Tells Söhne

der Todesstrafe forderten. Telefonabhörberichte, Über- wachungsrapporte, geheimdienstliche Aktennotizen und. Verhörprotokolle, die während des Prozesses ...
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R e s P e rr o t

Tells Söhne

R e c h t e x t r e m Es ist ein schöner und heißer Junimorgen. Als Wachtmeister Paul Grossenbacher von der Kriminalpolizei des Kantons Zürich zu einem Vorfall gerufen wird, trifft er völlig unerwartet auf sein Schultrauma, Friedrich Schillers Willhelm Tell. Was anfangs nach einem harmlosen Streich aussieht, steigert sich und entpuppt sich schließlich als brutales Verbrechen. Der Direktor der Sozialversicherungsanstalt Zürich wird von einem Pfeil aus einer Armbrust tödlich getroffen. Die weiteren Ermittlungen bringen hierarchisches Denken, blinden Autoritätsglauben und auf Mythen beruhende nationalistische Vorstellungen hervor und Grossenbacher an den Rand seiner Kräfte. Der Wachtmeister jagt plötzlich abgehalfterten Militärs, wehrhaften Landesverteidigern und frustrierten Liebenden hinterher. Res Perrot, 1960 als Berner in Zürich geboren. Aufgewachsen im Bernbiet, lebt er heute wieder im Kanton Zürich. Nach dem Besuch der Schule für Gestaltung in Bern arbeitete er als Grafiker, Art Director und Creative Director in verschiedenen Werbeagenturen, bis er sich selbstständig machte. Als Musiker tourte er mit diversen Formationen und war an einigen Schallplattenproduktionen als Bassist oder Produzent beteiligt. Seit ein paar Jahren widmet er sich neben dem Schreiben, das vorliegende Buch ist der dritte Grossenbacher-Krimi, mit Hammer, Meißel und Leidenschaft der Bildhauerei.

R e s P e rr o t

Tells Söhne

Original

Ein recht extremer Fall für Wachtmeister Grossenbacher

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet: www.gmeiner-verlag.de © 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0 [email protected] Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2014 Lektorat: Sven Lang Herstellung: Julia Franze Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart unter Verwendung eines Fotos von: © egorxfi - Fotolia.com ISBN 978-3-8392-4505-7

Fährst im wilden Sturm daher, Bist du selbst uns Hort und Wehr, Du, allmächtig Waltender, Rettender! In Gewitternacht und Grauen Lasst uns kindlich ihm vertrauen! Ja, die fromme Seele ahnt, Ja, die fromme Seele ahnt, Gott im hehren Vaterland, Gott, den Herrn, im hehren Vaterland. Schweizerpsalm, 4. Strophe

Prolog Die Schweizerfahne baumelt wie ein fauler Sack am Mast. Eine kaum sichtbare Bewegung. Der Fahnenmast steckt erdbebensicher verankert am Rande des Parkplatzes in einer granitgefassten und mit großen runden Steinen gefüllten Blumenrabatte. Alles ist herausgeputzt. Himmel, Häuser, Wiesen und Straßen glänzen als wär’s das Swissminiature in Melide. Nur in der Blumenrabatte fehlen die Blumen. Jetzt hängt das rote Tuch tot am Seil. Das feine Vibrieren des gespannten Drahtseils verschmilzt mit dem Flirren der sommerlich erhitzten Luft. Es ist heiß. Beinahe drückend, obwohl es noch nicht einmal Mittag ist. Der durchsichtige, bläuliche Himmel ist verlassen. Weder Wolken noch Vögel ziehen vorbei. Eine bewegungslose Stille. Gläsernes Flimmern spiegelt über dem Asphalt. Der Siedepunkt des Tages scheint bereits erreicht oder gar überschritten. Wie er die Situation auf dem Parkplatz vor dem Löwen so durch die Frontscheibe betrachtet, kommt ihm ein Bild in den Sinn. Er hat es vor etwa zwei Jahren selbst in das große schwarze Silva-Buch SAHARA eingeklebt. Eine Luftspiegelung. Fotografierte Hitze auf ein Stück Papier gedruckt. Es ist kurz nach elf Uhr. Genau sieben Minuten nach. Er hat noch genug Zeit. Die gnadenlose Junisonne steht senkrecht über dem Platz und brennt die Schatten weg. Er bleibt einen Moment länger als nötig in seinem sportlichen Wagen sitzen, weil er den durchdringenden Duft von aufgeheiztem Kunst­leder liebt. Ebenso eine positive Erinnerung. Er 7

