Tam, tam, tickt es in der Weltwirtschaft

päer tun in Cannes ihr Bestes. «Wir werden eine Lösung für Griechen- ... hindern, müssten Konten eingefroren und Verstösse geahndet werden. Es kä-.
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az | Freitag, 4. November 2011

Krisenschauplatz Cannes.

MICHEL EULER/KEYSTONE

Was, wenn Griechen doch noch aussteigen?

Tam, tam, tickt es in der Weltwirtschaft G-20-Gipfel Die Griechenlandkrise gibt am Gipfel den Takt an VON STEFAN BRÄNDLE, CANNES

Tam, tam, trommelt der buddhistische Mönch mit einem Kugelschreiber auf sein Holztäfelchen. Tam, tam, macht auch die Zeitgeschichte im benachbarten Festivalpalast von Cannes. Im Minutentakt trudeln die Eilnachrichten aus Athen ein, so regelmässig wie die hohen G-20-Staatsgäste, die Gastgeber Nicolas Sarkozy auf dem durchnässten Teppich begrüsst. Barack Obama versucht, die Lage mit einem Scherz zu entspannen: Er vertraue darauf, dass das neugeborene Präsidentenbaby Giulia Sarkozy eher der Mutter als dem Vater gleiche. Doch der US-Präsident bewirkt bei seinem französischen Kollegen nur ein leicht steifes Lachen. Man scherzt, man herzt, man speist zu Beginn gleich einmal zusammen – doch alle denken an das Trojanische Pferd, das irgendwo unsichtbar im Gipfelgelände steht und den ganzen Anlass über den Haufen zu werfen droht. Versuch einer Traktandenliste Sarkozy versucht die Traktandenliste des zweitägigen Gipfeltreffens verzweifelt aufrechtzuerhalten. Erster Punkt: «Die Situation der Weltwirtschaft». Das ist gut gewählt – oder sehr schlecht, genau genommen: Das griechische Chaos bedroht die 17 Länder der Eurogruppe, damit die 27-köpfige EU und damit die ganze Weltwirtschaft. Gewiss, die Europäer tun in Cannes ihr Bestes. «Wir werden eine Lösung für Griechenland finden», meint der deutsche Wirtschaftsminister Wolfgang Schäuble nach einem Treffen zum künftigen Euro-Rettungsfonds EMS, das ebenfalls mehr Aufmerksamkeit gewinnt als die G-20-Debatten. «Abschirmung der Brandmauer», nennt das Angela Merkel in einer mitternächtlichen Pressekonferenz mit dem einzigen Thema: Griechenland. Mehrfach wiederholt die deutsche Kanzlerin, die Ankündigung einer Volksabstimmung durch Griechenland stelle die EU-Partner vor eine «psychologisch neue Situation». Offener äussert Sarkozy seine Wut, von Athen an der Nase herumgeführt worden zu sein: «Glauben Sie, dass wir das zum Vergnügen machen?», entgegnet er auf eine Journalistenfrage, ob das deutsch-französi-

sche Direktorium die anderen EUPartner nicht schlicht übergehe. Stunden später geht es in Cannes schon nicht mehr um die Volksabstimmung. Die Delegationen der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer und die Hunderte von Journalisten im Untergrund des Festivalgebäudes warten auf die neusten Wendungen aus Athen. Dabei hatte Sarkozy diesen Gipfel monatelang vorbereitet; verhandelten seine Sherpas über so komplexe Themen wie Finanzmarktregulierung, Welthandel, Korruptionsbekämp-

Die Delegationen der 20 wichtigsten Industrieund Schwellenländer warten auf die neusten Wendungen aus Athen. fung, Nahrungsmittelknappheit oder Klimaerwärmung. Doch mal ehrlich: Wer interessiert sich angesichts des griechischen Brandes, der sich zum Flächenbrand auszuweiten droht, noch für Klimaerwärmung? Der ganze Gipfel droht ins Regenwasser von Cannes zu fallen. Von Sarkozys ursprünglichem Bemühen, zum krönenden Abschluss seines G-20-Vorsitzes den «Kapitalismus zu reformieren» und ein neues Bretton

Woods auszurufen, wird zum Schluss des Gipfels kaum etwas bleiben.

Euro Griechenlands Abkehr von der Währungsunion ist trotz neuester Entwicklungen nicht ganz vom Tisch. Eine Erklärung aus dem Reich der Spekulation. VON DANIEL FUCHS

Nichts ist unter Kontrolle Nicht einmal die Eurokrise, die er beim letzten EU-Gipfel gemeistert glaubte, ist mehr unter Kontrolle. Gegen Abend wird das griechische Referendum auf Druck Merkels und Sarkozys zwar abgesagt. Doch schon läuft die Meldung über den Ticker, Griechenland werde bankrott gehen, wenn die sechste EU-Hilfstranche über acht Milliarden Euro nicht bis zum 15. Dezember in Athen eingehe. Tam, tam, tröpfelt der Regen über das Festivalgebäude, wo sonst die Kinostars die rote Treppe hochsteigen. Jetzt läuft ein einziger Film, ein schlechter überdies, in dem die mächtigsten Politiker der Welt Statisten sind, oder noch schlimmer: blosse Zuschauer. Fassungslos verfolgen die Russen, Brasilianer, Amerikaner und Chinesen in Cannes den Streifen «Apokalypse in Athen». Hinter der schönen Kulisse des G-20-Reigens herrscht in der Führungsetage des Planeten eigentlich nur Ohnmacht, dazu Angst vor dem grossen Kollaps. Tam, tam, macht der Kugelschreiber des Mönchs.

