Stille Brüter an der Nordsee

Schnurren der Familienkatze nachzuah- men. Sie berichten von unbekannteren. Forschungsergebnissen, etwa darüber, was kleine Kinder träumen: „Ich dachte ...
343KB Größe 14 Downloads 95 Ansichten
Feuilleton

SE IT E 26 · M I T T WO C H , 2 . JA N UA R 2 0 1 3 · N R . 1

F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G

Literatur

Neue Sachbücher

Es gibt keine Unschuld

Superhelden müssen episch leben

Kältekammer der Freiheit: In seinem kunstvoll radikalen Ideenroman schickt Gonçalo M. Tavares seine Figuren durch die irdische Hölle. er Roman „Die Versehrten“ von Gonçalo M. Tavares lässt sich auch als Lehrstück lesen: Aristoteles, Augustinus, Kant und Goethe kommen zwar nicht namentlich darin vor, ihre Thesen über die Natur des Bösen hingegen schon – was kein Zufall ist, denn der Autor lehrt Erkenntnistheorie an der Universität von Lissabon. Sein kunstvoll lakonischer, radikaler Ideenroman spielt in einer einzigen Nacht und lotet die Seelenabgründe von vier Menschen aus, die von Angst und Unruhe aus ihren Wohnungen auf die Straße getrieben werden und in einem lebensentscheidenden Moment aufeinandertreffen. Der karge Stil und die kühle Diktion erinnern an José Saramago, der denn auch persönlich eine be-

D

Gonçalo M. Tavares: „Die Versehrten“. Roman. Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012. 240 S., geb., 19,99 €.

geisterte Laudatio hielt, als Tavares 2005 mit dem Prémio José Saramago ausgezeichnet wurde. Das rätselhafte und verstörende Zentrum dieses labyrinthischen Kammerspiels ist Mylia, eine zarte, schöne Frau, die aber schnell gewalttätig und ausfallend werden kann – sie ist schizophren und leidet unter den Folgen einer Zwangssterilisation in einer psychiatrischen Klinik. Ihr Mann, Theodor Busbeck, hatte sie dort einliefern lassen, als ihre körperlichen Angriffe auf ihn immer häufiger wurden. Busbeck ist nicht nur ein bekannter Psychiater, sondern auch ein bewunderter Forscher: Er durchkämmt die Geschichte der Grausamkeit und des Leidens in der Welt, legt Statistiken an und entwickelt Kurven, die Zyklen von Gewalt vorausbestimmen sollen. Dem Herzschlag der Welt glaubt er auf der Spur zu sein und erkennt in Taten, die reiner Bösartigkeit entsprangen (wie die Massenmorde der Nationalsozialisten), den wahren Motor der Geschichte. Seine Begeisterung für das Thema macht ihn blind

für die Grausamkeiten, die vor seinen Augen in der psychiatrischen Klinik geschehen oder die er selbst seiner Frau antut. Alle Figuren und ihre Handlungen sind ambivalent in diesem Roman, dessen Stärke darin besteht, in feinste Wahrnehmungen und Empfindungen einzudringen und genau festzuhalten, wo diese das gesellschaftliche Maß und seine Ordnungsmuster sprengen. Auf unheimliche Weise verändert sich damit auch der Blick des Lesers, der plötzlich die Willkür hinter vermeintlich natürlichen Regeln sieht. Jedes der knappen Kapitel liefert, in der Zeit vor und zurück springend, ein Stückchen einer verhängnisvollen Geschichte, deren Schicksalsmomente sich im Lauf des Romans als zwingend und doch als zufällig erweisen. Alle fünf Protagonisten – neben Mylia und Theodor noch der geh- und sprachbehinderte Sohn Mylias aus einer früheren Beziehung, ihr Geliebter Ernst und der Kriegsveteran Hinnerk – sind leidenschaftlich Suchende, die sich an leere Rituale und brüchige Beziehungen klammern und so immer tiefer in ihrem eigenen Kosmos versinken. Vielleicht werden sie deshalb von einer Kirche magnetisch angezogen. Doch das verschlossene Gotteshaus erweist sich als besonders desillusionierender Ort: Er öffnet sich für Mylia, die Hartnäckigste, erst dann, als sie eine ungeheuerliche Schuld behauptet – die in ihrer ausweglosen Absurdität einer griechischen Tragödie entsprungen scheint. Es gibt keinen Unschuldigen in dieser Welt, die Menschen fühlen sich verlassen und in die Enge getrieben. Wonach sie sich sehnen, ahnen sie nur dunkel, daher sind sie der geheimen Verbindung, die das Böse mit der Transzendenz des Guten unterhält, hilflos ausgeliefert. Im Roman ist der exemplarische Ort, der diese Not nackt vorführen will, die Irrenanstalt, die allerdings unter dieser erzählerischen Beweislast zum thesenhaften Pappmodell schrumpft: Beherrscht von demütigenden Machtspiele und hybriden Ärzte (die „kranke“ Gedanken einfach für amoralisch erklären), scheint sie direkt dem Denken von Michel Foucault entsprungen. Doch Hinnerk und Mylia sind gerade in ihre Widersprüchlichkeit beeindruckende Figuren, die durch Phantasie, Verletzlichkeit und wütenden Eigensinn überzeugen – und durch ihr Ringen um Sprache. Sie verkörpern den Kampf um die menschliche Würde, die sich in gesunden wie in kranken Tagen gegen ein Gefühl doppelter Fremdheit behaupten muss: sich selbst und einer vielleicht sinnlosen Welt gegenüber. NICOLE HENNEBERG