bekommt einfach nicht genug vom Geruch im Wageninnern, assoziiert damit ein Gefühl von Freiheit und Abenteuer. Ein männlicher Duft, der ihn irgendwie auch an seine Jugend erinnert, an Sommer, Hitze, und die Rückbank des VW Käfers. Der Vater sitzt am Steuer und die Passstraße führt ins Tessin. Er liebt aber auch seinen Wagen. Er ist sein ganzer Stolz. Ein Datsun Violet / 160J SSS Coupé in Gelb. Der neuste Stand der Technik, zweitürig mit Schrägheck, Hardtop und unglaublichen 89 PS. Eine Rakete, hatte ihm der Verkäufer versprochen. Ein Auto. Ein richtiger Wagen, nicht wie die Reisschüsseln der Konkurrenz und trotzdem japanisch, sprich ein unglaubliches Preis-Leistungs-Verhältnis. Er hatte sich überlegt, ob er den Motor mit Doppelwebervergasern ausrüsten sollte, um zusätzliche Leistung aus der Maschine herauszuholen. Andererseits fühlt er sich mit 34 doch etwas zu alt dafür. Er ist nicht sicher, was ihn heute hier im Emmental erwartet. Entspannt und gleichwohl auf der Hut lehnt er sich in den aufgeheizten Fahrersitz und starrt durch die Frontscheibe. Mit zwei Fingern wischt er sich den Schweiß unter den Nasenreitern seiner Brille weg. Dann schaltet er das Autoradio an, das er vor einer guten Woche hat einbauen lassen. Stereo, mit zusätzlichem Einschubfach für 8-Spur-Audiokassetten von Blaupunkt. Der reinste Luxus. Er bekommt gerade noch das Ende der Elfuhrnachrichten mit. Es folgt eine Sondersendung mit Hintergrundberichten zum Landesverräter Jean-Louis Jeanmaire. Das Kassationsgericht bestätigte heute Morgen, wie man in den Nachrichten hören konnte, das Urteil, welches das Divisionsgericht 2 vor gut zwei Jahren wegen Landesverrats gegen Jean-Louis Jeanmaire verhängt hatte. 18 Jahre 8

Zuchthaus. Zudem wird Brigadier Jeanmaire degradiert und aus der Armee entlassen. Der Radiosprecher fasst noch einmal die Ereignisse, sofern sie nicht der Geheimhaltung unterliegen, zusammen: 1961 lernte Jean-Louis Jeanmaire den sowjetischen Militärattaché in Bern, der gleichzeitig auch Mitglied des militärischen Nachrichtendienstes GRU war, kennen. Brigadier Jeanmaire gab ihm, wie auch später dessen Nachfolgern, vertrauliche Auskünfte über die Schweizer Armee weiter. Unter anderem Informationen zur Mobilmachung. Mitte der 70er-Jahre warnte ein ausländischer Nachrichtendienst die Schweizer Behörden vor einem Leck. Das führte im August 1976 zur Verhaftung von Jeanmaire. Der Druck der CIA und der US-Regierung sowie das politische Klima des Kalten Krieges erzeugten nach Brigadier Jeanmaires Verhaftung eine Eigendynamik, die später auf die Medien und damit auf eine breite Öffentlichkeit übergriff. An Stammtischen vernahm man Stimmen die sogar die Folter bei Verhören und die Wiedereinführung der Todesstrafe forderten. Telefonabhörberichte, Überwachungsrapporte, geheimdienstliche Aktennotizen und Verhörprotokolle, die während des Prozesses vor dem Divisionsgericht 2 verlesen wurden, gaben einen tiefen Einblick in das Wirken der dunklen Mächte, die sich so vor der Öffentlichkeit fürchteten. Die Sondersendung endet mit der Einspielung eines Ausschnitts der Rede, die der EJPD-Vorsteher, Bundesrat Kurt Furgler, vor der vereinigten Bundesversammlung im Oktober 1976 zum Fall Jeanmaire gehalten hatte: ›… wir sind aber kein Polizeistaat und wollen es auch nicht werden. Die Vorstellung beispielsweise, jeder Geheimnisträger sei ständig zu überwachen, ist unserer auf Vertrauen basie9

renden Gesellschaftsordnung fremd und unwürdig. Wir haben im Bereich des Staatsschutzes die Aufgabe durch sorgfältiges Abwägen aller Werte eine Synthese zwischen den Interessen der staatlichen Ordnung und der Freiheit des Einzelnen zu finden …‹ Endlich bewegt sich die Fahne wieder. Aber nur zögernd. Das geschieht ihm recht, diesem Verräter, denkt er und macht das Radio aus. Das Treffen ist für heute, Donnerstag, den 22. Juni 1978, 12.00 Uhr, oder zwölfhundert, wie es in ihrer Sprache heißt, im Gasthof Löwen in Krauchthal vereinbart. Schon zwei Mal haben sie sich im Vorfeld an ebenso abgelegenen Orten zu konspirativen Gesprächen verabredet. Das Projekt. Es konnte vieles bedeuten, doch genaue Angaben gibt es nicht. Noch nicht. Alles befindet sich derzeit im Aufbau, das hat man ihm jedenfalls gesagt. Aber heute soll es so weit sein. Ein besonderer Tag. Bei einem Mittagessen wird die besprochene Geheimhaltungsvereinbarung unterzeichnet. So etwas wie eine Gründungsversammlung. Die mündliche Einladung für die Verabredung hat ihm vor einigen Tagen ein Dienstkollege aus dem WK überbracht, der irgendetwas beim EMD arbeitet. Der Bote reiste extra von Bern nach Zürich, um ihm die Information zu überbringen. Das war vorgestern. Um an dem Treffen teilnehmen zu können, musste er extra freinehmen. Der Bote hat ihn eindringlich darauf aufmerksam gemacht, dass er zu niemandem, weder zu seinem Chef noch zu seiner Frau, etwas sagen dürfe. Am Anfang kam es ihm schon recht geheimniskrämerisch vor, aber inzwischen hat er sich mit dem Gedanken angefreundet und sieht ein, dass nicht alle Welt wissen muss, was er vorhat und wohin er geht. Und jetzt sitzt er da, am Eingang des Emmentals, und beobachtet die rote Fahne mit dem weißen Kreuz, wie 10

