Stimmung, Emotion, Atmosphäre

Thomas Bulka. STIMMUNG,. EMOTION,. ATMOSPHÄRE ... Thomas Bulka. Stimmung, Emotion, ... Würzburg, Julius-Maximilians-Universität, Diss. Gedruckt auf ...
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STIMMUNG, EMOTION, ATMOSPHÄRE Bulka ·

In den vergangenen Jahren sind die Emotionen und Stimmungen des Menschen immer stärker in den Fokus der philosophischen Aufmerksamkeit gerückt. Während jedoch Emotionstheorien, die sich an den Begrifflichkeiten und Kategorien der Psychologie orientieren, Emotionen, Stimmungen und auch Atmosphären als rein subjektive mentale Phänomene auffassen, kann die phänomenologische Beschreibung diesen Interpretationsansatz nicht stützen. Dieses Buch stellt sich darum die Aufgabe, das Verhältnis von Atmosphären, Stimmungen und Emotionen neu zu bestimmen. Im Zentrum der Untersuchung steht dabei das Spannungsfeld von Affektivität und Wahrnehmung. Dieser Ansatz erlaubt es nicht nur, rein mentalistische Konzeptionen der Stimmungen und Emotionen zu kritisieren, sondern darüber hinaus auch, die gesamte leiblich fundierte Existenz des Menschen als stets affektiv vorgeprägt auszuweisen. Diese Grundaffektivität verwirklicht sich, so die These des Buches, im steten Wechsel von Situationserfahrung und Gegenstandswahrnehmung und bildet die Voraussetzung für die Orientierung des Menschen in einer von Bedeutsamkeit erfüllten Welt.

Thomas Bulka

STIMMUNG, EMOTION, ATMOSPHÄRE Phänomenologische Untersuchungen zur Struktur der menschlichen Affektivität

ISBN 978-3-95743-009-0

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Bulka · Stimmung, Emotion, Atmosphäre

Thomas Bulka

Stimmung, Emotion, Atmosphäre Phänomenologische Untersuchungen zur Struktur der menschlichen Affektivität

mentis MÜNSTER

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Zugl. Würzburg, Julius-Maximilians-Universität, Diss.

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier

© 2015 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-95743-009-0 (Print) ISBN 978-3-95743-898-0 (E-Book)

Inhaltsverzeichnis

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Emotion, Stimmung, Atmosphäre: die Erscheinungsformen der menschlichen Affektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zwischen Urteil und Umgang mit der Welt: eine Skizze des kognitivistischen Emotionsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Emotionen als Urteile: die kognitive Dimension des affektiven Erlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Emotionen als Affekte: der Widerfahrnischarakter der Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Fühlen als Handeln: das Aktivitätspotential der Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4 Liebe und Haß: die Emotionen und die Frage nach der Wertseite der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5 Bedeutung und Bedeutsamkeit: die sinnstiftende Funktion der Emotionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Stimmung: Überlegungen zur Natur eines unterbestimmten Phänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Ansätze zu einer negativen Charakteristik der Stimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1.1 Das Problem der Intentionalität von Stimmungen und Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1.2 Intensität, Dauer und der Dispositionscharakter der Stimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Ambiguität als Wesensmerkmal der Stimmungen . . . . . . . 1.3 Atmosphäre: die quasi-objektive Dimension des Affektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Das Problem der Innerlichkeit des affektiven Erlebens . . .

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20 24 30 34 38 44 51 52 53 60 66 71 73

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1.3.2 1.3.3 1.4 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.2.1 2.1.2.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.2.1 2.2.2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 3 3.1 3.1.1

Inhaltsverzeichnis

Die Frage nach der Ontologie der Atmosphären . . . . . . . . Die anthropologischen Voraussetzungen für das Wirken von Atmosphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen zum epistemologischen Fundament einer Philosophie der Affektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welt, Leib, Raum: Grundbegriffe der Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der phänomenologische Weltbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebenswelt und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dasein als In-der-Welt-sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutsamkeit der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Welt und die Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Welt: Hintergrund und Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der phänomenologische Leibbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . Die epistemologische Bedeutung des Leibbegriffs . . . . . . . Das Leib-Welt-Verhältnis in der Philosophie Merleau-Pontys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmung, leibliche Intentionalität und die Bewegung der Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Dinge und der Leib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der phänomenologische Raumbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . Geometrischer Raum und Sinnenraum . . . . . . . . . . . . . . . Das leibliche Erleben und die nichtgeometrische Räumlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Schichtenmodell des Raums in der Neuen Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Stimmung und Befindlichkeit im Werk Heideggers . . Die ontologische Differenz und die Stimmungen . . . . . . . Die Furcht als Erscheinungsform der konkreten Stimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Der existenziale Grund der Stimmungen: die Befindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Das Dasein und die Grundstimmungen . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die herausgehobenen Grundstimmungen: Angst und Langeweile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Angst und die Offenbarkeit des Nichts . . . . . . . . . . . . 3.2.1.1 Lebensangst und Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.2 Angst und Unheimlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die Langeweile und die Isolation des Daseins . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Die konkreten Formen der Langeweile . . . . . . . . . . . . . . .

