Ich übernehme meinen Teil der Verantwortung und ziehe mich mal zurück. Ich praktiziere, aber ich praktiziere mit dem Thema und nicht ohne das Thema. Ich nehme es hinein in meine Praxis; nicht die ganze Zeit, dass es mich nicht über schwemmt, aber immer wieder komme ich darauf zurück. „Ich kümmere mich darum. Ich weiß nicht, wo es langgeht, wie die Lösung dann aussieht, aber ich arbeite daran. Ich belaste dich damit nicht, ich mache meinen Teil der Arbeit selber.“ Das ist dann ganz konkret Dharma-Praxis mit der emotionalen Thematik. Und wenn man das gut vermittelt, dann weiß der Partner/die Partnerin dann auch: „Okay, jetzt muss ich mal darauf verzichten, darüber noch weiter zu kommunizieren, das geht jetzt noch ein paar Tage, und irgendwann

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nehmen wir das Thema dann wieder auf.“ Es ist sehr erwachsen, das so zu machen. Das ist eine persönliche Psychotherapie, mit sich selber und der spirituellen Praxis wirklich in das innere Retreat zu gehen. Und da kommen sehr, sehr gute Lösungen, sehr, sehr gute Klärungen heraus. 

Götterbereich – Stolz, Hochmut

Wir haben ja alle keinen Stolz mehr, nicht? Da kann man sich mal erinnern, wie man früher Stolz hatte und dann für die anderen beten, die ihn immer noch haben… [Gelächter] Wenn die eigenen narzisstischen Spitzen offenkundig werden im Alltag und man merkt, wie leicht man verunsichert wird, weil das eigene Selbstwertgefühl in Frage gestellt ist, und wie leicht wir vielleicht abwertend werden, weil wir unsicher werden, und dann die anderen, andere Dinge abwerten müssen, dann ist es klar: Das Thema Stolz klopft an. Da hinein das Gewahrsein, den Segen dieser Praxis einzuladen, bewirkt, dass wir dann vielleicht doch erahnen können, wie es hätte sein können, etwas bescheidener, etwas weniger empfindlich zu sein in der Situation. Und nicht: „Ich hier“ und „Greife mich nun ja nicht an“ oder „Was nimmst du dir heraus, mich zu kritisieren oder an mir etwas falsch zu finden“… all diese Reaktionen des Stolzes, und wir kommen vielleicht auf einen gesünderen Boden, wo wir die Rückmeldungen des Anderen, auch wenn sie vielleicht etwas scharf kommen, in einem gewissen Sinne als berechtigt wahrnehmen und vielleicht sogar dankbar sein können dafür. Auch wenn sie nicht angenehm sind. Wenn wir weiter im Stolz bleiben, dann versuchen wir im Grunde genommen, uns immer mehr zu schützen. Ein Stolzer/ eine Stolze lässt möglichst nichts an sich herankommen, weil alles das Selbstwertgefühl in Frage stellt. Und das soll ja so sicher und unbeschadet alle Stürme überstehen, wie der berühmte Elfenbein turm. Abschottung ist das beste Mittel, um nicht aus dem Stolz herauszufinden. Sobald wir uns einlassen und in Kommunikation gehen, sind wir schon nicht mehr im Elfenbeinturm, und der Stolz kriegt natürlich eine Klatsche dann. Der kriegt eine Klatsche nach der anderen, weil wir ja in Beziehung treten. Und dieses innerlich Weichwerden, dieses Rausgehen aus den Verhärtungen, bedeutet, die Arbeit mit den eigenen inneren Ängsten zu machen: Wer bin ich, wenn ich mich nicht aufplustere? Wer bin ich wirklich, wenn ich einfach so bin? Wer bin ich, wenn ich nicht Recht habe? Wer bin ich in meinem umgekehrten Stolz, in meiner depressiven Grundhaltung, wie: „Ich bin Nichts!“, „Ich bin eine Null!“ Wer bin ich ohne meine Depression? Wer bin ich ohne meine Opferhaltung? Die Opferhaltung ist ein wunderbares Versteck für Stolz. Ich bin immer das Opfer von Umständen, immer sind die anderen schuld. Da kann sich der Stolz einnisten mit einer unglaublichen Zähigkeit. All das müssen wir auflösen. Und da geht es darum, diese Unsicherheit in meinem Seinsstrom zu umarmen, anzunehmen und Tschenresi einzuladen. Die Unsicherheit geht nicht weg, aber sie macht nichts mehr. Es ist nicht so, dass wir sicher werden und plötzlich das Ich wieder sicheren Boden unter den Füßen hätte, sondern: „Ah ja, da ist ja gar nichts, das ich verteidigen muss oder aufbauen muss.“ Die Qualitäten fließen von selber und ich brauche keine Festung aufzubauen. Das sind ein paar Hinweise, wie wir das ganz konkret mit uns selbst in Beziehung setzen können, sodass die Tschenresi Praxis uns auch transformiert. Und das geht immer nur Situation um Situation. Das geht nicht per se, das geht nicht en bloc, immer ein Detail des Lebens nach dem anderen. Das ist immer auch eine bittere Lehre, die ich ziehen musste, weil en bloc habe ich schon vieles aufgelöst, aber im Detail… [Gelächter] … Dem Verstand war klar, dass alles aufgelöst ist, aber im Detail hapert es dann doch. Und da ist die Praxis. Es ist immer im Detail, immer. Die Herausforderung liegt im Detail, in den kleinen Situationen des Alltags.

Visualisation Ich gehe davon aus, dass ihr den ersten Teil der Visualisation schon voll integriert habt: Im Herzen von Tschenresi über uns ist dieser sechsblättrige Lotus mit den Silben OṀ MA NI PAD ME HŪṀ, die von innen lesbar sind. Vom HRIH geht vielfarbiges Licht aus, trifft die einzelnen Silben und geht von dort aus überall dorthin, wo es diese emotionalen Muster gibt. Jetzt geht es noch einen Tick weiter. Dieses H RIH in der Mitte vom Lotus steht auf einer Mondscheibe. Diese Mondscheibe ist wie so auf den Staubblättern der Lotusblüte, und die Blütenblätter gehen zu den verschiedenen Seiten weg, aber in der Mitte ist die Mondscheibe. Und am Rande der Mondscheibe steht noch einmal das Mantra OṀ MANI PADME HŪṀ. Dieses Mantra ist aber von außen lesbar, und dieses Mal anders herum geschrieben. Es ist weiß, und dieses Mantra bildet einen geschlossenen Kreis um die Silbe H RIH. Das ist wie am Rand einer Münze, einer weißen, leuchtenden Münze; die Randschrift sozusagen, von außen lesbar. Die Mondscheibe ist klein im Verhältnis. Die Höhe der

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Schriftzeichen ist ein Drittel der zentralen Silbe H RIH. Die zentrale Silbe HRIH ist dreimal so hoch wie die Mantrahöhe. Das gilt für alle Vajrajana-Praktiken, die Keimsilbe hat immer die dreifache Größe wie der Mantrakranz. Es ist geschrieben in der Gegen-Uhrzeigerrichtung, von außen lesbar, und wird sich jetzt in Uhrzeigerrichtung drehen. Es wird beginnen zu kreisen. Zuerst steht das Mantra still, und wir beginnen das Mantra zu rezitieren. Mit der zunehmenden Intensität unserer Hingabe beginnt dieses stillstehende Mantra OṀ MANI PADME HŪṀ einen Lichtkranz zu bilden über sich selbst. Es beginnt wie mit Energie zu dampfen und einen Lichtkranz über sich zu bilden. Noch ein Drittel der Höhe wird von diesem Lichtkranz eingenommen. Und dieser Lichtkranz beginnt sich als erstes zu drehen und zieht das Mantra nach sich, und es beginnen Lichtkranz und Mantra sich gemeinsam zu drehen. Es dreht sich im Uhrzeigersinn, weil es gegen den Uhrzeigersinn geschrieben ist. Es ist rechts herum geschrieben und links herum dreht es sich. Das OṀ ist wie die Lokomotive. Da kommt jetzt Dynamik rein, aber ganz schön intensiv. Und dieser Lichtkreis, der sich rechts herum zu drehen beginnt, zieht also das Mantra nach sich und beide drehen sich immer, immer schneller. Bis wir die einzelnen Mantrasilben nicht mehr unterscheiden können. Irgendwann ist nur noch ein Lichtkranz und nicht mehr einzelne Buchstaben erkennbar. Von diesen beiden drehenden Lichtkränzen – Mantrakranz und Lichtkranz, wie die Aura des Mantras obendrüber –, geht Licht zur Silbe OṀ, die da stabil auf dem vorderen Blütenblatt steht, stimuliert das OṀ so wie in der letzten Visualisation, und vom OṀ geht jetzt Licht ins ganze Universum und löst all die damit verbundenen Tendenzen auf – des Stolzes, der Überheblichkeit, des Hochmuts usw. Teilnehmer/-in: Gehen vom OṀ und den anderen Silben wieder Silben aus? Keine Silben diesmal, nur Licht. Da praktizieren wir diese intensive Mantrarezitation voller Hingabe und Mitgefühl, mit der Bitte, dass sich die erwachte Aktivität wirklich vollziehen möge: OṀ – Stolz, MAEifersucht usw. in die Bereiche, und wir machen dieselbe Arbeit auch mit uns. Wir finden immer bei uns die entsprechenden Muster und lassen uns da auch durchwirken von diesem gelösten Gewahrsein. Das ist hier nicht mit dem Gebet der sechs Daseinsbereiche, sondern es findet während der Mantraphase statt, und wir beginnen beim OṀ und gehen dann zum MA und zum NI, also in dieser Reihenfolge. Teilnehmer/-in: Der Mantrakranz ist von Anfang an da? In dem Moment, wo wir daran denken, ist er da. Teilnehmer/-in: Aber von den Silben auf den Blättern strahlt nichts aus? Alles strahlt, du kannst das Licht nie zurückhalten, alles strahlt, aber da im Herzen ist die Hauptaktivität. Immer nur Tschenresi. Tschenresi hat immer seinen Amitabha auf dem Kopf und im Herzen von Tschenresi findet das Ganze statt. Diejenigen von euch, die schon mit der Selbstvisualisation arbeiten, können das im eigenen Herzen sich vorstellen. Teilnehmer/-in: Die Silben außen auf den Blütenblättern bleiben stehen? Ja, und die schauen nach innen, sie sind von innen her lesbar. Teilnehmer/-in: Und die im Mantrakreis innen, sind die beiden Aktionen zeitgleich? Da ist dieser Lotus mit den sechs Blütenblättern, auf denen stehen die Silben OṀ MA NI PAD ME HŪṀ drauf. Und innen drin ist der weiße Mantrakreis, der sich dreht. Von diesem Mantrakranz mit seiner Lichtaura oben drüber geht dann Licht zu diesen Silben auf den Blütenblättern, stimuliert sie und von ihnen geht es dann weiter ins Universum. Diese Silben sind Fokus für unsere emotionalen Muster, die es aufzulösen gilt, und wir stellen uns in den Fokus, d.h. während wir diese Praxis machen, entdecken wir in uns, wo jetzt tatsächlich Stolz, Aversion, Festhalten und Verlangen aktiv sind und all diese Muster, über die wir gesprochen haben. Wir stellen uns in den Scheinwerfer! Teilnehmer/-in: Geht das mit allen Blättern gleichzeitig? Erst einmal nacheinander. Wenn du ganz geübt bist, dann kannst du es auch gleichzeitig machen, aber es ist besser, es nacheinander zu praktizieren. Das ist eine Übung, die Geistesruhe mit Einsichtsmeditation

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verbindet. Je mehr Dynamik da reinkommt, desto intensiver wird unser Loslassen stimuliert. Solch einer Dynamik können wir uns nur öffnen, wenn wir sehr flexibel sind und durchschauen, dass es sich nicht um solide Phänomene handelt, sondern um ein dynamisches Spiel des eigenen Geistes. Dieses dynamische Spiel im eigenen Geist lassen wir zu. Teilnehmer/-in: Und die Farben der Silben, so wie vorhin? Der Mantrakreis dreht sich immer mit seiner weißen Farbe und hat die anderen Farben in sich drin, und dann gehst du vom OṀ – weiß über MA – grün, zu NI – gelb usw. Teilnehmer/-in: Was macht das HRIH dabei? Das HRIH steht in der Mitte und ist für uns zwar der Fokus, aber es wird von der Mantragirlande umkreist und strahlt intensivst zusammen mit der Mantragirlande und steht still; es bewegt sich nicht. Ihr denkt jetzt, das wäre eine immense geistige Gymnastik. Es ist aber so einfach, lasst es einfach zu. Ihr seid alle schon Karussell gefahren in eurem Leben, es ist so einfach! Es ist wie ein sich drehendes Rad, das Licht ausstrahlt. Es ist wirklich das Einfachste von der Welt. Dann geht es aber drum, das mit Qualitäten zu füllen. Das ist die Herausforderung – die Qualitäten der Hingabe und des Mitgefühls zu entwickeln. Wir können am Anfang der Mantrarezititation das Mantra singen und dabei die Kraft der Hingabe entwickeln. Wenn wir in die normale Rezitation des Mantras übergehen, beginnt dieses Lichtausstrahlen in den Farben und das Aktivieren der einzelnen Silben. Da geht ihr dann in euren eigenen Rhythmus. Ihr könnt vielleicht auch ganz still rezitieren. Für einige wird das die Visualisation erleichtern, um gut wahrnehmen zu können, und wenn ihr mehr Energie braucht, könnt ihr wieder lauter rezitieren .

6. Die Erläuterung des Nutzens der Praxis Ich muss noch vorausschicken, wie es zu diesen Erklärungen kam. Es ist immer wieder Erstaunliches mit der Tschenresi-Praxis und mit dem Mantra OṀ MANI PADME HŪṀ passiert. Es ist vorgekommen, dass Menschen, die so krank waren, dass man sie schon aufgegeben hatte, unerklärlicherweise wieder gesund wurden, weil um sie herum die Tschenresi-Praxis gemacht wurde. Oder dass Menschen wieder das Augen licht gefunden haben. Oder es gab Situationen, in denen einzelne Praktizierende nur das Mantra hörten und vom Klang des Mantras so berührt waren, dass ihr Geist in dem Moment so aufging, dass sie eine Erfahrung des Erwachens hatten, also einen Moment non-dualen Gewahrseins. Es gibt hier und dort immer wieder sehr, sehr überraschende Auswirkungen von einem Kontakt mit der Mantrapraxis, und das führt dann zu solchen Aussagen, wie wir sie jetzt im Kommentar finden werden, dass eine einzige Rezitation des Mantras schon Unglaubliches bewirken kann. So, wie wir die Praxis praktizieren, kann man doch einige Millionen davon machen und nicht unbedingt all das erfahren, was da im Kommentar steht. Ich weiß nicht genau, wo wir auf der Bremse stehen, aber ich habe inzwischen so viele Kommentare kennengelernt, dass ich weiß, dass bei jeder Praxis der mögliche Nutzen so angesprochen wird und dass es ungefähr gleich lautet. Also die Bedingungen, die zusammen kommen müssen, sind immer Vertrauen, Hingabe, wirkliche Öffnung, ein Sich-loslassen-Können, ein Sich-Einlassen auf die Praxis, und dann öffnet sich der Geist. Und wenn sich der Geist öffnet, ist alles möglich. Es kann sein, dass unsere körperlichen Energien in eine solche Harmonie kommen, dass körperliche Krankheit geheilt wird. Es kann sein – und es wird so sein –, dass natürlich geistige Fixierungen, Muster sich lösen, und dadurch unglaubliche Veränderung erfahren wird. Wenn wir bedrückt, besorgt waren, kann es sein, dass sich das auflöst oder dass wir wie verjüngt sind und vielleicht um zehn Jahre jünger ausschauen, einfach weil unser Geist sich klärt. Langfristig ist es so, dass wir diese Praxis so anwenden wie jede andere Praxis: Wir praktizieren damit einen Aspekt – Geistesruhe –, wodurch wir unseren Geist sammeln, beruhigen und öffnen, und wir beginnen die Natur geistiger Phänomene zu durchschauen, das ist der Anteil Einsichts-Meditation. Wir beginnen zu verstehen, wie sich Filme bilden, wie wir uns darin verstricken, wie wir uns wieder daraus lösen können. All das gehört zur Einsichts-Meditation. Und wir lernen, natürlich zu verweilen im Sosein, einfach sein. Auch

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das lernen wir mit der Praxis. Das sind die drei Aspekte: Shine, Lhaktong, Mahamudra, von denen wir als Geistesruhe, intuitive Einsicht und natürliches Verweilen, natürliches Sein schon gehört haben. Und das braucht seine Zeit. Wir wandeln uns nicht in einem Tag, sondern brauchen die tägliche Aufmerksamkeit für die vielen Details in unserem Leben, für die vielen Herausforderungen, und da muss das Gewahrsein hineinfließen. Und mit diesen Vorbemerkungen möchte ich euch dieses letzte Kapitel vorlesen. Wenn wir in dieser Weise – so wie erklärt – die Meditation und Rezitation des edlen Avalokiteśvara praktizieren, stellt sich unermesslicher Nutzen ein, doch sei davon hier nur das Wichtigste erläutert. Im Wurzeltantra – zur Tschenresi-Praxis, mit dem Namen – „Lotusnetz“ … … folgendermaßen beschrieben: „Das eine Körper-Mandala, … … unmittelbarer Wirkung.“ Mit Körper-Mandala ist die Lichtgestalt von Tschenresi gemeint, man nennt sie das Körper-Mandala. Diese Aussage kann sich auf eine der verschiedenen Tschenresi-Praktiken beziehen, die es gibt. Es gibt ja eine große Anzahl verschiedener Praktiken, und sie alle sind hiermit gemeint. Wenn wir so auf das KörperMandala meditieren, schwingen darin all die erwachten Qualitäten mit. Wir meditieren zwar z.B. auf die vier Arme, sind aber gleichzeitig in einer Kontemplation von Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut, den vier unermesslichen Qualitäten. Das ist nicht etwa so zu verstehen, dass die Meditation auf das LichtkörperMandala eine Meditation auf körperliche Merkmale wäre. Es ist eine Meditation, in der unsere geistigen Qualitäten angeregt werden, unsere tiefsten, ureigensten Qualitäten werden angeregt. Dann ist völlig klar, dass, was auch immer wir in diesem oder früheren Leben angestellt haben, in diesem Bewusstsein auftauchen kann und in Lösung kommt; dass, auch wenn wir in diesem Leben Menschen umgebracht haben, auch das sich völlig reinigen wird. Das ist völlig fraglos. Die Auswirkung davon kann man noch in diesem Leben sehen. Man braucht nicht bis nach dem Tod zu warten, dass jemand innerlich völlig frei werden kann von der Belastung durch diese Handlung. Es braucht einen gewissen Prozess, aber es gilt auch für alle anderen Handlungen, für alles, was wir an Schädlichem uns selbst und anderen angetan haben. Die Spuren davon können sich auflösen. Nicht die Erinnerung, die Erinnerung wird bleiben, aber die emotionale Belastung bleibt nicht. Das ist kein Hokuspokus. Das, was hier steht, ist etwas ganz Natürliches für alle mit wirklicher Hingabe und wirklichem Gewahrsein ausgeführten Praktiken. Die haben diese Wirkung, aber sie müssen natürlich in Anwendung gebracht werden, auch die Thematik darf nicht einfach verdrängt werden. Sie muss im Geist aufsteigen können, es kann sich etwas nur reinigen, wenn es im Geist aufsteigt, wenn es bewusst wird. Den Nutzen der Rezitation der sechs Silben, des Königs der geheimen Mantras – Auch diesen Titel findet man für andere Mantras, also nehmt das nicht zu wörtlich. Wir sind in einer ganz guten PublicityVorstellung hier. – der makellosen Rede des siegreichen, vollkommenen Buddhas Śakyamuni, hat der große Lehrer Padmasambhava (der „Lotusgeborene“) – auch als Guru Rinpoche bekannt – in seiner Abschiedsrede an die Einwohner Tibets erläutert. Ihr kennt die Geschichte Tibets vielleicht nicht so gut: Da waren von König Drisong Detsen zwei Lehrer eingeladen worden, um in Tibet den Dharma zu verbreiten. Drisong Detsen war damals König und wollte eine Lehre in Tibet etablieren, die Frieden ins Land bringt und den Menschen dort wirklich hilft. Er lud die beiden berühmten Meister Śantarakśita und Kamalaśila zu sich ein und bat sie, zunächst einmal ihn selbst und seine Minister am Hof zu unterrichten. Er machte den Unterricht auch öffentlich für alle, die teilnehmen wollten. Aber es gab ganz viel Probleme. Die beiden Meister haben in der Verbreitung des Dharma so viele Probleme erlebt, dass sie dachten: „Wir kommen da alleine nicht durch.“ Es gab Erdrutsche, es gab verdorbene Ernten, es gab Widerstände im Volk, es war ein richtiger Aufruhr – überall. „Wir brauchen Verstärkung, um das Heilsame hier wirklich leben zu können, und da gibt es nur einen der uns helfen kann, das ist Padmasambhava, Guru Rinpoche genannt. Der soll doch bitte aus Indien eingeladen werden.“ Guru Rinpoche kam dann tatsächlich als dritter Meister, und mit seiner Präsenz, mit seiner starken Meditation befriedeten sich die Kräfte, und es wurde möglich, in Harmonie den Dharma zu unterrichten. Und die Hauptpraxis, die Guru Rinpoche gelehrt hat, war OṀ MANI PADME HŪṀ, die Praxis auf Avalokiteśvara. Er hat viele Dinge gelehrt, aber dies war die Hauptpraxis. Und sein Gefühl war, dass das die