Stille Brüter an der Nordsee Hinrich von Haarens Roman „Brandhagen“ Marschen, Moore, Kanäle, ein See, Weißdornhecken und ein so oft so tief über dem flachen Land hängender trüber Himmel prägen die Landschaft. „Wer diesen Landstrich zur Besiedlung freigegeben hat, gehört erschossen“, sagt der Vater des Ich-Erzählers. Das verspricht trübe Gemüter und verstockte Figuren in später Nachfolge Theodor Storms. Tatsächlich erinnert Hinrich von Haarens Roman „Brandhagen“ aber eher an Fellinis Film „Amarcord“, nur dass die Coming-of-Age-Geschichte ihren Schauplatz nicht an der Adria und Mitte der dreißiger Jahre findet, sondern in den sechziger und frühen siebziger Jahren im Hinterland der Nordsee. Von Haaren erzählt die Kindheit eines zweifelhaften Jungen aus gutem Hause. Die Eltern betreiben einen Haushaltswarenladen mit Porzellan und Nippes. Der Ich-Erzähler ist ein spätgeborenes Einzelkind, das wie Vater und Großvater ein stiller Brüter zu werden verspricht. Die Frauen haben hier das Sagen: Die herrische Großmutter steht im steten diskreten Zwist mit der Mutter, einer Pastorentochter, während die Männer in der Werkstatt zerbrochenes Porzellan kitten. Der Junge ist schwach geraten, ein Spätentwickler, Sorgenkind der Eltern, Liebling der Großmutter. Früh entwickelt er seinen Eltern verborgen bleibende Talente. Versuche, ihn durch Kindergarten und sportliche Ertüchtigung auf den richtigen Weg zu bringen, schlagen fehl, denn er weiß sich mit Hilfe der Großmutter allen Normalisierungsversuchen zu entziehen, obwohl sie ihm erzählt, wie sie über den Säugling dachte: „Gleich am ersten Tag habe ich gewusst, dass du für den Handel nicht taugst. Du hattest etwas Lahmes im Gesicht.“ Was bleibt dem Kleinen übrig, als in dieser harten, kalten Welt die eigenen Stärken im Verborgenen zu entwickeln? Erst ist er bloß gefräßig und schleicht sich spätabends in die Küche. Bald aber entwickelt er in der Rolle des Lauschers ein scharfes Gehör und verfügt über ein Näschen, das er mit Vorliebe in Sachen steckt, die ihn nichts angehen, wie die Briefe und Unterwäsche des Hausmädchens oder die schmutzigen Geheimnisse der Bürgerfamilien in Brandhagen. Die Nase des Erzählers bringt ihn stets auf Abwege. Mit ihr wittert er feine und weniger feine Unterschiede. Sie

lehrt ihn den Ekel vor dem Lieblingsgericht des stillen Vaters, der „Schwarzsauer“-Blutsuppe. Mit ihr schnuppert er an der tüchtigen Cousine Alexandra, dem Hausmädchen und den Spielkameraden. Sie trägt ihm Prügel von der Mutter ein. Der Junge erkundet wie ein Alien den Verfall des bürgerlichen Anstands. Die Wörter, mit denen Großmutter und Mutter feine Unterschiede markieren, verhelfen ihm zu einem absoluten Gehör für falsche Töne und Gebote, verwandeln den Jungen in einen überaus aufmerksamen Beobachter mit einem gut entwickelten Sinn fürs Komische: für die Klatschsucht der Schreibwarenhändlerin, die er mit erfundenen häuslichen Katastrophen versorgt, für die hypochondrische Lehrerin, die den Jungen in religiöHinrich von Haaren: „Brandhagen“. Roman. Luftschacht Verlag, Wien 2012. 293 S., geb., 22,40 €.

