Stadt, Konfession und Nation. Bürgerliche Nationsvorstellungen zur ...

strukt, das sich im kollektiven Gedächtnis einer sozialen Einheit speichert, um schließlich deren Handeln zu bestimmen.5 Die „Erfindung der Nation“ ist aller-.
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Dr. Andreas Heinemann hat Geschichte, Politikwissenschaft und Bibliothekswissenschaft studiert und arbeitet als Bibliothekar in Heidelberg.

Andreas Heinemann

Heinemann • Stadt, Konfession und Nation. Bürgerliche Nationsvorstellungen

Anders als im alltäglichen Wortgebrauch angenommen, ist Nation keine fest definierte Größe, sondern eine durchaus variable Vorstellung einer sozialen Großgruppe. Die Vorstellungen, die sich die Deutschen zur Zeit der Reichsgründung (1848–1878) von der Nation machten, konnten entsprechend unterschiedlich ausfallen, je nachdem, in welchen Teilstaaten und Regionen sie wohnten und welcher Konfession sie angehörten. Um die verschiedenen Nationsvorstellungen in dieser für den deutschen Nationalismus formativen Epoche zu untersuchen, betrachtet der Historiker Andreas Heinemann die Nationsvorstellungen von Bürgern in vier Städten – dem katholischen und ‚beutepreußischen’ Münster, dem protestantischen und preußischen Magdeburg, dem protestantischen und hannoverschen Göttingen und dem katholischen und badischen Freiburg: Wie dachten sich Bürger verschiedener Milieus in den Städten die Nation, von welchen Faktoren waren diese Nationsvorstellungen geprägt und wie verbanden sie sich mit regionalen und konfessionellen Identitäten? Anhand dieser Fragen wird das Verhältnis von Konfession und Nation auf die lokale Ebene heruntergebrochen und der Prozess der Nationsbildung in Deutschland aus dem Mikrokosmos der Stadt heraus analysiert.

Stadt, Konfession und Nation Bürgerliche Nationsvorstellungen zur Reichsgründungszeit

ISBN 978-3-95605-000-8

9 783956 050008

UVRR Universitätsverlag Rhein-Ruhr

Andreas Heinemann

Stadt, Konfession und Nation Bürgerliche Nationsvorstellungen zur Reichsgründungszeit

Universitätsverlag Rhein-Ruhr, Duisburg

Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2012/13 unter dem Titel „Stadt, Konfession und Nation. Bürgerliche Nationsvorstellungen im lokalen Raum zur Reichsgründungszeit“ als Inaugural-Dissertation von Andreas Heinemann, geboren in Duisburg, zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) von der Fakultät für Geisteswissenschaften (Geschichte) der Universität Duisburg-Essen angenommen. Gutachter waren: Prof. Dr. Frank Becker und Prof. Dr. Ute Schneider. Die Disputation fand statt am 25. März 2013.



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Titelbild

UVRR/Mike Luthardt Freiburger Siegesdenkmal, aus der Zeitschrift „Die Gartenlaube“ (1877), Wikisource

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.ddb.de abrufbar.

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ISBN

978-3-95605-000-8 (Printausgabe)



ISBN

978-3-95605-001-5 (E-Book)



Satz

UVRR

Druck und Bindung

Format Druckerei, Jena Printed in Germany

Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde im März 2013 von der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen als Dissertation angenommen und wurde für die Drucklegung geringfügig überarbeitet. Ich danke Herrn Prof. Dr. Becker, der die Arbeit betreut hat, geduldig die nötige Zeit gewährt hat und trotz räumlicher Distanz immer erreichbar war. Frau Prof. Dr. Schneider war so freundlich, kurzfristig das Zweitgutachten zu übernehmen. Frau Dr. Walther und dem UVRR danke ich für den unkomplizierten Veröffentlichungsprozess. Die Arbeit entstand über mehrere Jahre parallel zum Bibliotheksrefrendariat und dem Einstieg ins Berufsleben und spiegelt zum Teil auch durch die untersuchten Städte eine Phase meines Lebens wider, die mich von meinem Studienort Münster über Magdeburg und Köln nach Heidelberg führte. Allen Freunden, Bekannten und Verwandten, die mich auf diesem Weg begleitet haben, gilt mein Dank, besonders meinen Eltern, denen diese Arbeit gewidmet ist. Heidelberg, im Frühjahr 2014

Andreas Heinemann

Inhalt

A. Einleitung.............................................................................................. 7 B. 1848/49 – ein „nationalpolitisches Laboratorium“ vor Ort....... 31 1.