sie sich im kaum spürbaren Luftzug windet. Trotzdem wird ihm immer warm ums Herz, wenn er das Stück Stoff betrachtet. Stolz erfüllt ihn so, dass er sich im Sitz aufrichtet und streckt. Stramm, die Brust raus. Der Parkplatz im Hof des großen Landgasthauses ist beinahe leer. Seit er hier mit seinem Wagen steht, ist kein weiteres Fahrzeug angekommen oder weggefahren. Weitere vier Wagen brüten verlassen in der Sonne. Zwei Berner Nummern, eine Freiburger und eine Basler. Er hat genau darauf geachtet, als er auf den Abstellplatz zwischen den Nebengebäuden des Hofes gerollt war. Etwas auffällig, so scheint ihm, der Anteil ortsfremder Fahrzeugschilder hier auf dem Land. Ob die wohl auch eingeladen sind? Die Minuten verstreichen wie Honig. Endlich ist es so weit. Es ist Zeit. Er steigt aus, verriegelt sorgfältig die Wagentür und hastet über den Platz zum Hintereingang des Gasthauses. Aus dem Augenwinkel beobachtet er, wie die Strafanstalt Thorberg, die etwas weiter auf dem Hügel thront, hinter dem mächtigen Wirtshausdach verschwindet. Es ist kühl und finster im alten stattlichen Steinhaus mit dem typischen, tief heruntergezogenen Walmdach. Seine Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Darum bleibt er für einen Augenblick hinter der ins Schloss fallenden Holztür stehen. Dabei klirrt das Türglas gefährlich. Alles ist exakt so, wie es ihm beschrieben wurde. Ein langer Korridor, über dessen Steinfliesen ein ausgetretener Läufer liegt. Verschiedene Türen links und rechts. Am anderen Ende eine Holztruhe, darauf eine trübe Glasvase mit einem Strauß verdorrter Feldblumen. Das Wasser im Gefäß verziert seit Jahren mit Kalkringen der unterschiedlichsten Breite die Vase. Über der verkümmerten Dekoration ein kleines Fenster zur Hauptstraße 11

hinaus. Fünf Schritte den Hausflur hinunter und rechts in die Bauernstube. Die Tür ist genauso angeschrieben. Er ist nicht der erste Gast. Ein Mann sitzt in der Stube vor einer Vitrine – mit den staubsicher hinter Glas geschützten Pokalen und Fahnen des Schützenvereins Krauchthal – an einem Tisch und liest Zeitung. Vor ihm auf der rot-weiß karierten Tischdecke stehen ein ausgetrunkenes Glas und ein Fläschchen Pepita mit Grapefruit-Aroma. Als er jetzt die Stube betritt, spürt er sofort den Stolz und den Wehrwillen der Nation. Eine verbindende Kraft, die sich seit dem letzten Krieg in ihren Köpfen und Herzen eingenistet hat. Eine Haltung, die aus Männern Eidgenossen macht. Jeder konnte es täglich in den Zeitungen lesen, er ist noch nicht vorbei, der Kalte Krieg. Die Angst vor dem Russen steckt uns genauso in den Knochen, wie damals jene vor dem Adolf. Darum ist er überzeugt, dass dieser eiserne Wille zur Freiheit und Unabhängigkeit durchaus seine Berechtigung und Gültigkeit hat. Vielleicht ist er heute, in diesen unsicheren Zeiten, sogar noch wichtiger. Alles stimmt mit den Angaben überein, die ihm der Verbindungsmann übermittelt hat. Die Stube, ein Mann, der zeitungslesend am Tisch sitzt und als Zeichen, dass so weit alles in Ordnung ist, steht das Glas rechts der Flasche. Er hatte Order, falls das Glas links davon stehen würde, das Lokal grußlos wieder zu verlassen und sich unverzüglich auf den Heimweg zu begeben. Doch es scheint alles gut zu sein. Eine patriotische Stimmung überkommt ihn, wie er in dieser vertrauten schweizerischen Umgebung mit würdig erhobenem Haupt den Unbekannten mit einem kaum sichtbaren Kopfnicken begrüßt. Der Bote hat ihn angewie12