77 82 86 89 90 92 97 100 107 112 116 117 122 124 126 132 132 138 143 151 152 153 162 168 174 175 176 181 186 187

Inhaltsverzeichnis

3.2.2.2 Die tiefe Langeweile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Subjektivität, Objektivität und der Ort der Stimmung . . . . 4 4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.2.1 4.3.2.2 4.3.2.3 4.3.2.4 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.2.1 5.1.2.2 5.1.2.3 5.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.2.1 5.3.2.2

Synästhesie und Metapher: die Verbalisierung des affektiven Erlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das emotionale Lexikon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Versprachlichung der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . Die Metaphorik der Synästhesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmung und Sinnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Leib und die Metaphorik der Emotionen und Stimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helligkeit und Affektivität: die Düsternis der Stimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affektivität und Raumempfinden: die Richtungen des emotionalen Erlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufwärts gerichtetes emotionales Erleben: die Freude . . . . Abwärts gerichtetes emotionales Erleben: Trauer und Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zentrifugales emotionales Erleben: die Wut . . . . . . . . . . . . Zentripetales emotionales Erleben: die Angst . . . . . . . . . . Atmosphäre, Stimmung, Emotion: Überlegungen zur Struktur der menschlichen Affektivität . . . . . . Die Atmosphären und die situative Einheit der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der proto-atmosphärische Zug in der elementaren Gegenstandswahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Erscheinungsformen der Atmosphäre . . . . . . . . . . . . . Die dinginduzierten Atmosphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die raumgebundenen Atmosphären . . . . . . . . . . . . . . . . . Die szenerieimmanenten Atmosphären . . . . . . . . . . . . . . . Atmosphäre, Stimmung und das Eingelassensein in Situationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stimmung und Emotion: die affektiven Fundamente von Situations- und Gegenstandsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Intentionalität der Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Situationen und Sachverhalte: das Problem der affektiven Bedeutsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verdichtung der Stimmung in der Emotion . . . . . . . . . Der Situationsumschlag: Emotionen und Stimmungen als Kontrastphänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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195 199 205 208 218 219 227 234 235 242 247 250 253 257 263 264 265 274 275 280 284 290 303 304 313 316 323 329

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Inhaltsverzeichnis

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

An erster Stelle gebührt Prof. Dr. Karl Mertens vom Institut für Philosophie der Universität Würzburg Dank dafür, daß er mich während der Zeit der Anfertigung der vorliegenden Untersuchung als Erstbetreuer unterstützt hat und mir stets als kompetenter und interessierter Ansprechpartner – sowohl für fachliche als auch für darüber hinausgehende Fragen – zur Seite stand. Prof. Dr. Karl-Heinz Lembeck vom philosophischen und Prof. Dr. Erhard Wischmeyer vom physiologischen Institut der Universität Würzburg sei Dank dafür gesagt, daß sie als Zweit- und Drittbetreuer den Entstehungsprozess der Dissertation begleitet und deren Fertigstellung so erst ermöglicht haben. Für die materielle Unterstützung, die die Entstehung der vorliegenden Untersuchung wesentlich vorangebracht hat, gebührt zunächst dem Land Schleswig-Holstein Dank, das in den ersten Monaten meine Arbeit großzügig durch ein Stipendium im Rahmen der Landesgraduiertenförderung förderte. Besonderen Dank in dieser Hinsicht schulde ich jedoch vor allem dem an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg angesiedelten Graduiertenkolleg »Emotions«, das schließlich die Arbeit nicht nur finanziell ermöglichte, sondern das auch den institutionellen und wissenschaftlichen Hintergrund bildete, vor dem der Hauptteil der Untersuchung entstand und vor dem diese ihre finale Gestalt gewinnen konnte. Darum sei hier, stellvertretend für alle Mitglieder des Graduiertenkollegs, dem Sprecher, Prof. Dr. Paul Pauli vom Institut für Psychologie der Universität Würzburg, gedankt. Des weiteren danke ich Prof. Dr. Dirk Westerkamp vom philosophischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel für seine Bereitschaft, die Arbeit in der ersten Phase ihrer Entstehung zu betreuen und für das Interesse, das er ihr bis zu ihrer Fertigstellung entgegengebracht hat. Zudem danke ich Prof. Dr. Jörn Müller vom Institut für Philosophie der Universität Würzburg, von dessen fachlichen Hinweisen ich ungemein profitiert habe. Prof. Dr. Jan Slaby vom Institut für Philosophie der freien Universität Berlin, Prof. Dr. Christoph Demmerling vom Institut für Philosophie der Universität Marburg, Prof. Dr. Heiner Hastedt vom Institut für Philosophie der Universität Rostock sowie apl. Prof. Dr. Eva-Maria Engelen vom Fach-