sen Wahn versetzt, für die geschäftstüchtige Inhaberin des Modegeschäfts, die der Mutter für den jährlichen „Grünen Abend“ die irrsten Roben andreht, für die Gelüste der Asta von Merk, die erst den Cousin und später dessen Vater verführt. Die selbstgerechte Gewissheit der Erwachsenen, auf der richtigen Seite zu sein, lebt vom Raunen über gefallene Existenzen, die „auf der Etage“ leben. Zu denen gehört Tante Lise, die als spätes Mädchen Opfer eines Heiratsschwindlers wurde und dann alleinerziehende Mutter, die nach Jahren „auf der Etage“ zurück in den Schoß der Familie kehrt, als ihre Tochter Krystina und der Ich-Erzähler eingeschult werden. Hinrich von Haarens Roman führt den Leser in eine Welt, die wie nach Jahrhunderten des Überdauerns dabei ist sich aufzulösen. Sein Außenseiter wird zu einem Resonanzkörper für die Mikrobeben, die diese Welt erschüttern. In ihr erwacht ein Fremder, der mit den Füßen scharrt, um das Weite zu suchen. HANS HÜTT

Doktor Doom gegen die Fantastischen Vier: Sean Howe erzählt die Geschichte der „Marvel Comics“ und von Stan Lee, der ihre Bilder- und Erzählwelt prägte und gerade neunzig Jahre alt wurde. omichefte, zumal diejenigen, deren Helden Eisenträger wie Keks knabbern, seit sie versehentlich ein radioaktives Serum getrunken haben, werden für ein männliches jugendliches Publikum gemacht. Die Macher sind manchmal kaum älter. In keiner anderen kreativen Branche kann die Karriere so früh beginnen. Das lag in der Gründerzeit daran, dass die Verleger von künstlerischen Anforderungen der Gattung nichts wissen wollten. Man fing als Botenjunge an und sprang, wenn kurz vor der Drucklegung die allgemeine Hektik ihren Höhepunkt erreichte, beim Ausmalen von Hintergründen ein. Später rekrutierte sich der Nachwuchs häufig aus dem organisierten Fanwesen. Man lernte das Zeichnen durch Abzeichnen und pflegte in Clubzeitschriften eine auf abseitige Details bezogene Kennerschaft. Zwei der erfolgreichsten Kinofilme des Jahres 2012 fanden ihre Hauptfiguren im Pantheon der Marvel-Comics: „The Avengers“ und „The Amazing Spider-Man“. In beiden Filmen – wie in allen Filmen mit dem Marvel-Markenzeichen seit den „X-Men“ von 2000 – hat der Mann einen schmückenden Kurzauftritt, der vor einundsiebzig Jahren zum ersten Mal interimistisch die redaktionelle Verantwortung für das Marvel-Universum trug. Martin Goodman, der Eigentümer des Verlags, der damals Timely Comics hieß, setzte Stanley Lieber, einen Cousin seiner Frau, als Chefredakteur ein, nachdem er Jack Kirby und Joe Simon entlassen hatte, die Schöpfer von Captain America. Seine erste kurze Prosageschichte mit dem Nationalhelden im Sternenbannerkostüm signierte der achtzehnjährige Lieber mit einem Kürzel: Stan Lee. Seinen vollständigen Namen wollte er sich aufheben für Romane und Kinodrehbücher. Von 1945 bis 1972 wirkte der Sohn jüdischer Einwanderer aus Rumänien, der in der Bronx die Schule besucht hatte, an der Madison Avenue als Chefredakteur aller Marvel-Comichefte. Nach einigen Jahren in der Geschäftsführung siedelte er nach Kalifornien über, blieb aber über alle Eigentümer hinweg Gesicht und Sprecher des Verlags. Wie ein antiker Staatsmann betätigt er sich als erster Geschichtsschreiber seines Reiches. Zuletzt publizierte er ein Handbuch des Comicschreibens auf der Basis von Interviews mit Kollegen. Letzte Woche wurde Stan Lee neunzig Jahre alt. Die ersten Jahrzehnte der Comicheftindustrie stehen im Zeichen einer Identität des Personals, wie man sie in unserer Zeit nur von der englischen Monarchie kennt. Die Kehrseite der Kontinuität lässt sich als Entwicklungshemmung bestimmen. Der in Brooklyn lebende Journalist Sean Howe, dessen Geschichte der Marvel-Comics es auf die Bestsellerliste der „New York Times“ gebracht hat, obwohl sie keine Abbildungen enthält, ist wie die Zeichner der zweiten Generation als Fan zu seinem Thema gekommen. Der Untertitel des Buches ist eine ironische Hommage an den ehrwürdigsten Branchentrick zur Erneuerung der Markenloyalität: die Wiedereinführung des heroischen Personals. Alle paar Jahre erscheint eine neue Nummer eins von jeder klassischen Heftreihe. Die Ursprungssage wird in einer neuen Version geboten, die als die unerzählte Geschichte ausgegeben wird, obwohl das meiste natürlich schon erzählt worden ist.