Münster – zwischen Preußen und Habsburg........................................... 32

2.

Magdeburg – „altpreußisches Selbstgefühl“ oder „Deutschtuerei“........... 41

3.

Göttingen – föderale Nation oder Republik............................................ 51

4.

Freiburg – nationales Vorbild und revolutionäre Hochburg..................... 57

C. ‚Einheit‘ und ‚Freiheit‘ – die Jahre 1859–1865............................. 71 1.

Münster – „Jedem das Seine“.................................................................. 72

2.

Magdeburg – „Auf, Germania, reiche dem Preußen Deine Hand“.......... 89

3.

Göttingen – „sind die Mittelstaaten nicht erforderlich“......................... 105

4.

Freiburg – „nicht Baden allein, sondern unser großes deutsches Vaterland“............................................................................................. 123

D. Turnen für Stadt und Nation.......................................................... 151 1.

Münster – Turnen als zeitweiliger nationaler Kompromiss..................... 152

2.

Magdeburg – Turnen als nationale Mission........................................... 155

3.

Göttingen – Turnen und Politik............................................................ 160

4.

Freiburg – der „ungünstige Boden, auf welchem der hiesige Verein steht“........................................................................ 167

E. Der Bruderkrieg................................................................................ 175 1.

Münster – „Bedenklichkeit“.................................................................. 175

2.

Magdeburg – Stimmungswandel........................................................... 182

3.

Göttingen – das Ende des Welfenstaates................................................ 192

4.

Freiburg – Hoffnungen und Resignationen........................................... 201

F. Der Weg zur Reichsgründung........................................................ 211 1.

Münster – „Wiederherstellung des deutschen Reiches“.......................... 212

2.

Magdeburg – ins „neue Reich“.............................................................. 225

3.

Göttingen – nationale Zuverlässigkeit und welfische Opposition.......... 238

4.

Freiburg – Einheit und neue Kämpfe.................................................... 256

G. Kulturkampf – Kampf der Nationen............................................. 275 1.

Münster – katholischer Nationalismus und die Deutungshoheit über die Stadt........................................................................................ 276

2.

Magdeburg – Gedächtnisfeinde und die Verteidigung der bürgerlichen Nation........................................................................ 303

3.

Göttingen – symbiotische Feinde.......................................................... 326

4.

Freiburg – „wahre“ Katholiken und „wahre“ Deutsche.......................... 348

H. Stadt und Nation in der Erinnerungskultur................................ 377 1.

Münster – großdeutsche Geschichte und westfälische Identität............. 378

2.

Magdeburg – Nation, Preußen und Reformationsgedenken.................. 390

3.

Göttingen – preußische und welfische Geschichte................................. 404

4.

Freiburg – Zähringen, Habsburg, Baden und Deutschland................... 413

I. Fazit..................................................................................................... 431 Quellen und Literatur.............................................................................. 441

A. Einleitung „Deutschland, dieses schönste und wichtigste Reich von Europa“, so erklärte der münstersche Bürgermeister Hüffer den 128 Wahlmännern des Kreises Münster für die Wahl zur Frankfurter Nationalversammlung 1848, habe jahrhundertelang unter einer großen Zerrissenheit gelitten. Das sollte sich nun ändern: „Plötzlich erhebt sich im deutschen Volke von der Donau bis zur Nordsee, vom Belt bis zur westlichen Grenze der einmüthige Ruf nach Einheit, nach Nationalität (…). Aber so sehr das Zauberbild eines einigen Deutschlands Alle begeistert, eben so sehr weichen die Ansichten darüber von einander ab, wie diese Einheit sich darstellen solle, wie ihr Kraft und Dauer zu geben sey. Der Preuße, der Oestreicher, der Nord- und Süddeutsche, der Constitutionelle und der Republikaner, ja verhehlen wir es uns nicht, der Katholik und der Protestant, jeder wird sein eigenes Deutschland, seinen eigenen Kaiser und Präsidenten mit nach Frankfurt bringen.“1

