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TEUTSCHLAND – EINE SPURENSUCHE

Thomas Lau

TEUTSCHLAND Eine Spurensuche 1500 bis 1650

Bibliografische fi Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografi fie; detaillierte bibliografi fische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2010 Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Thomas Theise, Regensburg Satz und Gestaltung: Satz & mehr, R. Günl, Besigheim Druck und Bindung: CPI-Ebner & Spiegel, Ulm ISBN 978-3-8062-2376-7 Besuchen Sie uns im Internet: www.theiss.de

INHALT INHALT

„TEUTSCHLAND“ – EINE SPURENSUCHE

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DIE GEBURT DER NATION – „TEUTSCHLAND“ ZWISCHEN 1500 UND 1648

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Die Erben des Tacitus – eine Nation wird gefälscht . . . . . . . . .

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Eine deutsche Dynastie? Habsburg und die Folgen . . . . . . . .

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Des edlen Deutschlands Zierde – Adelskultur und Germanenkult . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Stadt – Brutstätte nationalen Vorurteils . . . . . . . . . . . . . .

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„ W A C H A U F, D U D E U T S C H E S L A N D “ – URSACHE UND WIRKUNG VON REFORMATION UND KONFESSIONALISIERUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Streit um die Kirche – Wege zur Reformation . . . . . . . . .

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„Oh Teutschland“ – die Reformation zwischen Theologendisput und Bauernkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Deutsche Glaubenswächter – von der Entstehung der Konfessionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das paradoxe Zeitalter – Grenzen und Gefahren der Konfessionsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 0 9

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I N H A LT

D A S R E I C H „ T E U T S C H E R N A T I O N “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Gekrönte Häupter – das Reich der Rituale . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 4 Das Reich der Juristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 3 6 Das Reich der Diplomaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 4 8 Das Reich im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 5 7 L I T E R A T U R E M P F E H L U N G E N . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 P E R S O N E N - U N D O R T S R E G I S T E R . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

„TEUTSCHLAND“ – EINE SPURENSUCHE „TEUTSCHLAND“ – EINE SPURENSUCHE

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er Chronist zog eine deprimierende Bilanz. Neunhundert Jahre Krieg gegen die Muslime hatten die Christenheit von einer Nie-

derlage zur nächsten geführt. Unendlich viel Blut war vergossen worden: Königreiche, Völker und Länder gingen dennoch verloren. Der Zorn der Heiden hatte nichts an Schärfe verloren. Ihre Eroberungszüge bedrohten nun die letzten Zufl fluchtsstätten der Christenheit. Europa schien dem Untergang geweiht zu sein. So groß das Unglück, so erstaunlich war die Blindheit und Verstocktheit der geschlagenen Sünder. Ungerechtigkeit und Habgier, Eigennutz und Gottesferne – all jene teufl flischen Triebe, die das Unglück verschuldet hatten, verseuchten die Christenheit nach wie vor. Der Verlust der alten Tugenden und die Blindheit gegen die Lehren der Geschichte zogen die Europäer immer weiter in den Strudel der Katastrophe hinein. Gott wird nicht eher seine Geißel ruhen lassen, bis man in den Spiegel der Wahrheit schaut und die Kräfte der Sünde mit Stumpf und Stil ausrottet. Geschichtsschreibung, so erklärte Johannes Thurmeier alias Aventinus im Vorwort seiner bayerischen Chronik aus dem Jahre 1526, soll dem Leser daher nicht schmeicheln, sondern ihm einen Spiegel vorhalten. Sie soll ihn belehren und ihm einen Ausweg aus einer schwierigen Situation weisen. Durch akribische Auswertung von Dokumenten, Annalen, Bildern und weiteren Quellen will Aventinus das Dunkel erhellen, und er weiß fürwahr Erstaunliches zu berichten. Während alle Welt sich den Heldentaten der Juden, der Römer, der Griechen oder der Perser zuwendet, war die Ge-

