Tote Väter - Buch.de

Historikerin mit kriminalistischer Spürnase, einen Toten, den sie von früher kennt. Karl Stein, erfolgreicher Koblenzer Anwalt, wurde grausam ermordet. Seine Kinder Christine und Falk waren einst Teresas beste Freunde. Vor 15. Jahren verschwanden die Zwillinge aus ihrem Leben. Bis heute weiß Teresa nicht, warum.
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Andrea Weisbrod

Tote Väter

F a m i l i e n g e h e i m n i s In einer Absteige in Paris findet Teresa Kern, Historikerin mit kriminalistischer Spürnase, einen Toten, den sie von früher kennt. Karl Stein, erfolgreicher Koblenzer Anwalt, wurde grausam ermordet. Seine Kinder Christine und Falk waren einst Teresas beste Freunde. Vor 15 Jahren verschwanden die Zwillinge aus ihrem Leben. Bis heute weiß Teresa nicht, warum. Obwohl sie nur zufällig in den Mord stolpert, gerät Teresa unter Verdacht und ermittelt auf eigene Faust. Durch ihre Schnüffeleien beginnt für sie zwischen Paris und Koblenz eine unheimliche Reise in die Vergangenheit: Ihr tödlich verunglückter Vater Ferdinand Kern und der ermordete Anwalt kannten sich, die Familien Kern und Stein sind durch ein düsteres Geheimnis aus dem Zweiten Weltkrieg verbunden. Falk und Christine tauchen wieder auf und ein dunkeläugiger Kommissar verdreht Teresa den Kopf, während sie immer tiefer in die mörderische Geschichte der beiden Familien zwischen Weltkrieg und Gegenwart eintaucht. Andrea Weisbrod, geboren 1966, verbrachte ihre Kindheit mit Eltern und Dackel in einem kleinen Westerwalddorf. Ihre gesamte Schulzeit absolvierte sie in Koblenz, wo sie sich mit ihrer Clique die Wochenenden mit Videoabenden, Haschpfeifchen, Erdbeersekt, Spaghetti mit Würstchen, New Wave und langen Diskonächten um die Ohren schlug. Nach Abschluss eines Geschichtsstudiums zog sie im Jahr 2000 nach Paris und arbeitete dort erfolgreich als Journalistin im Bereich Kultur und Lifestyle. In Paris entstand ihr erster Krimi um traumatisierte Soldaten und ein düsteres Familiengeheimnis. Als Koblenzerin mit französischem Herzen lebt sie mit ihrem Mann und zwei quirligen Töchtern zwischen Paris, der französischen Atlantikküste und ihrer alten Heimatstadt.

Andrea Weisbrod

Tote Väter

Original

Kriminalroman

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet: www.gmeiner-verlag.de © 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0 [email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2014 Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt Herstellung: Mirjam Hecht Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung eines Fotos von: © NearlyG 0 – Fotolia.com und © Andrea Weisbrod ISBN 978-3-8392-4525-5

Für Steinbock, Stern und Rose

»Du kannst nicht kreativ sein, wenn du deine eigene Vergangenheit ignorierst.« Kris van Assche

1 Ich bin traurig. Unendlich traurig. Die Traurigkeit füllt mich aus wie ein tiefer schwarzer See. In der Hand halte ich einen kleinen Handschmeichler aus Holz, der mit geschnitzten Miniaturen verziert ist. Winzige Menschlein, die noch kleinere Eselchen führen, zwergenhafte Häuschen, zerbrechliche Palmenstämmchen, mein kleiner Glücksbringer. Er hat meinem Vater Ferdinand gehört, doch Ferdinand ist nicht mehr da. Im Nebenzimmer fällt etwas um. Jemand stöhnt. Es klingt nicht gut. Außer mir scheint niemand die Geräusche gehört zu haben. Das Hotel du Nord dämmert weiter in nächtlicher Stille. Soll ich einfach sitzen bleiben und die Frau von der Rezeption anrufen? Meine Finger ruhen sich auf der Kante meines schäbigen Schreibtischs aus, gleich daneben steht das Telefon. Rufe ich die Rezeptionistin an und es stellt sich heraus, dass gar nichts passiert ist, stehe ich da wie eine überspannte Kuh. Eine überspannte sechsunddreißigjährige Kuh, die zu viel allein ist und eine blühende Fantasie hat. Unschlüssig stehe ich auf und schlüpfe schließlich doch aus dem Zimmer, im Rücken liebkost mich die Überschaubarkeit des hässlichen, kleinen Raums, in dem ich seit einigen Wochen lebe. Leise schleiche ich über den dunklen Flur zum Nebenzimmer. Es ist nicht abgeschlossen. Etwas raschelt hinten beim Fenster. Die Aufregung füllt meinen ganzen Kopf mit Herzschlag aus. Im matten Schein einer abgehängten 7