Was Deutschland eigentlich sei, verstand sich keineswegs von selbst, sondern blieb eine offene Frage, ja eigentlich eine individuelle Vorstellung, deren Grenzen nach innen wie nach außen es zu definieren galt und die hauptsächlich von Faktoren wie der eigenen regionalen Herkunft, der politischen Orientierung sowie der Konfession abhing. Die Schwierigkeiten, die Hüffer voraussagte, sollten in der Tat die nächsten beinahe zwanzig Jahre die deutsche Geschichte prägen, denn die Deutschen stellten sich die deutsche Nation keineswegs alle gleich vor, vielmehr dachte jeder an etwas anderes, wenn er von der Nation sprach. Schon die Verhandlungen der Paulskirche sollten Hüffers Warnung bestätigen. Konfession, vor allem aber regionale Herkunft war es, die in den entscheidenden Abstimmungen im April 1849 den Ausschlag gab.2 Zugleich drückte der ganze Vorgang, die Wahl von Wahlmännern und später eines Abgeordneten für die Nationalversammlung, noch etwas anderes aus, was man als Geburt der Nation aus der Stadt heraus bezeichnen könnte. Insofern Nationalismus vor allem eine bürgerliche Emanzipationsideologie war, nahm er seinen Ausgang dort, wo das Bürgertum herkam, nämlich den Städten. Gerade 1848 wurde das deutlich.3 Der Wahlakt, auf den das obige Zitat verweist, verlief harmonisch und man wählte nahezu einstimmig einen Abgeordneten, den Münster in die Nationalversammlung entsandte. Doch so harmonisch, wie sich die Wahl darstellte, blieb es nicht; schon zwei Monate später gab es Konflikte. Auch innerhalb der Städte gingen die Nationsvorstellungen auseinander. Die Konflikte um das Aussehen der Nation gehörten zu den prägendsten Auseinandersetzungen innerhalb der Städte und des städtischen Bürgertums. In ihnen formierte und wandelte sich lokale wie nationale Identität; sie waren es, die die Nationsvorstellungen we1 WM 113/ 11. 5. 1848. 2 Best, Männer, 439 ff. 3 Ribhegge, Stadt, 52.

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sentlich bestimmten. Das sollte über die nächsten Jahrzehnte so bleiben. Die unterschiedlichen Nationsvorstellungen, die sich innerhalb der vier untersuchten Städte bildeten, sollen im Folgenden betrachtet werden: Wie dachten sich Bürger verschiedener Milieus in den Städten die Nation, von welchen Faktoren waren diese Nationsvorstellungen geprägt und wie verbanden sie sich mit lokalen und konfessionellen Identitäten? Zu diesem Zweck wird die Diskussion über sowie die unmittelbare Erfahrung von Nation in der bürgerlichen Öffentlichkeit in vier deutschen Städten zur Reichsgründungszeit  – verstanden als langer Zeitraum von 1848 bis etwa 18784 – untersucht werden. Entsprechend den Prägungen nationaler Identität, die Hüffer anklingen lässt, sollen mit der westfälischen Hauptstadt Münster eine katholische und ‚beutepreußische‘ Stadt, mit Magdeburg eine protestantische und seit Jahrhunderten preußische, mit der Universitätsstadt Göttingen eine hannoversche und protestantische sowie schließlich mit der Breisgaumetropole Freiburg eine katholische und badische Stadt untersucht und verglichen werden.