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Danksagung

bereich Philosophie der Universität Konstanz danke ich dafür, daß sie durch ihre Vorträge, die sie im Rahmen von durch das Graduiertenkolleg »Emotions« ausgerichteten Tagungen hielten, der Arbeit an dieser Untersuchung neue Impulse gaben. Für viele inhaltliche Hinweise danke ich auch Herrn Tim Gollasch. Besonderer Dank gebührt zudem Herrn Thomas Grote, der den Text nicht nur gewissenhaft durchgesehen hat, sondern der mir auch immer wieder wertvolle Anregungen gab und der mir stets als kritischer Diskussionspartner zur Verfügung stand. Frau Irina Ortner und Frau Polina Urenkov danke ich für ihre Hilfe bei der Verifikation von emotionsbezogenen Sprachgebilden in der russischen Umgangssprache. Zuletzt danke ich der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein dafür, daß sie die Drucklegung dieser Arbeit großzügig gefördert hat.

Einleitung

Die menschliche Affektivität ist in den letzten Jahren ein vielbeachtetes Thema der philosophischen Diskussion geworden. Zwar haben sich die Emotionen oder Affekte seit der Antike immer wieder in den Blick der Philosophen gedrängt, doch dies geschah zumeist so, daß diese ihr eigentliches Interesse einer anderen, umfassenderen Fragestellung zugewendet hatten, bei deren Untersuchung die Emotionen als Nebenproblem thematisch wurden – oftmals, so etwa in der Stoa, als Antagonisten der für den Menschen eigentlich relevanten höheren Seelenvermögen. Als eigenes philosophisches Forschungsgebiet konstituieren sich die Emotionen allerdings im wesentlichen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1 Soll ein angemessenes Verständnis der menschlichen Affektivität erreicht werden, gilt es jedoch zu beachten, daß diese nicht allein durch die Phänomenklasse der Emotionen im engeren Sinne bestimmt wird. Es müssen vielmehr noch weitere Formen des gefühlshaften Erlebens berücksichtigt werden, um die Affektivität des Menschen annähernd vollständig beschreiben zu können. Zu nennen sind hier vor allem die Stimmungen und die Atmosphären. Ist jedoch schon die Frage, was genau unter dem Begriff »Emotion« verstanden werden muß, bisher alles andere als zufriedenstellend beantwortet, sieht sich der Versuch einer exakten terminologischen Festlegung der Begriffe »Stimmung« und »Atmosphäre« mit noch weitaus größeren Schwierigkeiten konfrontiert. Im Falle der Stimmungen scheint ein gewisser Mangel an Substantialität grundsätzlich dem Bestreben nach definitorischer Klarheit

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Angesichts der thematischen Anlage der vorliegenden Untersuchung kann eine auch nur einigermaßen vollständige Nachzeichnung der in der Geschichte des europäischen Denkens formulierten philosophischen Auffassungen von der Natur der Emotionen hier nicht geleistet werden. Es sei darum auf in den letzten Jahren erschienene Darstellungen verwiesen, die mit allgemeinerer oder konkreterer Zielsetzung die Geschichte der philosophischen Emotionstheorien angemessen würdigen. Zu nennen sind hier etwa die Bände: Landweer, Hilge/Renz, Ursula (Hrsg.): Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, Berlin 2008 und Perler, Dominik: Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270–1670, Frankfurt am Main 2011.