Nachttischlampe tasten meine Augen den Zwillingsbruder meines Zimmers ab. Auf dem Boden neben dem geöffneten Fenster, halb verdeckt durch ein zerwühltes Bett, liegt ein Mann. Zusammengekrümmt stöhnt er vor Schmerzen. Schritt für Schritt schiebe ich mich ins Zimmer. Er ist allein. In meinem Nacken prickeln kleine Nädelchen, ich wische meine feuchten Hände an der weichen Oberfläche meiner Jeans ab. »Hallo, kann ich Ihnen helfen?« Stöhnen, der Versuch, sich zu bewegen. Ich gehe vollends in den Raum und knie neben dem Mann nieder. Herzinfarkt? Was tut man in so einem Fall? Ich nehme ein Kissen vom Bett, schiebe es dem Mann unter die Schulter und drehe ihn langsam auf den Rücken. Beim Anblick seines Gesichts schnappe ich nach Luft, als hätte mir einer in den Magen geboxt. »Karl?« Karl! Ich bin so platt, dass ich mich erst mal neben ihn auf den Boden setze. »Karl, ich bins, Teresa, Teresa Kern. Was tust du hier – was ist mit dir?« Weit aufgerissene Augen flackern in einem fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrten Gesicht. Er versucht zu sprechen. »Nicht, streng dich nicht an – ich ruf einen Arzt, es geht gleich besser.« Ich berühre ihn leicht an der Brust. Karl stöhnt wieder. Der viele Schweiß auf seinem Körper hat sein teures Hemd in einen dunklen Lappen verwandelt. Neben ihm liegt ein leeres Glas, ein kleiner Tisch ist umgefallen. Ich schiebe beides beiseite und versuche, Karl aufs Bett zu ziehen. Vergeblich. Er ist einen guten Kopf größer und mindestens 25 Kilo schwerer als ich. Es hat keinen Zweck. Ich lockere seine Krawatte, öffne den obers8

ten Knopf seines Hemdes, hebe das Telefon ab und wähle die Nummer der Rezeption. »Ich brauche Hilfe, hier liegt jemand, der stirbt, glaube ich.« Die Rezeptionistin ruft einen Krankenwagen. Karl geht es immer schlechter. Zögernd nehme ich seine feuchtkalte Hand. Er tut mir leid, wie er so auf dem schäbigen Teppichboden des Hotels liegt. Das aufdringliche Muster schwappt mir entgegen. Große ockergelbe Blumen auf orangefarbenem Grund, die mit einem schmalen braunen Rand eingefasst sind. Die Kanten nicht sehr exakt verlegt. An manchen Stellen reißen die Blumen plötzlich ab oder sehen wie zusammengedrückt aus. Der Teppich riecht nach Schweißfüßen und kotigen Straßenschuhen. Meine eigene Körperwärme wird unaufhaltsam in die eisige Kälte von Karls Hand gesaugt, so als würde mein Leben in dem verkrümmten, wimmernden Sterbenden neben mir versickern. Mir wird schlecht. In meiner Brust sticht ein spitzer Gegenstand nach meinem holpernden Herz. Kämpf es runter, lass es nicht zu, kümmere dich einfach um Karl, der braucht deine Hilfe, ich hämmere mir die Worte in den Kopf. Vorsichtig löse ich meine Hand aus Karls verkrampften Fingern. Mit einem Handtuch vom Waschbeckenrand tupfe ich ihm über sein nasses, bläulich verfärbtes Gesicht. Er hat, im Versuch Luft einzusaugen, den Mund weit geöffnet. Panisch wie ein Fisch auf dem Trockenen. Seine Augäpfel sind grotesk nach hinten verdreht, als hätte er sich schon von der Welt abgewandt zu einer letzten unheimlichen Innenschau. Die Gänsehaut auf meinem Körper reibt unangenehm an der Innenseite meiner Kleider. Irgendwann flasht Blaulicht ins Zimmer. Der klapprige Aufzug setzt sich in Bewegung. Karl Stein stirbt, kurz nachdem der Notarzt eingetroffen ist. 9

»Sie kannten den Toten gut?« Ich sitze zitternd in der Hotelhalle. Meine Zähne schlagen aufeinander. Ein stockfleckiger Spiegel gegenüber reflektiert mein bleiches, völlig übermüdetes Gesicht. Mit meinen roten Haaren und der zerlaufenen Wimperntusche sehe ich aus wie ein grotesker Clown. Ich schüttele den Kopf. »Er war der Vater einer Schulfreundin. Ich habe seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr.« »Was haben Sie dann hier gemeinsam mit ihm gemacht?« Der Ton des Kriminalbeamten ist unfreundlich. »Gemeinsam, was meinen Sie damit? Ich wusste gar nicht, dass er auch hier wohnt. Reiner Zufall, dass er das Zimmer neben mir hatte.« »Zufall?« Im Mund des Kommissars verwandelt sich das simple Wort in eine Anklage. »30 Jahre Berufserfahrung haben mir gezeigt, dass es keine Zufälle gibt, Mademoiselle Kern! Nur Beteiligte, die ihre Beteiligung als Zufall tarnen wollen.« »Beteiligte?« Aufkeimender Ärger drückt meinen Magen zu einem giftigen Knoten zusammen. »Ich bin nicht beteiligt, haben Sie das verstanden? Ich bin nicht beteiligt, ich habe Karl Stein nur gefunden und versucht, ihm zu helfen. Eine normale menschliche Reaktion, die im Allgemeinen Hilfsbereitschaft genannt wird. Kann ich jetzt gehen, es ist drei Uhr morgens? Ich bin todmüde, stehe wahrscheinlich unter Schock und muss dringend schlafen. Und was soll das überhaupt? Karl Stein hatte doch offensichtlich einen Herzinfarkt, wieso ist für so was die Kripo zuständig?« »Ob wir zuständig sind oder nicht, wird die Obduktion ergeben, Mademoiselle Kern.« 10