I. Die moderne Nationalismusforschung begreift Nation als eine „gedachte Ordnung“ oder „vorgestellte politische Gemeinschaft“, als ein gesellschaftliches Konstrukt, das sich im kollektiven Gedächtnis einer sozialen Einheit speichert, um schließlich deren Handeln zu bestimmen.5 Die „Erfindung der Nation“ ist allerdings nicht etwas, das im luftleeren Raum geschieht6, vielmehr ist das Konstrukt Nation eine Konstruktion aus vorhandenen Faktoren, die nun in einen neuen Zusammenhang gestellt werden.7 Diese Faktoren können etwa die sein, die Hüffer in seiner Rede zur Eröffnung der Wahl zur Nationalversammlung erwähnte: Konfession, regionale oder staatliche Herkunft, politische Ideologie. Andere, wie Sprache, ethnische Herkunft, aber auch Geschlecht oder soziale 4

Vgl. etwa die zeitliche Einteilung bei Böhme, „Probleme“, 14-16. Konkret werden zunächst als eine Art Vorspiel die Nationsvorstellungen während der Revolution untersucht, ehe beginnend mit 1859 der Weg zur Reichsgründung beschritten wird. Um die Kontinuität und den durch die Reichsgründung hervorgerufenen Wandel lokaler nationaler Identitäten herauszuarbeiten, wird die Untersuchung bis gegen Ende der 1870er Jahre fortgesetzt, ohne dass damit auf eine ‚innere Reichsgründung‘ abgezielt wird. Die nationalen Gegensätze des Kulturkampfes endeten weder 1878 noch einige Jahre später, sondern ließen sich problemlos bis ins 20. Jahrhundert fortführen. 5 Lepsius, „Nation“, 233; Anderson, Erfindung, 15; inzwischen hat die Nationalismusforschung die Ebene von Gesamtdarstellungen erreicht, so dass hier problemlos auf diese verwiesen werden kann: am überzeugendsten ist aus meiner Sicht Weichlein, Nationalbewegungen; auch Jansen/Borggräfe, Nation; Wehler, Nationalismus; etwas wirr geraten ist der Forschungsüberblick von Kunze, Nationen. 6 Vgl. die Kritik Andersons (Erfindung, 16) an Gellner. Anderson betont, dass Nationalismus keine „Erfindung“ sondern eine „Vorstellung“ ist. 7 Langewiesche, Reich, 22; vgl. auch das Nachwort Langewiesches in Hobsbawm, Nationen (nur Auflage von 2004).