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Einleitung

im Weg zu stehen. 2 Auch mit dem Begriff »Atmosphäre« wird konnotativ ein Beiklang des Vagen und Nebelhaften verbunden, was seine Inanspruchnahme für eine wissenschaftliche Theorie der menschlichen Affektivität von vornherein zu erschweren scheint – und in der Tat wird der Atmosphärenbegriff erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit in systematisch-terminologischer Weise gebraucht. Zwar können als Ursprung der Auseinandersetzung mit atmosphärischen Phänomenen bereits Walter Benjamins Untersuchungen zur »Aura« gelten, 3 der Terminus »Atmosphäre« selbst wurde jedoch in der Hauptsache erst von Hermann Schmitz im Rahmen der Systembildung der Neuen Phänomenologie zur Grundlage einer allgemeinen Theorie der Leiblichkeit und des affektiven Erlebens gemacht – eine Interpretation der Atmosphären, die in der Folge etwa Gernot Böhme für sein Programm einer Neuen Ästhetik aufgreifen konnte. 4 Von einer disziplinübergreifend geteilten Definition des Stimmungs- wie des Atmosphärenbegriffs kann allerdings zur Zeit noch keine Rede sein. Sollen jedoch Stimmungen und Atmosphären trotz der genannten Schwierigkeiten beim Verständnis der Natur dieser Phänomene bzw. trotz der noch nicht geleisteten interdisziplinären Etablierung des letzteren Konzepts als wissenschaftliche Kategorien zur Erfassung des affektiven Erlebens neben den Emotionen akzeptiert werden, muß die Frage nach dem Zusammenhang der genannten Erlebnistypen gestellt werden. Dabei muß vermieden werden, vorschnell davon auszugehen, es handele sich bei Emotionen, Stimmungen und Atmosphären um drei jeweils voneinander getrennte Kategorien, die im wesentlichen unverbunden nebeneinander bestehen und sich unabhängig voneinander als isolierte konkrete Gefühlserlebnisse verwirklichen können. Die vorliegende Untersuchung stellt sich dieser Aufgabe, d. h. der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem inneren Zusammenhang von Emotionen, Stimmungen und Atmosphären. Den weiteren Ausführungen soll dabei die These zugrunde gelegt werden, daß dieser Zusammenhang ein zentrales Strukturmoment der menschlichen Affektivität im Ganzen darstellt und zwar in dem Sinne, daß für die Erfahrung eines konkreten Gefühlserlebnisses sowohl eine quasi-objektive atmosphärische Prägung der jeweils herrschenden Situation, als auch eine individuelle Gestimmtheit, als auch eine bestimmte emotionale Regung notwendig ist – wobei sich der Zusam2

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Vgl. Heidegger, Martin: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, hrsg. v. Herrmann, Friedrich-Wilhelm von, 3. Aufl. (Martin Heidegger Gesamtausgabe 29/30), Frankfurt am Main 2004, S. 94 ff. Vgl. Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt am Main 1977, S. 7–45, hier S. 15. Vgl. Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main 1995, S. 28 ff.

Einleitung

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menhang von atmosphärischem, stimmungshaftem und emotionalem Erleben nicht als bloße Parallelität dreier Empfindungen begreifen läßt. Um jedoch eine Auslegung zu verhindern, die aus der soeben formulierten These, auf Grund der zuvor konstatierten semantischen Unterbestimmtheit der zentralen Begriffe, die Unmöglichkeit einer Inanspruchnahme der Konzepte Atmosphäre, Stimmung und selbst Emotion für die wissenschaftliche Beschreibung des Affektiven ableiten möchte, gilt es allerdings, nicht nur die Interpretation dieser Phänomene als diskrete Kategorien zu vermeiden. Es ist vielmehr gleichermaßen notwendig, nicht im Gegenzug der Versuchung zu verfallen, Stimmungen, Emotionen und Atmosphären als an und für sich bedeutungslose und letztlich willkürlich markierte Punkte auf einem ungegliederten Gradienten aufzufassen, als welcher die menschliche Affektivität vorgestellt wird. Der Zusammenhang zwischen den genannten Phänomenklassen darf also weder als bezugslose Koexistenz separater Erscheinungsformen des affektiven Erlebens, noch als unstrukturiertes Ineinanderfließen nicht näher bestimmter Instanzen der Affektivität, die sich in letzter Konsequenz kaum noch individuieren lassen, verstanden werden. Um die innere Struktur der menschlichen Affektivität angemessen erfassen zu können, ist es also nötig, eine Perspektive zu gewinnen, die es der jeweiligen Spezifik von Emotionen, Stimmungen und Atmosphären erlaubt, hervorzutreten, ohne jedoch den Zwang zu einem kategorisierenden Rigorismus zu implizieren. Diese angestrebte Perspektive darf, wie zu zeigen sein wird, sich allerdings nicht allein auf die reine Affektivität als Forschungsgegenstand ausrichten, da diese durch eine solche Verengung zu einem bloßen Subsystem des Mentalen unter anderen, ohne eine besondere, herausgehobene Bedeutung für das menschliche Dasein im Ganzen degradiert würde. Sie muß vor allem ein Verständnis der eigentümlichen Weise erlauben, auf die sich der Mensch als leiblich-räumliches Wesen in seiner Welt bewegt. Atmosphären, Stimmungen und Emotionen sollen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung demnach als Phänomene bestimmt werden, die auf eine noch genauer herauszuarbeitende Weise die leiblich-räumliche Verfaßtheit des menschlichen Daseins und sein Eingebundensein in größere lebensweltliche Zusammenhänge affizieren. Kann gezeigt werden, in welcher Form dies geschieht, so besteht die Hoffnung, durch die Analyse der Art und Weise der Einwirkung des Affektiven auf die leiblich-räumliche Verfaßtheit des Menschen und auf die Weltbezüge, in denen dieser sich bewegt, Indizien zu gewinnen, die zum Ausgangspunkt für eine Skizze der menschlichen Affektivität und ihrer inneren Gliederung werden können.