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zentrale Herzenspraxis für das ganze Land, für alle Tibeter war. Guru Rinpoche ist aber nicht in Tibet geblieben. Er hatte seine Aufgabe – schwer die Jahre zu schätzen – nach zwanzig, dreißig Jahren erfüllt, und es kam dann zu einer Abschiedsrede, aus der hier zitiert wird. Allerdings hat Guru Rinpoche, wie die Legende sagt, nicht den Weg zu Fuß genommen, sondern ist auf einem Lichtstrahl davon. – Das geht schneller, wenn man über den Himalaya muss. – Es heißt, dass er schon in der Luft war, als er diese Rede gehalten hat. Also: Wir finden sie im „Dharma-Schatz“ des bewusst inkarnierten, unbestreitbar großen Schatzauffinders und Weisheitshalters Djatsön Nyingpo – ein großer Tertön, der das aufgeschrieben hat –, wo es heißt: „Die Sechs Silben OṀ MANI PADME HŪṀ sind … … Geisteshaltung aller Buddhas. Das Bedeutung des tibetischen Wortes gongpa wird mit dem Wort Geisteshaltung nur ungenügend wiedergegeben. Gemeint ist, dass die sechs Silben Ausdruck der Motivation, des Herzensanliegens, der essentiellen Meditation aller Buddhas sind. Das Wort gongpa hat eine ganz, ganz große, eine sehr umfassende Bedeutung, die mit dem Wort ‚Geisteshaltung‘ nur unzureichend wiedergegeben werden kann. Guru Rinpoche sagt hier soviel wie: Es ist die Essenz des Herzensanliegens und der Herzenspraxis aller Buddhas. Die einzelnen sechs Silben enthalten … … des Geheimen [Mantra-Weges]. Jede dieser sechs Silben steht für eine der befreienden Qualitäten, für eine der sechs Paramitas, und damit ist der ganze Weg des Erwachens beschrieben. Und diese Silben stehen für die verschiedenen Facetten des zeitlosen Gewahrseins, die den fünf Buddha-Familien entsprechen. Auch die sind voll enthalten in den Silben. Und deswegen bezieht sich diese Aussage ganz konkret auf die sechs Silben mit den Paramitas und den verschiedenen Aspekten des erwachten Gewahrseins, die durch die Buddha-Familien dargestellt werden. Und man kann mit einer Praxis alle Paramitas praktizieren und die Verwirklichung aller fünf BuddhaFamilien vollziehen – oder sechs, wenn ihr wollt. Ihr erinnert euch, der sechste obendrauf ist Vajradhara. Sie sind die Quelle von Glück, Wohlergehen, … … höherer Wiedergeburt und Befreiung. Das ist so, auch in meiner Wahrnehmung ist das so. Nur dürfen wir nicht denken, sie sind die einzige Wurzel, die einzige Möglichkeit um Befreiung zu finden, sondern sie haben in sich die Kraft, alle diese Qualitäten in uns freizusetzten, wenn wir es mit dem entsprechenden Verständnis praktizieren. Diese Sechs Silben, die höchste Rede – erwachte Rede –, die Essenz allen Dharmas, auch nur ein einziges Mal zu hören, bedeutet – kann bedeuten –, die Stufe zu erlangen, von der man nicht mehr zurückfallen kann… Das ist der Stromeintritt, der Eintritt in die Schau des Geistes, die dann so stabil ist, dass man nicht mehr zurückfällt in ein Leben völliger Verstrickung. Es ist einigen Praktizierenden passiert, dass sie mit einem einzigen Mal des Hörens dieses Mantras so tief berührt wurden, dass sie diese Erfahrung des Erwachens gemacht haben. – Aber es passiert nicht jedem. Wir haben es jetzt versucht, haben das Mantra ein paar Mal gehört, sogar gesprochen und irgendwie… also ein bisschen erwacht sind wir schon, so ein klein bisschen. … und ein Meister zu werden, der die Lebewesen befreit. … … Schneebergen aufgeht. Es bringt Helligkeit und Leichtigkeit in unseren Geist, so wie wenn die Sonne aufgeht. Es reinigt von allen nicht heilsamen Tendenzen … … Buddhas und Bodhisattvas. Khenpo Tschödrag hat uns erklärt, dass mit dem Berühren des Mantras hier gemeint ist, dass man die VasenErmächtigung erhält, wo man die Vase auf den Kopf gesetzt bekommt und auch etwas aus der Vase trinkt. Gendün Rinpoche erklärte uns, dass dieses Mantra manchmal am Herzen getragen wurde – in einem kleinen Gao an einem Kettchen um den Hals herum. Praktizierende, die das Mantra OṀ MANI PADME HŪṀ praktizierten, wurden in Tibet Manipas genannt. Sie trugen das Mantra aufgeschrieben am Herzen, und manchmal haben sie dieses Mantra jemandem in die Hand gegeben und sahen da solche Wirkungen, wie sie hier beschrieben werden; dass der Geist sich durch dieses tatsächliche Berühren des Mantras so öffnen konnte, also ein sprichwörtliches Berühren.

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Es auch nur ein einziges Mal zu meditieren, ersetzt die drei Übungen des Hörens, Kontemplierens und Meditierens: Die drei Übungen oder drei Schulungen des buddhistischen Praxisweges sind: Hören – manchmal auch Studieren genannt –, Kontemplieren – manchmal auch tiefes Bedenken genannt – und Meditieren, das nichtbegriffliche Verweilen. Tatsächlich könnt ihr, speziell nachdem ihr die Erklärungen erhalten habt, wenn ihr das Mantra OṀ MANI PADME HŪṀ hört, begrifflich in eurem Dharma-Verständnis aktiviert sein – „Ja, die sechs Paramitas“ oder „Das Auflösen der emotionalen Verstrickungen“ –, und es kann ein Kontemplieren auslösen. Es kann ein Bemerken sein, wo die Verstrickungen gerade aktiv sind, was ihre wahre Natur ist, und ein Hinübergleiten in ein nicht-begriffliches Meditieren bewirken. OṀ MANI PADME HŪṀ kann den Geist direkt aus dem Verständnis, aus der persönlichen Erfahrung heraus, in ein viel weiteres Sein öffnen. Es kann mit einem einzigen Mal oder ein paar Mantras ausgelöst werden, dass Hören, Meditieren und Kontemplieren wie zu einem verschmelzen und die volle Wirkung erzeugen. Und wer dieses Mantra in der Tiefe versteht – und das ist das Anliegen dieses Kurses –, hat damit die Essenz des Dharma verstanden, kontempliert die Essenz des Dharma mit dieser Praxis, und wird eins mit der Essenz des Dharma, dem natürlichen Sein. Diese Möglichkeit besteht. Es ist eine Praxis, die unglaublich einfach, aber gleichzeitig komplett ist. Sie hat sich in Tibet durchgesetzt als die Praxis der einfachen Menschen, weil alles in ihr enthalten ist. Alle Unterweisungen konnten darin vereinigt werden, und deswegen könnte es auch für uns eine gute Praxis sein. Wir sind zum Teil zwar recht studiert und haben viel gelernt, haben aber wenig Zeit und kennen uns vor allen Dingen mit all diesen Unterweisungen sehr wenig aus. Wir sind ja schließlich nicht in dieser Kultur groß geworden. Wir brauchen etwas Einfaches, das wir leicht praktizieren können in der knappen Zeit, die viele von uns haben. Also: Es auch nur ein einziges Mal zu meditieren, kann die drei Übungen des Hörens, Kontemplierens und Meditierens ersetzen. Erscheinungen – alles, was wir erleben – … … zum Wohle der Lebewesen ist geöffnet. Wir können in diesem Tschenresi-Bewusstsein aktiv werden zum Wohl der Lebewesen. Und dann springt der 15. Karmapa in seinem Zitat von Guru Rinpoche an eine andere Stelle in derselben Rede, wo Guru Rinpoche sagt: Hört, Söhne und Töchter aus edler Familie! – Mit edler Familie sind Bodhisattvas gemeint. Hier ist gemeint, dass wir alle in der edlen Motivation gegründet sind, für alle Lebewesen zu praktizieren, dieses große Wir, da gehören wir zur edlen Familie von denen, die sich im Wir bewegen, nicht nur im Ich; ich und meine kleine Familie. Es ist die edle Familie der Bodhisattvas. Es ist möglich, das Gewicht … … der Sechs Silben zu erschöpfen. Es ist möglich, die Staubteilchen im Land des Schnees – Tibet war ein sehr staubiges Land – oder die einzelnen Blätter an den Obstbäumen … … Rezitation der Sechs Silben zu ermessen. Ebenso … … der positiven Kraft einer einzigen Rezitation der Sechs Silben zu ermessen. Wie ist das zu verstehen? Ist euch aufgefallen, dass mit zweierlei Maß gemessen wird? Die Beispiele, die gegeben werden, sind alle aus dem sogenannten konkreten Lebensbereich. Da geht es um Staubteilchen, Blätter und Sesamsamen, Regentropfen und das Abtragen eines Felsens. Das ist alles in dem Bereich, wo Ursache und Wirkung ganz konkret nachprüfbar sind. Stückchen für Stückchen kann man das schier Unmögliche vielleicht hinkriegen. Auf der anderen Seite das Ermessen der Auswirkung der Rezitation eines einzigen Mantras mit sechs Silben. Das ist was Dynamisches. Wenn diese eine Rezitation der sechs Silben den Geist von jemandem in dieses offene Gewahrsein hinein öffnet, dann verwandelt das diesen Menschen. Es verwandelt all sein Handeln, sein Sprechen und alle Begegnungen mit allen Menschen und Lebewesen, die von da ab noch stattfinden können. Das wiederum führt dazu, dass alle, mit denen diese Personen in Kontakt treten, ebenfalls Wandlung erfahren und sich wiederum anders verhalten mit anderen Lebewesen. Es kommt ein Schneeballeffekt in Gang, und im Geist dieser Person purzeln auch aufgrund dieses ersten Males, wo diese Pforte des Erkennens aufging, die Erkenntnisse. Es wird eine Kaskade des Verstehens ausgelöst, die den ganzen Dharma verstehen lässt, denn der eine entscheidende Schritt ist passiert.

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Und da werden also verschiedene Formen der Dynamik in Gang gesetzt im eigenen Geist und bei anderen in unserer Umwelt, wo es sich nicht ermessen lässt, was die möglichen Auswirkungen einer einzigen solchen Rezitation des Mantras sind. Man darf das natürlich nicht beziehen auf die Rezitation eines Mantras, die achtlos oder halb anwesend oder einfach aus Routine geschieht, sondern es geht um eine Rezitation, die tatsächlich transformierend wirkt. Transformation ist etwas Dynamisches und kennt eigentlich keine Grenzen, weil sie alles Folgende beeinflusst. Wir werden durch diese Beispiele aus dem Materiellen herausgeführt: Du kannst so viel Geld haben, du kannst es zählen; du kannst Sesamsamen aus dem Lager holen; du kannst versuchen, den Ozean zu leeren … All das ist im Materiellen vielleicht noch machbar. Aber wenn du meinst, du könntest irgendwie einschätzen, was für eine Dynamik losgetreten wird, wenn du dich wirklich auf die Praxis einlässt, dann irrst du dich. Diese Dynamik, der Nutzen, der dadurch entsteht, ist nicht kalkulierbar, lässt sich nicht wirklich ermessen. Versteht ihr die innere Logik dessen, was Guru Rinpoche da anspricht? Hört ihr Söhne und Töchter … … zu ermessen, der einmal die Sechs Silben rezitiert. Auch da verbirgt sich wieder ein Quantensprung. In Verehren und Dienen kommt nicht zum Ausdruck, dass diese Person, die verehrt und dient, tatsächlich zu einem Verständnis, einer inneren Transformation gelangt. Da entsteht sehr viel Gutes, sehr viel Heilsames, aber es ist nicht gesagt, dass es zu einem Prozess des Erkennens kommt. Und wenn es irgendwo zu einem Prozess des Erkennens, des tiefen Verstehens, einer tiefen Öffnung in dieses non-duale Bewusstseins kommt, dann übersteigt das alles Verehren und Dienen und Opfern, was man sonst noch so an positiven Handlungen ausführen kann. Das ist der versteckte Quanten sprung in diesem Beispiel. Das Mantra versperrt die Tore … … der drei Körper (kaya) des Erwachens. Wie das geht, haben wir uns die letzten Tage angeschaut. Es geht dadurch, dass wir das, was an Schleiern, an emotionaler Verstrickung usw. da ist, zulassen und gleichzeitig in dieses fließende Gewahrsein, in dieses Tschenresi-Gewahrsein gehen; es total annehmen, was ist, und auflösen lassen, sich lösen lassen – aber im Annehmen und Durchdringen mit Gewahrsein. Hört gut zu ihr Söhne und Töchter aus edler Familie! … … Rezitiert diese Sechs Silben! Und damit ist Guru Rinpoche auf dem Lichtstrahl davongeritten. Das hat eine sehr starke Wirkung in Tibet hinterlassen, denn er hat das verkörpert – viele andere Meister haben das auch verkörpert. Und Karmapa, der diesen Kommentar geschrieben hat, musste alle sechs Monate seine Mala erneuern, weil er sie abgewetzt hatte – die Perlen, alles –, und zwar mit OṀ MANI PADME HŪṀ, das war seine Hauptpraxis. Das sind Praktizierende, die sich wirklich auf diese Praxis eingelassen haben. Im Liniengebet zu Anfang der Tschenresi-Praxis werden all diese Namen aufgezählt. Ein jeder dieser Meister hat Tschenresi verwirklicht und hat die Einheit von Mahamudra und Tschenresi-Praxis gelehrt. Ein jeder ist Teil dieser Übertragungs linie. Teilnehmer/-in: Wenn ich das, was wir jetzt gelesen haben, in der Praxis alleine gelesen hätte, hätte ich es nicht ernst genommen. Ich hab gemerkt, es braucht Autorität, der man das abnehmen kann, sonst wirkt das nicht. Ich hab gemerkt, es hat eine Wirkung gehabt, weil ich den Geist darin gespürt habe von jemandem, der das aus einer anderen Quelle heraus schreiben kann. Das war eine ganz tolle Erfahrung für mich. Genauso ist es uns ergangen, als Gendün Rinpoche uns diese Praxis erklärt hat. Er stand einfach voll dahinter. Wie viele Millionen Manis er gemacht hat… Er ließ die Mala immer, wenn er Zeit hatte, durch seine Finger gleiten. Er war immer dabei, diese Praxis zu machen. Wenn man sie nicht mehr für sich selber macht, dann macht man sie für alle anderen. Es ist ein Geschenk an das Universum, eine Schwingung, an der wir uns beteiligen, die wir durch uns wirken lassen, so kann man das vielleicht sagen. Und diese Meister haben das immer gemacht, und sie machen das auch heute noch. Ihr kennt vielleicht Sherab Gyaltsen Rinpoche. Er ist von all den Meistern, die jetzt noch leben, die Verkörperung der Tschenresi-Praxis. Eine Ermächtigung bei ihm zu nehmen, das wäre super. Da habt ihr jemanden, der das richtig verkörpert. Aber die

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anderen natürlich auch, das ist die zentrale Praxis, das, was die meisten Meister, tibetischen Lehrer praktizieren, sobald sie Zeit haben und nicht in einer anderen formellen Praxis sind. Auch der Dalai Lama nennt das seine Hauptpraxis. Teilnehmer/-in: In der Sadhana, die wir machen, kommt ein Teil mit Gendün Rinpoche vor. Ist das die Anrufung des Lehrers? Genau, das ist die Anrufung dieses Lehrers aus Dankbarkeit dafür, dass er diese Praxis nach Tibet gebracht hat. Padmasambhava bedeutet: sambhava – geboren, padma – Lotus. Er ist also der Lotusgeborene. Das ist der Sanskrit-Name. Guru Rinpoche heißt einfach „der kostbare Lehrer“, „der juwelengleiche Lehrer“, so haben die Tibeter ihn genannt. Ausführliche Beschreibungen dieser Art … … menschliche Existenz sinnvoll zu nutzen. Der Karmapa beschließt den Kommentar mit folgenden Sätzen: „Mögen die Lebewesen mit dem Seil des Mitgefühls … … zu schöpfen!“ Berg Potala – Ihr kennt den Potala Palast vom Dalai Lama in Lhasa. Der ist nach dem Berg Potala im reinen Land Dewachen benannt. Die Hauptpraxis der Dalai Lamas war Tschenresi, und deswegen haben sie ihren Sitz in Lhasa Potala genannt, in Anlehnung an die Tschenresi-Praxis. Und dann beschreibt der 15. Karmapa noch, wie es zu diesem Text kam: Lange Zeit verging, … … einen Text wie diesen zu schreiben. – Also ein Text wie dieser hier war eine einfache Einführung in die Tschenresi-Praxis. – Wiederholt und aufrichtig baten sie mich immer wieder darum und ließen mir keine andere Wahl. So schrieb ich dann etwas leicht Verständliches für jemanden wie mich, einem alten Haushälter – Dieser Karmapa war der Einzige, der kein Mönch war, deswegen nennt er sich einen alten Haushälter. – mit schwachem Verstand. Es stammt aus den Klauen des kränkelnden alten Lödro Sidji – Das ist er selber –, dem Bettler, der vorgibt den Dharma zu folgen, auch Khakyab Dorje genannt, dem Namen nach ein gelehrter Bodhisattva in dieser schlechten Zeit. Möge alles Heilsame und Gute zunehmen! Damit sind wir am Ende des Kommentars angekommen. Es folgt die rituelle Lesung des Kommentars.

Lung – Übertragung durch Lesen Die Tradition des Lungs hat angefangen zu Lebzeiten des Buddha. Er hat unterwegs auf seinen Gängen in die Dörfer jeweils spontane Antworten gegeben auf die Fragen, die ihm gestellt wurden. Manchmal wurde er zum Mittagessen eingeladen und zum Abschluss der Mahlzeit hat er Unterweisungen gegeben. Das waren die klassischen Situationen. Und manchmal wurde er auch in der Sangha um etwas gefragt. In der Sangha war es Sitte, dass die älteren Mönche – später war es oft Ananda, aber zu Anfang Śariputra, Maha Maud galyana – den anderen, die nicht bei dieser Gelegenheit dabei waren, Wort für Wort die Unterweisungen des Buddha wiederholt haben. Sie hatten ein außerordentliches, perfektes Gedächtnis. Das ist der Beginn von Lungs, dass das, was der Buddha ausgedrückt hatte, von seinen Schülern im Bewusstsein der Bedeutung weitergegeben wurde. Als später die Texte aufgeschrieben wurden, hat das mündliche Weitergeben nicht aufgehört. Und wenn jemand, wie der 15. Karmapa, so einen kleinen Text verfasst hat, dann haben ihn seine Schüler um den Lung gebeten. „Gib uns nicht nur das Papier, sondern lies uns doch bitte selber den Text vor!“ Dieses gehörte Wort ging dann von Schüler zu Schüler. Sie haben das Generation um Generation fortgesetzt. Gendün Rinpoche hat uns ebenfalls diesen Text vorgelesen und uns nicht nur das Papier gegeben. Dieses Vorlesen ist eine bewusste Handlung, wo der Vorlesende denjenigen, die zuhören, sagt: „Und jetzt, bitte studiert den Text! Bitte nutzt ihn, und wenn es einmal so sein soll, dass jemand euch nach dem Lung fragt, und ihr seid die einzigen, die ihn geben können, dann gebt ihn weiter, dass diese mündliche Übertragung weitergeht.“

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Es gab in Tibet Zeiten, in denen es sehr schwierig war, die Lungs für diese Texte zu bekommen. Da sind Situationen entstanden, wo z.B. der berühmte Jamgön Kongtrul Lodrö Thaye, der mit Freunden dabei war, all die Schätze Tibets zu sammeln, Situationen erlebte, wo für manche Übertragungen nur noch eine einzige Person zu finden war, die den Lung selber erhalten hatte. Und es konnte passieren, dass diese Person blind war oder Analphabet. In einem Fall war es eine Analphabetin. Sie haben ihr den Text vorgelesen, sie hat den Text wiederholt und ihnen im Wiederholen des Textes den Lung gegeben. Dann konnten sie den Lung an ihre Schüler weitergeben. So wichtig war ihnen das. In der Tradition des südlichen Buddhismus (Theravada) ist diese mündliche Übertragung auch so wichtig. Anfang der 50er-Jahre hat eine Korrektur des Pali-Kanons stattgefunden, an der alle fünf großen Schulen beteiligt waren, die es in der klösterlichen Tradition in der Theravada-Schule gibt: Sri Lanka, Burma, Thailand, Laos usw. Sie haben gemeinsam den gesamten Pali-Kanon auswendig rezitiert und anhand der mündlichen Überlieferung den schriftlichen Pali-Kanon korrigiert. All die Lehrreden Buddhas wurden so noch einmal in einem dreijährigen Konzil durchkorrigiert. In der buddhistischen Tradition dominiert also die mündliche Übertragung die schriftliche. Leider ist uns dieses exakte Gedächtnis verloren gegangen. Deswegen könnte ich in diesem Lung nicht einmal einen Satz auswändig rezitieren und stütze mich auf den Text. Teilnehmer/-in: Also hat sich Ananda alles behalten und dann wieder weitergegeben. Genau! Und zwar immer noch am selben Tag, sodass die anderen das dann auch auswendig konnten, aber nach dem Tod des Buddha wurden alle Lehrreden wieder aufgesagt und von den anwesenden fünfhundert Ältesten bestätigt, korrigiert, und dann weitergetragen in ihren Sanghas. Die waren dafür zuständig, dass regelmäßig die Lehrreden des Buddha in den verschiedenen Sanghas rezitiert wurden. In den nachfolgenden Jahrhunderten haben sie es so gemacht, dass sich verschiedene Sanghas spezialisiert haben auf bestimmte Bereiche der Lehrreden des Buddha und für diese zuständig waren, dass es dort eine unverfälschte mündliche Übertragung gab, und die war die Referenz für die authentischen Worte des Buddha. Ungefähr 70 v. Chr. hat man begonnen, die Lehrreden aufzuschreiben. Die ältesten Texte haben dieses Alter. 70 - 40 v. Chr. hat man die ersten Texte aufgeschrieben, auf Palmblättern.