Wenn er mich noch einmal so aufgeblasen Mademoiselle Kern nennt, muss ich, glaube ich, kotzen. Meine Wut sackt in sich zusammen. Ich fühle mich, als hätte mir jemand den Stöpsel rausgezogen. Ich kann nicht mehr. Was hatte Karl in Paris zu schaffen, ein gut betuchter Anwalt wie er? Und vor allem: Was hatte er mit all seinem Geld in einem Hotel wie diesem hier zu suchen? Und warum starb er hier? Der Kommissar redet weiter auf mich ein. Name, Adresse, was ich beruflich mache, und warum ich hier in Paris bin. Mechanisch gebe ich Antwort. Ich darf erst mal nicht nach Deutschland zurück, muss mich zur Verfügung halten. Dann lässt er mich endlich in Ruhe. Als ich im Bett liege, kann ich nicht schlafen. In meinem Kopf wirbeln Bilder aus der Vergangenheit. Wie lange ist das alles schon her? 15 Jahre seit dieser peinlichen Abiturfeier, seit wir uns geschworen haben, nie wieder an diese fürchterliche Schule zurückzukehren. Milde lächelnde Eltern beim Festakt in der geschmückten Aula, Mitschüler mit Benetton-Pullovern, College-Slippern und Seitenscheitel, die der Laudatio andächtig lauschten. Popper hießen diese Nullen damals. Die widerliche Direktorin, die behauptete, alle Schüler würden sich später bestimmt gern an ihre Schulzeit zurückerinnern, was natürlich komplett gelogen war. 15 Jahre, seit Christine, Falk und ihr reicher Vater Karl Stein in meinem Leben auftauchten. 15 Jahre, seit wir die Welt erobern wollten. Barfuß durch den Brunnen am Koblenzer Zentralplatz geplanscht sind, wo sich nach Ladenschluss nur die Penner trafen. Die Penner und Leute wie wir. Kleine New-Wave-Mädchen und Jungs, die alle ein bisschen aussahen wie David Bowie. Wohl behü11

tete Planschbecken-Revoluzzer, die an dieser öden Leerstelle mitten in der Stadt, wo sich die dunklen Fassaden der Fünfzigerjahre-Kästen gegenseitig in die leeren Fenster glotzten, ihren Faber-Erdbeersekt mit dem Rotz der Gesellschaft teilten. Am Abend nach der Abifeier schüttelte Christine eine Sektflasche bis der Korken knallte, die rote Flüssigkeit schäumte hoch in die Luft und Falk lachte dazu. Falk. Wie lange ist das her. Unruhig wälze ich mich in meinem Bett herum. Inzwischen ist es fünf Uhr morgens, in drei Stunden muss ich aufstehen. Karl Stein ist tot. Mit 60 Jahren gestorben in einem schäbigen Hotelzimmer am Canal St. Martin in Paris. Was macht das alles für einen Sinn? Was hat er hier gewollt? Er hätte sich ein Hotel wie das Ritz leisten können. Mit Champagner und Nutten und allem, was für so einen wie ihn dazugehört hätte. Müde drehe ich mich und sehe aus dem Fenster. Es ist so kalt. Ein nadelspitzer Luftzug trifft durch die Fensterritzen auf meinen nackten Fuß. Fröstelnd ziehe ich mir eine zweite Decke über die Schultern. Der Regen ist in Schnee übergegangen, dazu ein scharfer Wind, der die Flocken fast waagerecht fliegen lässt. Im gelben Kegel der Straßenlaternen sehen sie aus wie die Reflexe von Stroboskoplicht auf einer Discokugel. So eine, wie sie sich vor vielen Jahren auf der Party drehte, auf der ich Karl Stein zum ersten Mal traf. Ich hatte mich gerade erst mit Christine und Falk angefreundet. Ihr Vater Karl war der Boss der florierenden Anwaltskanzlei Stein & Partner in Koblenz. »Hey, du kannst uns duzen, wenn du magst. Ich heiße Karl und das«, er deutete auf die Frau neben sich, »ist meine Göt12