Einleitung 9

Lage, könnte man ergänzen.8 Je nachdem, welche einzelnen Faktoren wie stark im Nationalismus aufgehen, desto deutlicher wird er von ihnen geprägt. Der Nationalismus wirkt also wie ein „trockener Schwamm“9, der die unterschiedlichsten Einflüsse und Vorgaben aufsaugt und verbindet, so dass, wenn der Schwamm ausgedrückt wird, eine neuartige Mischung daraus fließt. Nationalismus – wertneutral verstanden10 – soll hier also als offener Begriff verwendet werden, als ein Weltbild, das axiomatisch von der Existenz einer deutschen Nation ausgeht11, ohne dass dadurch andere Elemente wie konfessionelle oder regionale Identität automatisch ins Abseits gestellt würden. Insgesamt gibt es also nicht nur einen Nationalismus, sondern sehr verschiedene, abhängig von den Prägungen der sozialen Trägergruppen oder – um im Bild zu bleiben – von den Flüssigkeiten, die der Schwamm aufsaugt. Entsprechend geht es auch nicht an, Nationalismus für die Mitte des 19. Jahrhunderts bloß auf den kleindeutschen Nationalismus liberaler und protestantischer Provenienz, der so genannten ‚Nationalbewegung‘, zu reduzieren.12 Stehen am Input des Nationalismus andere Faktoren, so kann am Output durchaus nationales Denken herauskommen, nur wesentlich verschieden vom liberalnationalen Muster. Unterschiedliche soziale Gruppen stellen sich die Nation also sehr verschieden vor. Insofern erscheint es sinnvoll, die Existenz verschiedener Nationsvorstellungen innerhalb der Gesellschaft, gerade für den begrenzten Raum einer Stadt, an die verschiedenen dort existierenden Milieus zu binden, denn die einzelnen Faktoren, die den Nationalismus prägen, sind gleichsam konstitutiv für die Entstehung verschiedener Milieus. Innerhalb eines Milieus, das „durch Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturelle Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen gebildet“ wird, teilen die Menschen einerseits gemeinsame Wertvorstellungen und Einstellungen, geprägt von einer milieubestimmenden Deutungskultur, andererseits gewisse Lebensweisen und die Mitgliedschaft in sozialen Organisationen.13 Allerdings lässt sich gegenüber der Milieutheorie bezweifeln, ob die so idealtypisch konstruierten Milieus wirklich diese „sozialmoralische Geschlossenheit“14 aufwiesen wie angenommen. Vor allem mit Blick auf das katholische Milieu, das eigentlich als Musterbeispiel für die Milieutheorie 8 Weichlein, Nationalbewegungen, 9 ff.; Renan, „Nation“. 9 Echternkamp, Aufstieg, 386. 10 Anders in der wissenschaftlichen Forschung nur Dann, Nation, 15-19. Gebrauchssprachlich ist Nationalismus in Deutschland in der Tat pejorativ konnotiert. Dass vor der Nation der Nationalismus kommt, steht außer Frage. Die berühmte Formulierung dazu bei Gellner, Nationalismus, 87. 11 Echternkamp, Aufstieg, 16. 12 Vgl. die Darstellung in Wehler, Gesellschaftsgeschichte II, 394-412; Winkler, Weg, 54-70. 13 Lepsius, „Parteiensystem“, 68; Rohe, Wahlen, 19 f.; zur Anschlussfähigkeit der hier vorgestellten Theorien aus der Wahlforschung an die Stadt- und Bürgertumsforschung vgl. Hettling, Bürgerlichkeit, 29 ff. 14 Lepsius, „Parteiensystem“, 76.

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Kapitel A

gelten sollte, ist hervorgehoben worden, dass dieses längst nicht homogen war, sondern eher „eine Koalition von im Wandel befindlichen Sozialmilieus“.15 Das gilt nicht nur für die unterschiedlichen ökonomischen Lagen innerhalb des katholischen Milieus, sondern auch für Weltanschauung und nationale Vorstellungen. Selbst innerhalb eines Milieus gab es Mikromilieus und konnten etwa die Vorstellungen von Nation durchaus noch unterschiedliche Nuancen aufweisen. Das gilt es gerade vor Ort herauszuarbeiten, denn ungeachtet der überlokalen Kommunikationsräume, die sich ja besonders zur Reichsgründungszeit so schnell entwickelten, „wurzeln Milieus stets in lokalen und/oder personalen Bezügen.“16 Die Unterschiede innerhalb eines Milieus, die sich als generelles Problem beim Weg vom Einzelfall zur verallgemeinernden Analyse darstellen, sollten aber nicht verdecken, dass sie doch deutlich geringer sind im Vergleich zu den Gemeinsamkeiten, gerade in der Abgrenzung zu anderen Milieus. Von daher ist als Alternative zum Milieubegriff der des Lagers verwendet worden, der stärker auf die Abgrenzung nach außen als auf die Binnenintegration verweist.17 So wie verschiedene „cleavages“ die Abgrenzung verschiedener Lager voneinander bestimmen, schaffen sie unterschiedliche Nationsvorstellungen. Stein Rokkan ist von zwei Konflikten ausgegangen, die die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts prägten: den der Nationalstaatsbildung mit den Frontstellungen Zentrum vs. Peripherie und Staat vs. Kirche sowie den der Industrialisierung zwischen Arbeit vs. Kapital und Stadt vs. Land.18 Da in Deutschland beide Prozesse – Nationalstaatswerdung wie Industrialisierung – in etwa parallel verliefen, können beide zusammen als „Modell der nationsbildenden Konflikte“19 für Deutschland gelten, auch wenn wir uns im Folgenden auf die Gegensätze des ersten Typs, also regionale und konfessionelle, konzentrieren werden. Als Mittel der Gegensatzbildung wirken auch nationale Vorstellungen, die immer ein Gemisch aus Partizipation und Aggression darstellen.20 Innerhalb eines Milieus, für diejenigen, die sich mit den Weltanschauungen des Milieus identifizieren, ähneln sich die Nationsvorstellungen, teilen die Menschen diese spezifische kollektive nationale Identität. Nicht zwangsläufig müssen die genannten sozialen Konfliktlinien aber wirklich zu Gegensätzen führen. Dies geschieht nur, wenn sie aktiviert und kulturell untermauert werden. Die Existenz zweier verschiedener Konfessionen im Ort führt nicht zwangsläufig zum ‚Krieg bis auf‘s Messer‘, aber wenn die konfessionelle Trennlinie aktiviert wird, durch die Erfindung jeweiliger traditionaler Codes, etwa bestimmter Geschichtsbilder, 15 Loth, Katholiken, 35. Zu der daran anschließenden Diskussion die jeweiligen Positionen bei Blaschke/Kuhlemann, „Religion“, 24-34; Loth, „Milieus“. 16 Loth, „Milieus“, 133. 17 Rohe, Wahlen, 21-25. 18 Rokkan, „Dimensions“; allgemein Lipset/Rokkan, „Cleavage“. 19 Weichlein, Nation, 25. 20 Langewiesche, Nation, 35-54, v. a. 49 ff.; auch schon Lemberg, Nationalismus I, 20 f., v. a. 28 f.; II, 56 ff.