Die Praxis der sechs Paramitas mit OṀ MANI PADME HŪṀ Es heißt ja, wenn wir das Mantra OṀ MANI PADME HŪṀ rezitieren, dass wir dann den kompletten Weg zum Erwachen praktizieren, mit allen sechs Paramitas. Dieser Ausdruck Paramitas ist vielleicht nicht allen so ganz geläufig: „ita“ heißt hinübergehen oder überqueren. Das, was uns hilft, den Ozean des Leidens zu überqueren und ans andere Ufer zu gehen. „Ans andere Ufer gehen“ ist auch eine Übersetzung für Paramita. Diese befreienden Qualitäten sind: Freigiebigkeit, heilsames Verhalten, Geduld, freudige Ausdauer, meditative Stabilität und Weisheit. Die führen uns ans andere Ufer, ins Erwachen. Diese sechs sind wie die sechs Hauptstämme eines Baumes. Und aus diesen sechs Hauptstämmen wachsen ganz viele andere Qualitäten heraus, alle anderen erwachten Qualitäten. Sie haben also einen gemeinsamen Stamm, und die gemein same Wurzel all dieser Qualitäten ist das Mitgefühl. Liebe und Mitgefühl sind eigentlich eins, sie sind nicht zwei verschiedene Qualitäten, sondern: Liebe ist, wenn sich unsere Herzenswärme, unsere Güte in Beziehung setzt zum Glück der Lebewesen, und Mitgefühl ist, wenn sich unsere Herzenswärme zu dem Leid anderer in Beziehung setzt und ihnen wünscht, dass sie frei sind von Leid, dass es ihnen besser gehen möge. Es ist eigentlich dieselbe grundlegende Qualität, und das ist der Stamm, aus dem die sechs Paramitas entstehen, und die sind wiederum wie große Äste, aus denen sich ganz viele andere Qualitäten zeigen. Teilnehmer/-in: Liebe und Mitgefühl als eine Qualität? Genau, als eine Qualität. Die Liebe setzt sich in Bezug zum Glück und zur Freude der Lebewesen, von uns allen, und Mitgefühl setzt sich in Beziehung zum Leid. Auflösung des Leidens und Verwirklichung des Glücks. Das ist die gemeinsame Wurzel. Das beantwortet damit auch eure Frage, warum denn Liebe und Mitgefühl nicht extra als befreiende Qualitäten aufgezählt werden: Weil sie ihre Quelle sind.

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Während wir OṀ MANI PADME HŪṀ praktizieren, könnten wir uns einfach als Zusammenfassung daran erinnern, die sechs Qualitäten zu praktizieren, während wir das Mantra rezitieren und die Visualisationen ausführen. 1. Freigebigkeit Wenn wir OṀ MANI PADME HŪṀ praktizieren: Warmes Herz ist klar, das ist Herzensenergie. Und wenn ich das mit Freigiebigkeit verbinde, OṀ MANI PADME HŪṀ zum Ausdruck von Freigiebigkeit wird, was bedeutet das? Es ist ein Geschenk. Ich praktiziere OṀ MANI PADME HŪṀ als ein Geschenk an mich selbst und an alle anderen, ans Universum. Wir erhalten das Geschenk, dass diese Schwingung freigesetzt wird, dass wir in diese Herzensbewegung gehen. OṀ MANI PADME HŪṀ ist eine unglaubliche Praxis von Freigiebigkeit. Und manche tibetischen Lehrer würden das als Allererstes sagen: OṀ MANI PADME HŪṀ, das ist ein Geschenk an alle Lebewesen. Da braucht man auch nicht mit zu sparen. Soviel wie möglich, so oft wie möglich dieses Geschenk machen; kann nur gut sein. Geschenk bedeutet Geschenk aus meinem Herzen, dass ich mir die Zeit nehme und Zeit schenke, die Energie gebe, meine Aufrichtigkeit schenke, meine klare Bewusstheit schenke. Das ist ja alles Teil des Geschenkes, das ist ja nicht nur einfach ein Mantra, sondern das ist ja der jetzige Moment. Den jetzigen Moment meines Lebens schenke ich dem Wohle von uns allen, dem großen Wir. OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ. Es gibt Menschen, die sich entschlossen haben, ihr ganzes Leben auf diese Art zu schenken. Es ist wunderbar, solchen Menschen zu begegnen. Das sind oft so verschrumpelte tibetische Mütterchen, Väterchen, und die haben nichts anderes getan, nichts anders gelernt als Praxis zu machen und die Gebetsmühle kreisen zu lassen – mit der einen Hand die Gebetsmühle und mit der andern Hand die Mala, damit keine der beiden Hände unbeschäftigt bleibt. OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ… Das ist Freigiebigkeit, das ist das Geschenk erleuchteter Rede, erleuchteter Kommunikation, des wachen Bewusstseins, eines warmen Herzens, des Annehmens – das Geschenk anzunehmen, sich mit allen verbunden zu fühlen, nicht in die Trennung zu gehen. Das sind Geschenke, die wir machen, das Mantra in die Welt zu schicken. 2. Heilsames Verhalten Das zweite Paramita – śila in Sanskrit – wird oft auch mit Disziplin übersetzt, aber bei Disziplin denken wir, dass man regelmäßig seine Sitzungen ausführt usw. Aber das hat nichts damit zu tun. Heilsames Verhalten ist viel besser. Es gibt drei Arten heilsamen Verhaltens:   

Heilsames Verhalten des Unterlassens von schädlichen Handlungen Heilsames Verhalten, das mir selber gut tut und mich zum Erwachen führt. Heilsames Verhalten, das anderen gut tut.

Oder umgekehrt, erst das heilsame Verhalten, das anderen gut tut und dann das heilsame Verhalten im Praktizieren des Dharma – das, was zum eigenen Erwachen führt. Da sind wir voll dabei: Während wir OṀ MANI PADME HŪṀ rezitieren, können wir nichts Schlechtes tun. Wir sind dabei, Heilsames zu tun, schädliche Rede hat keinen Platz. Da wir in der Herzensöffnung, in der Visualisation, in der Schwingung von Tschenresi sind, können wir auf keine schlechten Gedanken kommen. Teilnehmer/-in: Naja! Weil du abgelenkt bist! Die Ablenkung zählt nicht als Praxis. – Kommt halt vor, aber du findest wieder zurück. In dem Moment, wo du zurückfindest, ist es vorbei. Das schaffen Tibeter auch. Die sagen mal was Freches oder gar Dummes und schon wieder: OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ … Das heilsame Verhalten mir selbst gegenüber ist klar: Ich öffne meinen Geist, mein Herz. Ich bin in der Geistesschulung, in der Herzens-Schulung, und es tut gut. Und zugleich manifestiere ich etwas Heilsames für andere, während ich so innig mit der Praxis von Tschenresi beschäftigt bin. Das ist ein gutes Vorbild für andere, eine heilsame Präsenz für andere. Man braucht ja nicht die Mala zu drehen, man kann es einfach nur innerlich machen, und jemand geht vorbei und ohne dass sie wissen, was wir innerlich machen, sehen sie jemanden ganz entspannt, gelöst dasitzen und liebevoll schauen – wie so eine entspannte Großmutter, die

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den Kindern zuschaut. Versteht ihr diese innere Haltung? Es ist so selten, im Zug jemanden zu sehen, der einfach so dasitzt. Ich fahre oft mit dem Zug als jemand, der entspannt da sitzt, einen offenen Blick für alle hat, der gar nichts braucht, aber bereit ist, angesprochen zu werden. Und das tun wir mit Mantra-Praxis, mit der Visualisation, mit unserer Selbst-Visualisation. Wir gehen in etwas ganz Heilsames hinein und das hat Auswirkung auf uns herum. 3. Geduld Geduld braucht‘s auch. Geduld hat auch drei Aspekte: 

Geduld mit etwas, das ein bisschen weh tut; Geduld mit Schädlichem, das andere uns zufügen.

Das ist, geduldig zu sein, wenn wir mit unseren Gefühlen praktizieren, mit den schwierigen Dingen in unserem Leben, mit unseren Problemen: „Ja, es braucht Geduld, OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ … Das ist da, und das darf sein. OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ …“ Das Leben ist nicht einfach, und wir werden es uns auch nicht einreden, dass es einfach ist. Aber wir können geduldig sein. Wir brauchen Geduld, um unsere schwierigen Bedingungn tief anzunehmen. Wir nehmen sie an, OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ … „Oh, die Hüfte schmerzt, OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ …Oh, ja, ich werde alt, OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ … Ja, ja, Geld hab ich auch keines, OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ … Es regnet auch schon wieder. Sie sagen zwar immer, es wird wärmer und wärmer, aber es ist trotzdem ziemlich kalt, OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ … Ja, Geduld…“ Das ist die erste Form von Geduld. 

Geduld im Praktizieren des Dharma

Es braucht Geduld, die Praxis zu lernen, dabei zu bleiben. Ich nehme mir die Zeit und bin geduldig. Ich habe ungeduldige Impulse, würde gerne einmal was anderes machen und dieses und jenes – meine Geschäftigkeit bricht manchmal durch. Geduld: OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ … Und dann die Geduld im Praktizieren des Dharma für andere. Auch mit dem Praktizieren von OṀ MANI PADME HŪṀ, ohne unbedingt die Mala in der Hand zu haben. Aber geduldig sein mit dem, was es braucht, um den Dharma in dieser Welt zu manifestieren für andere, z.B. wenn uns Gedanken über die ZentrumsAktivität kommen. Zentrums-Aktivität ist ja immer gut für ein Gedanken-Feuerwerk, die kann einem ja einiges an Sorgen machen. Und dann Geduld: OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ … Alles, was es braucht, dieses OṀ MANI PADME HŪṀ ist eine fantastische Geduldspraxis. 

Dann kommt noch eine besondere Art der Geduld, die Geduld im Erforschen des Geistes.

Geduld damit, was so schwer auszuhalten ist, mit den Unsicherheiten, denen wir begegnen, wenn wir in Richtung Natur des Geistes gehen, dieses Nicht-Fassbaren. Wo es dann plötzlich in uns auch so ein bisschen erschreckt, weil wir eigentlich dabei sind, loszulassen, die Kontrolle aufzugeben. – Wir geben mit OṀ MANI PADME HŪṀ ja auch Kontrolle auf. Wir lassen los, wir lassen Tschenresi einziehen, und dann kommen wir in Bereiche, die uns ein bisschen Angst machen, die unangenehm sind. Wir wissen nicht genau, wo es weiter geht, und das ist eine spezielle Form von Geduld, die es da braucht: Geduld mit dem schwer auszuhaltenden Sosein. Das Sosein ist uns nicht vertraut und braucht eine spezielle Geduld, OṀ MANI PADME HŪṀ … Verflixt nochmal, wer bin ich eigentlich, wenn ich OṀ MANI PADME HŪṀ rezitiere? Ich bau mir ja keine neue Identität auf. Wer bin ich? OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ … Das Leben geht vorbei, und ich rezitiere bloß OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ … Wer bin ich eigentlich, wenn ich bloß OṀ MANI PADME HŪṀ rezitiere? – Tiefe Unsicherheit, auch das muss ausgehalten werden und allmählich integriert werden. – Ach ja, da ist offener Raum. Ich bin zwar nicht dieser offene Raum, da sind Liebe und Mitgefühl. Ich bin zwar nicht diese Liebe und dieses Mitgefühl, aber das ist da. Da ist viel, da ist viel los, aber eine echte Identität ist das nicht. Und ich bin Zeuge meines eigenen Identitätsverfalls, OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ … Ich bin als junger Arzt ins erste Retreat gegangen, war schon erfolgreicher Homöopath und hatte mir eine dicke, knallharte Identität aufgebaut. Die ist mir ganz schön abhanden gekommen, die ist richtig den Bach

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runter gegangen. Dabei konnte man zuschauen, von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr. Am Ende des ersten Retreats war ich soweit, dass ich bereit gewesen wäre, mich als Kloputzer engagieren zu lassen. – Dem schauen wir auch zu, es ist eine besondere Form von Geduld, die es braucht. Das ist jetzt etwas flapsig ausgedrückt, aber dieser Identitätsverlust, der sich dadurch einstellt, dass wir uns während der Praxis nicht identifiziern und nicht immer ins Greifen gehen, ist ziemlich unangenehm. – Das Greifen gibt uns Sicherheit, und hier gehen wir immer in Richtung der gelösten Geisteszustände, und die füttern halt unsere normale Ichbezogenheit nicht. Teilnehmer/-in: Ist das dann auch das Gefühl von: Das ist total sinnlos, oder? Das kommt auch: Macht das überhaupt Sinn? Und dann, kontinuierlich dranbleiben. All diese Impulse, die da auftauchen … OṀ MANI PADME HŪṀ … Das ist Geduld während der Praxis. Teilnehmer/-in: Meinst du damit auch die Geduld mit dem Nicht-Sein – anatta –, diese Angst, die davor ist? Ja, genau das meine ich, das Nicht-Selbst. 4. Freudige Ausdauer ist die Freude am Heilsamen. 

Unermüdliche freudige Ausdauer

bedeutet, sich von Hindernissen nicht beirren zu lassen; unermüdlich dabei zu bleiben. Aber wir sind ermüdlich. Freudige Ausdauer ist auch nicht etwas, das gleich da ist, aber wir bleiben am Ball. Es geht darum, mit dem OṀ MANI PADME HŪṀ am Ball zu bleiben und zu spüren, dass es gut tut. Dann sind da entmutigte Phasen: OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ … und wir machen weiter. Wir bleiben inspiriert, wir bleiben am Ball und lassen uns nicht beirren. Das ist unbeirrbare freudige Ausdauer. 

Rüstungsgleiche freudige Ausdauer

Man spricht im Text von freudiger Ausdauer als Rüstung der Bodhisattvas. Wisst ihr, was das für eine Ausdauer ist? Nie von Bodhicitta zu lassen, immer Bodhicitta zu praktizieren, in jeder Situation. Mit OṀ MANI PADME HŪṀ halten wir Bodhicitta wach, OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ … Wir halten den Geist des Erwachens freudig wach, in jeder Situation. So eine Meditationssitzung nach der anderen, Tag um Tag, viele Male, wo wir gerne auch mal sagen würden: „Jetzt reicht es aber.“ OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ. … Geduld und freudige Ausdauer, durch Dick und Dünn, durch was auch immer kommt, durch die Hindernisse einfach durchsteuern, immer weiter, OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ, … ohne zu kämpfen, einfach weitergehen. OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ, … Das ist freudige Ausdauer. 

Unersättliche freudige Ausdauer

Das ist eine ganz besondere, und zwar eine, die nie meint, dass schon genug Heilsames getan wäre. „Ich habe doch für heute schon genug rezitiert, halbe Stunde reicht doch, oder? Jetzt kann ich doch was anderes machen!“ Nein, die halbe Stunde war gut, aber weitermachen ist noch besser, OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ … Das heißt nicht unbedingt nur Mantra, Mantra ist hier ja stellvertretend für jede heilsame Aktivität, aber weiterzumachen mit dem Heilsamen, weiterzumachen mit dem Bodhicitta. Wenn wir weiter nichts Besseres zu tun haben, ist OṀ MANI PADME HŪṀ immer eine super Lösung. Da sind wir genau in die Richtung unterwegs, in die wir eigentlich gehen wollen. OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ … Freudige Ausdauer ist das Antidot für Faulheit. Das Gegenteil von Faulheit ist nicht Fleiß. Leider haben alte Übersetzer da den Ausdruck Fleiß benutzt. Freude, Inspiration ist das Antidot; Interesse, wirkliches freudiges Interesse am Wohle aller. Das ist es, da kommt die Kraft her. Fleiß kommt aus dem Willen, das bricht dann irgendwann zusammen. Teilnehmer/-in: Das ist wie die andere Seite der Medaille. Ja, wo Fleiß ist, wird auch Faulheit sein, genau. Das Sanskritwort für freudige Ausdauer heißt virilia. Das heißt eigentlich soviel wie Energie, Kraft, freudige Energie, eine Kraft zu haben. In der Erklärung des

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Paramitas hat es sehr viel mit dem Hindurchsteuern durch Schwierigkeiten zu tun, sich nicht beirren lassen; unbeirrbare, freudige Energie. OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ … 5. Meditative Stabilität Das geht bis in die Dhyanas, in die Versenkungsstufen. Wir können mit OṀ MANI PADME HŪṀ, mit der Praxis und diesen Visualisationen, in Versenkungszustände eintreten. Und egal, auf welchem Niveau wir es praktizieren, immer hat es eine stabilisierende Wirkung auf uns. OṀ MANI PADME HŪṀ, diese Praxis stabilisiert uns, macht den Geist klar. – Wenn wir mit dem Herzen dabei sind, wohlbemerkt. Ich empfehle euch, wenn ihr merkt, dass es nur noch Routine ist, dass das Mantra weiterläuft und die Mala weiterläuft, dann doch eher einen Moment in Stille zu praktizieren, um aus der Routine rauszukommen und dann, wenn ihr wieder gut im Herz angekommen seid, das Mantra weiterzumachen. Dieses nur gewohnheitsmäßige Durchlaufen-Lassen des Mantras ist zwar nicht schädlich, aber auch nicht so wahnsinnig förderlich. Es schützt auch den Geist so ein bisschen vor was anderem, aber man kann eine Menge anderes Zeugs denken, während innerlich das Mantra noch so weiterläuft. Versucht da, eine gewisse Qualität reinzubringen. Besser sagt man sich dann: „Ich bin gerade ein bisschen abgelenkt.“… ausatmen, einatmen, Körper spüren, und „Wo geht‘s lang? Ah, okay. OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ, …“ und die Praxis wieder aufnehmen. Teilnehmer/-in: Ich finde, oft kann man die Tonglen-Visualisation und all die Belehrungen mit dem Mantra verbinden. Ja, das kannst du machen. Das stammt von Gendün Rinpoche, er hat uns das so erklärt. Du kannst während der Mantraphase dieses Geben und Nehmen praktizieren, eindeutig. Das ist etwas, was ich nicht unbedingt in den Kurs hier mit hineinnehmen möchte, es wird ein bisschen viel. Aber wer das kennt, kann die TonglenPraxis in die Mantraphase mit hineinnehmen. Es hat ein klein bisschen Reibung, was dieses Element der Praxis angeht, weil eigentlich in der Mantraphase alle schon Tschenresi sind. Da gibt es nicht viel einzu atmen und anzunehmen an Leid. Da ist ein kleiner Widerspruch dabei. Aber wir können es so machen, dass wir mit dem Einatmen das verbinden, was wir alles so an Leid sehen, weil wir wieder im dualistischen Wahrnehmen gelandet sind, und mit dem Ausatmen die Buddhanatur, die Tschenresi-Natur wieder bestärken im anderen. So können wir das lösen. Teilnehmer/-in: Wenn ich selbst Tschenresi bin. Das Heilen vom eigenen Mangelgefühl, macht das dann überhaupt noch Sinn, oder macht das nur Sinn, wenn Tschenresi über mir ist? Nein, das macht total Sinn, auch wenn du selber Tschenresi bist, denn die Mangelgefühle fragen nicht, ob du gerade in der Visualisation bist. Sie tauchen trotzdem auf, und dann erinnerst du dich an dieses SelberTschenresi-Sein und versuchst, es wirklich mit jeder Zelle zu spüren. Das ist jetzt der wichtige Punkt. Was bloße Vorstellung ist, wirkt nicht transformierend. Es muss gefühlt werden. Und da geht es darum, dass wir wirklich fühlen, dass da, wo der Mangel ist, die Fülle des Seins spürbar wird. Diese Fülle des Seins, die wir Tschenresi nennen; es geht darum, dass das mit dem ganzen Sein gespürt wird. Das ist jetzt aber wirklich so gemeint, wie ich es sage, dass wir das mit jeder Zelle spüren, dass das bis in die kleine Zehe geht. Vom Scheitel bis zur kleinen Zehe, überall fühlen: „Oh, Wow! Das ist ja interessant, es ist überhaupt kein Mangel da, es ist ja alles sowas von in Ordnung.“ Es ist so ein Frieden, und bis dieses Gefühl eintritt, wirklich dabei bleiben, und dieses Gefühl nähren, denn dieser Praktizierende braucht diese Nahrung. Er braucht diese Stärkung des eigenen, inneren, gesunden Erlebens. Teilnehmer/-in: Du hast doch auch gesagt, wenn wir spüren, dass das Heilmittel wirklich ankommt, dann sollten wir versuchen, da auch länger drin zu bleiben. Ja, und zwar hat das einen Grund: Es muss in uns so stark gespürt werden, dass wir wieder darauf Bezug nehmen können; dass wir wissen, wie es sich anfühlt, und dann den Weg dahin zurückfinden können: Immer wieder den Weg da hineingehen, es verankern, es spüren und den Weg zurückfinden können. Über die Vorstellung geht es nicht so tief. Vorstellungen haben nicht diese stabilisierende Kraft. Erst wenn es im Erleben ankommt, dann ist es stabil. Wir brauchen es auch nicht besonders lange halten. Die Neurophysiologie sagt heute, dass so fünfzehn Sekunden nötig oder auch ausreichend sind, um das zu verankern.