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schichte des wichtigsten und glorreichsten Volkes der Erde bislang unerzählt geblieben – die der Deutschen und ihres vornehmsten Stammes, der Bayern. Noah selbst habe seinen Sohn Tuiscon – den Stammvater aller Deutschen – nach Norden entsandt, um einen Idealstaat zu gründen. Der Erfolg des Unternehmens war offenkundig: Die wilden Germanen brachten einen Heldenkönig nach dem anderen hervor, sie vereinten Gottesnähe, Bildung und Natürlichkeit miteinander. Siegreich überzogen sie den Kontinent mit Krieg. Bedroht wurde die Nation der edlen Wilden lediglich durch das Virus der römischen Dekadenz. Die französischen Brüder waren ihm bereits anheimgefallen. Nun hatte der Krankheitserreger seine Attacken auf Deutschland ausgedehnt. Es war daher an der Zeit, dass sich das Stammland der Germanen unter der Führung Bayerns wieder seiner sittlichen Wurzeln erinnerte. Kein Feind, weder Franzosen noch Türken, konnte den Deutschen dann noch widerstehen. Das zunächst in lateinischer, später in deutscher Sprache erschienene Werk wurde von den humanistischen Freunden des Autors mit Begeisterung aufgenommen. Aventinus galt ihnen als einer der hervorragendsten Gelehrten seiner Zeit, als ein Mann, der völlig neue Aspekte der Geschichte Deutschlands zutage gefördert hatte. Deutschland – dieses Wort wurde von Aventinus mit erstaunlicher Geläufi figkeit verwendet. Die Existenz einer deutschen Nation, die eine gemeinsame Geschichte, gemeinsame Tugenden, ein gemeinsames Vaterland besaß, schien für ihn – und nicht nur für ihn – außer Frage zu stehen. Für national gesinnte Historiker des 19. Jahrhunderts waren dergleichen Bekenntnisse der Humanisten ein wahrer Glücksfall, schienen sie doch die These von der natürlichen, weit in die Geschichte zurückzuverfolgenden Existenz der Nation zu bestätigen. Im 16. Jahrhundert sei sie sich zum ersten Male ihrer selbst bewusst geworden. Dass dieses Bewusstsein sich gegen Rom wandte, gegen den welschen Tand, wurde in Zeiten des Kulturkampfes als weitere Bestätigung des eigenen Geschichtsbildes wahrgenommen. Der Kampf der deutschen Kaiser des Mittelalters fand hier, so frohlockte man, eine ideologisch refl flektierte Fortsetzung. Leopold von Ranke

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wusste das 16. Jahrhundert als deutsches Drama zu inszenieren. Das um seine sittliche Gestalt und seine staatliche Einheit ringende Deutschland wurde weltgeschichtliche Bühne und kollektiver Akteur in einem. Was die Humanisten erstmals formulierten, wurde dabei von einem deutschen Heros aufgenommen, der Gelehrsamkeit und – so frohlockte man – deutsche Innerlichkeit zugleich verkörperte. Martin Luther, der deutsche Revolutionär, war Taktgeber einer Umwälzung, die die Nation in das Licht der Moderne führte und zugleich in die erste nationale Katastrophe. Thesenanschlag und Westfälischer Friede, deutsche Heldentat und deutsches Trauma bildeten in diesem Geschichtsbild gleichsam die Eckpunkte eines zentralen Abschnitts der deutschen Nationalgeschichte. Sicher, es gab auch andere Stimmen. Ernst Troeltsch und Max Weber etwa hatten schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in höchst gegensätzlicher Weise die europäischen Wirkungen der Wittenberger Reformation hervorgehoben und deren Bedeutung zugleich relativiert. Dergleichen Stimmen blieben zwar nicht ungehört, ihre volle Wirkungsmacht entfalteten sie aber erst, als die Aufl flösungserscheinungen der europäischen Nationalstaaten evident wurden. Angesichts der zunehmenden Bedeutung multinationaler Strukturen und des wachsenden Interesses für außereuropäische Entwicklungen ist der Blick auf die Nation in den Jahren nach 1945 deutlich distanzierter geworden. Dass sie eine natürlich gewachsene Einheit darstellt und dass der aus ihr entspringende Nationalstaat der Königsweg in die Moderne ist, wurde von der Forschung als historischer Mythos entlarvt. Nationen, darin ist sich die jüngere Forschung einig, sind gedankliche Bastelarbeiten. Sie entstammen dem Hirn von Ideologieschmieden, die einer Gesellschaft neue Deutungen der Realität anbieten. Die Zahl der Konstrukteure und der von ihnen entworfenen unterschiedlichen Vorstellungen von der Nation ist unüberschaubar groß. Was Deutschland ausmacht, was es kennzeichnet, wie es handeln soll, in welche Strukturen es eingebettet ist, darüber herrschte und herrscht auf dem Markt der Ideen ein ohrenbetäubender Streit. Nur in einem Punkt sind die Möchtegernväter des Vaterlandes sich einig