Nicolas Sarkozy versucht, den Gipfel zu dirigieren.

KEYSTONE

ches Szenario längerfristig mehr dienen als weiter abzuwarten, um schliesslich doch noch im Ruin zu enden, sagt Straumann. «Die Griechen werden nicht verhungern.» Auch nach einem Austritt aus der Währungsunion würde nicht das Elend über die Bevölkerung hereinbrechen. Denn Währungsfonds und Europäische Union dürften mit Hilfskrediten in die Bresche springen, glaubt er.

Ungeachtet der sich überstürzenden Ereignisse in Athen – das Gespenst eines Austritts Griechenlands aus der Euro-Währungsunion geht auch nach Europäisches Projekt ungefährdet Auf welche historischen Ereignisse dem zurückgezogenen Referendum um. Seit gestern bietet mit dem Londo- stützt sich Straumann? In Westeuropa ner Wettbüro William Hill erstmals liessen sich keine ähnlichen Fälle finein Buchmacher Wetten darauf an, den, räumt Straumann ein. Gewisse dass die Griechen aus der Euro-Zone Parallelen sieht er in der Abwertung austreten. Und der Wirtschaftshistori- der Währungen im Zuge der argentiniker Tobias Straumann – er doziert an schen Krise um die Jahrtausendwende der Universität Zürich – sieht in einer und beim Zerfall der Sowjetunion. allfälligen Abkehr der Griechen vom Beim Rubel habe es sich wie beim Euro Euro gar einen heilsamen Weg aus der um eine Einheitswährung gehandelt. Krise. «Lieber ein Ende mit Schrecken Argentinien lasse sich mit Griechenland vergleichen, und Perspektive da der Peso vor auf Besserung als dem Staatsbankein Schrecken ohrott fix an den ne Ende», arguDollar gebunden mentiert Strauwurde und damit mann. Mache die massiv überbeEU weiter wie bis wertet war. Auch anhin, sei Grieder Euro ist im chenland in einiTobias Straumann, Uni Zürich Gegensatz zur gen Jahren «komProduktivität der plett ruiniert». Der Austritt aus dem Euro-Raum – griechischen Wirtschaft viel zu stark. In Argentinien und in den baltiein Sonntagsspaziergang? «Nein, er wäre zwar kurzfristig ein überaus har- schen Staaten – sie trennten sich nach ter Schritt für die Griechen», relativiert dem Zerfall der Sowjetunion vom RuStraumann. Doch ist er überzeugt, bel – hatte die Abwertung einen massidass sich damit mittelfristig neue Pers- ven Verlust der Kaufkraft zur Folge: Die Renten waren nichts mehr wert, pektiven eröffneten. die Preise stiegen und in Argentinien verarmte der Mittelstand. Das stimme Der Tag X – es kommt die Armee Konkret ist für Straumann folgen- alles, räumt Straumann ein. Die Argendes Szenario denkbar: Am Tag, da die tinier seien aber bereits vor der AbwerRegierung den Austritt aus der Euro- tung des Peso verarmt. Ähnliches gelte Zone bekannt gibt, müssten alle sich für Griechenland: «Wer kann, der wanim Land befindenden Euro-Banknoten dert aus oder verfrachtet sein Vermöauf amtliche Stellen gebracht werden. gen ins Ausland.» Dem Umstieg auf eiDie Banken würden dann geschlossen ne neue, eigene Währung folgten werden. Um die Kapitalflucht zu ver- ebenso harte Zeiten wie in Argentinien hindern, müssten Konten eingefroren oder im Baltikum. Doch mittelfristig und Verstösse geahndet werden. Es kä- könnte sich die Wirtschaft erholen. «Die Politiker haben die Risiken eime zwangsläufig zu Repression. Ohne Armee dürfte spätestens dann nichts ner Einheitswährung systematisch unmehr laufen. Die Euros würden terschätzt», meint Straumann. Doch «zwangsumgewandelt», Löhne und wäre mit einem Austritt GriechenRenten in der neuen Währung ausbe- lands aus der Währungsunion nicht zahlt. Die Währung würde sofort abge- das «Projekt Europa» auf der Kippe? Towertet, es käme zu Inflation. Die Fol- bias Straumann glaubt nicht daran. gen: Die Kaufkraft der Griechen sackte «Die wirtschaftliche und politische ab, vor allem Importe und Auslandrei- Verflechtung ist nicht von einer gemeinsamen Währung abhängig.» Im sen verteuerten sich massiv. Es klingt brutal: Einem Land mit ei- Gegenteil: «Die europäische Integratiner dermassen schwachen Wirtschaft on ist eher gefährdet, wenn man so wie der griechischen, würde ein sol- weitermacht wie bis anhin.»

«Lieber ein Ende mit Schrecken und Perspektive als ein Schrecken ohne Ende.»