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Wenn wir es länger verankern – jetzt komme ich wieder zu meinem Thema zurück –, ein längeres Verweilen in diesen heilsamen Zuständen nennt man dann Samadhi. Samadhi wird erfahren, wenn die Stabilität im Heilsamen ganz groß wird. Es gibt verschiedene Samadhis, bei allen ist das begriffliche Denken ganz gering. Es kann sein, dass wir so ganz in dieser Annahme, vielleicht Liebe, Mitgefühl oder in diesem ausgeglichenen Gefühl aufgehen können, dass alles tief zur Ruhe kommt in eine Öffnung hinein, und ein Gefühl entsteht: Es braucht wirklich nichts anderes mehr. Der Geist geht nicht mehr woanders hin, bleibt ganz und gar in der Erfahrung, aus sich heraus, ohne Anstrengung. Das sind Erfahrungen, die wir bei der Praxis von OṀ MANI PADME HŪṀ machen können. Das stört auch gar nicht, dass das Mantra eine Bewegung hat, letzten Endes hilft es sogar, weil wir dadurch lernen, meditative Stabilität in Bewegung zu erfahren, also mit der Dynamik des Geistes. Die Dynamik des Geistes muss nicht runter gefahren werden, um diesen tiefen, klaren, ruhigen Frieden zu erfahren. Teilnehmer/-in: Ist das, was du gerade beschrieben hast, das, wie es in meinen Meditationstexten steht: „Und jetzt schmecke den Nektar“? Es gehört dazu, genau. Teilnehmer/-in: Ich habe meditative Stabilität und freudige Ausdauer und jetzt kommt mir so die Frage, ich merke, dass ich öfter Pausen brauche, weil ich wahrscheinlich noch nicht sehr daran gewöhnt bin, bestimmte Praktiken zu machen. Und dann erlaube ich mir auch, ganz und gar nicht dran zu bleiben… Du hast deinen eigenen Radar, deinen inneren Fühler für das, was dir gut tut. Das hat mit dem sechsten Paramita zu tun, dem Weisheitsparamita, zu wissen, was gut tut. Das ist Weisheit auf der Ebene von Ursache und Wirkung. 6. Weisheit Weisheit ist, auf dieser Ebene zu wissen: „Aha, wenn ich das tue, ist das die Folge.“, „Wenn ich so praktiziere, bin ich angespannter. Wenn ich anders praktiziere, werde ich entspannter.“, „Wenn ich jetzt noch weiter insistiere mit dem Mantra, werde ich aufgewühlt. Wenn ich es hinlege, dann weiß ich, das wird mir eher helfen, offenere Geisteszustände zu erreichen.“ Das ist Weisheit. Sie ist aus der Erfahrung geboren, aus Beobachtung und klugem Hinschauen und weiß, was es eigentlich braucht, dass es mir und dann aber auch anderen gut tut. Also Weisheit erkennt auch, was anderen gut tut. Mitgefühl und Weisheit müssen zusammengehen. Mitgefühl, das nur mitfühlt und helfen will, aber nicht weise ist – also auch nicht weiß, was dann wirklich gut tut –, ist ein fehlgeleitetes Mitgefühl. Mitgefühl, das nur den Anderen sieht und diesen Teil der Wirklichkeit, das Ich, vergisst, ist auch kein weises Mitgefühl. Das ist nicht im Wir, es ist einseitig. Mitge fühl ist panoramisch und sieht, was die ganze Situation braucht. Dieses Mitgefühl ist gemeint. Es hat mit der Weisheit zu tun, die Zusammenhänge zu sehen, Ursache und Wirkung zu sehen. Das nennt man relative Weisheit, Weisheit im relativen Bereich. Dann gibt es noch die letztendliche Weisheit, das Verständnis der Natur des Seins. Und auch das praktizieren wir mit OṀ MANI PADME HŪṀ, und auch die relative Weisheit ist da, indem wir spüren, was uns und anderen gut tut, während wir OṀ MANI PADME HŪṀ rezitieren. Und das Letztendliche, ein ganz wichtiger Aspekt der Praxis, ist, bei allem, was auftaucht, die Natur dessen, was auftaucht, zu durchschauen; zu sehen, wie es wirklich ist. Das könnte man dann Leerheit nennen. Ich versuche immer, dieses Wort zu umschreiben, und merke, dass z.B. das, was jetzt in mir auftaucht, Projektion ist. Es sind Filme, ein innerer Film. – Nicht die Projektion auf jemanden, sondern wie bei einem Filmprojektor. Da läuft ein Film. „Ach, jetzt habe ich wieder meinen Sorgenfilm: Oh, willkommen! Es wäre doch schade, einen Tag ohne Sorgen zu haben.“ Und mit einem gewissen Humor mache ich mich lustig über meinen eigenen Sorgenfilm. Damit ist das Muster durchschaut und entkräftigt. Es hat nicht mehr ganz die Kraft wie vorher. „Und jetzt bin ich in meinem Nörgelfilm.“, „Und jetzt bin ich in meinem Rechthaberfilm.“, „Und jetzt bin ich in meinem Armutsfilm, in meinem Mangelfilm.“, „Und jetzt bin ich in meinem Besser wisserfilm.“, … Es geht darum, das alles zu durchschauen, das Muster zu durchschauen, aber es ist ein Film, meine Güte. Erst jetzt merke ich, worüber ich alles spekuliere und gar keine Ahnung habe. Ich denke, „Was die wohl wieder gedacht hat!“ und „Was da jetzt passiert!“ und „Wenn das so weiter geht!“ Spekulieren über Gegenwart und Zukunft, ohne wirkliche Anhaltspunkte zu haben; unglaublich!

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Beschäftigung mit der Zukunft wird durchschaut, Beschäftigung mit der Vergangenheit wird auch durchschaut: Die alten Filme immer wieder aufwärmen: „Und was er mir da angetan hat, und wie ungerecht das war.“ … Ja, das sind Filme, aber sie wirken auch auf uns. Wir müssen sie auch durchschauen. Ich sage ja nicht, dass sie nicht wirken, aber wir müssen sie erkennen und durchschauen und sehen, dass das alles Ideen sind, Vorstellungen darüber, wie die Welt ist, wie mein Leben ist. Mein Leben kann furchtbar aussehen, während der Sorgenfilm läuft. Da kann mein Leben sowas von schlimm aussehen, dass man sich am liebsten den Schuss geben würde. Und dann ist der rosarote Film dran, und dann ist das Leben sowas von wunderbar und so unglaublich. Alles Filme! Durchschauen, keine Substanz. Was ist denn nun wirklich? Diese Weisheit, während wir OṀ MANI PADME HŪṀ praktizieren, richtet sich auf das, was letzten Endes wahr und wirklich ist. Ja, was ist es denn nun? … OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ, … Es muss jeder selber rausfinden, was wirklich ist. Die Antworten waren ja schon alle da im Kurs, deswegen werde ich jetzt nicht alle wiederholen. Die sechs Paramitas sind also in der Mantrapraxis aktiv und werden simultan praktiziert. Und all das ist getragen von der Herzenskraft, von Liebe und Mitgefühl. Das durchdringt alles. OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ, … So können also die sechs Paramitas in der Praxis von OṀ MANI PADME HŪṀ praktiziert werden. Das kann auf jede Situation übertragen werden, z.B., wie die sechs Paramitas z.B. beim Windelwechseln praktiziert werden. Und das ist – ich muss euch einfach wieder reinen Wein einschenken – nicht nur bei OṀ MANI PADME HŪṀ so. Ich kann mich an eine Situation in Bordo erinnern. Da waren Zwillinge geboren worden und die mussten ständig und abwechselnd gewickelt werden, es gab ständig was zu tun. Und die Mutter fragte mich: „Wie kann ich denn da praktizieren?“ Und dann habe ich ihr erklärt, wie man allein mit Windel wechseln schon die sechs Paramitas praktizieren kann, es geht. Ob ihr mal in der Lage seid, das zu über tragen auf das Autofahren? Oder im Gespräch in der Partnerschaft? Im Beruf? Nehmt mal einen Aspekt eures Berufes heraus und überlegt, wie ihr dort die Paramitas praktizieren könnt. Geht es mit Freigiebigkeit – ja; mit heilsamem Verhalten – ja. Geduld – klar! Freudige Ausdauer – selbstverständlich, geistige Stabilität – natürlich, Weisheit – klar. Ihr könnt es auf jede Situation übertragen. Um es wirklich übertragen zu können, ist es gut, mit der Praxis von OṀ MANI PADME HŪṀ zu lernen, wie es geht. Und dann lässt es sich auch übertragen. Ihr könnt immer wieder zu OṀ MANI PADME HŪṀ zurückkehren, und von dieser Praxis aus in die anderen Aktivitäten hineingehen und sie genauso leben: Mit derselben Herzenskraft, Freigiebigkeit, inneren Einstellung, Geduld, Ausdauer, Stabilität. Im Tun weise betrachten, was sich da vollzieht; wie wir es in der Mantra-Praxis gelernt haben. Denn schließlich ist das ja nur Training. Es geht nicht darum, als Buddhas immer noch ständig die Mala drehen zu müssen. Es geht um die Aktivität zum Wohle der Wesen, manchmal kann man die Mala bewegen und manchmal muss man was anderes tun – sehr häufig sogar. Es ist kein also Selbstzweck, wir lernen etwas mit der Praxis. Wir lernen es, diese Paramitas zu praktizieren, den Geist wach zu halten, im Herzen in Verbindung zu bleiben, nichts zu verdrängen, alles ins Gewahrsein hochzuholen, diese Freude am Gewahrsein zu entwickeln, durch Schwierigkeiten durchzugehen, und immer auf das Letztendliche zu schauen: Was ist die Natur des Erlebens? Wie vollziehen sich diese Filme? Wie bauen sie sich auf, wie lösen sich die Illusionen wieder auf? Wie gestalten sie sich wieder neu? Es geht darum, das allmählich zu durchschauen. Wie entsteht Leid? Wie entsteht Glück? Wie entsteht Befreiung? Dafür sind die Dharma-Praktiken gedacht. Um das zu lernen, dafür ist die formelle Praxis gedacht, und wenn wir da sattelfest sind, können wir das relativ leicht auf alle anderen Situationen übertragen. Fragen der Teilnehmer/-innen Teilnehmer/-in: Kann es sein, dass man sich auch einen Film machen kann, in dem man glaubt, das wäre jetzt die Wirklichkeit? Ja, völlig klar, das ist der gewöhnliche Film. Das ist der Film, in dem wir gerade sind. Wir glauben, wo wir gerade sind, das ist die Wirklichkeit. Aber in dem Film, in dem wir jetzt gerade sind, braucht es den Mut, hin zu schauen und zu untersuchen: Ist das nun wirklich? Ist das so, oder ist es nicht so? Wo ist jetzt gerade ein Film in mir aktiv? Ist gerade keine Projektion da, keine Idee aktiv darüber, wie es zu sein hat? – Ist und ist

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doch nicht. Und das macht die subtile Dharma-Praxis aus. Immer dann, wenn sich eine belastende Emotion breit macht, habe ich einen klaren Hinweis darauf, dass gerade wieder ein Film aktiv ist, Schleier. Es gibt aber auch im neutralen Erleben, das nicht emotional aufgewühlt ist, Schleier, die aktiv sind. Die sind schwerer zu erkennen. Wir täuschen uns auch in unserem entspannt-normalen Erleben. Diese Täuschung werden wir uns auch immer wieder anschauen: Hey, wo kommt jetzt in diesem normalen entspannten Erleben dieses Gefühl von Trennung her? Wo kommt das Gefühl von Unsicherheit her – in der Tiefe? Wieso ist in diesem normalen Sein mein Geist so aufgewühlt, er geht dahin und dorthin. Wieso sind in diesem so normalen Sein so viele unnütze Gedanken unterwegs? Wo kommen denn die her? Was löst denn die aus? Dann merken wir, dass – obwohl wir uns ganz normal fühlen – eigentlich ziemlich intensive Mechanismen ablaufen, Schleier aktiv sind. In dem, was wir so unser normales Sein nennen, sind ziemlich viele Schleier aktiv. Ich meine jetzt dieses normale Sein, mit dem wir völlig ohne Emotion und ohne sich irgendwie aufgewühlt zu fühlen, nachher vielleicht ins Auto steigen, nach Hause fahren und der Geist weiß, was er macht, aber wir merken nicht, dass Schleier aktiv sind. Aber genau da sind auch Schleier aktiv. Und dann? Und dann? Was würdest du dir dann verschreiben? Bemerken. Bemerken ist gut, und dann? Du kannst durchaus aus anderen Richtungen gute Tipps mit einfließen lassen. Was würdest du tun? Du merkst, du bist nach Hause unterwegs und merkst, es geht in alle möglichen Richtungen, es ist emotional irgendwie groß nicht viel los, aber wohltun tut‘s gerade auch nicht, was da gerade läuft. Was würdest du dir sagen? Was sagt dein innerer Lama oder Schamane in dir? Na ja, irgendwie erst mal spüren. Ja, Superidee. Was spüren? Z.B. mich fragen, was ich jetzt gerne tun würde. Wo zieht es mich eigentlich jetzt hin? Was würde mir jetzt gut tun? Also mit deinen tieferen Bedürfnissen Kontakt aufnehmen. Wenn ich dich jetzt in der Tiefe verstehe, wäre das eine gute Möglichkeit. War es mit dem Spüren viel konkreter gedacht? Ich dachte, du würdest vielleicht jetzt vielleicht mal deine Füße spüren. Ja, genau, also Körper wahrnehmen. Körper wahrnehmen ist ganz gut. In der unmittelbaren Sinneswahrnehmung ankommen und von dort wieder aufbauen, in die unmittelbare Wahrnehmung gehen: „Wie ist es jetzt, zu sein?“ Körper spüren, Klänge hören, sehen, riechen, schmecken. „Ja, ok, und dann?“ – Wie ist es im Geist? „Was läuft da jetzt eigentlich?“ Es ist gut, einfach eine Bestandsaufnahme zu machen, eine Kurzinventur unseres jetzigen Seins. Diese Kurzin ventur ist schon Teil des Ausstiegs aus unserem Film. Wir gehen mit Achtsamkeit, Gewahrsein ins Erleben und sind gerade nicht dabei, Gedankenketten zu nähren, sondern wir schauen einfach mal: „Was ist los?“ Und wenn wir dann dort ankommen, wo wir unsere Stimmungen spüren, dann merken wir vielleicht: „Ich bin eigentlich gerade ein bisschen traurig. Es war ein schöner Tag, jetzt gehe ich nach Hause und eigentlich hätte ich Lust, dass es weitergeht. Ich bin zwar müde, aber ich bin gerade auch ein bisschen traurig.“ Ja? „Was brauche ich denn?“ Oder ich merke, ich bin froh: „War viel, war gut, aber ich bin auch so froh, alleine zu sein.“ – Wir merken unser Gestimmtsein. Von diesem Gestimmtsein können wir dann weitergehen und fragen: „Ja okay, was brauche ich jetzt? Was würde mir gut tun?“ – Dann könnte z.B. derjenige, der froh ist, endlich mal alleine zu sein, sagen: „Jetzt noch ein bisschen tief durchschnaufen auf dem Schlossberg, täte mir jetzt gut. Ich lenke meine Schritte auf den Schlossberg und mach einen Spaziergang im Dunkeln. Und dann gehe ich erst nach Hause.“ Oder der andere, der ein bisschen traurig ist, sagt: „Ach, würde mir vielleicht gerade gut tun, Tschenresi im Herzen zu visualisieren und zu spüren: Ja, ist in Ordnung, allein zu sein, aber die Buddhanatur ist auch mit dabei.“ – Einkehr halten, innehalten, einen Moment stehen bleiben und schauen, wie es eigentlich ganz genau ist, sich allein zu fühlen. Und wir gehen ganz rein in dieses Gefühl, und wir machen Entdeckungen. Versucht es mal! Ich bin gespannt, was ihr für eine Entdeckung macht.

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Wir machen überraschende Entdeckungen, wenn wir uns dem Gefühl stellen und richtig hineinspüren, statt in die Vermeidungsstrategien zu gehen. Diese ganzen Gedanken, die wir nämlich haben, diese Impulse, sind oft Vermeidungsstrategien. – Dabei bleiben und spüren, dann machen wir neue Entdeckungen. Das wären Möglichkeiten, die wir haben. Im Zweifelsfall: OṀ MANI PADME HŪṀ. Teilnehmer/-in: Ich überlege mir bei dem Mantra zu viel, was muss ich da jetzt machen und was soll ich jetzt und so. Dann schalte ich irgendwie ab und mache gar nichts mehr, dann passiert erst mal auch gar nicht so viel. Aber irgendwann, wenn ich zu Hause bin oder nicht meditiere, gar nichts mache, dann taucht irgendwie plötzlich irgendetwas auf und es ist ein ganz freudiges Gefühl da, so eine Hoffnung oder so. Dass das gar nicht da passiert, wo ich es mache, sondern irgendwann, wenn ich nicht dran denke. Ja, weil du nämlich in dem Moment, wo du es machst, ein bisschen zu sehr in der Kontrolle bist. Da kann es auch nicht passieren. Du musst dich erst noch ein bisschen mehr vergessen, und dann kann es passieren. So geht das vielen von uns. Teilnehmer/-in: Für mich ist diese Praxis relativ neu, und es sind viele Einzelheiten, die ich alle wertschätze. Aber ich frage mich auch: Wie kann ich es auf den einfachsten Level bringen? Wie kann ich die Meditation so klar und einfach machen, dass ich gut reinkomme in die Praxis. Also anfangen mit der Zuflucht und aufhören mit der Widmung… Und dazwischen OṀ MANI PADME HŪṀ. Ist es hilfreich, sich den Guru, in jedem Fall oberhalb des Kopfes vorzustellen, und dann die Verschmelzung zu praktizieren? Ja, auf jeden Fall, das ist hilfreich. Die Grundstruktur ist: Zuflucht, Bodhicitta als Einstieg, und dann in der Hauptpraxis das OṀ MANI PADME HŪṀ mit dem Erleben von Segen, selber auch Tschenresi werden, und von Tschenresi über uns geht die Aktivität zu dem großen Wir, zu allen Lebewesen. Und dann die Auflösung, das Verschmelzen – Auflösen aller Vorstellungen, natürliches Verweilen und die Widmung. Mit dem Verweilen im eigenen Herzen bin ich noch nicht so klar, was es bedeutet, mit dieser Ermächtigung. Ich kenne es, die Praxis ins Herz zu nehmen und ich glaube, dann ist es auch verinnerlicht. Kann ich mir Tschenresi auch ohne Ermächtigung vorstellen? Ich kenne es von anderen Praktiken mit Metta im Herzen. Ja, kannst du auch. Teilnehmer/-in: Wenn ich mich so frage, komme ich ins Dasein. Ich habe so das Gefühl, auch wirklich in ein Aufwachen zu kommen. Wenn ich plötzlich da bin, dann sehe ich alles irgendwie realer um mich herum, bin auch irgendwie realer und ich spüre dieses Realer-Sein, bin selber aber nicht als Person da. Normalerweise ist es dann so, dass es eine Zeit lang hält und dann wieder vergeht, dann bin ich wieder und irgendwas. Dann kommt es wieder und so. Es ist einfach eine Freude da. Soll ich dann da, wie du gerade gesagt hast, schauen, was da gerade für eine Stimmung im Hintergrund ist? Oder soll ich es dann sein lassen? Immer wieder mal zwischendurch. Du brauchst diesen Schuss, nicht nur immer wieder in die Auflösung zu gehen, sondern auch ein bisschen forschendes Interesse dafür, was für Stimmungen da so aktiv sind. Dann geht‘s drum, die ins Bewusstsein zu holen und damit in die Lösung zu gehen; gar nicht so sehr in die Auflösung, sondern in die Lösung. Es ist gut, wenn du das tust. – Es gibt andere hier im Raum, die sind stärker auf der Seite, immer mit ihren Emotionen beschäftigt zu sein, und dann gibt es welche – wie du eben beschrieben hast –, für die es besser scheint, sich nicht so viel damit zu beschäftigen, sondern mehr mal in diese gelösteren Bereiche zu gehen. Das tut eigentlich ganz gut, weil du schon relativ viel Stabilität hast und den Zugang in diese offenen Geisteszustände schon ganz gut kennst. Und jetzt wäre es ganz schön, die emotionalen Herausforderungen bewusster da hineinzunehmen. Teilnehmer/-in: Ich dachte mir bei den Erklärungen zur Mantra-Rezitation: Was, jetzt soll ich das mit mir verbinden? Es war so: Auf die Idee wär ich jetzt gar nicht gekommen. Das arbeitet ganz schön in mir und ich merke, dass jetzt alles so bisschen durcheinander ist. Klasse.

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Das muss sich erst in mir setzen, ich muss es erst üben. Ich find es auch ganz schön schwierig, weil bisher war das Tschenresi und der macht das schon alles, für mich gibt es nicht viel zu tun. Und jetzt sind da Silben in verschiedenen Farben und dann auch noch andere Richtungen usw. Also im Prinzip habe ich doch Vertrauen, dass alles gut geht. Und eigentlich denke ich: Wenn es nicht ganz richtig ist, ist es nicht so schlimm. Aber überhaupt nicht! Was so wunderbar ist, ist, dass du bereit bist, dich darauf einzulassen, das mit dir selber so zu verzahnen. Genau darum geht es. Immer mit meinem jetzigen Erleben arbeiten, da ist es, wo die Praxis lang geht. Immer gerade jetzt. Z.B. dass es hier gerade ziemlich schwül und drückend ist, heiß und so, das ist das unmittelbare Erleben. Jemand anderem ist vielleicht kühl, er verbindet das mit seinem Erleben, ich verbinde es mit meinem Erleben, jeder mit seinem Erleben. Teilnehmer/-in: In den fünf nicht-menschlichen Daseinsbereichen gibt es Ausstrahlungen von Buddha. Das habe ich jetzt zum ersten Mal gehört. Was ist denn die Bedeutung von diesen Ausstrahlungen in diesen Daseinsbereichen? Es bedeutet, dass es – so schwierig es auch erscheinen mag – auch in diesen Bereichen möglich ist, den Dharma zu praktizieren, und dass die Buddhas und Bodhisattvas diese Bereiche nicht ausklammern, sondern einbeziehen und sich auch dort manifestieren, um das Mögliche zu tun. Teilnehmer/-in: Nach der Zuflucht kommt Bodhicitta, was ist damit verbunden? Ja, ganz zu Anfang, direkt mit der Zuflucht erinnern wir uns daran, dass es allen anderen genauso geht wie uns selber. Alle sitzen im selben Schiff mit uns und brauchen die gleiche Unterstützung wie wir. Und dann sagen wir: „Ja, ich gehe diesen Weg nicht nur für mich, sondern für alle.“ Wenn ich jetzt in meinem Boot rudere, rudere ich nicht nur für mich, sondern ich rudere für alle. „Kommt rein, wir rudern zusammen.“ Das ist Bodhicitta. Als ich euch Bodhicitta erklärt habe, habe ich den Begriff des Wir eingeführt; dieses große Wir, sich um alle zu kümmern. Wir möchten glücklich sein, wir möchten frei sein, mögen wir frei sein von Leid, mögen wir diese Freude des Erwachens erfahren, diese tiefe Gelassenheit. Das ist eigentlich damit gemeint, ein panoramisches Gewahrsein, das aus der Liebe geboren ist. Das nennt sich Bodhicitta, weil das der Geist der Erwachten ist. Citta heißt „Geist“ und bodhi heißt „erwachen“. Es ist natürlich für Erwachte so, dass sie die gesamte Situation im Blick haben. Und ihr Blick geht offenbar auch noch jenseits dieser Zyklen von Geborenwerden und Tod. Sie sehen also das, was Geistesströme so durchmachen in diesem Daseinskreislauf. Ihr Blick geht ganz arg in die Weite. Teilnehmer/-in: Also wenn ich merke, dass ich ein Päuschen machen möchte… Das hat jetzt bei mir ein bisschen weitergearbeitet, und ich frage mich gerade, ob es jetzt nicht darum geht, dass man dann das Relative und das Absolute gleichzeitig im Blick hat. Ich sehe, dass ich ein Bedürfnis nach Pause habe, dann habe ich mich gefragt, von was will ich denn jetzt die Pause und so. Aber wenn es darum geht, dann gleichzeitig auch zu sehen, dass es ein Film ist: Das widerspricht sich ja nicht, zu sehen ‚da ist ein Bedürfnis nach Pause‘ und ‚es ist ein Film‘. Ja, das hört sich jetzt nach sehr viel Denken an. Wir machen eine Pause mit einer Form von Aktivität, die uns gerade nicht mehr gut zu tun scheint, die fühlt sich nicht so gut an. Wir machen keine Pause mit der DharmaPraxis, keine Pause mit dem Gewahrsein. Wir gehen gewahr in die Pause und genießen es, ganz entspannt zu sein, dann gehen wir wieder in die Aktivität. Die Dharma-Praxis geht weiter, bloß hat sie eine andere Form angenommen, einen anderen äußeren Ausdruck. Okay? Kannst du damit leben? Ja, ich hoffe. Bis dann wieder eine Frage kommt. Teilnehmer/-in: Wenn ich mit OṀ MANI PADME HŪṀ praktiziere, da fehlt mir dann irgendwie die Weisheit, zu sehen, dass es trotzdem so samsarisch weiter gehen darf, wie es weiter geht. Mein denkender Geist sagt: „Da kannst du aber echt viele OṀ MANI PADME HŪṀs sagen für den ganzen Scheiß, der so überall abgeht.“ Also es ist einfach nur das Paramita von Weisheit, oder ist es auch, dass ich merke, ich hätte auch gerne Erfolg von der Praxis? Den Schuss Realismus, den braucht es auch. Und dann? Wie geht es weiter? – Und auch, wenn es kaum was hilft, werde ich das Bisschen, was hilft, trotzdem tun. Wenn ich gerade anderen nicht helfen kann, mache ich