Einleitung 11

ausgedrückt in Festen und Ritualen, verstärkt wird, so entwickelt sich in den verschiedenen Milieus ein spezifisches Gefühl kollektiver Zusammengehörigkeit und Identität.21 Der Begriff der kollektiven Identität ist aufgrund seiner oft unreflektierten Verwendung als „Plastikwort“ kritisiert worden22, ohne dass es allerdings überzeugende alternative Konzepte gäbe. Identität ist dabei weniger etwas, das sich automatisch durch Gemeinsamkeiten ausdrückt, sondern ergibt sich „vor allem aus dem Zwang zu Abgrenzung und Distinktion“.23 In diesem Sinne lässt sich auch nationale Identität als eine Art kollektiver Identität verstehen und als die „Summe kollektiver Selbstverständnisse und Weltbilder einer Nation“ beschreiben, „die sich in gemeinsamen kulturellen Codes, Wertesystemen, Überzeugungen und Interessen äußert, durch Institutionen und Symbole stabilisiert und aktualisiert wird und durch die sich Nationen deuten und ihre Handlungen nach innen und außen legitimieren.“24 Entgegen der auch in dieser Definition durchscheinenden üblichen Verwendung des Begriffs nationale Identität im Sinne einer Identität, die etwa alle Deutschen teilen (müssen), ist jedoch zu betonen, dass es nicht nur eine nationale Identität gibt, sondern verschiedene, denn die gedachte Ordnung Nation, mit der die Menschen sich identifizieren, kann eben durchaus sehr verschieden aussehen. Nationale Identität existiert entsprechend nicht in der Einzahl, sondern nur als „Pluralität“.25 Auch Identität ist letztlich immer ein Konstrukt, das Wandlungen unterliegen kann und sich individuell zusammensetzt. Von daher besteht auch die „spezifische Wirksamkeit“ nationaler Identität darin, „daß sie mit anderen Loyalitäten und Dispositionen vereinbar ist und in diesen und durch diese wirkt.“26 Nationale, konfessionelle und regionale Identität konnten also durchaus nebeneinander stehen und sich gegenseitig beeinflussen. Solange es nicht zum Konflikt zwischen diesen Identitäten kam, stellte das kein Problem dar.27 Für den erwähnten Münsteraner Bürgermeister Hüffer ließen sich katholische, westfälische und preußische Identität noch recht problemlos vereinigen, doch das galt erstens nicht für alle Bürger der Stadt und zweitens erst recht nicht für alle Zeiten. Eine gewisse Zeit ließ es 21 Giesen, Identität, 102 f. u. 42 ff. 22 Niethammer, Identität, 33 ff. Als Fazit seiner Kritik an der übertriebenen Verwendung des Identitätsbegriffs in Gesellschaft wie Wissenschaft hebt Niethammer besonders den Zwang zur Polarisierung hervor, der mit dem Begriff einhergeht, der nicht auf Verständigung ziele, „sondern auf die Auseinandersetzung irreduzibler politisch-kultureller Einheiten, denen ihr Wesen so unfraglich erscheint wie eine Religion“ (631). Eben dieses Denken nach den Mustern von Inklusion und Exklusion prädestiniert den Begriff aber für die Analyse nationalistischer Gruppenbildungen, die sich wie gesagt gerade durch solche Prozesse bilden und verfestigen, unabhängig davon ob man nationalem Denken nun eine quasi-religiöse Bedeutung zumisst oder nicht. 23 Giesen, „Einleitung“, 13. 24 Hirschhausen/Leonhard, „Nationalismen“, 15. 25 Goltermann, Körper, 23. 26 Haupt/Tacke, „Kultur“, 267. 27 Altgeld, Katholizismus, 69.