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– und zwar darin, dass die Welt sich in exklusive Gemeinschaften von Menschen gliedert, in Nationen, deren Bindungen von unzerreißbarer Stärke sind. Es ist eine Grundüberzeugung, die in Europa im Zuge der politischen und industriellen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts immer stärker Fuß fasste und schließlich zu einem über alle sozialen Schichten hinweg akzeptierten Faktum wurde. Doch was ist mit der Zeit davor? Wenn Nationen Produkt einer auf die Bedürfnisse einer sich industrialisierenden Gesellschaft zugeschnittenen Ideologie sind, was ist dann mit dem Begriff „teutsche Nation“ im 16. oder 17. Jahrhundert gemeint? Das Beispiel des Aventinus demonstriert, dass das Sprechen über Deutschland, das Entwerfen von Deutschlandbildern schon lange vor dem Siegeszug des Nationalismus einsetzte. Bevor in Museen, Opern, Gedenkstätten, Schulen und Kasernen der Glaube an die Nation eingeübt wurde, produzierten Gelehrte Appelle an alle deutschen Söhne und Reflexionen fl über die deutsche Geschichte. Deutschland, das war für Aventinus zunächst einmal eine Nation, die sich auf gemeinsame Ahnen, eine gemeinsame Geschichte und damit auch auf einen gemeinsamen Schatz unvergesslicher Ruhmestaten berufen konnte. Sie war Quell der Ehre für alle deutschen Stände und zugleich ein Schlachtfeld ständischer Profi filierung. Doch Deutschland repräsentierte noch mehr. Es war dem Chronisten eine von Gott geschaffene Einheit, ein erwähltes Volk, das die Christenheit rettete. Das Ringen um die rechte Gestalt der Kirche, um die Verteidigung der wahren Heilsbotschaft, war für den bayerischen Chronisten – und nicht nur für ihn – zugleich eine Frage nationaler Selbstbestimmung. Dass der Kaiser in dieser Frage ein gewichtiges Wort mitzureden hatte, ja dass die Nation letztlich nur durch sein Wirken zusammengehalten wurde, bedurfte für ihn keiner weiteren Diskussion. Deutschland und das Reich waren für ihn eine untrennbare Einheit. Das Imperium, in dem neben Bayern und Franken auch Slowenen, Niederländer, Burgunder, Flamen, nicht aber Königsberger oder Schleswiger Platz fanden, geriet in der Chronik der Bayern zu einem exklusiven deutschen Herrschaftsverband.