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mit meiner persönlichen Praxis weiter, und wenn ich merke, dass ich was für andere tun kann, dann tue ich das. So! Die Möglichkeit, den eigenen Geist zu erweitern, habe ich ja immer. Wenn die anderen gerade nicht von mir rüber gerudert werden wollen, dann kann ich mich ja selber rüber rudern. Das kann ich ja immer. Ja, und der Schmerz, dass die Welt so ist, wie sie ist? Ich höre Nachrichten – schon relativ wenig, aber ich kriege mit, was überall los ist, soviel Leid, im Kleinen, im Großen. Ah, jetzt kommen wir zum Wesentlichen. Ja, das tut richtig weh, unaufhörlich. Das ist diese Verzagtheit. Damit müssen wir auch leben. Und ich muss es nicht retten. Das kannst du ja sowieso nicht. Da kam gerade so ein Hauch von Vermutung, als wenn mit der TschenresiPraxis Omnipotenz-Gefühle einhergehen würden. Na ja, da muss jetzt auch mal was passieren. Da ist so eine Sehnsucht, ein Ergebnis zu sehen. Das verstehe ich so gut. Manchmal wirst du Ergebnisse sehen und manchmal nicht. Gerade in den Bereichen, wo es am dringendsten notwendig wäre, sind unsere Früchte der Bemühungen oft ganz schwer zu sehen. Wir können die Welt nicht einfach gesundbeten. Ja, ja genau. Das geht nicht. Jeder muss selber den Weg gehen, das Herz zu öffnen, jeder muss erreicht werden, jeder muss bereit sein, sich zu öffnen. Ich glaube, es bleibt uns nur noch übrig, immer gerade jetzt mit dem, der uns gegenüber ist, an meiner Seite ist. Das bleibt uns übrig. Teilnehmer/-in: Aus 37 Praktiken der Bodhisattvas: Das steht in der Einleitung: „Der höchste Lama und der Beschützer Tschenresi sind gewahr, dass sämtliche Phänomene weder entstehen noch vergehen.“ Wie ist das gemeint? Ist gemeint, dass wir leer sind? Ja, das ist damit gemeint, aber trotzdem gibt es da ja etwas, was du nicht so ganz verstehst, so wie es da ausgedrückt ist. Wenn diese Begriffe von „Vergehen“ und „Entstehen“ benutzt werden, dann gehen da Vorstellungen damit einher, dass wirklich etwas entsteht und dass das, was wirklich entstanden ist und einen gewissen Bestand gehabt hat, vergeht. Aber das entspricht nicht der Wirklichkeit. Da entsteht nicht wirklich etwas mit irgendeiner Stabilität. Es gibt nichts, was wirklich einen Bestand hätte, auch nur für einen Moment, worauf dann der Ausdruck passen würde: Und jetzt vergeht es wieder. Deswegen erscheint es nur so, als ob die Dinge entstehen und vergehen. Schaut euch das mal genauer an: In der Einführung zu den 37 Praktiken der Bodhisattvas steht genau das, so wie du es sagst, dass sich Tschenresi bewusst ist, dass die Phänomene weder entstehen noch vergehen. Konntet ihr das verstehen? – Einige ja, andere nicht. Schaut mal: Ein Kind wird geboren, wann entsteht es denn? Und wann vergeht es? Tja, das ist von A bis Z Prozess des gleichzeitigen Entstehens und Vergehens. Und ein Etwas, das wir das Kind, die Person, den Menschen nennen könnten, das auch nur für einen Moment stabil wäre, ist nicht zu finden. Das Ende des Entstehens vor dem Vergehen ist nicht zu finden. Schon in der Befruchtung der Eizelle ist Prozess, Teilung der Eizelle – Prozess. Und das Entstehen des Embryos ist bereits Vergehen, das ist schon das Vergehen dieses Geburtsprozesses, und eine Geburt ist schon der Anfang vom Tod. Geborenwerden ist schon der Anfang vom Sterben. – Einige sterben bei der Geburt, dann ist es sowieso gleichzeitig. Das ist jetzt an einem großen Phänomen beschrieben, Phänomen wie ein Kind. Das könnt ihr auch bei ganz kleinen Phänomenen untersuchen. Das Entstehen eines Gefühls: Wo entsteht es, wann beginnt es zu entstehen? Wann beginnt es zu vergehen, und wo gibt es irgendeinen Moment, dass man sagen könnte: Das ist das Gefühl; da, für diese Dauer hat es wenigstens für einen klitzekleinen Moment unveränderten Bestand. – Verflixt noch mal, das ist nicht zu finden. Das Vergehen beginnt bereits mit dem Entstehen, von A bis Z, und dieses A ist nicht zu finden und dieses Z ist nicht zu finden. Es ist ständiger Prozess, weil all diese Phänomene durch Bedingungen entstehen.

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Das Kind, der Embryo, die befruchtete Eizelle entsteht aus dem Sperma und der Eizelle. Ja, woraus ent stehen denn die? Ja, das, was dann zum Kind wird, das ist ja alles schon auch in den Bedingungen, und da ist die Wärme und da ist die Flüssigkeit und so weiter. Und die Gedanken entstehen ja auch nicht einfach so, die entstehen ja auch aus ihren Bedingungen. Die Gefühle entstehen aus Bedingungen, die haben mit Sinneserfahrungen zu tun, mit Erinnerungen. Ja, wo entstehen sie denn dann wirklich? Es ist das Zusammenkommen dieser Bedingungen, das ständige Sich-weiter-Formen unter dem Einfluss von Bedingungen, was dazu führt, dass man eben nicht sagen kann: Da beginnt etwas. Das ist schon in den Bedingungen mit drin, und wenn die zusammenkommen und den Punkt, an dem sie nacheinander zusammenkommen, kann man auch nicht finden, es ist alles nacheinander. Ist da eine Stabilität vorhanden? Nein, es ist nie eine Stabilität da. Die Bedingungen selbst sind nämlich auch im Prozess des Wandels. Die Bedingungen, die dazu beitra gen, sind auch wieder veränderliche Bedingungen. Darum kann man nie von dem Entstehen eines Phänomens für auch nur einen stabilen Moment sprechen. Und das ist damit gemeint, wenn es da in diesem kleinen Büchlein heißt, dass Tschenresi das durchschaut, dass Phänomene weder entstehen noch vergehen. Das ist Weisheit, sechstes Paramita.

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ANHANG Lama Franziska

Das Sieben-Zweige-Gebet Dieses Gebet schließt sich an die Lobpreisung Tschenresis an – Mächtiger, Dein weißer Körper ist von Fehlern nicht behaftet … – und beginnt mit: Hingebungsvoll verbeuge ich mich… Das Sieben-Zweige-Gebet ist eine sehr klassische Form, bestehend aus sieben Bitten, sieben Handlungen, sieben Gebeten. Wenn man einen klassischen Lehrer fragt, wofür man das macht, wofür das Sieben-ZweigeGebet steht, bekommt man zur Antwort: Ansammlung von Verdienst und Weisheit. Klassische Frage – klassische Antwort. Was ist Ansammlung von Verdienst? Was ist Verdienst? Darüber könnte man eine ganze eigene Belehrung geben. Was es für mich zusammengefasst ist: Handlungen, die heilsam sind, werden zu unseren Handlungsgewohnheiten, wenn wir sie üben. Wenn wir heilsame Handlungen so lange üben, bis sie zu unserer heilsamen Handlungs-Gewohnheit geworden sind, dann bezeichnen wir das mit Verdienst. Und wenn wir heilsame Handlungs-Gewohnheiten für uns entwickelt haben, dann haben wir auch zu einer heilsamen Sicht der Dinge gefunden, letztendlich. Denn eine Handlung, die wir ausführen, beeinflusst auch wieder unsere Sicht der Dinge. Und insofern sind wir auch einen Schritt in Richtung völlig perfekter Buddhanatur gegangen, wenn wir anfangen, heilsame Handlungen zu entwickeln, daraus heilsame Hanslungsgewohnheiten werden, verbunden mit einer heilsamen Sicht der Dinge. Insofern besteht für mich das Sieben-Zweige-Gebet aus Übungsschritten auf dem Weg zur Buddhanatur. So würde ich das für mich modern formulieren. 1. Verbeugen – Hingebungsvoll verbeuge ich mich … Der erste Schritt sind Verbeugungen, wir verbeugen uns mit unserem ganzen Körper, wir bekunden Respekt und wir visualisieren die Zuflucht, wenn wir uns verbeugen. Wir bezeugen Respekt, und wenn wir jemand anderem Respekt bezeugen, indem wir sagen, „Ja, du hast recht; nicht ich, sondern du. Ich sehe es!“, dann geben wir in dem Moment unsere Sicht der Dinge, unsere Art, aus unserer Ichbezogenheit heraus zu handeln auf. Sie hat uns ja auch noch nicht zur Erleuchtung geführt, also können wir sie aufgeben. Wir fragen Buddha, wir fragen die drei Juwelen um Rat; wir fragen um Rat, wir fragen um Zuflucht. Wir gestehen ein, dass wir Hilfe brauchen, um unsere Buddhanatur zu verwirklichen, um zu ihr zu kommen. Solche Verbeugungen arbeiten natürlich mordsmäßig an unserem Stolz. Unser Stolz meint, wir könnten, oder wir wüssten, und wir würden alles schon kennen und wir sind eh schon besser als all die anderen. Wenn wir dem Stolz verhaftet sind, treibt uns dieser Stolz in die Trennung von ‚ich und die anderen‘. Dann ist klar: Das ist eine stolze Haltung. Die bewirkt immer, dass wir Trennung erleben. Wenn wir uns verbeugen, wenn wir mit Körper, Rede und Geist völlig synchron diesen Respekt ausdrücken, dann können wir das so lange tun, bis wir allen Stolz, bis wir diese wertende und diese trennende Haltung und diese trennende Sicht von uns und anderen aufgelöst haben. Ohne diesen Stolz, ohne dieses Ich wird offensichtlich, dass alle – wir eingeschlossen – die Buddhanatur in uns tragen. Und dann können wir uns vor dieser Buddhanatur in allen Wesen und auch vor uns weiterhin mit völliger Freude verbeugen. 2. Darbringen von Opferungen – Versammlung der Edlen, bitte nehmt die Gaben an, … Schenken, opfern, darbringen. In dem Moment, wo wir etwas schenken, lassen wir es los, zumindest einen Moment lang. Manchmal nehmen wir es ja auch wieder zurück. In dem Moment, wo wir etwas loslassen, machen wir die Erfahrung, dass es möglich ist, etwas loszulassen; dass es sogar Freude machen kann, etwas loszulassen; dass es natürlich anderen Freude macht, etwas geschenkt zu bekommen, aber dass es vor allem auch uns Freude macht, etwas loslassen zu können. Das macht uns unheimlich Freude, zu schenken – vielleicht nicht an Weihnachten, aber wir schenken eigentlich gern. Wir können direkt in eine Dynamik des Schenkens hinein geraten. Wir schenken Dinge, die nicht einmal uns gehören, z.B. ein Gedicht, das wir nicht

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selber geschrieben haben, einen Roman, den wir nicht geschrieben haben, ein Buch, ein Kunstwerk. Wir schenken Bilder von Sonnenunter- oder Mondaufgängen. Wir haben weder den Mond noch die Sonne gemacht, noch das Bild dazu, trotzdem schenken wir es. Wir schenken selbstgemachte Kuchen, und da könnte uns doch auch die Frage kommen: Ist der Kuchen tatsächlich von uns gewesen? Wir haben zwar das Endprodukt zusammengerührt aus den Einzelteilen und in den Backofen getan, aber Mehl, Butter, Zucker, Eier usw. haben wir alles nicht gemacht. Haben wir nicht geschaffen, und trotzdem können wir so einen Kuchen schenken, loslassen und uns freuen. – Dinge, die uns nicht gehören. Wir sehen, wie wir Dinge in einem Moment als die unsrigen begreifen können und im nächsten Moment loslassen können. Der Geist kann so unendlich viele Geschenke kreieren, es gibt unendlich viel tatsächlich in der Welt, was wir schenken können. Es ist ein ungeheurer Reichtum, wenn wir uns darauf einlassen können, etwas zu greifen in unserer Vorstellung, oder tatsächlich: Kuchen backen und dann schenken, loslassen können. Es ist die Bewegung des Greifens und anschließenden Loslassens, was im Schenken, im Opfern geübt wird. Im Text steht: Alle Dinge opfere ich in Wirklichkeit und in meiner Vorstellung. Wir können dieses Greifen und Loslassen also auf zwei Ebenen beobachten, während wir schenken: Einmal, während wir konkrete Dinge greifen und schenken, und dann, wie wir selbst nur in unsererVorstellung greifen; einen Begriff haben und diesen Begriff wieder loslassen können; das Ding löst sich in unserer Vorstellung wieder auf, die Vorstellung löst sich wieder auf. Wir kommen durch dieses Schenken, durch dieses Greifen und wieder Loslassen ganz nah in Berührung mit diesem kreativen Aspekt in unserem Geist, von dem wir immer gehört haben. Und wenn wir uns des unbegrenzten Reichtums, der in unserer Vorstellung liegt, erinnern können, dann können wir auch die Weite unseres unbegrenzten Geistes erahnen, in dem wir alle Vorstellungen greifen können und alle wieder loslassen können. 3. Bekennen – Ich bekenne hiermit die zehn nichtheilsamen Handlungen … Wenn wir etwas bekennen wollen, müssen wir erst einmal wissen, was. Bekennen ist also zu allererst eine Übung, um unseren Blick zu schärfen für noch feinste Unterscheidungen, was ist heilsam und was ist hindernd, was ist leidbringend. Dieses Bekennen ist eine Aufforderung, eine Hilfe für uns, wach zu bleiben bzw. wach zu werden in Bezug auf unsere Ausrichtung auf das Ende von Leid. Weil, ob heilbringend oder leidbringend definiert sich ja immer erst auf das Ziel hin. Wir können nicht ohne Ziel von einer Handlung sagen, sie sei leidbringend oder nicht. Das hängt davon ab, worauf wir zugehen wollen. Wenn wir auf die Befreiung zugehen wollen, definieren wir Handlungen anders, als wenn wir einen Bankraub unternehmen wollen. D.h. das Bekenntnis schärft immer wieder unsere Ausrichtung auf die letztendliche Befreiung hin. Und diese Wachheit oder diese Beschäftigung mit „Was ist leidbringend, was ist in diesem Moment heil bringend?“ geht noch viel weiter. Wir sind gefordert, letztendlich tief zu untersuchen: Was hält uns eigentlich in Samsara? Was hält Samsara aufrecht? Und: Was führt aus Samsara heraus? Und damit schauen wir nach den Ursachen von Leid, nicht nur nach einer einzelnen Handlung, sondern: Woraus entsteht eigentlich Leid? Woraus entsteht Samsara? Warum bleiben wir darin gefangen? Der Text sagt, es ist die Macht der störenden Gefühle, die uns in Samsara hält. Also können wir an jedem einzelnen dieser störenden Gefühle arbeiten, an den Emotionen wie Wut, Geiz, Neid, … alles, was uns so begegnet, bis wir dazu vordringen, warum diese Emotionen so viel Macht über uns haben, obwohl wir es besser wissen. Und wir sehen, dass wir es noch nicht wirklich genau besser wissen; dass wir noch der grundlegenden Unwissenheit unterliegen. Grundlegende Unwissenheit bedeutet der Täuschung zu unterliegen, es gäbe ein Ich und andere, mich und alles andere, was nicht Ich ist, es gäbe die Dualität. Und der sind wir noch immer auf den Leim gegangen. Das ist diese Macht der Täuschung, weswegen wir immer noch diese – eigentlich – unsinnigen Störgefühle haben. Und in diesem Moment von Erkennen liegt schon ein Moment von „Ah, jetzt verstehe ich‘s besser!“, und ein Schritt in Richtung Weisheit ist getan. 4. Hochschätzen – Ich erfreue mich an allen Verdiensten, die Hörer … Hochschätzen der anderen, hochschätzen aller Buddhas, Bodhisattvas, aber eben auch aller, aller anderen Wesen und hochschätzen der Verdienste, die sie schon in die Welt gebracht haben. Das kratzt zunächst einmal an unserem Neid, den wir auch empfinden könnten – „Ich bin eigentlich genauso gut!“ Es fällt mir

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schwer, etwas anderes zu schätzen, das ist Neid. An diesem Neid leiden wir zu allererst. Neid ist in dem Mo ment wie ein Gift. Und Gift hat diesen Charakter, dass ein Tropfen Gift tausend Liter Wasser vergiften kann. Ein Tropfen Gift macht eine ganze Nahrung zu Gift. Wenn wir neidisch werden, dann wird die gesamte Nah rung des Dharma für uns unverträglich, giftig, nicht mehr nahrhaft. Wir können mit ihr nichts mehr anfan gen, der Neid schneidet uns von ihr ab und deshalb die Aufforderung, das direkte Gegenmittel zu Neid anzuwenden: sich freuen. Damit kommen wir wieder selber in den Genuss, dass wir durch den Dharma Nahrung erfahren und weiterwachsen können. Hochschätzen des Verdienstes der anderen, was uns nährt im Grunde. 5. Ersuchen – Ich ersuche, das Rad des Großen und Kleinen Fahrzeugs … Es gibt verschiedene Situationen. Es gibt die Situation der Leute, die Zugang zum Großen Fahrzeug haben, zu Lehren des Kleinen Fahrzeuges. Es gibt unzählige Belehrungen, und auch wir selber haben gemerkt, dass wir in verschiedenen Situationen verschiedene Unterweisungen gebraucht haben, dass sich manche Unterweisungen uns auch erst in geeigneten Situationen eröffnet haben. Wir können nicht zu einem Zeitpunkt alle Unterweisungen schlucken und verstehen, sondern es ist ein Prozess. Und bei einer Situation sagt unser Lehrer vielleicht „Zähle nicht“, und im nächsten Moment stellen wir genau dieselbe Frage und erhalten als Antwort, „Ja ja, das muss man aber zählen!“ Es ist also so, dass jede Situation ihre eigene Belehrung erfordert für uns. Und dieses Ersuchen ist eine Bitte, dass wir in allen unseren konkreten Situationen auf unserem Weg zur Befreiung diese nötigen und eben für uns an diesem Punkt des Weges verständlichen Unterweisungen – in was für einer Form auch immer – finden mögen. Eigentlich gibt es genügend Unterweisungen, und diese Bitte ist eher eine Ermunterung an mich selbst, ich möge mich in allen Situationen dem Reichtum dieser Unterweisungen öffnen können. Und so, wie meine konkreten Situationen in unterschiedlichster Form auftauchen können, so können mir eben auch Unterweisungen in allen Formen begegnen. Als Texte, in Begegnungen mit anderen Menschen, in Diskussionen. Es gibt unzählige Formen, in denen wir Unterweisungen erhalten, nicht nur während der Zeit, in der ein Lama uns etwas erzählt. Und es ist insofern auch eine Ermunterung an mich, alle Situationen als mich lehrend und als mich nährend zu begreifen. Das ist eine grundlegend positive Sicht allen Situationen gegenüber. 6. Bitte zu verweilen – Ich bitte dich, schau auf alle Lebewesen, … In diesem Praxistext richten wir diese Bitte an Tschenresi. Es ist die Bitte, dass alle Wesen sich der Führung eines wahren, authentischen, erleuchteten Bodhisattvas anvertrauen können; dass sie authentische Übertragungen erhalten können; solange, bis sie selber den erleuchteten Buddha in ihrem eigenen Herzen verwirklicht haben – bis Samsara leer ist, bis jegliches Leiden aufgelöst ist. Und wie wichtig für uns Führung ist, glaube ich, ist jedem ganz einleuchtend, da muss man eigentlich gar nicht so viel dazu sagen. Wie leicht wir uns auf dem Weg verirren können! Und wie schön es auch ist, geführt zu werden, und wir ohne Führung eben den erleuchteten Buddha gar nicht im eigenen Herzen entdecken können. 7. Widmung – Mögen alle Verdienste, die ich angesammelt habe, … Warum widmen wir? Wir haben doch eh schon während der ganzen Praxis im Kopf, dass es für alle Wesen ist. Wieso widmen wir das dann noch einmal, wenn wir doch schon die ganze Zeit dabei sind? Wir schließen die anderen immer in unser Bewusstsein mit ein, wieso widmen wir dann noch einmal? Teilnehmer/-in: Weil wir‘s immer wieder vergessen. Ja. Was vergessen wir? Wir vergessen nicht die anderen um uns herum, die sind ja sichtbar. Letztendlich rührt das Widmen an diese Idee, von der wir überzeugt sind – auch wenn wir alle anderen um uns sehen – , dass es mich gibt, der/ die ich irgendwas tue; dass es mich gibt, der/ die eine Praxis ausführt. Dafür gibt es den Begriff der „drei Kreise“ von Subjekt, Objekt, Handlung. Es gibt mich als Subjekt. Es gibt ein Objekt, diese Praxis, und es gibt das Tun, diese Handlung: Ich mache die Praxis. Und wenn wir widmen, dann lassen wir diese Idee los: „Ich habe für das Wohl des Wesen praktiziert.“ Diese Idee lassen wir los, wir lassen diese drei Kreise los. Das ist die letztendliche Widmung, dass es weder ein Ich gibt, noch eine Praxis, noch was, das irgendjemand irgendetwas für jemand anderen tut.