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sich als „Grenzgänger“ zwischen den Milieus aushalten, aber dauerhaft musste es einen zerreißen.28

II. Die Anerkennung einer Vielzahl von Vorstellungen von Nation und nationalen Identitäten öffnet den Blick dafür, deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert nicht nur auf die kleindeutsche zu reduzieren, sondern andere Nationsvorstellungen zu beachten. „Wenn wir die Annahme, dass Deutschland unbedingt Bismarcks Deutschland bedeuten muss, aufgeben, dann können wir erkennen, dass deutsche Geschichte aus wesentlich mehr und wesentlich komplexeren politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen besteht, die manchmal in nationalem Rahmen, aber oft unterhalb nationaler Grenzen oder über diese hinaus existieren.“29 Entgegen den auch im postklassischen Nationalstaat Deutschland noch fortbestehenden Interpretationslinien kleindeutscher Geschichtsschreibung gelte es deshalb, so die Forderung Dieter Langewiesches, die nationale, regionale wie lokale Ebene zu verknüpfen, um zu einer „Erfahrungshistorie“30 der Nation zu gelangen. Die Früchte dieses Revisionsprozesses der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts kann man auf zwei Ebenen einordnen. Erstens ist es in den letzten Jahren verstärkt zu einer Neubewertung des Deutschen Bundes und seiner Möglichkeiten gekommen.31 Mögliche Alternativen zur letztlich kleindeutschen Lösung waren zumindest aus zeitgenössischer Sicht kaum weniger realistisch als die Bismarcksche Lösung, denn sie folgten der noch aus frühneuzeitlichen Wurzeln tradierten und durchaus verbreiteten föderativen Nationsidee.32 Zum zweiten hat die Verknüpfung von Nation und Region in den letzten Jahren eine rege Beachtung gefunden. Regionalgeschichte als solche hat es freilich schon lange gegeben. Und auch als ernst zu nehmende Disziplin, der es darum geht, „am Ort“ die „Voraussetzungen, Ansätze und Verlaufsformen strukturwandelnder Prozesse“ samt den sie prägenden Faktoren aufzuzeigen, um so sowohl die allgemeine Gesamtentwicklung zu überprüfen als auch die lokalen Ausnahmen würdigen zu können, ist die Regionalgeschichtsforschung spätestens seit den 1970er Jahren etabliert.33 Zunehmend jedoch  – als Folge der aufstrebenden Nationalismusforschung – kreisten in den letzten Jahren die regionalgeschichtlichen Fragestellungen um die regionale Identität, die im Mittelpunkt 28 Mergel, „Grenzgänger“, v. a. 176 ff. 29 Sheehan, „What“, 4 (eigene Übersetzung). 30 Langewiesche, Nation, 175; zum Begriff der Erfahrungsgeschichte auch Buschmann/Carl, „Zugänge“, 15-21. 31 Müller, Bund; Flöter, Beust; Fellner, „Perspektiven“. 32 Langewiesche, Nation, 55 ff. 33 Köllmann, „Bedeutung“, 45 ff.; zum Gang der Forschung auch Schönemann, „Region“, 158 ff.; Reulecke, „Regionalgeschichte“, 25 ff.