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Der Begriff „Teutschland“ war in seiner Bedeutung an epochenspezififi sche Strukturen rückgebunden. Welche Bindungswirkungen die neu erfundene deutsche Geblütsnation entfalten konnte, wie Vergangenheit und Zukunft der Germania Sacra, der „teutschen“ Reichskirche, aussahen und wie die künftige Struktur des Reiches zu gestalten war – all dies war gleichermaßen umstritten. Die drei Deutschlandbilder des Aventinus beschreiben damit zentrale Konfl fliktfelder des 16. und 17. Jahrhunderts. Verbunden wurden sie – wie sich in seiner Chronik andeutet – durch den Versuch der Streitenden, ihre jeweilige Position mit dem Hinweis auf das Wohl und Wehe der Nation zu rechtfertigen. Ein verändertes Reden über die Nation spiegelte zugleich sich wandelnde gesellschaftliche, kirchliche und politische Ordnungsvorstellungen wider. Konfessionalisierung, Reichsverdichtung und die Konstruktion neuer Nationenbilder hingen eng miteinander zusammen. Die Wechselwirkungen, denen diese Prozesse unterlagen, und die Protagonisten, die sie prägten, sollen im Mittelpunkt der folgenden Studie stehen. Sie versteht sich als Spurensuche, die keine vorschnellen Kontinuitäten zwischen dem Reich und moderner Staatlichkeit, zwischen dem konfessionellen Gegensatz der Frühen Neuzeit und der Moderne, dem humanistischen Reden über die Nation und den nationalen Großmachtträumen des 19.und 20. Jahrhunderts herstellen soll. Die Umgestaltung und Neuformierung eines Raumes, der zwischen 1500 und 1648 mit zunehmender Selbstverständlichkeit als „Teutschland“ bezeichnet wurde, soll vielmehr in all ihrer Widersprüchlichkeit analysiert werden.

D I E G E B U R T D E R N AT I O N – „ T E U T S C H L A N D “ ZWISCHEN 1500 UND 1648

D I E E R B E N D E S TA C I T U S – E I N E N AT I O N W I R D G E F Ä L S C H T

nea Silvio Piccolomini pries sein Gastland in den höchsten Tönen.

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Die Deutschen seien, so teilte er dem Kanzler des Erzbischofs von

Mainz 1457 mit, zu keinem Zeitpunkt ihrer Geschichte so reich gewesen wie heute; nie seien ihre Gelehrten angesehener und ihre Priester frömmer gewesen. Verglichen mit der kulturellen Ödnis des antiken Germaniens gleiche Deutschland einem irdischen Paradies. Zu danken sei diese Entwicklung vor allem Rom, das in selbstloser Missionstätigkeit die tumben Germanen in ein Volk verwandelt hatte, das sich mit den edlen Römern messen könne. Von den Ex-Barbaren, die Piccolomini mit blumigen Worten in den Kreis mediterraner Kulturträger aufgenommen hatte, erwartete er vor allem fi finanzielle Unterstützung. Der unermüdliche Kämpfer für seinen päpstlichen Patron war in das Reich gesandt worden, um drohendes Ungemach abzuwenden. Eine Begrenzung der Zahlungen an die Kurie stand ins Haus, und die geistlichen Kurfürsten zählten aus wohlerwogenem Eigeninteresse zu den wichtigsten Befürwortern dieses Planes. Das Reich, so ließ man Rom wissen, sei ausgeblutet. Seine Heiligkeit könne unmöglich eine Steigerung der finanziellen Transferleistungen erwarten. Piccolomini hielt dagegen – nicht mit Kritik, sondern mit einer überschwänglichen Hymne auf des Reiches blühende Landschaften. Die Bot-