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Für mich schließt sich mit jeder Widmung wieder der Kreis zum Zufluchtnehmen. Denn auch beim Zufluchtnehmen tauchen wir ein in die Buddhanatur, wir stellen sie uns vor und wir nehmen Zuflucht in die Buddhanatur, in die Auflösung von Subjekt und Objekt. Und das Widmen ist am Ende einer Praxis genau dieses selbe Wieder-Eintauchen in diese Non-Dualität, nach einem ganzen Prozess, den wir gemacht haben. Es rundet eine Praxis ab. Noch einmal ganz zur Einleitung – Sieben-Zweige-Gebet zum Ansammeln von Verdienst und Weisheit. Ich hoffe – wenn wir noch einmal diesen Kreis anfangen –, dass es ein bisschen klar geworden ist, dass es relative Übungsschritte sind, die wir in diesem Gebet gehen. Dass wir auf relativer Ebene mit Verbeugungen, Darbringen, Respekt, Störgefühlen, Bekennen, Bitten arbeiten, aber dass jeder einzelne dieser sieben Zweige eine Dimension hat, die in die letztendliche Buddhanatur weist, in die Non-Dualität, in die Auflösung von Ich. Das Gebet ist wie eine Wegbeschreibung, der wir folgen können. Teilnehmer/-in: Mit welcher vorrangigen Haltung spreche ich das Gebet? Ist es ein Hinwenden oder ein Bitten oder ein Sich-Öffnen oder etwas ganz anderes? Es hat ganz, ganz viele Aspekte, und alle, die du genannt hast, gehören mit dazu. In jedem einzelnen Zweig kann man bitten, in jedem einzelnen Zweig kann man Erkenntnisse kommen lassen. Diese verschiedenen Haltungen kann man bei jedem einzelnen Zweig einnehmen. Es ist nicht nur eine einzige Haltung. Teilnehmer/-in: Beim 4. Zweig geht es ja um die Freude am heilsamen Tun von anderen, wo in uns Neid aufkommt, geht es ja um die Mitfreude. Hat das auch einen Bezug zu den Vier Unermesslichen? Kann man die da entdecken? Man kann sie entdecken, aber bei den Vier Unermesslichen steht diese Mitfreude mit drei anderen im Zu sammenhang, in einem anderen Zusammenhang als diese Mitfreude hier im Sieben-Zweige-Gebet. Aber es geht um dieselbe Mitfreude. Teilnehmer/-in: Zu deinem Kuchen, den du verschenkst, aber der dir nicht gehört: Ich hab noch keinen Kuchen gebacken in meinem Leben, aber wenn jemand einen Kuchen bäckt, dann kauft er ja die Teile. Er kauft sie von anderen, aber er hat sie rechtmäßig erworben. Dann verschenkt er also etwas, was ihm gehört. Es gehörte einem also schon, wenn man etwas schenkt. Ich habe ja gesagt, da könnte man auf die Idee kommen, zu fragen, ob mir der Kuchen wirklich gehört. Ob ich wirklich so einen Bereich habe, wo ich sage: „Gehört mir!“ – Und was ist Geld? Also im Relativen gehört mir das wirklich, ich kann es z.B. eintauschen. Im Relativen, genau! Es ist ja eine andere Sicht, wenn man dann sagt, dass einem nichts gehört. Im Relativen, da hast du genau die Antwort gegeben. Und unser Weg geht ja vom Relativen zum Loslassen von diesem Ich und Mein. Teilnehmer/-in: Da gibt es ja noch einen anderen Punkt, dass ich ja ganz viele brauche, um so einen Kuchen zu erstellen. Hühner, Felder, auf denen was wächst, Zwischenhändler, alle möglichen Menschen… Ja, die Sonne muss scheinen und der Regen muss fallen für das Mehl. Das ist, zu sehen, wie die Dinge zusammengesetzt sind; wie ich zusammengesetzte Dinge greife und wie sie sich wieder auflösen. Genau das. Teilnehmer/-in: Das ist ja dieser Irrsinn, dass wir sagen „Dieses Stück Land gehört mir.“ Land kann ja überhaupt niemandem gehören, genau wie alles andere, Luft usw. Diesem Denken sitzen wir ja die ganze Zeit auf. Das ist ein sehr sozialkritischer Aspekt. Aber es ist letztendlich diese Natur des Zusammengesetztseins. Es löst sich wieder auf. Alles, was zusammengesetzt ist, löst sich auf. Und diesen Vorgang, wie es sich zusammensetzt, und dass es niemandem gehört, dass es keinen Ich-Bereich gibt, und dieses Auflösen können wir eben darbringen.

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Es gibt vielleicht auch manche Leute, die die Vorbereitenden Übungen, das Ngöndro gemacht haben oder mitten drin sind oder angefangen haben. Da können wir einige der sieben Zweige wieder finden, und wir können die jahrelang praktizieren. Teilnehmer/-in: Würdest du bitte in deinen Worten zum 3. Zweig etwas sagen, dass wir die heilsamen Handlungen nicht erkennen, weil die störenden Emotionen so eine Macht haben? Was ist die Macht der störenden Gefühle? Das ist meine Frage gewesen. Störende Gefühle – okay, einen kurzen Wutausbruch können wir schnell reinigen. Aber diese Macht, was ist das? Das ist nicht die Macht, die die Wut entwickelt, sondern, obwohl wir wissen, dass Wut leidbringend ist, haben wir es nicht in der Macht, keine Wut zu haben. Und deswegen, es ist nicht das störende Gefühl, sondern es ist dieser Grund, warum dieses Störgefühl da ist, die allererste Ursache, warum wir überhaupt Wut haben. Das ist die Macht. Und der Grund, warum wir Störgefühle haben, ist unsere Täuschung, wir seien ein Ich und es gäbe ein Nicht-Ich. Und in dieser Dualität entwickeln sich alle Störgefühle. Das ist anders, das bedroht mich, also Wut. Ich will es nicht. – Das ist wunderschön, ich möchte es haben: Anhaftung, Habenwollen. Wegen dieser grundlegenden Täuschung entstehen alle Störgefühle. Das ist die Macht. Teilnehmer/-in: Störgefühle sind ja auch sehr kräftig, da ist ja Power dahinter. Und wenn man das nicht sieht, dass es eigentlich Macht ist… Ja, und so können wir an diesen Störgefühlen arbeiten, uns allmählich zu dieser Grundursache vorarbeiten und an der Auflösung der Täuschung arbeiten. Die Arbeit an den Störgefühlen führt uns zu diesem Punkt. Teilnehmer/-in: Und wenn man Macht anderen gegenüber ausübt, wie ist das zu verstehen? Was ist das für ein Störgefühl? – Stolz vielleicht. Teilnehmer/-in: Diese Arbeit mit den Störgefühlen kann nicht nur mental gemacht werden. Ich merke z.B., dass ich wütend bin auf das und das, weil ich denke, dass ich nicht verdient hab, dass mich jemand so behandelt, aber eigentlich gibt es ja gar kein Ich... Aber das ist bla, bla bla… Wie kann ich das verankern? Wie kann ich runterkommen, wie kann ich dazu kommen, dass ich nicht mehr wütend werde? Das ist der gantze Weg, nicht? Ja, und es fängt an mit dem Bekennen. Wenn wir etwas bekennen, dann gibt es verschiedene Kräfte. Es gibt die Kraft, dass wir sagen: „Stopp, ich höre auf mit dieser Handlung.“ Der Impuls ist zwar noch in mir, aber ich führe diesen Impuls nicht aus. Dann gibt es das Bereuen. Und das ist eine innere Arbeit. Dann können wir Gegenmittel ergreifen, so wie die Mitfreude gegen Neid. Es gibt Gegenmittel zu jedem Störgefühl. Das heißt, es gibt ganz konkrete Dinge, wie wir mit konkreten Störgefühlen arbeiten können. Und wir sehen es, unsere Augen werden geschärft. Unsere Wahrnehmung wird geschärft. Das ist die konkrete Arbeit mit Störgefühlen. Und irgendwann geht‘s von alleine. Aber – wie gesagt – wir können nicht im Ungewissen anfangen, da, wo wir erstmal keinen Zugang dazu haben. Teilnehmer/-in: Zur Verbeugung: Ich habe Verbeugungen gemacht, aber der Stolz war nicht weg. Man kann sie ja auch sportlich machen, also es geht da sehr stark um die Motivation, und auch, dass man wirklich Belehrungen dazu bekommt, wenn man das macht. Es ist eine Synchronizität von Körper, Rede und Geist. Es ist nicht einfach nur eine gymnastische Übung. Störgefühl Ehrgeiz. Es tauchen alle auf, wenn wir uns verbeugen. Teilnehmer/-in: Zur Macht der Emotionen hab ich gedacht, solange ich nicht wirklich den Grund für z.B. eine Verletzung finde, kann ich das Gefühl nicht aufgeben. Aber die Erklärung im Buddhismus wäre eigentlich eine andere. Ja, aber wir Westler sind so geprägt, unsere gesamte Gesellschaft ist so groß geworden, dass wir häufig erst den Grund für eine Emotion auflösen, den Grund, der vielleicht in unserer Geschichte liegt. Aber damit haben wir noch nicht die Emotion an sich aufgelöst. Wenn wir ein Muster unseres Ärgers aufgelöst haben, z.B. dass wir immer wütend werden, wenn wir zu wenig zu essen kriegen, erkennen wir: Ah, das kommt von da und da. Wir können es auflösen, wir machen eine Therapie. Dann gibt es zahllosen anderen Ärger auch,

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der uns packt, weil eben der Grund für Ärger das Denken in Ich und Nicht-Ich ist, in Dualität. Wir müssen da im Buddhismus noch tiefer gehen. Aber das hindert nicht, dass wir diesen therapeutischen Weg auch gehen, um erst mal wieder atmen zu können. Teilnehmer/-in: Zu deiner Aussage, dass sich Widmung und Zuflucht im Kreis schließen. Bei der Widmung üben wir das Freisein von der drei Kreisen, wie kann man sich da bei der Zuflucht dran erinnern? Ich kenne nur den Hinweis, dass man die Visualisation so transparent wie möglich macht und da so eine Idee von „durchscheinend“ und „nicht so fest“ bekommt. Da gibt es vielleicht noch andere Brücken? In der Tschenresi-Sadhana gibt es ja den Moment, wo wir uns die Zuflucht vorstellen und dann mit ihr verschmelzen. Es ist nicht so, dass die Zuflucht vor uns transparent bleibt und wir da, sondern die Zuflucht verschmilzt in uns.

Lama Heiko

Die Herzenspraxis des Mönches Pema Karpo Nach Zuflucht und Bodhicitta kommt die Visualisation und danach die Phase verschiedener Gebete, wobei die Lobpreisung „Djowo…“ das Hauptgebet an Tschenresi ist. Im Kommentar steht, dass man noch verschiedene Gebete, die man kennt, vor der Mantra-Phase einfügen kann. Das eine war das Sieben-ZweigeGebet, und direkt danach kommt das Gebet des Mönches Pema Karpo. In diesem Gebet geht es um die sechs Daseinsbereiche. Im Praxistext steht hier in kleiner Schrift: Es folgt das Gebet der TschenresiHerzenspraxis des Mönches Pema Karpo. Zunächst kommt so eine Art Einführung, hier geht es um die verschiedenen Arten, Tschenresi zu sehen. Zunächst sehen wir Tschenresi, wie es hier steht, als Lama: Ich bete zu Dir, Lama Tschenresi. Wir können Tschenresi als unseren Lama sehen. In der Praxis ist er ja auch als Lama über unserem Kopf visualisiert, wie im Guru-Yoga. Hier wird diese Bedeutung als erste erwähnt. Wir meditieren auf Tschenresi wie auf den Lama, der über unserem Kopf ist, und wir wenden uns mit Gebeten an ihn. Ich bete zu Dir, Yidam Tschenresi. Das Wort „Yidam“ übersetzen wir als „Meditationsgottheit“ oder auch als „Buddha-Aspekt“. Das tibetische Wort „dam“ ist so etwas wie eine Verbindung, d.h. der ErleuchtungsAspekt, mit dem wir uns in unserer Praxis verbinden. Es kann dann auch unsere ganz persönliche Praxis sein, dass wir auf einen Yidam meditieren. Im weiteren Sinne – so wie es hier auch erklärt wird – ist der Yidam Tschenresi dieser Buddha-Aspekt in Sambhogakaya-Form, in dieser Lichtform. Wir meditieren hier nicht auf eine Person. Das ist eine leere Form – erscheint klar, hat aber keine Substanz, ist einfach Licht. Im Körper von Tschenresi sind keine Organe, so wie wir das kennen. Er ist kein Mensch. Er ist eine Lichtform, eine Erscheinung in unserem Geist. Wir schaffen diese Lichtform auch selber. Ich bete zu Dir, höchster Edler Tschenresi. Pagtschog auf Tibetisch. Das Wort „Edler“, pagpa, ist ehrerbietend gemeint. Es geht hier um den Buddha, d.h. um die Erleuchtung. So würden wir uns nicht an einen gewöhnlichen Menschen richten. Da kann man vielleicht von einem hohen Lama sprechen, aber hier geht es um die Erleuchtung. Man kann auch sagen „erleuchteter Meister“. Mit „höchster Edler“ wird die höchste Ebene angesprochen. Ich bete zu Dir, behütender Schützer Tschenresi. Hier wenden wir uns an Tschenresi auch als Schützer, der uns vom Leiden des Daseinskreislaufs beschützt. Wir haben hier die verschiedenen Ebenen: Lama, Yidam und Schützer. Für diejenigen, die die vorbereitenden Übungen, das Ngöndro, kennen und praktizieren: Da ist ja auch die komplette Zuflucht drin, mit sechs Aspekten: Buddha, Dharma, Sangha, Lama, Yidam und Schützer. Im Vajrayana wird die Zuflucht noch ergänzt durch diese drei Aspekte: durch den Lama, der uns die Übertragung und auch die Einweihung gibt, durch die Meditationsgottheit, den Yidam, und durch den Schützer-Aspekt. Und alle diese Aspekte werden in diesem Gebet nacheinander angesprochen. Da könnte

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man jetzt noch viel mehr drüber sagen, aber das ist nicht das, worüber ich am meisten sprechen wollte. Das ist ja nur eine Einleitung für dieses Gebet. Ich bete zu Dir, liebevoller Schützer Tschenresi… … dass wir allwissende Buddhaschaft erlangen. Im Deutschen steht hier „Du“ und im Französischen steht „vous“, also „Sie“. Das ist Interpretation. Im Tibetischen wird da gar nicht so genau unterschieden, was das für eine Anrede genau ist. Oft wird es auch als „wir“ eingesetzt, wenn es z.B. ein Gebet ist, weil wir zusammen beten. Teilnehmer/-in: Gibt es im Tibetischen einen Unterschied zwischen Du und Sie? Im Tibetischen gibt es schon einen Unterschied, aber in den Praxistexten wird das infach offen gelassen. Manchmal steht es klar drin, aber manchmal ist es einfach offen gelassen. Manchmal steht klar drin „ich…“, z.B. wenn ein Gelübde genommen wird. Aber oft steht es einfach nicht drin. Bis hierhin war die Einführung, und danach fängt dieser Teil an, in dem wir uns nach und nach den ver schiedenen Daseinsbereichen zuwenden. Das sind Serien von jeweils vier Versen mit OṀ MANI PADME HŪṀ dazwischen. Das ist genau das Gleiche, was heute Morgen erklärt wurde. Bloß praktizieren wir das hier nicht beim Mantra und nicht mit der Idee dieser ausführlichen Visualisation mit den Silben und dem Licht. Es geht hier darum, dass wir uns direkt die verschiedenen Leiden nach und nach ins Bewusstsein rufen und jedes Mal dann einmal OṀ MANI PADME HŪṀ rezitieren. Wir vergegenwärtigen diese verschiedenen Daseinsbereiche, indem wir das Mantra einmal rezitieren. Man könnte das natürlich auch so praktizieren, dass man jedes Mal eine kurze Mantra-Phase macht und dann weitergeht, und so einen Daseinsbereich nach dem anderen abdeckt. Wobei ihr dann nicht unbedingt diese ausführliche Visualisation machen müsst, sondern einfach nur OṀ MANI PADME HŪṀ rezitieren könnt und euch vorstellt, dass das Licht in diesen Daseinsbereich geht und diese Verbindung mit euch dabei herstellt. Das ist nicht getrennt von uns, wir haben ja auch all diese Emotionen in uns. Es geht dabei darum, dass es nicht einfach ein Spiel mit Silben und Licht wird, so abstrakt, sondern es geht eher darum, das auch innerlich zu spüren und zu integrieren; sich auch in dem Moment klar zu sein über den Zusammenhang mit mir, über Karma: Da ist ein Leiden, das Leiden kommt aus gewissen Emotionen und die Emotionen sind auch in mir. Da ist eine Verbindung. Wir lassen uns von dem Licht einfach berühren und erfüllen. Das Licht von Tschenresi berührt dies alles und löst es auf. Es findet eine Öffnung statt, ohne dass wir etwas kompliziert machen müssen. Teilnehmer/-in: Wenn wir Verbindung damit aufnehmen mit diesem Leiden und dies integrieren, ich denke, dass es dazu gehört, dass wir von dem Leiden wirklich etwas wahrnehmen; eine Erinnerung, und dann das Leiden herbeiholen. Sonst bleibt es doch wieder abstrakt. Also muss ich fast etwas heraus kramen. Also manchmal, wenn ich das Wort Leid höre, oder Hass, dann bringe ich es nicht zusammen mit einer Erfahrung, die ich gerade erlebe. Dann bleibt es abstrakter und ich denke, dass es dann keine große Wirkung hat. Es hilft natürlich, wenn wir diese Emotionen alle in uns kennen und wir dieses Problem auch verstehen. Es ist auch ein Effekt der Praxis, dass wir mit zunehmender Praxis bewusster werden, was eigentlich in uns vorgeht und das dann klarer sehen. Und dass wir uns dann auch nicht mehr so getrennt fühlen von anderen, weil wir es in uns erkennen. Wir haben so die Idee – und das hat mit unserem Stolz zu tun –, wir seien anders. Wir haben soundso, aber das haben wir nicht. Z.B. ganz starken Zorn: „Nee, da gibt es Leute, die haben den so, aber ich nicht!“ Aber vielleicht ist es bei uns nur so, dass es nicht zu Bedingungen gekommen ist, dass sich diese Emotion manifestieren kann. Mit der Praxis werden wir uns dessen bewusst, dass es dann auch mal raus kommt. Wir müssen auch einen Bezug haben dazu und man kann sich auch wünschen, dass das kommt.



Höllenbereiche

Das Leiden dort ist direkt nicht einfach zu verstehen. Von dem, was wir kennen, können wir sagen, das ist Paranoia. Aber die Höllenbereiche gehen noch darüber hinaus. Wir können sie nicht wahrnehmen, aber die Wesen dort nehmen ihre Existenz als solide wahr. Obwohl wir sie nicht sehen können, können wir trotzdem versuchen, ihr Leid zu verstehen, es uns vorzustellen. Es geht um den Zusammenhang mit den Emotionen und darum, zu welchem Leiden sie führen.

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Mögen alle Wesen, die aufgrund ihrer seit anfangsloser Zeit aus Hass … Das hauptsächliche Leid im Höllenbereich wird als Hitze und Kälte beschrieben. Traditionell gibt es in diesen Darstellungen Heiß- und Kälte-Höllen, wo unglaubliche Hitze erfahren wird und andere, wo eine unerträgliche Kälte erfahren wird. Das ist eine genauso schlimme Erfahrung von Schmerz und Leid. Es ist schwierig, dies zu unterrichten. Ich habe erklärt bekommen, dass Lama Gendün Wert darauf legte, dass gesagt wird, dass es diese Höllenbereiche auch gibt und dass es nicht nur etwas Traditionelles ist. Vielleicht ist die Darstellung davon, was die Wesen dort genau wahrnehmen, beeinflusst oder eine traditionelle Variante. Aber ich habe gesagt bekommen, dass Lama Gendün sehr viel Wert darauf legte, dass es wirklich solche Bereiche gibt und es wirklich nicht nur was ist, das sich hier auf unsere Erfahrung bezieht. Da besteht natürlich eine Verbindung, aber das ist nicht irgendwas, was es nicht gibt. Wenn man Bücher liest, die den Buddhismus anders auslegen, wird es als etwas Traditionelles erklärt. In diesen Erklärungen, die wir bekommen haben, war das immer ganz wichtig: Das gibt es wirklich, das ist wirklich so. Auch wenn wir diese Bereiche nicht sehen können. Es ist aber möglich, sie wahrzunehmen, aber natürlich nicht so direkt offensichtlich. Teilnehmer/-in: Aber diese Höllenerfahrung, die findet ja immer im Geist statt... Ja… … Wenn wir jetzt z.B. hundert Jahre nach Beginn des ersten Weltkriegs nochmal viele Details mitbekommen haben über das, was da auf den Schlachtfeldern passiert ist. Ich glaube, die Menschen haben wirklich Höllenbereiche, wie sie nicht schlimmer sein konnten, erlebt. Das war so ein Ort. Und jetzt, was da alles im Nahen Osten geschieht, ich denke das sind auch Erfahrungen, die da im Geist der beteiligten Menschen stattfinden, die wirklich Höllenerfahrungen sind. Und wenn das so ist, muss ich gar keine Phantasie aufwenden, ob es irgendwo, so wie im christlichen Weltbild, irgendwo dort unten noch einen Ort gibt, wo das nochmal speziell praktiziert wird mit den heißen und kalten Höllen. Das kann so sein, aber ich brauche das gar nicht. Ich brauche da meine Phantasie gar nicht hineinzustecken, wenn ich meine Augen aufmache und sehe, was hier alles geschieht. Genau. Wir haben ja alle unsere ganz persönliche Wahrnehmung. Und es ist so, wie du sagst, es findet im Geist statt. Und es ist auch gut, daran zu denken in dem Moment, dass wir das alles mit rein tun. Da geht es auch um gleiches Karma, um gleiche Auswirkungen. Nur der Höllenbereich geht noch weiter in dem Sinne, dass es noch Lebens- und Daseinsbereiche gibt, wo es Wesen gibt, die nicht so einen Körper haben wie wir – da ist es noch ähnlich, man kann noch einen Bezug dazu aufbauen. Aber es gibt eben andere Daseinsformen mit anderen Arten von körperlichen Manifestationen, wo dann andere Leiden überhaupt erst möglich werden; und die sich dann auch manifestieren in der Wahrnehmung der Wesen. Es ist schon gut, darüber nachzudenken, dass man merkt, dass es noch Sachen gibt, die wir so nicht für möglich gehalten hätten. Viel hängt an unserem Körper, aber solange man noch hier ist auf dieser Welt in seinem Körper, hat das alles seine „Himmelsruh“, sage ich mal. Vielleicht wird man irgendwann mal bewusstlos, aber es kann schon eine unheimliche Paranoia oder auch Angst einfach da sein. In diese Zustände kann man auch im menschlichen Körper eintreten. Teilnehmer/-in: Ich möchte noch sagen, du hast ja gesagt, das bezieht sich auf das Lebensrad. Gerade diese verschiedenen Dimensionen finde ich ganz wichtig, dass man das einzeln in den Situationen erleben kann. Z.B. wenn man eine starke Krankheit hat, dann können das auch kurzzeitige Höllenqualen sein. Dann kann es sein, dass das über Jahre hinweg geht oder dass es auch zu einem Leben in einem anderen Daseins bereich führt. Diese Dimensionen, zu denen man dann Verbindung aufbauen kann und die dort im Text angesprochen werden, finde ich ganz wichtig dabei. Diese Daseinsbereiche sind ja im Prinzip auch nur Kategorien. Ich denke, man muss sich das so vorstellen, dass als Daseinsbereich wirklich alles möglich ist. Und hier sprechen wir von speziellen Kategorien, um die Emotionen, um die es da geht, klar zu machen – die Beziehung zwischen Emotion und Auswirkung. Aber es gibt alle möglichen Arten von Wesen und es gibt z.B. auch Mischungen zwischen Höllenwesen und Hunger geistern. Es gibt unwahrscheinlich viele Möglichkeiten. Es gibt nicht nur eine Schublade. – Diese Aufteilung ist nur, damit wir uns orientieren können. Aber eigentlich gibt es grenzenlos viele Wesen und Lebensformen.