Da fliegt er hin, der „Silver Surfer“, Bote des Galactus. Es kommt bei ihm einiges zusammen. Seine Fortbewegung auf einem Surfbrett mutet amerikanisch an, dafür hat er unter seinen zahlreichen Feinden auch einen, der auf den Namen Mephisto hört, der in diesem Fall freilich ein extradimensionaler Bösewicht ist – was der alte Teufel ja vielleicht auch hinbekommt. Außerdem hat er kosmische Kräfte, heilende Hände, ist erfüllt von unstillbarer Liebe zu einer Dame names Shalla Bal und darf auch als Variante eines durch die Welten wandernden Ewigen Juden gelten. Damit kann man schon einige Hefte füllen, zumal sich der Naivling auf die Seite der Erdlinge schlägt. Wir zeigen den Umschlag des „Big Premiere Issue“, das im Sommer 1968 erschien.

C

Abb. Archiv

So verhält es sich auch mit „Marvel Comics – The Untold Story“. Namentlich die Auseinandersetzung zwischen Stan Lee und Jack Kirby, die gemeinsam in den sechziger Jahren die Charaktere schufen, die dem Disney-Konzern 2004 beim Kauf von Marvel vier Milliarden Dollar wert waren, ist oft dargestellt worden. Der Begriff „episch“ darf dabei nicht fehlen und wird im gleichen Sinne verwendet wie in den Sean Howe: „Marvel Comics“. The Untold Story.

Harper Collins Publishers, New York 2012. 496 S., geb., 26,99 $.

Comics für die Kämpfe zwischen Doktor Doom und den Fantastischen Vier. Für Howe ist die gesamte Geschichte der Marvel-Angestellten eine Variante der Saga, an der sie gemeinschaftlich gestrickt haben. Wie Stan Lee über die Jahre immer wieder dieselben Kollegen anheuert und vergrault, so ist die Welt der Marvel-Figuren tatsächlich ein Universum: Der Unglaubliche Hulk und die X-Men assistieren einander wechselseitig. Diese Erweiterung von Balzacs Menschlicher Komödie ins Kosmische nennt Howe die am aufwendigsten verschachtelte Erzählung der Weltliteratur. In