Einleitung 13

einer „neuen Regionalgeschichte“ stand.34 Regionen sind demnach eigentlich nicht anders als Nationen zu verstehen, als „Nation im kleinen“35, nämlich als kollektive Konstrukte, mit denen Menschen sich identifizieren.36 Ähnlich der ‚Erfindung der Nation‘ ist gegen einen radikalen Konstruktivismus allerdings auch hier einzuwenden, dass Regionen und regionale Identitäten nicht beliebig entstehen können, sondern der gemeinsamen Wurzeln bedürfen. „Es bedarf stets bestimmter ‚Basis‘-Vorgaben, an die regionalistische Deutungsmuster anknüpfen können; aber es bedarf eben stets auch bestimmter ‚Überbau‘-Gegebenheiten, wenn das objektiv Vorgegebene zu regionalistischem Leben geweckt werden soll.“37 Damit eine Form der Identität mit einer angenommenen Region entsteht, muss es also irgendeine Form des Raumes und der Gemeinsamkeit der dort lebenden Menschen geben, darüber hinaus aber auch einen Diskurs über eben jenen Raum und die dort lebenden Menschen. Worin genau die Wurzel für die Schaffung einer Region liegt, kann dabei durchaus unterschiedlich sein. Ähnlich nationaler Identitäten sind regionale Bindungen vor allem ein Produkt des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert und eine Reaktion auf die Entwurzelung, die viele Menschen angesichts der territorialen Umwälzungen der Jahrhundertwende erlebten. Die ehemals dem Herrscher geltende Loyalität fand ihren Zielpunkt nun einerseits in der nationalen, aber eben nicht weniger in der regionalen Identität. Entsprechend sind regionale wie nationale Identitäten eigentlich verhältnismäßig jungen Datums, auch wenn sie sich natürlich zurück in die Geschichte hinein erfinden.38 Unterschiedliche Arten regionaler Identitäten gilt es zu unterscheiden. Die regionale Identität konnte einerseits dem Staat gelten, der sich im Zuge eines einzelstaatlichen nation building, etwa durch die Gewährung einer Verfassung, um die Integration der vielfach neuen Einwohner bemühte. Vor allem die ehemaligen Rheinbundstaaten, die von Napoleons Gnaden mit neuen Territorien bedacht worden waren, sind in dieser Hinsicht aktiv geworden. Andererseits aber vermochte sich die Vorstellung von der Region auch vom Staat zu lösen und zumindest teilweise sogar im Gegensatz zu ihm zu konstruieren. Dies geschah vor allem anhand ehemaliger Staatsgrenzen oder aktueller Verwaltungsgliederungen. Die neuen preußischen Rheinlande und Westfalen sind Beispiele, wo sich solche substaatlichen Landschaften als Regionen bildeten.39 34 35 36 37 38 39

Küster, „Identität“, 21. Gans/Briesen, „Siegerland“, 74. Schönemann, „Region“, 154 ff.; Küster, „Identität“, 19; Kunz, Geschichte, 14 ff.; Kühne, Region, 255 ff. Rohe, „Regionalkultur“, 129. Berding, „Identität“, 285 ff.; Gollwitzer, „Landschaften“, 549. Gollwitzer, „Landschaften“, 529 f.; Kunz, Geschichte, 37 f. Man könnte schließlich noch einen dritten Typ Region hinzufügen, der sich nicht anhand von territorialen, sondern etwa ökonomischen Grenzen herausbildete. Das Ruhrgebiet ist hier das beste Beispiel. Das ist allerdings erst ein Prozess des späten 19. Jahrhunderts.