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Teilnehmer/-in: Können diese Wesen auch Besetzungen machen? Wie Dämonen Menschen besessen machen, dich verschmutzen, dich herausfordern? Soviel ich weiß, werden psychisch Kranke bei den Tibetern so behandelt. Das ist sicherlich auch eine Art von Wesen. Wobei es natürlich auch immer im Zusammenhang mit unserem Geist steht. Es ist nicht getrennt. Man kann das vielleicht als Dämon beschreiben, andere würden es vielleicht anders beschreiben. Aber da können auch Wesen im Spiel sein, natürlich. Es heißt ja auch, dass es Bardo-Wesen gibt, die zwischen den Leben sind. Teilnehmer/-in: Sind die jetzt hier? Ich verstehe es noch nicht so richtig. Ich kann sie jetzt auch nicht sehen, deshalb kann ich dir nicht sagen, ob sie da sind oder nicht. Aber wenn ich jetzt einen sehen würde, dann wäre er wirklich hier? Ich denke, das Wichtige dabei ist, dass – wenn wir das Mantra OṀ MANI PADME HŪṀ rezitieren – es so eine Art direkte Kommunikation mit allen Wesen ist. Und das gibt auch die Möglichkeit, unseren Geist so zu öffnen, dass es so was vielleicht gibt, und da strahlt es dann auch hin. Wir brauchen dann keine Story daraus zu machen. Vielleicht sehen wir es irgendwann, vielleicht ist es auch gar nicht möglich, es zu sehen, das ist nicht so wichtig. Aber es ist wichtig, dass wir uns öffnen, und dann kann das vielleicht andere Wesen berühren und deren Einstellung verändern; ihre Einstellung uns gegenüber, weil wir sie nicht mehr ignorieren. Wir öffnen uns einfach allem, was da sein könnte, ändern unsere Einstellung und werden offen dafür. Teilnehmer/-in: Das höre ich jetzt zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem Höllenbereich. Wieso macht man es nicht so, dass man sich vorstellt, es gibt doch andere Wesen im tierischen Bereich. Das kommt ja jetzt. Ich bin hier ein bisschen langsam. Ich habe es überhaupt noch nie gehört, dass man an andere Wesen denkt außer im Höllenbereich. Du meinst, dass es mit dem Höllenbereich mehr betont wird? Eigentlich nicht, eigentlich betrifft es alle Bereiche. Was traditionell allerdings auch gesagt wird, ist, dass die Wesen im Höllenbereich am zahlreichsten sind. Daher vielleicht diese Erklärung. Da gibt es im traditionellen Weltbild eine Art Pyramide. Und die Höllenbereiche sind am größten, am zahlreichsten. Und die höheren Bereiche sind immer dünner und oben, da gibt es nur einen Brahma oder Indra, da gibt es nur ein Wesen. Teilnehmer/-in: Im Laufe der Zeit müsste sich doch die Pyramide ändern, genau anders herum? Wenn diese niederen Daseinsbereiche in Zukunft mal leer sein sollen, dann muss das so sein… das ist dann der demographische Wandel… Ich kann es nicht beurteilen. Normalerweise ist es so erklärt in allen traditionellen Texten. Die Wahrnehmung ist eine andere auch. In den niederen Bereichen sind die Wesen zahlreicher und die Zeitwahrnehmung ist auch eine andere. Was für uns nur ein Moment ist, ist für die Zeitwahrnehmung der Wesen in den niederen Bereichen unwahrscheinlich lang. Das ist ein bisschen so, wie wir das auch kennen, wenn etwas sehr intensiv ist, dass es dann sehr lange wahrgenommen wird. Die Zeit ist auch relativ in dieser Erklärung. Es ist sehr umfangreich, was man darüber sagen könnte. Teilnehmer/-in: Wen das interessiert: Das ist extrem detailliert beschrieben in den Lamrim-Belehrungen. Da bekommt man monatelang Erklärungen, es gibt auch Bücher darüber. Und das ist auch im Detail alles beschrieben – die acht heißen Höllen, die acht kalten Höllen. Auch im „Kostbaren Schmuck der Befreiung“ von Gampopa ist das sehr ausführlich beschrieben. Das ist dann eine traditionelle Darstellung. Teilnehmer/-in: Die Tibeter werden ja als ziemlich hart gesottene Menschen beschrieben und da bedurfte es schon ziemlich hart gesottener Belehrungen, um die überhaupt aufmerksam zu machen, dass was schief gehen könnte. Teilnehmer/-in: Wo wir in Indien waren, da hatten wir einen Fragenkatalog, den konnten wir Beru Khyentse stellen. Eine der Fragen, die wir dann gestellt hatten in Bezug auf diese Pyramide, weil es sich ja dann ändert und das Erwachen nicht mehr rückgängig ist, ob dann irgendwann alle Wesen erwacht sind und dann

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die anderen Bereich leer sind. Da sagte er nur, dass er es nicht weiß und keine Antwort darauf geben kann und dass es nur eine Frage der Motivation ist und man sich nicht den Kopf drum machen sollte. Man muss versuchen zu praktizieren und dafür möglichst tun, was man kann. Aber dann nicht sagen, „Okay, wenn ich eh nicht alle befreien kann und nicht alle befreit werden, dann brauch ich auch nicht zu praktizieren.“ Das ist noch ein anderer Aspekt, sich zu sagen: „Das bringt ja eh nichts.“ Im Abhidharma wird es so erklärt, dass es unendlich viele Universen gibt, und die haben alle einen eigenen Höllenbereich. Und der leert sich dann, aber dann gibt es parallel noch die aus anderen Universen und das überlagert sich dann alles. Es ist so, dass es Kreisläufe gibt im Abhidharma, in den traditionellen Teachings.



Bereich der Hungergeister

Mögen alle Wesen, die aufgrund ihrer seit anfangsloser Zeit aus Habsucht … Es wird hier von Habsucht gesprochen, manchmal ist es auch Begierde, starkes Habenwollen. Traditionell wird gesagt, das sind Wesen, die einen ganz großen Magen haben und einen ganz engen Schlund und nichts aufnehmen können. Die haben unwahrscheinlich großen Hunger, aber kriegen nichts rein. Dann es ist auch so, dass sich die Nahrung umwandelt in Dinge, die sie nicht aufnehmen können. Das ist schon ein Bild, das für sich spricht. Da wird gesagt, die sehen in der Ferne Nahrung, wie eine Art Fata Morgana, rennen dann dorthin, können sich dabei nur schwer fortbewegen, und wenn sie dann dorthin kommen, sehen sie, dass es nichts war, dass dort nur Müll liegt. Selbst wenn sie etwas finden, dann kriegen sie es nicht rein. Das ist wie in einem Albtraum. Das Essen kann nicht geschluckt werden, es ist mit Schmerzen verbunden. Teilnehmer/-in: Es gibt doch da auch das schöne Gleichnis, wo alle um einen großen Topf sitzen mit großen Löffeln, die so lang sind, dass sie diese nicht zum Mund führen können. Und im Paralleluniversum füttern sie sich gegenseitig. Teilnehmer/-in: Das Land Potala, ist das auch ein reines Land, oder ist das ein anderes Dewachen? Ich denke, das bezieht sich hier auf Dewachen. Potala ist auch der Palast von Amitabha. Franziska: Wir haben auch von Tilmann gehört, dass das nicht verschiedene Orte sind, sondern verschiedene Aktivitäten, verschiedene Blickrichtungen auf… So würde ich es auch erklären. Bei dem Mantra wird man dann wiedergeboren in dem und dem reinen Land, es ist nicht getrennt, nur eine Dimension. Und das sind wieder verschiedene Facetten. Franziska: Heißt es nicht am Ende bei den Göttern und Halbgöttern, Potala, der sich bei den Buddhas befindet? Ich glaube auch… Dieses Gebet ist nicht im Kommentar zur Tschenresi-Praxis drin, deswegen weiß ich das jetzt auch nicht genau. Teilnehmer/-in: Ich könnte mir vielleicht vorstellen, weil der Dalai Lama die Inkarnation von Tschenresi ist und sein Palast in Tibet heißt ja auch „Potala“. Das ist das Reine Gefilde des Tschenresi. Das ist so gemeint. Der Palast vom Dalai Lama hat aber nichts mit dem Gebet zu tun … nein, aber das Wort Potala ist ja eigentlich der Ort, an dem Tschenresi weilt. Ich habe das so in Erinnerung, dass es das Reine Gefilde von Tschenresi ist. Das heißt einfach Potala. Teilnehmer/-in: Genau dahin zielte meine Frage ab, ob das nun ein Synonym ist, also ob das einfach das gleiche reine Land meint, oder ob da jetzt was differenziert wird. In dem Sinne heißt es einfach bei Tschenresi, in der Nähe von Tschenresi, ganz grundlegend.



Tierbereich

Mögen alle Wesen, die aufgrund ihrer seit anfangsloser Zeit aus Dummheit … Hier steht Dummheit – es ist eine gute Erklärung von Tilmann, von Angst zu sprechen, von geistiger Enge.

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Menschenbereich

Mögen alle Wesen, die aufgrund ihrer seit anfangsloser Zeit aus Begierde … Hier wird Dewachen erwähnt. „Wahre Freude“ ist eine Übersetzung von Dewachen auf Tibetisch. Es gibt verschiedene Varianten: Hier ist es die Begierde. In den Erklärungen war es eine Mischung aus allen Emotionen. Wir können auch zu allen Emotionen Bezug aufnehmen in unserem Leben, weil wir wissen, das ist alles da. Aber die grundlegende Emotion im Menschenbereich ist Begierde, aus der all die anderen Emotionen entstehen. Teilnehmer/-in: Hat das Wort Potala auch eine Bedeutung, kann man das übersetzen? Das ist normalerweise der Name von dem Palast. Was es wörtlich bedeutet, kann ich leider nicht sagen. Ich denke, es ist sowas wie ein Eigenname Potala. Manchmal kann man die tibetischen Wörter aufspalten in die verschiedenen Silben, die das und das bedeuten, aber das ist hier nicht der Fall. Es ist einfach ein Wort. Es gibt im tibetischen Wörter, die werden fast gleich ausgesprochen oder sogar gleich, aber dadurch, dass sie anders geschrieben werden, haben sie eine ganz andere Bedeutung.



Halbgötterbereich

Mögen alle Wesen, die aufgrund ihrer seit anfangsloser Zeit aus Eifersucht …



Götterbereich

Mögen alle Wesen, die aufgrund ihrer seit anfangsloser Zeit aus Stolz … Die Halbgötter sind hauptsächlich am Streiten und Kämpfen. Und den Göttern geht es lange gut und dann geht es bergab. Also dann ändert es sich in Wandel und Absturz. Teilnehmer/-in: Wenn man sich dieses Leiden vorstellt, was macht man dann damit? Was macht Tschenresi damit? Gibt er denen die Möglichkeit, diese Daseinsbereiche als Spiel des Geistes zu erkennen und sie sind dann erst mal wieder aus dem Trip draußen? Ich denke, es geht um ein Bewusstwerden darum, das Bewusstsein in den Geist dieser Wesen zu bringen. Da kann man sich sicherlich auch vorstellen – z.B. in den Höllenbereichen –, dass ihre Welt sich auflöst, dass Tschenresi diese Projektion auflöst. Aber eigentlich geht es darum, dass sich die Geisteshaltung ändert. Man stellt sich vor, dass das Karma gereinigt wird, die unreine Wahrnehmung gereinigt wird und dass die Wesen auf dem Erleuchtungsweg sind und Verbindung mit der Erleuchtung haben. Also eigentlich alles, was möglich ist, und alles durch das Licht von Tschenresi. Und das ist ganz direkt. Sobald die Wesen von dem Licht berührt werden, findet das statt. Einfach, weil das Licht diese Bereiche berührt. Und genauso können wir uns auch in der Praxis vorstellen, dass das Licht uns durchströmt und auch bei uns diese Bereiche berührt, wo wir merken, dass wir uns dort nicht so öffnen können. Wenn wir Schwierigkeiten haben, dass dann alles von diesem Licht durchdrungen wird. So kann man sich das vorstellen. Teilnehmer/-in: Kann Reinigung stattfinden, wenn ich mir nicht ganz klar bewusst bin, wenn ich Gefühle von Hass oder Festhalten in mir habe? Die Frage ist, inwieweit bin ich verbunden mit diesem Bereich in mir? Das ist sehr schwierig zu beantworten. Ich meine, Reinigung kann sicherlich auch stattfinden. Das ist ja das Besondere an diesen Methoden, dass wir, wenn wir uns wirklich mit Hingabe darauf einlassen, dass das dann auch eine Kraft hat, dass diese Praxis dann reinigen kann. Andererseits muss es natürlich auch zu einem Bewusstwerden kommen, damit wir uns in unseren Handlungen auch ändern, wobei dann auch immer unterschwellige Sachen mitschwingen, die uns nicht so bewusst werden. Abneigung und Hass sind z.B. nicht nur dann da, wenn man rumschreit. Das ist ja ein Faktor, der uns beeinflusst ist. Unterschwellig werden Situationen gestaltet, die durch diese Emotionen motiviert waren und dann schaden. Und Bewusstsein hinein zu bringen in das, was unterschwellig abläuft, vielleicht eher auf der Ebene, wo wir manipulieren, ist dann auch eine Voraussetzung dafür, dass wir uns ändern können.

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Teilnehmer/-in: Karmapa hat gesagt, dass man das praktizieren kann wie Vajrasattva. Wenn da steht, dass da Licht einströmt und alles reinigt, löst sich das dann irgendwie auf oder ist das dann auch verbunden mit den gleichen Visualisationen wie bei Vajrasattva? Geht das aus den unteren Körperöffnungen heraus ? Das ist mir nicht so bekannt. Ich habe das so gehört, dass das Licht das einfach berührt und auflöst, dass dieses all-durchdringende Licht alles durchströmt. Teilnehmer/-in: Wenn mich das Licht von Tschenresi berührt und ich mir bewusst werde, warum dieser Hass in mir entstanden ist, wenn ich das wirklich erfahre, dann kann sich das Karma lösen? Kann man das so sagen? Es muss selber ein Erfahrungsprozess in mir stattfinden. Es ist nicht was Automatisches. Es ist ein Prozess in meinem eigenen Geist, der dadurch ermöglicht wird, dass ich in Berührung mit dem Licht komme. Es ist aus meiner Erfahrung so, dass, wenn wir diese Praktiken intensiver machen, dies unser Bewusstwerden fördert. Das kommt ins Licht und wird uns dann klarer, wir verstehen die Zusammenhänge: Wo kommt es her? Warum ist das so? usw. … wenn ich es durchschaue, dann beginnt es sich aufzulösen? Ja, dann wird es uns bewusst. Es geht darum, dass du die Zusammenhänge verstehst. Teilnehmer/-in: Ich denke auch, dass nicht alles Karma aufgelöst wird und nur praktisch eine Lücke entsteht, wo diese Höllenqual aufhört und man dann in den anderen Bereich wechseln kann. Wo die Höllen wesen so quasi ihr Höllendasein beenden und dann Wiedergeburt in anderen Bereichen annehmen können. Und dass sie dann in den anderen Bereichen, wo sie leichter Zugang zu dieser Innenschau haben, diese Ursachen für die nächsten Höllenreisen reinigen können. Dann können sie 100mal zwischen Höllendasein und Menschendasein wechseln. Es ist ja so, dass in diesen Bereichen nicht immer Freiraum möglich ist. D.h. die müssen da raus, das stimmt. Es ist so intensiv, da ist nichts anderes möglich. Man kann dann entweder warten, bis sich das erschöpft hat, was dann ziemlich lange dauert, oder man hat die Chance, dass man in einem Moment praktisch so einen klaren Gedanken fassen kann und dann ist es um. Und dann hast du die Chance, irgendwo anders wiedergeboren zu werden. Wenn du diese Chance nicht nutzt, dann machst halt die nächste Runde. So habe ich das auch gehört. Da muss es einen Moment des Bewusstwerdens geben. – Da bricht dann aber auch die Illusion ein in diesem Moment. Aber es ist auch gar nicht so einfach, einen solchen Moment zu haben, weil in diesem Bereich alles konstant und permanent auf den Bereich der Wahrnehmung beschränkt ist. Franziska: Ich finde es eine absolut interessante Frage: Wann können wir etwas reinigen? Müssen wir uns erst aller Mechanismen bewusst werden oder geht es auch schon vorher? Ich habe mir überlegt, mit welcher Motivation wir Tschenresi praktizieren. Da ist doch die Motivation da, weil irgendetwas nicht stimmt. Irgendwo fehlt uns etwas, irgendwo haben wir ein Leiden. Schon allein diese Motivation ist ein Ausdruck dafür, dass wir auf einer noch sehr früh-bewussten Ebene erkennen, dass wir nicht absolut perfekt sind, nicht absolut perfekt erleben. Wir müssen irgendetwas in Gang setzen, wir müssen den Weg gehen. Und wir machen eine Tschenresi-Praxis aus dieser Motivation heraus, dass wir mehr Liebe, mehr Entspannung für alle Wesen – uns eingeschlossen – in die Welt bringen wollen. Ich glaube, das ist so die allererste Motivation, wo sich schon auch etwas ändern kann. Wenn wir mit dieser Motivation anfangen zu praktizieren, hat sich schon etwas geändert. Wir müssen nicht schon alles von A-Z unter der Lupe analysiert haben. Und das ist das Geniale an Tschenresi, dass wir einfach diesem Licht, diesem liebevollen Licht vertrauen können. Es ist kein Licht, das jetzt von der Kerze kommt oder kein elektrisches Licht, sondern es ist Licht unseres Bedürfnisses nach Liebe. Und schon allein das ändert unser Bewusstsein. Und dass wir uns bewusst werden in diesem Prozess, das ist ohne Zweifel dann auf dem Weg. Teilnehmer/-in: Warum ist da eine Unterscheidung im Menschenbereich bzgl. des Landes der Wiedergeburt? Bei den Menschen ist es Dewachen und für alle anderen Bereiche Potala?