einem Interview hat er einen Vergleich mit der populären Gattung angestellt, die im gegenwärtigen Moment den Maßstab des anspruchsvollen Erzählens vorgibt: Man stelle sich vor, von der Fernsehserie „Lost“ gäbe es achtzig Staffeln – und jede Nebenfigur hätte ihre eigene Spin-off-Serie. Der Reiz des Buches sind die in hundertfünfzig Interviews mit Veteranen gesammelten Originaltöne. Howe bietet keine systematischen Betrachtungen zu Comicästhetik oder Geschäftspolitik, sondern montiert seine Geschichte aus Szenen und Kommentaren. Damit trägt er der Macht des Zufalls in der Evolution des MarvelKosmos Rechnung. Innovation war regelmäßig ein Ergebnis von Improvisation. Das Emblem der Branche könnte der Meteor sein. Turnusmäßig gab es Grund zur Besorgnis, das Comicheft werde verschwinden. Jetzt ist der Ernstfall da: Die Jugend von heute kauft die Hefte nicht mehr. Das Geheimnis der Fantastischen Vier: Superhelden trugen plötzlich Komplexe mit sich herum und sahen dabei so lässig aus wie nie zuvor. Aus einer Nonchalance der Ratlosigkeit waren diese Figuren geboren worden, weil sich alle Formeln des Genres erschöpft hatten. Die von Stan Lee patentierte „MarvelMethode“ gewann der Zeitnot der arbeitsteiligen Produktion die Tugenden des Jazz ab. Die Zeichner erhielten nur einen Umriss der Story und arbeiteten die Geschichte freihändig Bild für Bild aus. Der Text entstand erst nach den Bildern. So wirkt eine Kirby-Geschichte auf zwei Ebenen: durch

eine Bildsprache der dynamischen, kompakten Gesten wie im Stummfilm und durch einen Text, der sich wie ein nachträglicher, ironischer Kommentar liest. Zu dieser Selbstbezüglichkeit, die Studenten begeisterte, gehört, dass Lee in den eigenen Heften auftrat: als Figur in den Comics und als Briefkastenonkel, der um die prosaische Schufterei an den Zeichentischen eine glamouröse Legende vom freien Künstlerkollektiv wob. Der Redakteur wurde zum Star: Federico Fellini besuchte ihn, Alain Resnais wollte einen Film mit ihm machen. Jahrzehntelang war Lee auf die Idee fixiert, die Bestimmung der Marvel-Helden sei das große Kino. Als es endlich so weit war, wurde er nur als Maskottchen gebraucht. Kirby behauptete nach dem Bruch mit Lee, dieser habe nie ein Wort geschrieben, sondern nur kommandiert. Aber Mario Puzo, der die Illustrierten eines Schwesterverlags redigierte, hat bezeugt, dass Lee sogar weiterschrieb, als der Rest der Belegschaft am Radio auf die Nachricht vom Tod Präsident Kennedys wartete. Howes implizites Urteil über Lee ist bestechend fair. Die melancholische Selbsterkenntnis, dass er der perfekte Mann der Firma war, sichert ihm das heroische Format – nach dem Maß der Marvel-Welt, deren Helden naturgemäß beschädigt sind. Stan Lee gab die Devise aus, in der Entwicklung der Charaktere dürfe es nur „die Illusion des Wandels“ geben. Er hat dafür gesorgt, dass die Comichefte kein Kinderkram mehr sind und dennoch nicht erwachsen wurden. PATRICK BAHNERS

Was man tun muss, damit Kinder freiwillig Brokkoli essen Sandra Aamodt und Samuel Wang führen ins kindliche Gehirn – und kommen mit Erziehungstipps wieder heraus Wie bringt man ein Kind am besten dazu, Spinat zu essen? Welche Betätigung senkt das Risiko, kurzsichtig zu werden? Welche verbessert die Selbstkontrolle? Der Gehirn-Quiz, mit dem Sandra Aamond und Samuel Wang ihr neues Buch beginnen, macht auch dem in Gehirndingen einigermaßen Bewanderten klar, dass es noch viel zu lernen gibt: über die Entwicklung des Gehirns von den ersten Nervenknoten bis zu den massiven Umbauten in der Pubertät, über die Flexibilität des jungen Gehirns und ihre Grenzen, über Geschlechteridentität und Verhaltenssteuerung und vor allem über die zahlreichen Einflüsse, die bei diesen Prozessen eine Rolle spielen – oder eben gerade nicht. Solide, flott und verständlich, wie man es von ihnen kennt, erklären die Autoren – sie Chefredakteurin von „Nature Neuroscience“, er Neurowissenschaftler in Princeton –, wie schwierig es ist, herauszufinden, was im Kopf kleiner Kinder vor sich geht und was man trotzdem darüber weiß. Sie zeigen, was dem kindlichen Gehirn von der allerersten Phase an nützt und was ihm schadet, von der Ernährung der Mutter bis zum Geräuschpegel in der Umgebung. Sie erklären, welche ererbten Routinen dafür sorgen, dass das Kind ganz ohne bewusstes Zutun der Eltern beginnt, die Laute der menschlichen Sprache und nicht die Geräusche des Autos oder das Schnurren der Familienkatze nachzuah-