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Einleitung

Der Aufbau der Untersuchung Die vorliegende Arbeit ist in zwei Teile unterteilt, einen rekonstruktiven und einen systematischen. Die Kapitel 1 und 2 sind dem rekonstruktiven Teil zugehörig und sollen Emotionen, Stimmungen und Atmosphären als Gegenstände der Philosophie sowie die epistemologischen Grundbegriffe Welt, Leib und Raum einführen, die jedes angemessene Verständnis der menschlichen Affektivität fundieren müssen. Die Kapitel 3, 4 und 5 bilden den zweiten Teil der Untersuchung. Sie sind zunächst der Aufgabe gewidmet, die Art der jeweiligen Verwurzelung der hauptsächlichen Erscheinungsformen des Affektiven in den genannten epistemologischen Kategorien herauszuarbeiten. Auf diese Weise, d. h. über den Nachweis der gemeinsamen Fundierung von Emotionen, Stimmungen und Atmosphären in Raum, Leib und Welt, soll die Möglichkeit dazu geschaffen werden, ihren inneren Zusammenhang verständlich zu machen, den es abschließend zu skizzieren gilt. Im ersten Kapitel erfolgt zunächst eine Skizze verschiedener historisch einflußreicher und zeitgenössischer Emotionstheorien aus der kognitivistischen Theoriegruppe sowie eine Darstellung einiger theoretischer Ansätze, die die philosophische Auseinandersetzung mit den Phänomenen Stimmung und Atmosphäre prägen. Ziel ist es, die jeweils spezifischen Schwierigkeiten herauszustellen, die die Untersuchung der verschiedenen Erscheinungsformen der menschlichen Affektivität mit sich bringt. Während die philosophische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Emotion oftmals die nur scheinbar triviale Bemerkung Robert Solomons nur wenig berücksichtigt, daß, vom phänomenologischen Standpunkt aus, das Wesen der Emotion ihre Phänomenologie ist 5 und vielmehr versucht, die Emotionen als besondere Erscheinungsformen anderer Gegenstände der Philosophie, etwa als eine spezielle Klasse der Urteile oder Handlungen, zu begreifen, steht die philosophische Erforschung der Stimmungen vor einem geradezu entgegengesetzten Problem. Konkurrieren nämlich im Fall der Auseinandersetzung mit den Emotionen eine Vielzahl von positiv begründeten theoretischen Zugängen, werden die Stimmungen in der Hauptsache negativ definiert, wodurch ihre substantielle Selbstständigkeit nur noch in vager und verschwommener Form thematisch werden kann. Auch die Auseinandersetzung mit den affektiv wirkenden Atmosphären ist von großen Schwierigkeiten geprägt. Die Einführung dieses Konzepts in eine Theorie der menschlichen Affektivität eröffnet zwar auf der einen Seite eine Fülle von in hohem Maße angemesse-

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»[F]rom the phenomenological point of view, the essence of an emotion is its phenomenology.« (Solomon, Robert C.: »Emotions in Phenomenology and Existentialism«, in: Dreyfus, Hubert L./Wrathall, Mark L. (Hrsg.): A Companion to Phenomenology and Existentialism, Malden 2006, S. 291–310, hier S. 294)