DIE ERBEN DES TACITUS – EINE NATION WIRD GEFÄLSCHT

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schaft war unmissverständlich: Deutschland hatte Grund zur Dankbarkeit und konnte sich nun, da die Christenheit von den Türken bedroht wurde, seinen Verpfl flichtungen nicht entziehen. Der gelehrte Kardinal, der Jahre später als Papst Pius II. sein erfolgloses Pontifi fikat einem neuen Kreuzzug gegen die muslimische Gefahr widmete, wurde nicht müde, diese These beständig zu wiederholen. Sein wichtigster Beleg war die „Germania“ des römischen Geschichtsschreibers Publius Cornelius Tacitus – ein lange ignorierter Text, der auf gewundenen Wegen in die Hände Piccolominis gelangt war. Piccolomini hatte das Potential, das in der vielschichtigen ethnographischen Beschreibung des Barbarenvolkes lag, rasch erkannt. Die Schrift aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert gab den Deutschen, so das Kalkül, eine gemeinsame Geschichte und den Lesern Einblicke in die ungeschliffene Frühzeit eines Volkes, das nunmehr die Kaiserkrone für sich beanspruchte. Was mochte reizvoller sein, als diesen Gegensatz herauszustellen und den undankbaren Deutschen jene Wohltaten zu preisen, die ihnen der römische Einfluss fl beschert hatte? Der Dichter traf mit seinen Ausführungen den Nerv seiner Zeitgenossen, hatte doch eine bis dato zweitrangige Kategorie seit Beginn des 15. Jahrhunderts langsam an Bedeutung gewonnen – die Nation. Die Einteilung der Christenheit in geographische Herkunftsgebiete war den europäischen Gelehrten seit Jahrhunderten vertraut. Nationen wurden an überregionalen Kommunikationszentren gebildet – an Universitäten, auf Konzilien oder in Handelsstädten. Ihre Zahl und Zusammensetzung variierte. Wer zu welcher Nation gehörte, wurde vor Ort entschieden. Die Kriterien schienen zunächst weitgehend beliebig zu sein. Das änderte sich in dem Maße, in dem die politischen und wirtschaftlichen Grenzlinien zwischen den Territorien und Königreichen stabiler wurden. Bereits um 1416 wurde um die Zusammensetzung der Konzilsnationen in Konstanz heftig gerungen. Die Zugehörigkeit Böhmens und Polens zur deutschen Nation war dabei ebenso umstritten wie die Zusammenlegung der französischen mit der englischen. Noch war unklar, was die Nationen

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DIE GEBURT DER NATION – „TEUTSCHLAND“ZWISCHEN 1500 UND 1648

eigentlich ausmachte. Englische Gesandte vertraten beispielsweise die Position, dass eine Konzilsnation mehr als eine Sprachfamilie umfassen müsste, um als Gliederung innerhalb der Christenheit Anerkennung zu finden. Immerhin, dass die Nation ein praktikables, natürliches Gliederungsprinzip Europas darstellte und gegenüber einer ständischen Einteilung zu bevorzugen war, fand ungeachtet aller Meinungsunterschiede im Detail breite Zustimmung. Noch in einem weiteren Punkte kündigte sich zwischen den Streitenden ein stillschweigender Konsens an: Nationen wurden von ihnen als eine Gemeinschaft von Menschen verstanden, die Anteil an gemeinsamer Reputation hatten. Sie umfassten nicht nur die Teilnehmer des Konzils, sondern auch die Daheimgebliebenen. Die Anwesenden bezogen die Abwesenden gleichsam in ihre Streitigkeiten mit ein. Vor allem das stolze Repertoire nationaler Vorurteile wurde auf diesem Wege beständig erweitert. Dass Franzosen wetterwendisch, Engländer verschlagen, Spanier jähzornig und Deutsche meistens volltrunken sind – diese sich aus antiken Quellen speisenden Erkenntnisse wurden im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts zu Gemeinplätzen. Von keiner anderen Gruppe wurde diese Entwicklung mit ähnlichem Enthusiasmus verfolgt und gefördert wie von den humanistischen Gelehrten. Humanismus – der Begriff umfasste eine widersprüchliche Bewegung, die im 14. Jahrhundert auf der italienischen Halbinsel entstanden war und ab Mitte des 15. Jahrhunderts auch im Reich Fuß fasste. Ihr Erkennungszeichen war ein geschliffenes Latein, das sich an den Vorgaben Ciceros orientierte. Der schöne Stil war dabei nicht Selbstzweck, vielmehr Kennzeichen des wohlgebildeten Mannes, der durch die Kunst des Überzeugens Konfl flikte beruhigte, Herzen bewegte und der Gerechtigkeit zum Sieg verhalf. Die Reinigung der Sprache machte am Fächerkanon der sogenannten Studia humanitas – Grammatik, Rhetorik, Geschichte, Poesie und Moralphilosophie – keineswegs halt. Humanisten waren Generalisten, vor denen kein Wissensgebiet sicher war. Durch Rückkehr zu antiker Klarheit sollte das verdunkelte Denken und Sprechen auch aus Philosophie, Physik, Theologie und Rechtswissenschaft vertrieben werden.