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Es ist einfacher für uns, nach Dewachen zu gelangen. Warum das aber für die Menschen so ist und für die anderen Daseinsbereiche nicht, das weiß ich auch nicht genau. Auf jeden Fall heißt es in der Erklärung zum Dewachen-Gebet, dass wir durch gewisse Voraussetzungen relativ einfach nach Dewachen kommen können. … vielleicht weil wir da als Menschen doch bestimmte Vorzüge den anderen Daseinsbereichen gegenüber haben, dass wir Bewusstsein bzw. Lernfähigkeit haben, dass wir Gebete wie „Emaho“ machen können, Wunschgebete, die uns damit verbinden. Es heißt, wenn man die Erklärung bekommen hat und sich vergegenwärtigen kann, wie es in Dewachen aussieht, und Vertrauen hat, schafft man dadurch eine Verbindung. Das wird im Bardo wieder bewusst, man erinnert sich an Amitabha, weil man eine Verbindung hat. Es ist auch ein spezieller Segen von Amitabha, der das ermöglicht, und nicht die eigene Verwirklichung, sondern es beruht auf dem Vertrauen, der Ausrichtung und dem Denken an Amitabha. … vielleicht sind wir dadurch bevorzugt, so leicht ins Reine Land von Buddha Amitabha zu kommen, dass wir jetzt gar nicht in Tschenresis reines Land gehen müssen, dass wir da so einen „Spezialweg“ haben. Dewachen ist für alle Wesen, nicht nur für Menschen. Ich finde es immer schwierig zu beantworten, was ich selber nicht sehen kann. Bei den anderen Daseinsbereichen fängt es ja schon an… Man kann auf jeden Fall Wünsche machen, dass alle Lebewesen in Dewachen geboren werden. Z.B. wenn ein Tier gestorben ist, dann kann man durch die eigene Praxis und Vertrauen in Amitabha die Verbindung mit dem Wesen herstellen und dann Wünsche machen. Das geht auf jeden Fall auch. Teilnehmer/-in: Ich bin jetzt ein bisschen durcheinander. Ich habe gedacht, diese Daseinsbereiche beziehen sich auf Menschen, dass ich mich als Mensch im tierischen Bereich in Dumpfheit oder sowas befinden kann oder im Götterbereich, dem eifersüchtigen Götterbereich, dass sich das immer auf Menschen bezieht und nicht auf Tiere im tierischen Bereich und Götter im göttlichen Bereich. Es bezieht sich auf uns in dem Sinne, dass wir diese Emotionen auch in uns erfahren, so können wir diese Welten bis zu einem gewissen Grad in uns erfahren. Aber dann bezieht es sich auf Wesen, die in dieser Welt, in ihrem eigenen Bereich wohnen. Tiere können wir sehen auf der Erde, das ist der Tierbereich, das sind nicht wir. Die Götterbereiche z.B. sind Versenkungs-Stufen, in die man durch Meditation hineingeraten kann. Das sind Bereiche auf einer feinstofflichen Ebene. Diese Wesen haben keinen materiellen Körper. Und das sind Versenkungs-Bereiche des Geistes. Die können wir natürlich auch in uns erfahren. Aber es gibt auch Daseinsbereiche, in die wir auch nach unserem Leben wechseln können. Es bezieht sich tatsächlich auf Welten, die wir aber mit unseren Augen nicht direkt sehen können – außer Menschen und Tiere. In anderen Welten ist es vermischt mit Wesen, die z.B. im Wasser leben. Was Höllen bereiche und Hungergeister angeht und die höheren Bereiche, wie Halbgötter und Götter, entzieht sich unse rer Wahrnehmung, weil die haben andere Körper. Ihre Körper sind nicht aus grober Materie wie unsere Körper, sondern das ist was Feineres, wie Lichtkörper. – Tschenresi hat auch einen Lichtkörper, das gibt euch vielleicht eine Idee davon. Aber in der Erfahrung dieser Wesen kann das auch sehr solide sein, für uns jedoch nicht sichtbar. Und da geht es tatsächlich um Götter: Brahma, Indra, … Da geht es praktisch vom Allertiefsten bis zum Allerhöchsten, was im Daseinskreislauf alles möglich ist. Also fast alle Möglichkeiten vom tiefsten Leiden bis zur allerhöchsten Erfahrung von Qualität der Welt des Daseins, was dann noch nicht Erleuchtung ist, sondern noch Erfahrung in Samsara, Teilnehmer/-in: Kann ich das dann so verstehen, dass ich einerseits als Mensch in meinem Geist in diese Bereiche gelangen kann, also tierischer Bereich durch Dumpfheit oder eifersüchtige Götter, wenn ich etwas Besseres sein möchte. Und gleichzeitig gibt es in jedem dieser Daseinsbereiche Wesen, die dort leben und nicht hin und her fluktuieren. Ja, genau. Wir sind ja an unseren Körper gebunden, wir sind da. Selbst wenn wir z.B. eine Psychose haben, kommen wir wieder zurück zu dem, was wir sind. Weil wir uns durch die Sinne wahrnehmen. Unsere Welt ist geschaffen durch Sinneswahrnehmungen, durch unseren Körper. Wenn der Körper nicht mehr da ist, gibt

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es alle möglichen anderen Manifestationen, wo der Geist dann hingehen kann. Das ist nicht unbedingt ein physikalischer Ort. Das ist innerhalb dieser sechs Daseinsbereiche? Ja. Und, wie gesagt, es gibt unwahrscheinlich viele Möglichkeiten. Die sechs Daseinsbereiche sind einfach nur Beispiele. Das sind grobe Kategorien, aber das ist alles vermischt. Man kann auch abwechseln. Es gibt traditionelle Geschichten, dass jemand nachts im Höllenbereich ist und tagsüber bei den Göttern. Weil das Karma ist so vielfältig. Das sehen wir auch unter uns, wir sind alle so anders. Aber wir sind alle trotzdem Menschen, weil wir einen Menschenkörper haben. Aber ohne den Menschenkörper gibt es dann unwahrscheinlich viele Möglichkeiten. Teilnehmer/-in: Wir sind im Menschenbereich in der Situation, dass wir wählen können. Wir können das verstehen und uns ausrichten und können in eine Richtung gehen, die wir möchten. Aber diese Möglichkeiten bestehen ja alle für uns. Wir sind nicht getrennt davon. Das ist genau das, was gemeint ist. – Nicht, dass wir diesbezüglich Paranoia entwickeln, dass wir durch gewisse Handlungen in einen bestimmten Bereich gehen könnten, aber im Prinzip ist es möglich. Alle Wesen sind auf eine gewisse Art gleich. Das ist auch in der buddhistischen Lehre das Besondere: Die Natur des Geistes – wir haben die Buddhanatur – ist in allen Wesen gleich. Im Prinzip sind alle Wesen gleich, nicht getrennt. Es gibt nicht eine Kategorie und dann kann man nicht in die andere Kategorie hinein. Wir sind alle gleich vom Grundgeist her. Deswegen ist es im Prinzip möglich, das alles zu erfahren, obwohl wir natürlich auch das Karma dafür brauchen. Aber im Prinzip sind wir nicht getrennt. Alle Wesen sind so wie wir, im Prinzip gleich auf eine gewisse Art. Nur die Schleier sind verschieden. Ja. Da ist der grundlegende Geist, aber möglich ist alles im Prinzip. – Wir sind fast am Ende mit dem Text. Das geht dann über in Wünsche. Möge ich selbst in diesem und allen weiteren … … Möge ich zum Wohle der Wesen den Dharma verinnerlichen! So werden alle Wesen unsere Schüler, indem wir Wünsche für sie machen und eine Verbindung herstellen.

Lama Tilmann: Geführte Praxis Wir bereiten uns innerlich wieder auf die Zuflucht vor. Wir sind ganz entspannt an einem Ort, wo wir uns wohlfühlen. Wir sind von zahllosen Wesen umgeben, vor allen Dingen sind da unsere Eltern, und vor uns im Raum erscheint Tschenresi, leuchtend, ganz strahlend. Versucht es euch immer noch ein bisschen strahlender vorzustellen, noch mehr Licht zuzulassen im eigenen Geist und achtet mal darauf, dass in eurer Vorstellung von Tschenresi – vier Arme, Vajrasitz, Lotus – das Licht, das von dieser inneren Vorstellung ausgeht, unbegrenzt wird, dass die Lichtaura sich ausdehnt und die Grenzen des Geistes erreicht. In dieser Lichtaura seht ihr auch die Farben des Regenbogens, speziell die Farben, die für die fünf Aspekte des zeitlosen Gewahrseins stehen, also zusätzlich zum Weiß auch das Blau, Gelb, Rot, Grün. Und jetzt erlaubt es, dass Tschenresi lebendig wird, eine lebendige Lichtgestalt, vibrierend, mit der Energie der erwachten Qualitäten, mitfühlender Blick, offen, gelassen. Wenn wir ihn so anschauen, und von ihm angeschaut werden, haben wir das Gefühl, er kennt uns durch und durch, und liebt uns durch und durch. Mit dem Wunsch, so zu werden wie Tschenresi, dieselben Qualitäten zu verkörpern, nehmen wir Zuflucht und entwickeln das Bodhicitta des Strebens und der Anwendung. Rezitation: Zufluchtsgebet

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Das Leuchten von Tschenresi wird noch größer, noch intensiver. Tschenresi löst sich darin auf und dieses immense Licht verschmilzt mit uns selbst und mit allen Lebewesen und wir ruhen in der Einheit. – Dann entsteht wieder ein Lotus über unserem Kopf mit einer Mondscheibe. Auf unserem Scheitel sitzt Tschenresi. Wir lassen Tschenresi innerlich entstehen. Es ist, als ob wir ihn entdecken würden: Ah, da ist er ja. – Die äußere Form von Tschenresi, drinnen in seinem Herzen der Lotus, … 6 Blütenblätter, … Mondscheibe, … und darauf die sechs Silben, die still stehen auf den Blütenblättern und von innen lesbar sind. Und auf der Mondscheibe das HRIH, strahlend weiß mit fünf-farbigem Licht, … und deutlich kleiner am Rande der Mondscheibe die Silben OṀ MA NI PAD ME HŪṀ im Kreis geschrieben, von außen lesbar. Mantraphase Wir werden das Mantra weiter rezitieren, aber nicht mehr mit den Emotionen arbeiten. Ich lade euch ein, einfach in diesem leuchtenden, strahlenden, klaren Bewusstsein zu verweilen. Das Mantra dreht sich weiter, Tschenresi ist weiterhin da, wir sind selber Tschenresi und können einfach so sein, ohne irgendetwas tun zu müssen. Die Vibration des Mantras ist da, wir spüren sie und lassen den Geist sich immer weiter entspannen, ohne irgendeine Aufgabe. Widmung

Das Sechs-Silben-Gebet Ich habe vor, euch in dieser Sitzung durch eine Praxis hindurchzuführen, in der ihr selber Tschenresi seid. Tatsächlich gibt es für diese Praxis einen Text, das „Sechs-Silben-Gebet“. Dieser dreiseitige Text beschreibt Stück für Stück die Visualisationen, durch die wir gehen; und jedes Mal nach so einem Satz machen wir direkt wieder OṀ MANI PADME HŪṀ. Immer wieder, alles machen wir mit OṀ MANI PADME HŪṀ, egal, was die Praxis bringt. Für alles wird OṀ MANI PADME HŪṀ eingesetzt. Ich glaube, so etwa 34 Mal geht das. Wir werden also so viele Male innehalten, jeweils etwa eine Mala OṀ MANI PADME HŪṀ rezitieren. Ich gebe hier und da noch Hinweise, um was es gerade geht. Wir können alles mit dem Mantra verbinden. Das Besondere an der Praxis ist, dass wir uns selber sehr schnell als Tschenresi visualisieren. Das halten wir in diesem Bewusstsein die ganze Zeit aufrecht, bis zur Auflösungsphase am Schluss. Es ist für diejenigen von euch, die schon die Tschenresi-Ermächtigung erhalten haben, eine wunderbare Vorlage – falls ihr Lust habt – OṀ MANI PADME HŪṀ mit Selbstvisualisation als Tschenresi zu praktizieren. Für die anderen ist es vielleicht eine Ermutigung, wenn ihr das tatsächlich praktizieren wollt, bald zu solch einer Ermächtigung zu gehen und damit weiter praktizieren zu können. Es ist also Abschluss und Ausblick zugleich. Ihr könnt alles anwenden, was wir in diesem Kurs in dieser Woche gelernt haben, während wir das durchgehen, und es gibt euch einen Geschmack davon, wie es sich anfühlt, wenn Tschenresi vom Kopf so runterrutscht und wir selber wirklich Tschenresi sind. Ihr braucht nur eure Mala, ansonsten führe ich euch durch. Teilnehmer/-in: Ist der Text hier irgendwo zu finden? Nein. Den Text kann ich euch gerne mailen. Ich werde veranlassen, dass wir den irgendwie schön drucken, ein kleines Heftchen machen. Das kriegen wir relativ schnell hin, weil die Übersetzungen fertig sind. Teilnehmer/-in: Kannst du die Ermächtigung geben? Ich kann, ich habe die Erlaubnis von Gendün Rinpotsche bekommen, Ermächtigungen zu geben. Aber ich mache das nicht öffentlich und möchte das noch nicht anfangen in dieser Phase meines Lebens. Das fühlt sich noch nicht so richtig an. Es ist besser, ihr geht zu den großen Meistern, um dort die Ermächtigung zu bekommen. Zunächst einmal erscheint Tschenresi über unserem Kopf vor uns. Wir beten zum Meister, den Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Wir nehmen Zuflucht zum Schützer Tschenresi. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Zum Wohle der sechs Arten von Lebewesen, unseren Müttern, entwickeln wir den Geist des Erwachens. –

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OṀ MANI PADME HŪṀ, … Wir kontemplieren Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Jetzt stellen wir uns vor, dass ganz viele Opferungen entstehen und Tschenresi dargebracht werden: Das magische Spiel der Dimension des klaren Samadhis bringt Opferwolken wie die des Glorreichen Samantabhadra hervor, die in ständigem Strom alle Orte und Räume füllen. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Alle Phänomene sind die Dimension der Leerheit. Alle Länder und Orte sind das Reine Land des Berges Potala mit seinem Palast, klar und vollkommen. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Wir visualisieren, dass wir selber in Dewachen sind. In der Mitte erscheinen wir als Tschenresi. Unser leuchtend weißer Körper strömt Millionen von Lichtstrahlen aus. Wir besitzen die Merkmale und Zeichen eines edlen Wesens, haben ein friedliches Lächeln und sind von attraktiver Erscheinung. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Unser Gesicht weist auf die eine Essenz, den Wahrheitskörper, hin. Die Augen, Methode und Weisheit, schauen halb geöffnet mit mitfühlendem Blick. Die Hände, die Vier Unermesslichen, sind fein und geschmeidig. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Die beiden Haupthände sind am Herzen aneinander gelegt. Die untere rechte, hält eine Kristall-Mala, die untere linke einen weißen Lotus. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Die dunkelblauen Haare sind zum krönenden Scheitelknoten gebunden. Der Rest strömt lose in Wellen herab, und auf dem Scheitel erstrahlt das Kronjuwel. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Dieses Kronjuwel ist Buddha Amitabha. Wir tragen bunte Seidengewänder und eine Stirnschleife. Viel kostbarer Schmuck ziert uns vollendet, und die linke Brust bedeckt das Fell eines Rehes. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Unseren Körper vollendet in jeder Pore eine immense Anzahl reiner Länder, in denen entsprechend viele Buddhas und Bodhisattvas weilen. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Dabei stellen wir uns vor, dass jetzt in jeder Pore unseres Lichtkörpers weitere Reine Länder mit Buddhas sind, in denen die Buddhas und Bodhisattvas unterrichten. Unsere Rede segnet alle Klänge und Stimmen der Welt und ihrer Bewohner als das Sechs-Silben-Mantra und bewirkt Befreiung durch Sehen, Hören, Sich-Erinnern und Gewahr-Werden. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Unser Geist verlässt nie die Dimension der Leerheit und betrachtet mit der Strahlkraft großen Mitgefühls, frei von Bezugspunkten, alle sechs Arten von Lebewesen, unsere Mütter, als unsere Kinder. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Die Beine in Vajra-Haltung weilen wir auf einem Sitz aus weißem Lotus und Vollmondscheibe und füllen alle Richtungen mit strahlendem Licht. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ, … In unseren drei Stellen – Stirn, Kehle und Herz – sind deutlich die funkelnden Silben OṀ – weiß, ĀḤ – rot und HŪṀ – blau, vollkommener Ausdruck der authentischen drei Vajras Körper, Rede und Geist. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, …

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Von der Keimsilbe HRIH im Herzen, strahlende Vitalität, gehen Lichtstrahlen aus, und die Helden zeitlosen Gewahrseins strömen wie Regen herab und verschmelzen untrennbar in den Ausdruck von Samaya – in unserer Visualisation – Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ Erneut strahlt Licht aus und lädt die Ermächtigungsgottheiten ein, die fünf Dhyani-Buddhas. Die Ermächtigung reinigt die Schleier, vervollkommnet die Qualitäten und der segensreiche Amitabha krönt unser Haupt. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Jetzt verneigen sich Opfergöttinnen vor uns und preisen uns mit folgenden Worten: Du liebst alle Wesen wie deine Kinder und schenkst besonders den Bewohnern des Landes des Schnees deine Aufmerksamkeit. Wir verbeugen uns vor dem Schützer Tschenresi. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Dieselben Opfergottheiten bringen uns nun Gaben dar und singen dazu: Vertreten durch die tatsächlich vorhandenen Gaben bringen wir mittels tiefer Meditation makellose Ozeane von ausgestrahlten Opferwolken dar. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Und dieselben Opfergöttinnen preisen uns nun mit den Worten: Du hast die höchste Methode und Weisheit gemeistert und besitzt die unvorstellbaren Qualitäten des segensreichen Gewahrseins. Hingebungsvoll preisen wir dich, Schützer Tschenresi. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … In unserem Herzen ist in der Mitte eines sechs-blättrigen weißen Lotus ein HRIH, dessen Blütenblätter mit den sechs Silben versehen sind. Das Mantra ertönt mit seinem Klang und verströmt strahlendes Licht. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Stimuliert durch die Mantra-Rezitation bringt Licht von der Silbe HRIH den Edlen Opferungen dar, kehrt mit all ihrem Segen zurück und verschmilzt mit uns. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Jetzt stellen wir uns vor, dass von der Silbe HRIH die einzelnen Silben auf den Blütenblättern stimuliert werden. Zunächst einmal das weiße OṀ: Das weiße OṀ strahlt in den Bereich der Götter, reinigt ihren Geistesstrom, geprägt vom Stolz und dem Leid des Überganges und Absturzes, und das letztendliche Gewahrsein der Gleichwertigkeit offenbart sich. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Das grüne MA strahlt in den Bereich der Halbgötter, reinigt ihren Geistesstrom, geprägt von Neid und dem Leid des Kampfes und Streites, und das zeitlose, all-vollendende Gewahrsein offenbart sich. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Das gelbe NI strahlt in den Bereich der Menschen, reinigt ihren Geistesstrom, geprägt von Zweifeln und dem Leid von Geschäftigkeit und Armut, und das zeitlose, selbst erscheinende Gewahrsein offenbart sich. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Das blaue PAD strahlt in den Bereich der Tiere, reinigt ihren Geistesstrom, geprägt von Dumpfheit und dem Leid von geistiger Beschränktheit, und das zeitlose Gewahrsein der Dimension der Wahrheit offenbart sich. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Das rote ME strahlt in den Bereich der Hungergeister, reinigt ihren Geistesstrom, geprägt von Begierde und dem Leid von Hunger und Durst, und das zeitlose, all-unterscheidende Gewahrsein offenbart sich. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Das dunkelblaue HŪṀ strahlt in den Bereich der Höllenwesen, reinigt ihren Geistesstrom, geprägt von Hass und dem Leid von Hitze und Kälte, und das zeitlose, spiegelgleiche Gewahrsein offenbart sich. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, …

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Alle Formen und Erscheinungen der drei Bereiche sind Tschenresi. Alle Laute sind das Summen des natürlichen Mantra-Klanges, und Gedanken von Subjekt und Objekt haben die Natur des klaren Lichtes. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Und ein letztes Mal wenden sich die Opfergöttinnen uns zu. Sie preisen uns mit den Worten: Oh Tschenresi, du Schützer der Schneeberge, betrachte uns, deine betenden Kinder, mit Liebe und segne bitte unseren Geistesstrom! Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, OṀ MANI PADME HŪṀ, … Und jetzt die Auflösung: Alle Erscheinungen und Laute verschmelzen in die Weite des klaren Lichtes. Die Basis ist das ungekünstelte, natürliche Mahamudra. Der Weg ist, nichts zu tun und das Antlitz des Edlen zu sehen. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Und mit dieser Verschmelzungsphase sagen wir nur ein einziges OṀ MANI PADME HŪṀ und gehen dann in die Stille. – Stille –

Aus der Offenheit des Raumes, der all-durchdringenden Leerheit, erscheinen wir wieder als der Körper des Edlen und wirken mit Liebe und Mitgefühl zum Nutzen der Wesen. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Widmung: Angedeutet durch unsere Meditation und Rezitation, mögen durch die Kraft des in den drei Zeiten angesammelten Heilsamen die Abgründe Samsaras der Sechs Arten von Lebewesen, unseren Müttern, erschüttert werden. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Der Wunsch in Dewachen wiedergeboren zu werden: Wenn die Erscheinungen dieses Lebens vorüber sind, mögen wir unverzüglich im westlichen Land wahrer Freude wiedergeboren werden und schnell das Ziel des Erwachens erlangen. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Mögen durch den Segen des mächtigen Schützers Tschenresi, Essenz der Drei Zufluchts-Juwelen, alle Welten stets von Segen, Glück und Wohlergehen erfüllt sein. Wir beten zur Gottheit, dem Großen Mitfühlenden. – OṀ MANI PADME HŪṀ, … Der Text beschließt mit folgenden Worten: Kontempliere so den Sinn dieser Verse und rezitiere jedes Mal zwischen ihnen einhundert Mal oder häufiger die Sechs Silben, so viel wie du kannst. Entwickle dabei klare, tiefe Meditation. Wenn du dies jeden Tag ohne Unterbrechung tust, gibt es keinen Zweifel, dass du nach Tod und Übergang unverzüglich im Land wahrer Freude, in Dewachen, geboren wirst. Vereint mit dem Geistesstrom des Mahasiddhas Thangtong Gyalpo erschien im Tal von Guge, im oberen Nari, der Geheime Yogi Mahasiddha Tsültrim Sangpo. Er lebte 130 Jahre im Menschenbereich. Sein Körper blieb dabei frei von den Fehlern des Alters und löste sich am Ende in Licht auf. Der Große Mitfühlende gewährte ihm direkte Begegnungen und dieser Text birgt den Segen seiner Vajra-Worte. Tugend *** Der Autor dieses Textes wurde als eine Ausstrahlung von Thangtong Gyalpo betrachtet, dem Autor des anderen Textes. Es scheint, dass dieser Text von ihm in einer Vision empfangen wurde und er ihn dann aufgeschrieben hat.

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Schwarz(-blau) mitfühlende Güte erleuchteter Geist Paramita der Weisheit dualistisches Anhaften und Hass Höllenwesen Spiegelgleiches ursprüngl. Gewahrsein Akshobya (Unerschütterlich)

Rot erleuchtete Rede Paramita Freigebigkeit Begierde, Habsucht der Yidaks unterscheidendes ursprüngl. Gewahrsein Amitabha (Grenzenloses Licht)

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Weiß erleuchtete Qualitäten Paramita meditative Stabilität Stolz Götter ursprüngl. Gewahrsein der Gleichwertigkeit Ratnasambhava (Juwelenquelle)

Grün erleuchtete Aktivität Paramita Geduld Neid Halbgötter alles vollendendes ursprüngl. Gewahrsein Amoghasiddhi (Unfehlbare Verwirklichung)

Gelb allumfassendes, anstrengungsloses Mitgefühl Einheit von erleuchtetem Körper, Rede, Geist, Qualitäten, Aktivitäten Paramita Ethik (wohltuende Disziplin) Geburt, Alter, Krankheit und Tod Menschen (alle Emotionen gemischt) spontanes ursprüngl. Gewahrsein Vajradhara, Ogmin (allerhöchster Raum der Phänomene)

Blau unparteiisches Mitgefühl, Gleichmut Körper des Erleuchteten Paramita freudige Ausdauer [Weisheit] Dummheit, Stumpfheit, Beschränktheit, Knechtschaft der Tiere ursprüngl. Gewahrsein des Raumes der Phänomene Vairocana (Erleuchteter)

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