men. Sie berichten von unbekannteren Forschungsergebnissen, etwa darüber, was kleine Kinder träumen: „Ich dachte an Essen.“ Aber sie wiederholen auch manches, was in keinem Buch über Kindererziehung fehlt: Folsäure ist wichtig, Spielen ist wichtig, Sozialkontakte sind wichtig. Das Buch durchzieht ein grundsympathischer Unterton: Macht euch vor allem nicht verrückt, plädieren die Autoren, Stress schadet mehr, als er nützt. Und euer Einfluss auf eure Kinder ist ohnehin geringer, als ihr denkt. Das Gehirn kann mit seinen stabilen Entwicklungsprogrammen ganz viel alleine und benötigt dazu weder pränatalen Mozart noch Videos, die Babys das Lesen beibringen wollen. Und wer unbedingt wissen will, wie sein Kind bei der Schuleingangsuntersuchung abschneidet, sollte nicht versuchen, seinen IQ messen zu lassen, sondern das Kind vor eine Leckerei setzen und die Zeit messen, die es durchhält, ohne zuzugreifen. Bei einem Vierjährigen sind sechs Minuten Durchschnitt, fünfzehn Minuten spitze. Intelligenz, so Aamond und Wang, bestimmt eben nur einen Teil der menschlichen Leistungsfähigkeit, den übrigen machen Faktoren wie Stimmung, Motivation und Erfahrung aus. Den größten Gefallen, den man dem Kind in dieser Hinsicht tun kann, sei, es in seiner Fähigkeit zur Selbstkontrolle zu stärken. Und dies tut man am besten, indem man dem Kind er-

möglicht, in Ruhe und mit Phantasie, alleine oder mit anderen, zu tun, was ihm Spaß macht. Die meisten Kinder, so die Autoren, sind wie Löwenzahn, unter einigermaßen förderlichen Bedingungen werden sie gedeihen. Und was die wenigen wirklich schwierigen „Orchideenkinder“ angeht: Auch sie können mit entsprechender Unterstützung glückliche Menschen werden. Sandra Aamodt, Samuel Wang: „Welcome to your Child’s Brain“. Die Entwicklung des kindlichen Gehirns von der Zeugung bis zur Reifeprüfung. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Verlag C. H. Beck, München 2012. 368 S., Abb., geb., 19,95 €.

Den Haupttext unterbrechen immer wieder Kästen, in denen die Autoren Mythen aufs Korn nehmen – Stillen macht nicht klüger, Geschwisterkinder bestimmten nicht den Charakter, übertriebenes Loben macht nicht selbstbewusster und gewalttätige Computerspiele verursachen keinen Stress. Die Neurowissenschaften, auf die die Autoren sich vor allem stützen

wollten, sind allerdings selten Quelle dieser Einsichten. Häufig müssen die Autoren zugeben, dass deren Ergebnisse in vielen Bereichen noch unsicher sind oder zwar aufzeigen, welche Hirnregionen an einer mentalen Leistung beteiligt sind, nicht aber, wie sie funktionieren. Außerdem versuchen sich die Autoren als Erziehungsberater, doch ihre „praktischen Tipps“ beeindrucken allenfalls durch ihre Schlichtheit: Eine herzliche Beziehung ist das Beste für ein Kind, lesen Sie ihrem Kind vor, lassen Sie es beim Lernen Pausen machen, draußen zu spielen ist besser, als vor dem Computer zu hocken, aber man sollte auf den Straßenverkehr achten, ein Sport, bei dem Ihr Kind sich regelmäßig eine Gehirnerschütterung holt, ist nicht das Richtige. Wer hätte das gedacht. Und was den Spinat angeht: Sie könnten Ihr Baby mit Sojamilch oder Milch auf der Basis hydrolysierter Proteine aufziehen. Besonders Letztere schmecke widerlich, präge aber das Geschmacksempfinden der Kinder so, dass sie später sogar freiwillig Brokkoli essen. Hirnforschung qualifiziert offenbar nicht automatisch zum Erziehungsberater. Ein gut verständliches Buch über die Entwicklung des kindlichen Gehirns, das manchen Mythos entlarvt, mancher Spekulation die Basis entzieht und den Eltern einige unnötige Sorgen nehmen kann. Für die Erziehungstipps allerdings lohnt sich die AnschafMANUELA LENZEN fung nicht.